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Im Jahr 1956 inszenierte die Stasi die »Flucht« des Ehepaars Guillaume aus der DDR nach Frankfurt am Main, um die SPD auszuspionieren. Günter Guillaume machte dort Karriere als Parteifunktionär und fand sich mit dem Machtantritt der sozialliberalen Koalition unverhofft im Bonner Kanzleramt wieder. 1972 stieg er zum Parteireferenten von Bundeskanzler Willy Brandt auf. Nach Enttarnung durch den Verfassungsschutz wurde er im April 1974 mit seiner Frau verhaftet. Als »Kanzleramtsspion«, über den Brandt stürzte, ist Guillaume berühmt geworden.
Eckard Michels legt hier nun eine ausführlich recherchierte Lebensbeschreibung vor, für die er als erster Historiker mehrere Tausend Seiten Verschlussakten des Bundeskanzleramtes sichten konnte. So gelingt ihm mit seinem Buch nicht nur ein spannendes Kapitel deutscher Nachkriegs-Agentengeschichte, sondern auch eine deutsch-deutsche Migrations- und Mentalitätsgeschichte en miniature.
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Seitenzahl: 672
Eckard Michels
GUILLAUME, DER SPION
Eckard Michels
Eine deutsch-deutsche Karriere
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
1. Auflage, März 2013 (entspricht der 1. Druckauflage von Februar 2013: ISBN 978-3-86153-708-3)
© Christoph Links Verlag GmbH
Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0 www.christoph-links-verlag.de; [email protected]
Umschlaggestaltung unter Verwendung eines Fotos, das Willy Brandt und Günter Guillaume bei einer Betriebsversammlung der Braunschweigischen Kohlen-Bergwerke im April 1974 in Helmstedt zeigt (ullstein bild / Rust)
Einführung
Prolog
Geschichtswissenschaft und »intelligence history« in Deutschland
Quellen
Eine exemplarische Studie von DDR-Spionage und westdeutscher Abwehr
Lehrjahre eines »Kundschafters«
Anwerbungsmethoden des MfS
Herkunft und Jugend Günter Guillaumes
Zwischen Ost- und West-Berlin
Christel Boom
»Allmähliche Einbeziehung« in die Arbeit des MfS
Agentenausbildung
Der Auslandsnachrichtendienst der DDR
Spionage gegen die SPD
SED und SPD in den fünfziger Jahren
Vorbereitung der Übersiedlung in den Westen
Das Notaufnahmeverfahren
Entscheidung für Frankfurt
Warum Günter und Christel Guillaume Spione wurden
Aufstieg in der Frankfurter SPD
»Republikflucht« nach Frankfurt
Die »Hauptstadt des Wirtschaftswunders« und das »rote« Hessen
Hoffnungen der SED auf die SPD-Linke in Hessen
Aufbau einer Existenz während der »Legalisierungsphase«
Agentenführung durch Ost-Berlin
Eintritt in die Frankfurter SPD
Guillaume als Resident der HVA
Weichenstellungen für die weitere SPD-Karriere
Positionierung im Vorfeld und während der Großen Koalition
Wahlkämpfer für Georg Leber
SIRA
Nachlassender Spionageeifer des Ehepaares Guillaume
Im Kanzleramt
Vermittlung ins Palais Schaumburg
Sicherheitsüberprüfung
Sozialpolitische Ambitionen der neuen Regierung
Gewerkschaftsreferent
Erste Erfolge
Kolleginnen und Kollegen
Nachzug der Familie
Das Kanzleramt als Ziel der HVA
Ein neues Residentenehepaar für Guillaume
Übersiedlungs-IM nach dem Mauerbau und die »Aktion Anmeldung« des Verfassungsschutzes
Vom DDR-Spion zum Bundesbürger
Neuwahlen 1972
Aufstieg zum Parteireferenten Willy Brandts
Das Kanzlerbüro
Höhe- und Wendepunkt von Brandts Kanzlerschaft
Guillaumes Informationszugänge im und Berichterstattung aus dem Kanzlerbüro
Brandts ungeliebter Referent
Der Verdacht
Risiken des Westeinsatzes für DDR-Spione
Der Zufall führt den Verfassungsschutz auf die Spur
Fatale Entscheidungen in Verfassungsschutz und Kanzleramt
Beginn der Observationen
Brandt und Guillaume in Norwegen
Nachrichtendienstliche Ausbeute der Norwegenreise
Gefährdungsanalyse
Markus Wolf versichert sich höheren Ortes
Guillaume berichtet weiter
Genscher drängt auf eine Lösung
Guillaumes Wert als »Objektquelle« im Kanzleramt
Skandal im Westen, Verlegenheit im Osten
Verhaftung und Teilgeständnisse
Reaktionen in der Bundesrepublik
Das Ende von Brandts Kanzlerschaft
Ursachen und Wirkungen des Rücktritts
Folgen der Guillaume-Affäre für die Westspionage der HVA
Deutsch-deutsche Verstimmung
Krisenmanagement in Ost-Berlin
DDR-Interpretationen von Brandts Rücktritt
»Guillaume, der Spion«
Aufarbeitung der Affäre in Bonn
Verurteilung und »Freikämpfung«
Prozessvorbereitung durch die Bundesanwaltschaft
Haftalltag
Die HVA und ihre inhaftierten »Kundschafter«
Bemühungen Ost-Berlins um Pierre Guillaume
Der Fall Guillaume als Glaubwürdigkeitstest für Bonn und Ost-Berlin
Der Prozess
Das Urteil
HVA-Gefangenenbetreuung und Rückverwandlung in einen DDR-Bürger
Vergebliche Bemühungen der DDR um einen Agentenaustausch
Umdenken in Bonn und Begnadigung
Der Fall Guillaume und der »Basar der Spione«
Heimkehr in ein fremdes Land
Diskrete Rückkehr in die DDR
Der Lohn des Einsatzes und das Ende einer Ehe
MfS-Propaganda mittels »Kundschafterforen«
Zögerliche Öffentlichkeitsarbeit
Ernüchterung bei Christel Guillaume
Ausreise des Sohnes in die Bundesrepublik
Die Guillaume-Memoiren
Wendezeiten und letzte Jahre
Christel Boom als Rentnerin im vereinten Deutschland
Epilog: Der »menschliche Faktor«
»Human intelligence« des Ostblocks im Kalten Krieg
Historische Bedeutung des Falls Guillaume in nachrichtendienstlicher Hinsicht
Der unnötige Rücktritt
Anhang
Anmerkungen
Abkürzungsverzeichnis
Quellen- und Literaturverzeichnis
Danksagung
Personenregister
Am 5. Dezember 1973 gegen 16 Uhr hatte Willy Brandt vorerst genug vom Regieren, genug vom Palais Schaumburg. »Ich gehe jetzt nach Hause, fühle mich nicht wohl«, verkündete er seinem Büroleiter Reinhard Wilke und wies ihn an, die für den Tag noch vorgesehenen Termine mit den Ministern Walter Scheel und Egon Bahr abzusagen. »Guillaume begleitet ihn auf den Venusberg. Er hat wieder einmal die Flucht ergriffen, vielleicht in die Krankheit, vielleicht nicht einmal das. Er soll gesagt haben (nach Guillaume): ›Ich kann dieses Scheiß-Haus nicht mehr sehen.‹«1 In solchen schwierigen Momenten, in denen der Kanzler einen seiner depressiven Anfälle durchlitt, oder wenn er der sich vor ihm auftürmenden politischen Probleme nicht mehr Herr zu werden glaubte, fühlte sich der Parteireferent Günter Guillaume dem Regierungschef persönlich besonders nahe. Brandt hielt zwar nicht viel von Guillaume, bediente sich aber gern dessen Beflissenheit. Dabei wusste der Kanzler an jenem Dezembertag bereits seit einem halben Jahr, dass Guillaume im Verdacht stand, ein Agent der DDR zu sein. Guillaume wiederum hatte zu diesem Zeitpunkt längst seine ursprüngliche Identität als SED-Mitglied und DDR-Spion zugunsten einer bedingungslosen Loyalität und Fürsorglichkeit gegenüber dem Kanzler verdrängt.
Dies erlebte beispielsweise im Herbst 1973 Günter Grass, der bei den Bundestagswahlen von 1969 und 1972 eine der treibenden Kräfte in der »Sozialdemokratischen Wählerinitiative« gewesen war. Ein Jahr nach Brandts großem Wahlsieg vom November 1972 kritisierte Grass als enttäuschter Gefolgsmann im Fernsehmagazin »Panorama« den Führungsstil und den erlahmenden Reformwillen des Kanzlers, der zunehmend dem politischen Alltagsgeschäft entrückt sei. Einige Tage nach dem Fernsehauftritt sollte es im Palais Schaumburg zu einer Aussprache zwischen dem Schriftsteller und dem Kanzler kommen. »Ich saß noch im Vorzimmer und unterhielt mich mit seinem Referenten, weil Brandts Termin mit dem indischen Botschafter länger dauerte. Da ging die Tür auf und Guillaume kam herein. Er sah mich, bekam einen roten Kopf und fauchte mich an: ›Wie kommen Sie dazu, unseren Bundeskanzler in Panorama derart zu kritisieren?‹«2
Günter Guillaume war in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre vom Ministerium für Staatssicherheit (MfS) sorgfältig ausgewählt und geschult worden, um als sogenannter Übersiedlungs-IM (Inoffizieller Mitarbeiter) zusammen mit seiner Frau Christel in die Bundesrepublik eingeschleust zu werden und dort die SPD auszuspionieren. Dass der Agent sich bis in die unmittelbare Nähe des ersten sozialdemokratischen Bundeskanzlers vorarbeiten würde, hätten sich weder Guillaume noch seine geheimen Auftraggeber in Ost-Berlin in ihren kühnsten Träumen vorstellen können, als sich ihre Wege zwei Jahrzehnte zuvor im geteilten Berlin erstmals kreuzten.
Guillaume, der von 1972 bis 1974 als Referent für Willy Brandt arbeitete, personifiziert daher geradezu die erfolgreiche Spionage der DDR im Westen. Sein Name steht auch für die bislang einzige politische Affäre, über die ein Bundeskanzler gestürzt ist – und nicht irgendein Regierungschef: Brandt ist wegen seines Lebenswegs und seiner Politik wie wohl kein anderer deutscher Politiker der Nachkriegszeit ebenso verehrt wie angefeindet worden. Er hat kaum einen Deutschen gleichgültig gelassen, ob im Westen oder Osten. Guillaume wiederum war, wie die Stuttgarter Zeitung anlässlich des Prozesses gegen den Agenten und seine Frau schrieb, »kein Genie (…), kein Meisterspion à la James Bond, kein Mann, dessen Intellekt und Raffinesse niemand gewachsen war, sondern ein eher subalterner, etwas liebedienerischer Jawoll-Brüller, ein Mann, der als Volksschüler sein mangelndes Allgemeinwissen stets mit penetranter Kumpelhaftigkeit zu überbrücken suchte«.3 Dass ausgerechnet ein Staatsmann vom Formate Brandts, der für so viele ein Hoffnungsträger gewesen war, über einen solchen Mitarbeiter und Spion stürzte, lässt seinen Rücktritt halb tragisch, halb banal erscheinen.
Die Guillaume-Affäre und die Umstände von Brandts Rücktritt haben seit 1974 großen Widerhall in der Öffentlichkeit hervorgerufen. Als beispielsweise der Exagent 1988 in der DDR seine Memoiren veröffentlichte, widmete Der Spiegel diesem Ereignis die Titelgeschichte.4 Der Tod des vermeintlichen »Meisterspions« im April 1995 war vielen Medien eine Meldung mit einem Rückblick auf sein Leben und die gleichnamige Affäre wert. Die Ereignisse vom Frühjahr 1974 haben bereits die Literatur mit Gerhard Zwerenz’ Roman »Die Quadriga des Mischa Wolf« (1975), das Theater mit Michael Frayns Stück »Demokratie« (2003) und den Filmemacher Oliver Storz zum Fernsehspiel »Im Schatten der Macht« (2003) inspiriert. In Letzterem verkörpert pikanterweise Matthias Brandt, der jüngste Sohn des Kanzlers, Guillaume.
Lediglich die Geschichtsschreibung hat dieses Interesse an der Person Guillaumes nur unzureichend bedient. Die existierenden Darstellungen beschränken sich auf die Umstände des Sturzes von Willy Brandt und streifen dabei mehr oder weniger kursorisch die Karriere des Agenten bis zu seiner Verhaftung am 24. April 1974.5 Guillaumes Spionagetätigkeit wurde nie im Rahmen der Struktur und Arbeitsweise des Auslandsnachrichtendienstes der DDR, der zum MfS gehörenden Hauptverwaltung A (HVA) oder des Bonner Bundeskanzleramtes analysiert. Diese Versäumnisse haben bis heute nicht zuletzt eine nüchterne Einschätzung des tatsächlichen nachrichtendienstlichen Schadens für die Bundesrepublik oder des Informationsgewinns für die DDR durch den Kanzleramtsspion verhindert.
Die Geschichte der Nachrichtendienste, obwohl sie in der breiteren Öffentlichkeit auf ein starkes, zumeist auf einzelne, angebliche Meisterspione zentriertes Interesse trifft, besitzt in Deutschland im Gegensatz zu den angelsächsischen Ländern unter professionellen Historikern keine Lobby. Sie galt hierzulande lange als ein fast unseriöses Steckenpferd, das von vermeintlich wichtigeren Themen ablenke. Entsprechend ist »intelligence history« für ihre Betreiber in Deutschland weder karrierefördernd noch drittmittelträchtig. Dies ist umso erstaunlicher, als das geteilte Deutschland von 1945 bis 1989 das zentrale Austragungsfeld der Auseinandersetzung zwischen den beiden Machtblöcken war. Somit standen die west- wie ostdeutschen Nachrichtendienste gleichsam an vorderster Front des Kalten Krieges, um die militärische Schlagkraft, die wirtschaftliche und technologische Leistungsfähigkeit sowie die politischen Entscheidungen auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs für die eigene Regierung wie auch für die Verbündeten in Nato beziehungsweise Warschauer Pakt einzuschätzen.
Die bisherigen historiografischen Versäumnisse in der Aufarbeitung der Tätigkeit der deutschen Nachrichtendienste in der Ära des Kalten Krieges wie auch einzelner spektakulärer Fälle und ihrer politischen Folgen sind zum Teil der mangelnden Zugänglichkeit der Primärquellen geschuldet. Denn Geheimdienste und Geschichtswissenschaft verhalten sich wie Feuer und Wasser zueinander: Spionageorganisationen geben sich notorisch verschlossen unter dem Vorwand des Quellenschutzes sowie der Geheimhaltung der Arbeitsmethoden und des Erkenntnisstandes über das Ausland; Historiker hingegen streben nach möglichst umfassender Offenlegung der Akten zwecks akkurater Aufarbeitung der Vergangenheit und Nachweisbarkeit der aufgestellten Behauptungen. Wenn der Historiker keinen Zugang zu den Primärquellen hat, sondern nur auf mehr oder weniger seriöse journalistische Darstellungen oder die oft nicht verlässlichen und wenig präzisen Aussagen der Zeitzeugen angewiesen ist, kann er den hohen methodischen Standards seines Berufsstandes nicht voll entsprechen. Das wiederum bringt die ganze Geheimdienstgeschichtsschreibung an sich innerhalb der historischen »Zunft« in Verruf. Doch diesem Problem sehen sich grundsätzlich auch die Historiker in den angelsächsischen Ländern gegenüber und lassen sich trotzdem nicht abschrecken. Eine weitere Ursache für die bisherige Abstinenz deutscher Historiker auf dem Feld der »intelligence history« ist in der politischen Kultur der Bundesrepublik zu suchen. Anders als in den angelsächsischen Ländern herrscht als Folge von NS-Diktatur und entfesseltem wie verlorenem Weltkrieg hierzulande nicht unbedingt ein günstiges Klima für die historische Forschung zu Fragen von Sicherheitspolitik, Militär, Krieg und Rüstung. Nachrichtendienste jedoch, sei es in Ost oder West, waren und sind unentbehrliche Informationslieferanten zu diesen von der deutschen Historikerzunft eher gemiedenen Politikfeldern.6
Die Vorbehalte deutscher Historiker gegen diese Themenfelder und damit auch gegen »intelligence history« sind zwar verständlich, aber gleichwohl bedauerlich. Wichtige Aspekte der deutschen Nachkriegsgeschichte, die zum historischen Verständnis unerlässlich sind, bleiben damit unbearbeitet. So herrscht zum Beispiel eine allgemeine weitgehende Unkenntnis über die Arbeitweise der staatlichen bürokratischen Großorganisationen mit Tausenden von Mitarbeitern und großzügigen Budgets, zu denen sich die Nachrichtendienste vor allem seit der Frühphase des Kalten Krieges in Ost und West entwickelt haben. Entsprechend fällt es schwer, die Möglichkeiten und Grenzen der Spionageagenturen bis 1989 abzuschätzen, den jeweils anderen Teil Deutschlands zu unterwandern und die politischen Entscheidungen im Osten beziehungsweise Westen zu beeinflussen. Als Folge des überwiegenden Desinteresses an »intelligence history« hat es bislang an Versuchen gefehlt, einen einzelnen spektakulären Spionagefall wie etwa jenen Guillaumes nicht als bloße Skandalchronik zu schreiben, sondern in seiner langfristigen nachrichtendienstlichen und politischen Bedeutung historisch einzuordnen.
Historiker, die sich mit der nachrichtendienstlichen Konkurrenz der beiden deutschen Staaten zwischen 1949 und 1989 beschäftigen, profitieren zumindest theoretisch davon, dass durch den Untergang der DDR die Unterlagen des MfS und der HVA relativ frei zugänglich sind. Diese an sich günstige, international wohl geradezu einmalige Situation erfährt aber ihre Einschränkung dadurch, dass die ostdeutsche Bürgerrechtsbewegung 1989/90 der HVA im Gegensatz zu allen anderen MfS-Abteilungen die Selbstabwicklung erlaubte. Die HVA nutzte diese Gelegenheit, um einen Großteil ihrer Akten zur Spionage im Westen und damit auch zum Fall Guillaume zu vernichten.7 Dennoch reichten die erhaltenen Quellenbestände, um in den letzten Jahren einige grundlegende Werke zur DDR-Spionage im Westen hervorzubringen, wenn auch ohne expliziten Bezug auf den Fall Guillaume.8 Der Offenheit der erhaltenen DDR-Unterlagen steht keine solche der westdeutschen nachrichtendienstlichen Quellen gegenüber, etwa der vom Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) verantworteten Spionageabwehr. Diese Akten sind vermutlich nicht in großem Umfang vernichtet worden, befinden sich aber dafür zum überwältigenden Teil noch nicht im Bundesarchiv, sondern in der Obhut der Dienste oder ihrer vorgesetzten Behörden, also Kanzleramt und Bundesinnenministerium (BMI). Bezeichnenderweise sind aus den mir auf Basis des 2000 in Kraft getretenen Informationsfreiheitsgesetzes erstmals zugänglich gemachten Verschlussakten des Kanzleramtes zum Fall Guillaume im Vorhinein nahezu alle Unterlagen, die vom Verfassungsschutz oder Bundesnachrichtendienst (BND) stammten, entfernt worden. Angesichts dieser Schwierigkeiten verwundert es nicht, dass es derzeit (fast) keine grundlegenden, quellengesättigten und wissenschaftlichen Standards entsprechenden Darstellungen zur Geschichte der westdeutschen Nachrichtendienste und ihrer Aktivitäten gibt.9
Die Quellenlage für das vorliegende Buch ist gleichwohl im Rahmen dessen, was Historikern bei der Bearbeitung nachrichtendienstlicher Themen normalerweise zur Verfügung steht, wegen der seinerzeitigen Prominenz des Falles Guillaume recht gut. Einige der wichtigsten für dieses Buch herangezogenen Unterlagen seien hier kurz vorgestellt. Allein die Abschlussberichte des parlamentarischen Untersuchungsausschusses von 1974/75 und der parallel arbeitenden Regierungskommission »Vorbeugender Geheimschutz« zum Fall Guillaume, beide als Bundestagsdrucksachen veröffentlicht,10 sowie die dichte, investigative Berichterstattung der westdeutschen Medien über die Affäre liefern eine bei anderen Spionagefällen kaum vorhandene und relativ leicht zu erschließende Materialbasis. Die seit einigen Jahren für die Forschung zugängliche »Rosenholz-Kartei« über die im Westen eingesetzten Spione der HVA und die Datenbank »System der Informationsrecherche der HVA« (SIRA) im Berliner Archiv des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU) geben wichtige Anhaltspunkte über die Anwerbung und Tätigkeit des Agentenehepaares Guillaume.11 Zudem bieten die an der MfS-eigenen »Juristischen Hochschule« (JHS) in Potsdam seit den späten sechziger Jahren entstandenen, damals als geheim klassifizierten Doktorarbeiten von Stasi-Offizieren, die eher Berichte aus der »tschekistischen« Praxis denn theoretische und kritisch reflektierende akademische Qualifikationsarbeiten sind,12 wichtige Einblicke in die Agentenführung. Sie befassen sich zwar nicht explizit mit dem Fall Guillaume, streifen ihn aber immer wieder unter verschiedenen Aspekten. Sie erlauben es, den einzelnen Spion in der Struktur, Arbeitsweise und dem Weltbild der HVA zu verorten. Die auf 98 Seiten protokollierten Äußerungen von Guillaumes Exfrau Christel, die ebenfalls bis April 1974 für die DDR spionierte, sich aber unmittelbar nach der »Wende« gegenüber den Journalisten Anne Worst und Arnold Seul wesentlich kritischer mit ihrer Tätigkeit für das MfS auseinandersetzte als ihr Exmann, spiegeln den Agentenalltag aus Sicht einer Betroffenen wider. Ihr etwa 400-seitiges, unveröffentlichtes Memoirenmanuskript (»Es begann am Potsdamer Platz«), das Mitte der achtziger Jahre entstanden ist, stellt, obwohl es vom MfS »betreut« wurde, ein Korrektiv zu den ebenfalls unter Stasi-Aufsicht verfassten und kurz vor dem Ende der DDR erschienenen Erinnerungen ihres Exmannes dar. Als entscheidend für die Bearbeitung der westdeutschen Seite von Guillaumes Karriere und der gleichnamigen Affäre erwies es sich unter anderem, dass ich 2011/12 als erster Historiker den Zugang zu den bislang noch nicht ans Bundesarchiv abgegebenen Verschlussakten des Bundeskanzleramtes zum Thema erhielt. Diese mehreren Tausend Seiten von zum Teil als »geheim« oder vereinzelt sogar »streng geheim« klassifizierten Dokumenten betreffen die Einstellung und Karriere des Referenten im Kanzleramt, seinen dortigen Zugang zu Verschlusssachen, seine Reisebegleitungen Brandts, die Arbeit des parlamentarischen Untersuchungsausschusses, die Ermittlungen der Bundesanwaltschaft 1974/75 gegen das Agentenehepaar, den Prozess, den Strafvollzug sowie die Verhandlungen um eine vorzeitige Entlassung der Guillaumes aus der Haft im Zuge eines Gefangenenaustausches mit der DDR. Schließlich sind die Unterlagen Willy Brandts und der Nachlass Reinhard Wilkes, des 2010 verstorbenen Leiters des sogenannten »Kanzlerbüros« im Palais Schaumburg und damit engsten Mitarbeiters Brandts und direkten Vorgesetzten Guillaumes, im Bonner Archiv der Sozialen Demokratie (AdsD) aufschlussreich: Aus ihnen wird die Arbeitsroutine des Kanzlerbüros, dem Guillaume von 1972 bis 1974 als Parteireferent Brandts angehörte, ebenso nachvollziehbar wie das Verhältnis zwischen dem Kanzler und dem »Kundschafter«, wie die Spione im Westeinsatz in der DDR bezeichnet wurden.
Gestützt auf dieses Material ost- wie westdeutscher amtlicher Provenienz sowie die zahlreichen und verschiedenartigen erhaltenen »Ego-Dokumente«, also Memoiren, Briefe, Vorträge oder Interviews, des Ehepaares Guillaume und ihres Sohnes Pierre13 bietet die berühmteste deutsche Spionageaffäre das Potenzial zu weit mehr als einer sensationsträchtigen Geschichte des Endes von Brandts Kanzlerschaft: Die Karriere des Ehepaares Guillaume liefert vielmehr den Stoff für eine exemplarische Fallstudie sowohl der Agentenführung der HVA als auch der westdeutschen Spionageabwehr und der strafrechtlichen Ahndung geheimdienstlicher Tätigkeit gegen die Bundesrepublik. Mehr noch: Mittels einer Biografie des Agentenehepaares lässt sich die deutsch-deutsche Systemkonkurrenz auf dem Gebiet der Nachrichtendienste erstmals als Erfahrungsgeschichte der Spione »von unten« schreiben. Denn die Biografie des Ehepaars Guillaume ist eine deutsch-deutsche Migrations- und Mentalitätsgeschichte en miniature, wurde es doch wegen seiner Agentenkarriere zu doppelten Grenzgängern: 1956 kamen die Guillaumes im Auftrag der HVA nach Frankfurt am Main zwecks Infiltration und Ausspähung der dortigen SPD; 1981 nach Austausch gegen in der DDR einsitzende westdeutsche Häftlinge kehrten sie in den Staat zurück, für den sie spioniert hatten und dessen Zusammenbruch sie 1989/90 noch erlebten. Am Beispiel dieser heimlichen SED-Mitglieder und HVA-Agenten in der SPD lässt sich untersuchen, wie stark ursprüngliche ideologische und geheimdienstliche Bindungen noch in einem neuen Umfeld wirksam blieben. Anders gefragt: Inwiefern wurden solche Bindungen durch neue Eindrücke aus fast zwei Jahrzehnten des alltäglichen Lebens beim »Klassenfeind« verdrängt und als Folge dessen die Wirksamkeit der Agententätigkeit aus Sicht der Ost-Berliner Spionagezentrale unterminiert?
Meine exemplarische Studie ergänzt die bisherige Forschung zur Westspionage des MfS, die gleichsam den »menschlichen Faktor« und daraus resultierende Probleme der Agentenführung ausgeklammert hat, in wichtiger Hinsicht, indem sie den »Eigensinn« (Alf Lüdtke) von DDR-Kundschaftern angemessen berücksichtigt. Die Spionagetätigkeit der HVA wird also erstmals als Erfahrungsgeschichte der Betroffenen geschrieben und nicht nur als Geschichte der Intentionen der HVA, deren Spione scheinbar wie Marionetten nach dem Willen der Ost-Berliner Auftraggeber tanzten und die Bundesrepublik so vermeintlich erfolgreich unterwanderten.14 Die Geheimdienstpraxis und ihre menschlichen Folgen erstehen vor dem Leser durch den biografischen Zugriff am Beispiel der Guillaumes konkret und plastisch.
Weil dieses Buch nicht wie sonstige Abhandlungen zum Thema mit der Verhaftung des Spionageehepaares und dem Rücktritt Brandts endet, wird erstmals der Umgang in beiden deutschen Staaten mit der Affäre dargestellt. Am konkreten Fall lassen sich die Betreuung von in westdeutschen Gefängnissen einsitzenden DDR-Spionen durch die HVA, die strafrechtliche Ahndung von Spionage durch die westdeutsche Justiz, die Verhandlungen zum Austausch von Agenten und die Begnadigungspraxis für Spione in der Bundesrepublik verdeutlichen. Sodann werden die Reintegrationsbemühungen des MfS für in die DDR zurückkehrende Kundschafter und der Einsatz des Ehepaars Guillaume für eine zunächst nur regime-interne Öffentlichkeitsarbeit im Kontext der deutsch-deutschen Beziehungen der achtziger Jahre aufgezeigt. Abschließend erfolgt ein Blick auf die Bemühungen der Kundschafter, ihrer Spionagetätigkeit auch nach dem Zusammenbruch der DDR noch einen Sinn zu geben und sich den neuen Verhältnissen anzupassen. Anhand der Behandlung dieser Themen macht mein Buch nicht zuletzt deutlich, welch langen Schatten der Fall Guillaume auf die deutsch-deutschen Beziehungen bis zum Ende der DDR geworfen und selbst im vereinten Deutschland noch Behörden wie Öffentlichkeit beschäftigt hat.
Das MfS veröffentlichte im Laufe seiner 40-jährigen Existenz keine Stellenausschreibungen; ebenso wenig waren Initiativbewerbungen von Personen willkommen, die sich zur geheimpolizeilichen oder nachrichtendienstlichen Tätigkeit berufen fühlten. Denn »Selbststeller« galten per se als verdächtig. Vielmehr suchte sich das MfS aus Gründen der Konspiration und der politisch-ideologischen Geschlossenheit, die es als unerlässlich für seine Effizienz als Geheimpolizei im Inneren und als Nachrichtendienst im Ausland ansah, sein Personal auf Basis von Empfehlungen vertrauenswürdiger Quellen. Solche Hinweise konnten sowohl von den eigenen Mitarbeitern kommen als auch von den Zuträgern in der SED, dem staatlichen Jugendverband FDJ oder der ostdeutschen Einheitsgewerkschaft, dem FDGB. War die Staatssicherheit auf einen möglichen IM oder auch Hauptamtlichen Mitarbeiter gestoßen, zog sie ohne dessen Wissen nähere Informationen über ihn ein. Galt die Person als politisch zuverlässig und verschwiegen? Besaß sie für das Ministerium wertvolle Kenntnisse und Fähigkeiten oder eine interessante berufliche oder gesellschaftliche Position, die sich zur Informationsbeschaffung ausnutzen ließen? Gab das familiäre wie gesellschaftliche Umfeld eine Gewähr dafür, dass die Person nicht ihrerseits vom politischen Gegner zur Infiltration der Staatssicherheit eingesetzt werden konnte? Fiel diese Vorprüfung aus Sicht des MfS positiv aus, sprach sie den Kandidaten direkt an. Dabei konnte es mehrere Treffen geben, bis sich die Staatssicherheit dem Umworbenen eindeutig zu erkennen gab. Für das Umfeld des Kandidaten waren die Anwerbungsversuche nicht ersichtlich. In einer Art Testphase mit Probeaufträgen für das MfS, etwa Erkundungen im Bekanntenkreis oder am Arbeitsplatz, sollte dann festgestellt werden, ob der Aspirant zur verdeckten Arbeit tatsächlich gewillt und geeignet war. Erst nach erfolgreicher Absolvierung der Probeaufträge wurde das »Arbeitsverhältnis« mit dem MfS durch eine Verpflichtung formalisiert und erhielt eine längerfristige Perspektive.1
So spielte es sich auch beim späteren Kanzleramtsspion Günter Guillaume ab: Nicht er bot sich ursprünglich der Staatssicherheit zur Mitarbeit an. Vielmehr kam diese nach vorheriger Überprüfung seiner Person auf ihn zu, denn Fähigkeiten, Charakterbild und politische Einstellung machten ihn aus Sicht des MfS interessant. »Man bewirbt sich nicht, sondern wird ausgewählt – aufgrund politischer Aktivität, einer bereits offenbarten Eignung und klar bewiesener Zuverlässigkeit«, antwortete Günter Guillaume entsprechend 1987 in einem Interview mit der FDJ-Zeitung Junge Welt auf die Frage, wie man Kundschafter, also Spion, für das MfS werde.2
Wer also war Günter Guillaume? Wie geriet er Anfang der fünfziger Jahre im geteilten Berlin ins Visier der Staatssicherheit? Was qualifizierte den Mann zum Spion, der durch seine Verhaftung im April 1974 und dem knapp zwei Wochen später erfolgenden Rücktritt Willy Brandts bis heute der bekannteste aller DDR-Kundschafter im Westen geblieben ist? Warum ließ er sich mit der Staatssicherheit ein?
Günter Karl Heinz Guillaume wurde am 1. Februar 1927 in Berlin geboren und wuchs in der Choriner Straße 81 des Arbeiterviertels Prenzlauer Berg auf. Sein Vater Karl Ernst, Jahrgang 1904, stammte aus einer Berliner Musikerfamilie hugenottischen Ursprungs. Er war Pianist und verdiente sein Geld in Kinos mit der musikalischen Untermalung von Stummfilmen und mit dem Aufspielen in den Hauptstadtlokalen. Günter Guillaumes Mutter, Johanna Olga Pauline, geborene Loebe, kam 1905 ebenfalls in Berlin auf die Welt und arbeitete als Friseurin, später als Postangestellte. Die Eltern heirateten im Oktober 1926. Der wenige Monate später geborene Sohn blieb ihr einziges Kind.3 Die Guillaumes entstammten also dem kleinbürgerlich-proletarischen Berliner Milieu. Allerdings scheint es in der Kernfamilie keine Tradition des politischen Engagements in der Arbeiterbewegung gegeben zu haben, ganz im Gegenteil: Durch Aufkommen des Tonfilms seit Ende der zwanziger Jahre und die gleichzeitig einsetzende Weltwirtschaftskrise wurde es für den Vater immer schwieriger, die Familie mit seiner Musik zu ernähren. Diese Erfahrung machte ihn für rechtsradikales Gedankengut empfänglich. Er begrüßte die Machtübergabe an Hitler und trat am 16. März 1934 der NSDAP bei, als Mitglied Nr. 1497764. Wenige Wochen nach diesem Schritt erfolgte die Aufnahme in die Reichskulturkammer,4 im »Dritten Reich« Voraussetzung für die Tätigkeit als Musiker. Um darin Mitglied zu werden, musste man allerdings kein Parteibuch vorweisen. Das Datum der Aufnahme in die NSDAP lässt darauf schließen, dass Guillaume senior schon vorher Verbindungen zur Partei oder anderen nationalsozialistischen Formationen wie der Hitlerjugend (HJ) oder der Sturmabteilung (SA) unterhielt. Solche Kontakte erwiesen sich als notwendig, um den eigentlich seit Mai 1933 und bis 1937 geltenden generellen Aufnahmestopp für neue Parteimitglieder zu umgehen. Mit dieser Maßnahme wollte die NSDAP dem unkontrollierten Zustrom politischer Opportunisten, der sogenannten Märzgefallenen, vorbeugen, die massenhaft seit der Machtübernahme in die Partei drängten.5 Dem Vater gelang es offenbar, den Anschein von bloßem politischen Opportunismus zu vermeiden und sich als genuiner Nationalsozialist zu präsentieren. Zudem erschien Karl Ernst Guillaume eine Parteikarriere langfristig aussichtsreicher als das Musikerdasein: Seit März 1937 und bis zu seiner Mobilisierung durch die Wehrmacht im April 1943 verdiente er sein Geld als Sachbearbeiter im Gaupersonalamt der NSDAP.6 Diese Institution verwaltete die Mitgliederkartei der Staatspartei und steuerte ihre Personalpolitik für den Großraum Berlin. Ebenso wurden in der Behörde Gutachten über die politische Zuverlässigkeit von Bewerbern für den Öffentlichen Dienst, Künstlern und anderen Prominenten verfasst.
Günter Guillaume besuchte von 1933 bis 1941 die Volksschule. Er war ein intelligenter Junge und über Jahre hinweg Klassenbester, wie sich Jahrzehnte später ein ehemaliger Mitschüler gegenüber dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel erinnerte.7 Sein bescheidener sozialer Hintergrund und die Familientradition verhinderten allerdings, dass man ihn auf eine weiterführende Schule schickte. Stattdessen trat er nach dem Volksschulabschluss eine Ausbildung als Fotolaborant beim Berliner Atlantic Pressebilderdienst an.
Am 20. April 1944, Hitlers 55. Geburtstag, wurde Guillaume, gerade 17-jährig, in die NSDAP – Mitgliedsnummer 9709880 – aufgenommen.8 Dieses symbolische Datum war für alle Parteibeitritte des Kalenderjahres 1944 im Vorhinein verfügt worden. Um die durch den Krieg gelichteten Reihen der älteren Parteimitglieder wieder aufzufüllen, senkte die Parteikanzlei im Januar 1944 zudem für den Jahrgang 1927 erstmals das Aufnahmealter in die NSDAP von 18 auf 17 Jahre. Guillaumes Alterskohorte sah sich wegen der hohen Kriegsverluste unter den älteren Parteigenossen besonderem Druck seitens der HJ ausgesetzt, der NSDAP beizutreten. Aufgrund der von oben verfügten intensiven Rekrutierungskampagne meldeten 1944 einige Abteilungen der Staatsjugend, in der fast alle Heranwachsenden quasi automatisch Mitglied waren, dass zwischen 45 und 60 Prozent der 1927 Geborenen in die Aufnahmelisten für die NSDAP eingeschrieben worden seien. Zu den bekanntesten Personen dieses Jahrgangs, die so, geradezu gedrängt, noch zu Nationalsozialisten der letzten Stunde mutierten, gehören etwa Hans-Dietrich Genscher, Horst Ehmke, Dieter Hildebrandt und Martin Walser. Sie traten entweder ebenfalls 1944 der NSADP bei, oder ihre Namen erschienen zumindest auf den von der HJ erstellten Aufnahmelisten. Bedenkt man den politischen Hintergrund von Guillaumes Vater und die jahrelange Sozialisation durch die HJ, ist es nicht unwahrscheinlich, dass der spätere Kanzleramtsspion bis in die letzten Kriegsmonate hinein ein überzeugter Jung-Nationalsozialist geblieben ist. So bekannte er beim Verhör durch das Bundeskriminalamt (BKA) im Frühjahr 1974, dass mit dem Ende des Dritten Reiches für ihn wie für unzählige andere Deutsche zunächst eine Welt zusammengebrochen sei.9
Am 6. Januar 1945 wurde Guillaume zur Wehrmacht eingezogen. Das Kriegsende erlebte er in Dänemark, anschließend kam er für sechs Wochen in britische Gefangenschaft. Nach seiner Entlassung verdingte Guillaume sich für einige Monate als Landarbeiter in Schleswig-Holstein. Im Dezember 1945 kehrte er schließlich nach Berlin zurück. Der Prenzlauer Berg, in dem er aufgewachsen war, gehörte nun zum sowjetischen Sektor der ehemaligen Reichshauptstadt.10
Zur Jahreswende 1945/46 stieg Guillaume als Juniorpartner in die Fotoagentur eines früheren Lehrlingskollegen aus dem Atlantic Pressebilderdienst, Hans-Dieter Sallein, ein. Der kümmerte sich vornehmlich um das Kaufmännische, Guillaume um das Fotografieren und Entwickeln. Im April 1947 zog das Unternehmen in die Westsektoren Berlins um, weil man sich dort bessere Verdienstmöglichkeiten erhoffte. Der junge Guillaume war, wie sein Kompagnon später gegenüber einem Journalisten aussagte, ein recht begabter Fotograf, obwohl er im Gegensatz zu Sallein nur eine Laborantenausbildung vorweisen konnte. Guillaume war pfiffig und rührig, kontaktfreudig und wirkte sympathisch. Bei Frauen hatte er regelrecht einen Schlag, was er zeit seines Lebens für allerlei Affären ausnutzen sollte. Guillaume begeisterte sich schnell für großartige Visionen, ob nun geschäftlicher oder politischer Natur – so träumten Sallein und Guillaume davon, Unterwasserfilme in der Südsee zu drehen. Allerdings mangelte es dem jungen Guillaume mit seinem Faible für das Leben eines Bohemiens an Fleiß und Zielstrebigkeit, um diese Ziele konsequent zu verfolgen.11
Als der Vater Ende 1947 aus der – wegen seiner Parteimitgliedschaft überdurchschnittlich langen – britischen Kriegsgefangenschaft zurückkehrte, zog Guillaume junior wieder nach Prenzlauer Berg. Bereits am 18. Januar 1948 beging der Vater jedoch durch einen Sprung aus der im dritten Stock gelegenen Wohnung in der Choriner Straße Selbstmord. Ein Grund für diese Verzweiflungstat war der Umstand, dass seine Frau während seiner langen Abwesenheit seit 1943 eine Liaison mit einem anderen Mann eingegangen war, den sie später heiratete. Guillaume zog nach diesem tragischen Ereignis alsbald wieder nach West-Berlin, zumal er mit dem neuen Lebensgefährten der Mutter nicht auskam. Das Verhältnis zu seiner Mutter, die 1977 in Ost-Berlin starb, blieb seit diesem tragischen Vorfall nach Guillaumes eigener Aussage »spröde«.12
Für viele junge Männer der in den zwanziger Jahren geborenen sogenannten HJ- und Flakhelfergeneration bildete das Kriegsende einen tiefen Einschnitt. Sie fühlten sich durch den Nationalsozialismus verraten. Sie hatten ihm in der HJ und durch den Kriegseinsatz zum Teil idealistisch bis zuletzt gedient, nur um 1945 den vollständigen Zusammenbruch des Regimes einschließlich der Flucht des »Führers« durch Selbstmord aus der Verantwortung zu erleben. Dies führte bei einem Teil von ihnen zu einem ausgesprochenen Widerwillen gegen jegliches weitere politische Engagement, was dieser Altersgruppe in den fünfziger Jahren in der Bundesrepublik die Bezeichnung »skeptische Generation« eintrug. Sie war glaubens- und illusionsloser, nüchterner und weniger pathetisch als die vorhergegangenen Jugendgenerationen.13 Andere wiederum suchten mit dem gleichen politischen Idealismus, mit dem sie zunächst dem Nationalsozialismus gedient hatten, nach überzeugenden politischen Alternativen zur nun diskreditierten alten Weltanschauung. Damit wollten sie das entstandene ideologische Vakuum füllen und eine Art Wiedergutmachung leisten durch den Aufbau eines neuen Deutschland, sei es in der demokratisch-parlamentarischen Form im Westen oder in der sozialistischen Variante im Osten. Mit anderen Worten: Die einmal enttäuschten Idealisten waren bei Kriegsende alt genug, um zu erkennen, dass sie mit dem Nationalsozialismus den falschen Weg gewählt hatten, aber noch jung genug, um sich politisch umzuorientieren und unter anderen Vorzeichen erneut aktiv zu werden.14
Das wollten offenbar auch Sallein und Guillaume. Dessen erstes belegbares politisches Engagement nach Kriegsende, animiert durch das Vorbild Salleins, war der Eintritt in die von dem ehemaligen US-Bomberpiloten Garry Davis gegründete pazifistische »Weltbürgerbewegung«. Davis gab im Mai 1948 im Pariser US-Konsulat seinen amerikanischen Pass ab und deklarierte sich stattdessen zum »Weltbürger«. Er hoffte, damit eine Massenbewegung auszulösen, um so das Ende der nationalstaatlichen Mächterivalitäten und der daraus resultierenden militärischen Konflikte einzuläuten. Seine Initiative erhielt weltweite Publizität, als er und einige seiner Anhänger am 19. November 1948 die Vollversammlung der Vereinten Nationen, die zwischenzeitlich in Paris tagte, mit der Forderung nach einer Weltregierung sprengten. Anfang 1949 verzeichnete sein in Paris eingerichtetes Register der Weltbürger bereits 650 000 Mitglieder. Davis’ Initiative stieß vor allem in Deutschland auf starke Resonanz. Hier bildeten sich mehrere Hundert lokale Weltbürgervereinigungen, mehr als in jedem anderen Land. Sallein, Guillaume und ein weiterer Aktivist namens Fred Kaltmann versuchten zur Jahreswende 1948/49, mitten in der Berlin-Blockade, von West-Berlin aus die Bewegung in der geteilten Stadt zu lancieren. Sie stellten den Lizenzantrag für ihren Verein sowohl beim östlichen Magistrat als auch beim westlichen Senat, denn ihre Initiative sollte im Geiste Davis’ gerade die sich abzeichnende Spaltung Berlins, Deutschlands und Europas in antagonistische Blöcke verhindern. Sie luden zu einer Pressekonferenz ein, für die sie als Zugpferd den populären Berliner Schauspieler Viktor de Kowa gewinnen konnten. So schafften sie es sogar in den Spiegel, der ihnen im Januar 1949 einen kurzen Artikel widmete, in dem es hieß, dass bereits eintausend Berliner eine weltbürgerliche Solidaritätserklärung abgegeben hätten.15
Der Drang, im Sinne des Weltfriedens und der Völkerverständigung politisch aktiv zu werden, führte Guillaume von der letztlich amorphen Weltbürgerbewegung in das im Frühjahr 1950 auf Geheiß der DDR gegründete »Groß-Berliner Komitee der Kämpfer für den Frieden«, das sich als regionale Sektion des im Mai 1949 gegründeten »Deutschen Komitees der Kämpfer für den Frieden« verstand. Letzteres änderte Ende 1950 seinen Namen in »Deutscher Friedensrat« und bestand bis zum Ende der DDR. Die Berliner Unterorganisation, die seit Ende 1950 als »Berliner Friedensrat« auftrat, wurde hingegen kurz nach dem Mauerbau aufgelöst. Die Friedenskomitees richteten sich einseitig gegen die Aufrüstung im Westen bei gleichzeitiger Betonung der friedlichen Intentionen der Sowjetunion und ihrer Verbündeten, die, im Gegensatz zu den »Spaltern« im Westen, weiter an der Idee der deutschen Einheit festhielten. Anfangs bestand die Hauptaufgabe der Berliner Organisation darin, Unterschriften für den sogenannten Stockholmer Appell vom März 1950 zu sammeln, der ein Verbot jeglicher Atomwaffen forderte. Weil zu diesem Zeitpunkt einzig die USA über einsatzfähige Nuklearwaffen verfügten, entsprach dieser Appell den östlichen Interessen und wurde demzufolge wie auch das Groß-Berliner Komitee als Ganzes in West-Berlin vornehmlich als »5. Kolonne Moskaus« wahrgenommen. Die West-Berliner Polizei behinderte entsprechend die Arbeit des Komitees. Es kam wiederholt zur Verhaftung von Aktivisten, und Mahnwachen wurden gewaltsam aufgelöst. Während das Groß-Berliner Komitee bis Ende 1950 im Osten mehr als 11 000 Mitglieder und 890 000 Unterschriften für den Stockholmer Appell vorweisen konnte, waren in West-Berlin nur 567 Personen organisiert und 121 000 Unterschriften gesammelt worden.16
Der von Sallein und Guillaume auch für Ost-Berlin gestellte Lizenzantrag für die Weltbürgerbewegung stellte vermutlich für das entstehende Groß-Berliner Komitee den Anknüpfungspunkt dar, um Guillaume zu kontaktieren. Mit seinem West-Berliner Wohnsitz war er ein idealer Adressat für die Verbreitung östlicher Positionen in der anderen Hälfte der geteilten Stadt. Am 19. März 1950 schrieb ein Mann namens Butzke an Guillaume, wohnhaft in der Droysenstraße 4 in Berlin-Charlottenburg, und bedankte sich für das gezeigte Interesse an der entstehenden Friedensbewegung. Man plane, bei den Behörden des Bezirks Charlottenburg einen Lizenzantrag für ein örtliches Komitee der Kämpfer für den Frieden zu stellen. Es sei kein Prominentenverein beabsichtigt, sondern eine Massenbewegung. Bei der Gründungsveranstaltung des Charlottenburger Bezirkskomitees am 2. Mai 1950 war Guillaume einer der zehn Aktivisten der ersten Stunde. Im Sommer 1950 arbeitete er bereits hauptamtlich beim Deutschen Komitee der Kämpfer für den Frieden, das in der Ost-Berliner Taubenstraße residierte. Zugleich fungierte er für den ersten »Groß-Berliner Delegiertenkongress«, der am 29. Oktober 1950 in Ost-Berlin stattfand, auf Listenplatz 4 als »parteiloser Angestellter« unter den 60 Abgeordneten des Bezirks Charlottenburg. Die Deputierten waren nicht etwa von den Bezirken in West und Ost gewählt, sondern gemäß dem Grundsatz des »demokratischen Zentralismus« vom Friedensrat in Abstimmung mit der SED nach einem Proporz ernannt worden, der ein möglichst repräsentatives Bild der friedenswilligen Berliner abgeben sollte mit einem besonderen Augenmerk auf Kriegsversehrte, -witwen und -waisen.17 Guillaume trieb anfangs weniger ein Bekenntnis zur marxistisch-leninistischen Weltanschauung in die Arme des vom Osten gesteuerten Komitees als sein Pazifismus sowie der Drang nach Aktionismus und gesellschaftlicher Anerkennung. Anlässlich einer Sitzung der Charlottenburger Bezirksgruppe Ende November 1950 wurde Guillaume von einem anwesenden SED-Kader noch als politisch zwielichtig eingestuft.18
Gleichwohl engagierte sich Guillaume im Laufe des Jahres 1950 auch in anderen SED-nahen Massenorganisationen der noch jungen DDR: So wurde er im März 1950 Mitglied in der »Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft« (DSF) und besuchte im selben Jahr eine Schulung der »Nationalen Front« (NF),19 formal ein Zusammenschluss aller Parteien und Massenorganisationen der DDR mit dem Ziel, ein vereintes Deutschland herzustellen. Dieses sollte sich gemäß den Vorstellungen Moskaus und der SED im Idealfall sozialistisch wie die DDR ausrichten, zumindest aber neutral zwischen den Machtblöcken existieren; keineswegs aber, wie von Bundeskanzler Konrad Adenauer in Bonn angestrebt und von der Mehrheit der bundesrepublikanischen Bevölkerung befürwortet, im westlichen Bündnis integriert sein.20 Im März 1951 fiel Guillaume bereits der Organisation Gehlen, der von den Amerikanern ins Leben gerufenen Vorläuferorganisation des BND, zwei Mal als Propagandist für den Osten auf.21
Im Herbst 1950 lernte Guillaume in der Ost-Berliner Zentrale des Groß-Berliner Komitees der Kämpfer für den Frieden, die im Columbushaus am Potsdamer Platz residierte, die dort arbeitende Sekretärin Christel Boom kennen.22 Die Begegnung sollte im Leben beider eine entscheidende Weichenstellung nicht nur in persönlicher, sondern auch in beruflicher und geheimdienstlicher Hinsicht werden.
Christel Boom kam am 6. Oktober 1927 im ostpreußischen Allenstein als Christel Ingeborg Margarete Meerrettig, uneheliches und einziges Kind der Landarbeiterin Erna Meerrettig, auf die Welt. Anfang der dreißiger Jahre gelang der 1905 geborenen Mutter ein bemerkenswerter gesellschaftlicher Aufstieg: Sie heiratete den um ein Vierteljahrhundert älteren Niederländer Tobias Boom, bei dem sie zunächst als Haushälterin gearbeitet hatte. Boom war technischer Direktor einer Tabakfabrik der Firma Loeser & Wolff im ostpreußischen Elbing und als solcher wohlsituiert. Er adoptierte Christel und tat sein Bestes, um sie zu einer kultivierten Tochter aus gutbürgerlichem Hause zu erziehen. Das Familienglück in der sächsischen Kleinstadt Leisnig, wohin die Familie inzwischen gezogen war, endete, als Boom im Mai 1940 mit dem Einmarsch der Wehrmacht in die Niederlande vorübergehend als feindlicher Ausländer in Nürnberg interniert wurde. Er kehrte einige Wochen später als physisch und psychisch gebrochener Mann nach Leisnig zurück und starb 1944 an den Spätfolgen seiner Haft. Mittlerweile, nach neunjähriger Schulzeit, hatte Christel Boom eine Ausbildung als medizinisch-technische Assistentin begonnen, die sie aber infolge des Kriegsendes nicht abschließen konnte. Christel Boom nahm nun anstelle der anvisierten Karriere im Gesundheitswesen Privatstunden im Schreibmaschineschreiben und in Stenografie. Weil es in ihrer Heimatstadt jedoch keine Stellen für Schreibkräfte gab, ging sie 1950 nach Ost-Berlin und fand dort zum 1. September Anstellung als Sekretärin in der Zentrale des Groß-Berliner Komitees der Kämpfer für den Frieden.23
Das Verhältnis zwischen Guillaume und Christel Boom, beide vaterlos und Einzelkinder, verfestigte sich rasch: Schon Ende November firmierte Christel Boom als Guillaumes Verlobte.24 Am 12. Mai 1951 heirateten sie in Leisnig. Sie wohnten zunächst einige Monate in Berlin bei der Mutter Guillaumes in der Choriner Straße, bis ihnen im November 1951 eine Wohnung im brandenburgischen Lehnitz zugewiesen wurde. Erna Boom zog 1953 zu Tochter und Schwiegersohn nach.
Guillaume war der lebenslustigere und umgänglichere Teil des Paares, der seine Fähigkeiten gerne überschätzte. Seine Frau zeichnete sich durch einen eher zurückhaltenden Charakter und herben Charme aus. Es mangelte ihr zunächst an Selbstvertrauen und sie ließ sich anfangs von Guillaumes souveränem Auftreten blenden. Sie war aber die Person mit der stärkeren Selbstdisziplin und Zielstrebigkeit. Daher erweckte sie später im Westen den Eindruck, als dominiere sie die Ehe. Dies führte nach der Enttarnung des Spionagepaares zu Schlagzeilen wie »Bei denen hat die Frau die Hosen an«. »Kalt und unnahbar« sei Christel Guillaume gewesen, aber »sehr viel cleverer und intelligenter als ihr Mann«, der vor allem durch seine stets gute Laune aufgefallen sei, erinnerte sich nach der Verhaftung des Paares eine Frankfurter SPD-Genossin an die beiden.25
Schon bald nach der Heirat begann Guillaume, der ewige Schürzenjäger, seine Frau zu betrügen. Auch sonst hielt er mit der Wahrheit hinter dem Berg: So verheimlichte er ihr, dass er Mitglied der NSDAP gewesen war, was sie erst im Zuge der westdeutschen Presseberichterstattung nach der Enttarnung des Agentenehepaares erfahren sollte. Es empörte sie dann umso mehr, als sie sich wegen des Schicksals ihres Adoptivvaters als Opfer des Faschismus empfand. Auch über seine Westreisen im Auftrage der Staatssicherheit informierte ihr Mann sie erst nach mehreren Jahren, als er sie ebenfalls als IM gewinnen wollte.26
Durch Verlobung, kurz darauf folgender Heirat und der endgültigen Übersiedlung in den Osten festigte sich Guillaumes Identifikation mit der DDR. Am 1. Juli 1951 trat er eine Stelle im Ost-Berliner Verlag Volk und Wissen an, dem bis 1989 führenden Schul- und Lehrbuchverlag der DDR. Im Laufe seiner dortigen mehr als vierjährigen Tätigkeit durchlief er, wie sein erhaltenes Personalstammblatt zeigt,27 Stationen als Fotograf, Bildredakteur und Ausbilder von Lehrlingen. Anfang 1953 fungierte er für vier Monate als Vorsitzender der FDGB-Abteilungsgewerkschaftsleitung, eine Untergliederung der Gesamt-Betriebsgewerkschaftsleitung bei größeren Unternehmen. Vor allem kristallisierte sich in jenen Jahren noch klarer sein politisches Engagement für die DDR jenseits der bloßen Friedenspropaganda heraus. Neben seiner FDGB-Tätigkeit wurde er laut Personalstammblatt im März 1953 Aufnahmekandidat der SED, das heißt, er trat eine zweijährige Probe- und ideologische Schulungszeit an, an deren Ende in der Regel die volle Parteimitgliedschaft winkte.
Noch entscheidender für Guillaumes weiteres Leben war, dass in die Zeit der Tätigkeit für Volk und Wissen auch der Beginn seiner Agentenkarriere fiel. Der Auslandsgeheimdienst der DDR existierte in den ersten zwei Jahren nach seiner im Juli 1951 von den Sowjets initiierten Gründung zunächst unter dem Tarnnamen »Institut für Wirtschaftswissenschaftliche Forschung« (IWF) und unterstand direkt dem Politbüro. Im September 1953, nachdem es eine ähnliche Umstrukturierung beim sowjetischen Geheimdienst gegeben hatte, nach dessen Muster und mithilfe von sowjetischen Beratern das IWF aufgebaut worden war, beschloss das Politbüro, den Dienst in das Staatssekretariat für Staatssicherheit einzugliedern, wie das MfS von Sommer 1953 bis Herbst 1955 hieß. Dort firmierte der Auslandsnachrichtendienst, bereits seit Dezember 1952 von Markus Wolf geleitet, zunächst unter der Bezeichnung »Hauptabteilung XV«, ab Juni 1956 als »Hauptverwaltung A« (HVA). Sie wurde mit Personal vom MfS aufgestockt.28
Guillaume war dem IWF als Mitarbeiter im Verlag Volk und Wissen wegen seines gleichzeitigen Engagements für den FDGB und das Berliner Friedenskomitee aufgefallen. Der erste im IWF beziehungsweise der HVA von 1952 bis 1955 für die SPD zuständige Referatsleiter, Manfred Fellmuth, führte einen der Abteilungsleiter des Verlages namens Siegfried Eberlein als Informanten. Eberlein schlug Guillaume vermutlich dem IWF als für die »Westarbeit« geeigneten IM vor.29 Im Laufe seiner Zeit im Verlag entwickelte sich für Guillaume die dortige Tätigkeit immer mehr zum Deckmantel seiner Agentenaktivitäten.
In seiner 1988 zunächst nur in der DDR, nach der Wende rasch auch in Westdeutschland veröffentlichten Autobiografie behauptete Guillaume, dass die HVA im Sommer 1954 auf ihn aufmerksam geworden sei. Mit anderen Mitgliedern des FDGB habe er damals versucht, von Berlin nach Bayern zu reisen, um den dortigen Arbeitern in der Metallindustrie in dem bislang erbittertsten und langwierigsten Streik in der Geschichte der Bundesrepublik die Solidarität des Proletariats der DDR zu bekunden. Zugleich sollten die Streikenden im Sinne der deutschlandpolitischen Positionen der SED beeinflusst werden. Denn der FDGB war nur einer von mehreren propagandistischen »Transmissionsriemen«, mit denen die SED seit Ende der vierziger Jahre – letztlich vergeblich – versuchte, auf möglichst breiter Basis den Widerstand der Westdeutschen gegen die eingeleitete politische, wirtschaftliche und vor allem militärische Westintegration der Bundesrepublik zu organisieren. So erklärte die FDGB-Propaganda die ausbleibenden Lohnerhöhungen, welche die bayerischen Gewerkschaften im August 1954 in den Streik trieben, damit, dass die Bonner Eliten Geld lieber für die geplante Aufrüstung der Bundesrepublik im Rahmen des westlichen Bündnisses investierten als den Lebensstandard der Arbeiter zu erhöhen. Guillaume, so seine Selbstdarstellung, sei dem MfS dadurch positiv aufgefallen, dass er auf die Nachricht hin, westdeutsche Polizei werde den Zug an der Zonengrenze abfangen und nach ostdeutschen Agitatoren durchsuchen, nicht wie die meisten anderen FDGB-Delegationsmitglieder die Reise noch auf DDR-Seite abgebrochen habe. Er sei vielmehr trotz der Gefahr einer möglichen Verhaftung bis München weitergefahren.30
Die spärlichen Hinweise, die sich zu Guillaumes Karriere noch in den Akten im Archiv des BStU finden, belegen dagegen, dass er zum Zeitpunkt des Streiks schon seit etwa zwei Jahren als IM für IWF beziehungsweise HVA gearbeitet hatte. Anfang Oktober 1987 wurde Guillaumes Name in einem Tagesbefehl anlässlich des Jahrestages der Gründung der DDR von Stasi-Chef Erich Mielke unter denjenigen Mitarbeitern aufgeführt, die eine Ehrenurkunde für 35-jährige Zugehörigkeit zum MfS erhielten.31 Dies lässt auf eine Kollaboration seit 1952 schließen, etwa in Form von Probeaufträgen.
Die F16-Karteikarte Guillaumes der sogenannten Rosenholz-Datei, ein Verzeichnis fast aller IM der HVA im Westeinsatz, das der großen Aktenvernichtung im Frühjahr 1990 durch den Zugriff des amerikanischen Geheimdienstes CIA entging, zeigt, dass das IWF bereits am 28. Februar 1953 einen Vorgang zu Guillaume anlegte. Er erhielt die Registraturnummer 939 und den Decknamen »Hansen«. Spätestens zu diesem Zeitpunkt wurde er als IM interessant. Die Karteikarte enthält zudem einen Verweis auf den Aktenvorgang MfS AP 1841/55 von 1952, in dem es um einen »Widerstandskreis der Jugend der Sowjetzone«, also einer dem Namen nach gegen die DDR agierenden Gruppe geht, mit der Guillaume möglicherweise als probehalber eingesetzter Spitzel in Verbindung gestanden hat. Dies entsprach der anfänglichen Ausrichtung des IWF, das sich zunächst mindestens ebenso für Vorgänge in der DDR wie im Westen interessierte. Zudem wurden spätere Agenten zuerst in der »Abwehrarbeit« auf dem Gebiet der DDR getestet, bevor man gedachte, sie in die Bundesrepublik zu schicken.32
Christel Guillaume meinte sich nach der Wende zu erinnern, dass sich ihr Ehemann an Stalins Todestag für das MfS verpflichtet habe, also am 5. März 1953.33 Anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde an Guillaume im Jahre 1985 durch die MfS-eigene »Juristische Hochschule« in Potsdam hieß es in einer Kurzvita des Agenten, dass er von 1953 bis 1955 IM gewesen sei. Man habe ihn in diesen zwei Jahren als »Werber« eingesetzt und anschließend als »Hauptamtlichen Inoffiziellen Mitarbeiter« (HIM) übernommen.34 Werber waren laut Definition des Auslandsnachrichtendienstes des MfS in einer Richtlinie vom Juni 1959 neben anderen Kategorien von IM (damals amtsintern auch noch als »GM«, Geheime Mitarbeiter, bezeichnet) wie dem »Tipper«, »Beobachter« »Ermittler« und »Instrukteur« »operativ ausgebildete und überprüfte Personen, die aufgrund ihrer persönlichen Fähigkeiten, Kenntnisse und Eigenschaften die Möglichkeit haben, bereits gründlich aufgeklärte Kandidaten außerhalb des Gebietes der DDR auf der Grundlage einer festgelegten Kombination in die operative Arbeit bis zur Anwerbung einzubeziehen«.35 Mit anderen Worten: Guillaumes Hauptaufgabe bestand von 1953 bis 1955 darin, solche Personen im Westen zu kontaktieren, die bereits als potenziell geeignet und willig galten, für den östlichen Geheimdienst zu arbeiten, um deren endgültige Verpflichtung als IM vorzubereiten. Es ist nicht auszuschließen, dass Guillaume anfangs als Spitzel auch über das Verhalten seiner FDGB-Genossen bei den Westeinsätzen berichtete. Denn das MfS wollte alle in die Westarbeit eingespannten DDR-Organisationen unterwandern. Die Westkontakte waren zwar einerseits propagandistisch erwünscht, um der SED-Deutschlandpolitik möglichst breite Resonanz jenseits der Elbe zu verschaffen. Andererseits galten sie aber als politisch riskant, weil sie die Gefahr der ideologischen Kontamination durch den Gegner in sich bargen.36
Laut Rosenholz-F16-Karteikarte legte der Bearbeiter der HVA am 9. September 1954 einen neuen Vorgang zu Guillaume an, also einige Wochen nach dem Ende des Metallarbeiterstreiks. Die Fahrt nach Bayern im Sommer 1954 war ein letzter Test gewesen, um seine Eignung als zukünftiger Spion im Westen unter Beweis zu stellen. Denn anfangs war, wie Guillaume gegenüber den westdeutschen Ermittlungsbehörden 1974 nach seiner Verhaftung angab, noch keine Rede davon gewesen, dass er eines Tages als Agent in den Westen übersiedeln sollte. Diese Perspektive habe sich erst nach einiger Zeit ergeben. Dass im Spätsommer 1954 in der HVA die Planungen für eine längerfristige nachrichtendienstliche Tätigkeit Guillaumes im Westen Gestalt annahmen, kann man auch an Christel Guillaumes Rosenholz-F16-Karteikarte ablesen. Die HVA legte am 7. September 1954 erstmals einen Vorgang zu ihr an. Sie erhielt die Registriernummer 8213.37
Die HVA bevorzugte die Übersiedlung von Ehepaaren gegenüber der Einschleusung von Einzelagenten in die Bundesrepublik. Ehepaare schienen nach außen hin für die neue westdeutsche Umgebung solider, bürgerlicher und unverdächtiger als Einzelpersonen. Ferner bediente sich die HVA Ehepaaren, um das Risiko zu vermeiden, dass ein noch lediger IM sich im Westen verliebte und in den Gewissenskonflikt zwischen der Loyalität zur HVA und seiner nichtsahnenden neuen Partnerin geriet. Die Agententätigkeit ließ sich ohnehin beim Einsatz in der Bundesrepublik schwer vor einem Lebenspartner verbergen, da in der gemeinsamen Wohnung Funksprüche am Radio abgehört und entschlüsselt werden mussten. Außerdem diente sie als Fotolabor, um Dokumente zu vervielfältigen. Treffs mit anderen Agenten bedingten die häufige Abwesenheit von zu Hause, die bei nicht eingeweihten Lebenspartnern den Verdacht nährte, dass der andere eine Affäre habe. Zudem sollten die Frauen ihren Männern – in der männerdominierten HVA und erst recht in den patriarchalischen fünfziger Jahren war keine andere Aufteilung der Rollen vorstellbar – bei der Arbeit assistieren: etwa indem sie Material in den Osten brachten, sich mit MfS-Kurieren in Westdeutschland trafen oder die Anweisungen über den Agentenfunk aufnahmen. Ferner konnten sich Ehepartner gegenseitig in der neuen, ungewohnten Umgebung Halt geben und sich so vor der ideologischen »Aufweichung« durch den täglichen Kontakt mit dem »Klassenfeind« schützen. Sollten solche Tendenzen bei einem der beiden sichtbar werden, konnte der Partner dies rechtzeitig nach Ost-Berlin melden.38
Seit Anfang 1953 jedenfalls eröffnete sich für Guillaume bei der Staatssicherheit eine längerfristige, zunächst parallele berufliche Perspektive zu seiner Tätigkeit im Verlag. Dies wird auch daran deutlich, dass er zeitgleich zu seiner Verpflichtung für das MfS Kandidat zur Aufnahme in die SED wurde. Eine hauptamtliche Karriere im MfS war nur möglich, wenn man auch Mitglied in der SED war oder den Parteibeitritt unmittelbar nach der Anwerbung nachholte.39
Als Vertreter des FDGB oder als Repräsentant des Verlages getarnt, bereiste Guillaume im Auftrag der Staatssicherheit ab 1953 wiederholt West-Berlin und die Bundesrepublik, um Informationen zu sammeln oder neue IM zu gewinnen. Dabei arbeitete er eigentlich gar nicht im Vertrieb, so dass sich seine Kollegen im Verlag gelegentlich über seine Westreisen wunderten.40 Verbürgt sind auf Basis der Ermittlungen der westdeutschen Behörden für 1954 Erkundungseinsätze bei der Berliner Außenministerkonferenz der Vier Mächte Anfang 1954, dem im Juli in West-Berlin stattfindenden SPD-Parteitag sowie der Frankfurter Buchmesse.41 Seine Frau glaubte anfangs auch, dass er diese häufigen Einsätze im Westen im Auftrag des FDGB absolvierte.42
Das Personalstammblatt des Verlages weist drei Zeitspannen auf, in denen Guillaume nicht für Volk und Wissen arbeitete und entsprechend kein Gehalt bezog, ohne dass diese Fehlzeiten spezifiziert oder erklärt sind: Seine Tätigkeit ist für den Januar 1953, die sechs Monate zwischen 1. Juli und 31. Dezember 1953 und erneut vom 1. April 1954 bis zum offiziellen Ausscheiden aus dem Verlag zum 1. Oktober 1955 nicht belegt. Die Tatsache, dass die erste längere Fehlzeit bei Volk und Wissen der Januar 1953 war, kann ebenfalls als Indiz dafür gewertet werden, dass sich der Kontakt Guillaumes zum MfS spätestens zur Jahreswende 1952/53 verfestigt hatte. In diesen Zeiträumen der Abwesenheit aus dem Verlag absolvierte er nicht nur die Parteischulungen als Kandidat der SED, sondern auch die Probeeinsätze im Westen für das MfS und erhielt zugleich individuell eine Ausbildung des MfS in konspirativer Arbeit.
Guillaumes merkwürdiges Tätigkeitsmuster bei Volk und Wissen blieb den westlichen Nachrichtendiensten und Abwehrorganen im geteilten Berlin nicht verborgen. Dies verdeutlicht zum Beispiel eine Notiz vom 14. November 1955 des West-Berliner »Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen« (UFJ). Der UFJ, 1949 von der CIA ins Leben gerufen, um Unrechtshandlungen in der DDR zu dokumentieren, unterhielt eine umfangreiche Belasteten- und Berurteilungskartei von verdächtigen DDR-Bürgern. In dem besagten Hinweis des UFJ für den West-Berliner Polizeipräsidenten, basierend auf der Information eines als »MA« bezeichneten Gewährsmannes bei Volk und Wissen, hieß es über Guillaume: »Auffällig an diesem Mann war, daß er häufig unmotiviert nicht zum Dienst erschien. Als sich sein Abteilungsleiter aus Gründen der Aufrechterhaltung der Arbeitsdisziplin dafür zu interessieren begann, wurde ihm von der SED-Parteileitung bedeutet, sich nicht um Dinge zu kümmern, die ihn nichts angingen. Schließlich kam G. auf einen längeren Lehrgang. Obwohl in solchen Fällen ziemlich schnell bekannt wird, auf welche Schulen Lehrgangsteilnehmer delegiert werden, wurde dieser Fall mit großer Geheimniskrämerei behandelt. MA weiß, daß G. schon vom Verlag häufig nach West-Berlin geschickt wurde, um dort Aufnahmen von Exmittierungen (Wohnungsräumungen, E. M.), Verhaftungen von Demonstrationsteilnehmern, Anbringen von kommunistischen Losungen usw. zu machen. In der letzten Zeit wurde G. häufig nach Westdeutschland geschickt. Vor etwa vier Wochen nun ist er aus dem Verlag völlig ausgeschieden, offenbar um ganz für die Westarbeit freigemacht zu werden.«43
Am 30. September 1955 endete offiziell Guillaumes Arbeitsverhältnis bei Volk und Wissen, obwohl es im Personalstammblatt hieß, dass er dem Verlag weiterhin als freier Mitarbeiter verbunden bleiben werde. Die Tarnung als freier Mitarbeiter bis zu seiner »Flucht« ein halbes Jahr später war vor allem notwendig, um ein Alibi gegenüber der Sozialversicherung der DDR (und später hinsichtlich eventueller Versorgungsbezüge in der Bundesrepublik) zu haben. Am 1. Oktober 1955, nunmehr nach zweijähriger Kandidatenzeit in der SED auch volles Parteimitglied, wurde er als HIM (damals auch noch als Hauptamtlicher Geheimer Mitarbeiter bezeichnet) von der HVA übernommen. Im Gegensatz zum bisherigen Status als IM bedeutete dies, dass er keinen normalen Beruf mehr ausübte und gleichzeitig im Nebenerwerb für das MfS arbeitete. Stattdessen konnte ihn nun das MfS entsprechend den Bedürfnissen der HVA verdeckt, denn er blieb ja IM, dort einsetzen, wo sie es für notwendig hielt. Im Gegenzug bekam er ein festes monatliches Gehalt, einen militärischen Rang, Anspruch auf regelmäßige Beförderung sowie die Perspektive dauerhafter Anstellung durch das MfS – im Auslandseinsatz oder in der DDR. Er erwarb durch seine Tätigkeit für das MfS Versorgungsansprüche im Falle von Krankheit, partieller Berufsunfähigkeit oder Verrentung. Die Einsatzzeit in der Bundesrepublik würde dabei doppelt zählen. Diese Versorgungsgarantien schlossen auch die Familie ein, unabhängig davon, ob sie in den Westen mit übersiedelte oder im Osten blieb. Das MfS verpflichtete sich zudem, im Falle der Verhaftung des Agenten alle Maßnahmen zu seiner Freilassung einzuleiten – eine Zusicherung, die auch die Guillaumes bei ihrer Ausreise in die Bundesrepublik erhielten.
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