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Arnold Himmelheber - eine der bedeutsamen Novellen Gustav Landauers. Auch wenn der Sohn jüdischer Eltern, der Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte studierte, in erster Linie als politische Figur wahrgenommen wird - mehrmals saß er im Gefängnis, wirkte an den Zeitschriften 'Die Zukunft', 'Die Gesellschaft' und 'Das Neue Jahrhundert' mit und gründete 1908 zusammen mit Martin Buber und Erich Mühsam den 'Sozialistischen Bund' und mit Bruno Wille und Fritz Mauthner 1892 die 'Neue freie Volksbühne' -, so war der Theoretiker und Aktivisten des Anarchismus in Deutschland und Pazifist doch vor allem Schriftsteller. Genauso wie Wedekind und Hofmannsthal, die sexuelle Tabus zum Inhalt ihrer Dramen hatten, räumte auch Landauer dem Unbewußten Wirklichkeit ein und stellte uralte Gesetze in Frage. Der Übersetzer u.a. von Rabindranath Tagore und Walt Whitman, der auch mit Hedwig Lachmann verheiratet war, war Beauftragter für Volksaufklärung der Regierung Eisner im Dienst der Münchner Revolution und war Teil der Münchner Räterepublik. Beim Einmarsch antirepublikanischer Soldaten wurde er verhaftet und im Gefängnis ermordet. Sein Buch aber lebt weiter und wartet darauf von neuen Generationen entdeckt zu werden, denn es ist heute so aktuell wie damals.
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Gustav Landauer
Schon seit einer halben Stunde stand in der Mitte des Gemachs ein ausgewachsenes Menschenkind und sang in bald schwermütigen, bald jubelnden, aber immer eigenen Weisen: lalala, lalalala, lala, lalalala. Das Zimmer war sonst leer, und das Menschenkind war ein schönes Mädchen.
Es klang nicht kindisch, dazu sang sie zu kunstvoll; aber es war weder eine Melodie noch hatte je ein Komponist diese Weise gesetzt. Auch kam es ihr nicht darauf an, plötzlich abzubrechen, um dann wieder ganz leise anzuheben, und zwar diesmal vermischt mit dem Gesang der Worte: »Bald kommt Vater – freu' dich, Seele – Vater kommt!«
Aber er schien lange ausbleiben zu wollen, und das blasse Mädchen hörte endlich auf, seine sehnsüchtige Unruhe tönen zu lassen; sie seufzte und trat ans Fenster.
Die Berge drüben waren im Schnee begraben; auf den Bäumen im Garten unten lag aber nur eine dünne silberne Schicht, und die Straße war trocken und klirrte bei den Schritten der rasch Vorbeigehenden in eisiger Härte.
Das Mädchen faltete die Hände über dem Busen und ließ den Kopf hängen; ihr Mund verzog sich klagend, und es fehlte nicht viel, so wäre ihr das Weinen gekommen.
Da klingelte es außen an der Korridortüre. »Vater, Lieber, endlich, Vater!« rief sie jubelnd und eilte hinaus. Sie öffnete und schrie unterdrückt auf, laut genug. Dabei ward sie sehr blaß. Doch sagte sie fast augenblicklich, ehe der junge Mann, der außen stand, Zeit hatte zu reden:
»Sie sind's. Gegrüßt, vielmals. Das heißt überrascht. Kommen Sie. Wie wird sich Vater freuen. Legen Sie doch ab.«
»Grüß Sie, Fräulein Suse. Wie geht's? Hab' ich Sie so sehr erschreckt?«
»Ich glaubte sicher, Vater käme. Die Überraschung, wie Sie so unvermutet – nun, kommen Sie ins warme Zimmer. Vater wird kommen – bald.«
Die beiden traten ins Zimmer und setzten sich einander gegenüber an den Tisch. Er stand aber sofort wieder auf und blickte rasch im Gemach umher. Derweil sah sie zu Boden und schaute auch nicht auf, als sie seinen Blick auf sich gerichtet ahnte. Langsam war ihr das Blut wieder gekommen, und jetzt blieb sie glühend rot. Dabei zuckte es ihr wieder hilflos, weinerlich um die Lippen.
»Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet, Fräulein Suse. Wie geht es Ihnen?«
»Oh – mir – fehlt nichts. Und Vater ist sehr, sehr wohl.«
»Na, was sollte dem Alten fehlen? Aber auch Sie haben eine sehr gesunde Farbe. Blühend, rot. So kannte ich Sie gar nicht.«
»Sie täuschen sich leider. Es ist nur – es ist so heiß hier. Das wechselt sehr bei mir. Doch meist bin ich blaß. Sie wissen ja – das Herz. Es ist – wohl nicht besser.«
Sie sagte das alles zaghaft, schüchtern, mit Pausen der Verlegenheit. Sie tat ihm leid. Er war nie klug aus ihr geworden; aber er merkte jetzt bald, sie mußte dumm sein. Anders konnte er sich's nicht erklären.
Unterdessen fand sie, daß sie wieder etwas äußern müsse.
»Sind denn jetzt schon – Ferien?«
»Nein. Aber ich habe eine Überraschung für unsern Alten. Ich bin mit dem Examen fertig.«
Sie stand steil auf, als ob es ihr einen Stoß gebe. Doch sagte sie ruhig und freundlich:
»Da wünsche ich Ihnen schönstens Glück. Dann – bleiben Sie jetzt wohl hier?«
Er blickte sie etwas erstaunt an. Ihm schien doch auf dem Grunde ihrer Frage etwas Banges zu lauern.
»Wäre Ihnen das wirklich so unangenehm?«
»Ich glaube, ich habe das nicht gesagt. Aber – wenn auch –«
Sie verstummte. Die Situation war ihr schrecklich.
»Sie meinen? Fräulein Suse?«
Nun überwand sie sich und sagte in freundlich aufrichtigem Tone:
»Herr Prinz, Sie wissen, das kann nicht gegen Sie gemeint sein. Wir haben uns ja auch als Kinder vertragen. Es ist nur, weil Sie mir den Vater so viel entziehen werden.«
»Aber bestes Fräulein, Sie werden ihn doch nicht einschließen wollen? Wir reden ja nur zusammen. Wenn unsere Gespräche Sie interessieren würden, können Sie ja immer dabei sein. Nicht?«
Sie starrte in ihren Schoß und antwortete nicht. Endlich fragte sie leise, indem sie aufblickte:
»Sie glauben nicht, daß mich Ihre Gespräche interessieren?«
Er schaute ihr langsam in die Augen, die in dunklem Glanze unter ihrer weißen Stirne lagen.
»Fräulein Suse, ich kenne Sie nicht. Ich weiß es nicht. Es liegt etwas in Ihnen, das Sie mir nicht zeigen. Ich muß mich bescheiden, nicht zu urteilen.«
Das Mädchen war aufgestanden und preßte die linke Hand an die Schläfe. Dann warf sie den Kopf wie mit plötzlichem Entschluß zurück.
»Herr Prinz,« fing sie mit veränderter Stimme an; es war eine seltsame Klarheit in sie gekommen. »Sind Sie noch wie früher? Sind Sie wie mein Vater? Sie verstehen nicht. Ich meine – sind Sie anders als diese – andern? Kann man mit Ihnen sprechen, wie man mit sich selber spricht? Das heißt, manche sprechen ja auch mit sich nur ebenso wie mit der Welt oder wohl gar nicht. Nun verstehen Sie. Kann man aus sich herausgehen? So ist Vater. Und so waren Sie früher. Aber nun – vielleicht haben Sie sich geändert, seit Sie von ihm fort sind. Bitte – sagen Sie mir das. Dann können wir uns vielleicht verstehen.«
Was er sagen sollte, wußte er. Aber was sollte er denken? Dumm – nein wirklich, dumm schien sie doch nicht. Was war das?
»Fräulein Suse,« entgegnete er, »ich bin, der ich war. Was Ihr Vater, unser Vater aus mir gemacht hat, das kann keine Welt mehr ändern.«
Sie besann sich, dann lächelte sie ihn an.
»Nun denn – so will ich Ihnen mir die Hand geben, die wir vorhin vergessen haben. So. Und was ich also sagen wollte – ich hoffe, Sie lachen mich aus, aber ich muß es doch sagen – also... bitte, bitte, ver... ver... verlieben Sie sich nicht in mich. Ja, ja, wenn man von Anfang an nicht will, dann kann man's ganz schön lassen.
Bitte, nehmen Sie sich's vor. Dann – auf gute Freundschaft!«
Er war starr. Schließlich platzte er heraus.
»Aber – warum denn nicht? Verstehen Sie mich nicht falsch – ich möchte nur – ich verstehe nur nicht –«
»Brauchen Sie auch nicht,« lachte sie nunmehr ganz fröhlich, wie ein Kind, das seinen Willen bekommen hat, »also versprechen Sie mir's mit Ihrer Patschhand!«
Er sah sie an. Ihr Auge strahlte feucht. Ihre kußlichen Lippen, das einzige, was jetzt Farbe war in ihrem Gesicht, waren leicht zu einem Lächeln geöffnet.
»Nun, Fräulein Suse, da uns doch einmal die freie, schöne Wahrheit gestattet ist: Sie sind nicht kokett? Das müssen Sie mir sagen.«
Und sie versicherte in ernstem, selbstverständlichem Tone:
»Nein, wahrhaftig, ich bin nicht kokett.«
»Nun, so will ich's denn nur versprechen. Ich werde –«
Er zögerte
»Herr Prinz!«
»Aber Beste, das ist nicht so leicht. Mein Herz ist frei, und Sie –.«
»Herr Prinz, Sie müssen es sich vornehmen. Nochmals. Ich bitte Sie darum. Sagen Sie mir's.«
»Wir sind wahrhaftig zwei kuriose Menschen. Können Sie mir denn nicht ganz einfach und schlicht den Grund sagen?«
»Das ist's ja eben. Dann wäre ja alles natürlich und – nein, ich kann nicht. Bitte!«
»Nun denn hier meine Hand. Wir wollen sehen, daß wir uns nahe treten und gute Freunde werden.«
»Aber – jawohl, jawohl – das wollen wir, aber Sie sollten mir ja sonst etwas sagen.«
»Ach ach, ach ach, Sie Quälgeist. Konnte das nicht drin liegen. Ja, ich verspreche, mich nicht – Sie nicht – Sie nicht lieben zu wollen und Sie nicht zu bedrängen.«
»Schön, Sie guter Mensch. Das haben Sie lieb und recht gesagt. Hier!« Sie drückte ihm mit festem Griff die Hand.
»Und nun sollen Sie in Ihr Zimmer gehen und sich waschen. Kommt Ihr Gepäck? Haben Sie Hunger?«
»Weder das eine noch das andere. Ich habe am Bahnhof gefrühstückt, und im übrigen – ich werde mich vom Alten emanzipieren. Ich will mir heute noch ein Zimmer mieten. Das wird auch für unsern wunderlichen Vorsatz das Beste sein.«
»Ach Sie – es war ja gar keine Gefahr. Ich will nur Sicherheit.«
»Nun, da Sie nicht kokett sind, will ich nicht schmeicheln. – Ist das Kleid hier Ihr eigener Geschmack? Es ist schön.«
Suse trug ein sehr einfaches Morgenkleid aus feinem, lichtem Flanell, das nur durch eine breite, purpurne Schleife auffiel. Die zarte weiße Farbe des Stoffes und das glühend rote Band stimmten schön zu der Blässe ihrer Wangen und ihrer Stirne und zu ihrem brennenden Lippenpaar.
»Gefällt es Ihnen auch? Ich habe es so gewählt, damit es dem Vater gefällt. Nun – es ist sein Geschmack.«
»Wo steckt er denn eigentlich? Ich dachte sicher, ihn vorzufinden.«
»Und fast hätten Sie uns beide nicht getroffen. Er ist auf dem Eise – Schlittschuh laufen – nun bald zwei Stunden. Wir laufen fast immer zusammen – aber er meinte, es sei mir bei dem scharfen Wind zu anstrengend. Aber ich kenne ihn schon. Er hat manchmal so die Stimmung, mit Siebenmeilenschuhen auszufahren, das einsam trunkene Rasen – das ist so seine Sache, wenn ihm besonders wohl und herrlich zumut ist. Nun – und bei dem Wetter – da kommt ihm seine Götterstimmung. Da muß eben selbst Lysa zu Hause bleiben.«
»Lysa? Was ist das für ein Wesen?«
»Sehen Sie, nun bekommen Sie gleich Ihren Lohn, weil Sie brav waren. Sie dürfen mich auch so nennen. Lysa – so nennt mich Vater. Suse, vorhin von Ihnen, das klang mir nun schon ganz fremd.«
»Lysa, Lysa, das klingt so eigen, wie kam er nur darauf?«
»Sie kennen ihn ja, wie er ist. Er sagte plötzlich, das sei mein Klang. Lysa, das klinge wie ich. So heiße ich denn, wie ich dem Vater klinge.«
»Also, Fräulein, hm, Lysa, Sie haben ja heute den Tag Ihrer kalten Einfälle; wollen Sie Ihr Versprechen einlösen und mir für Waschwasser sorgen?«
»Mit größtem Vergnügen, durchlauchtigster Prinz Ludwig; ich muß aber bemerken, daß Ihnen hier der heimliche Nebengenuß von Wortwitzen erschwert wird; Vater Arnold lehrt mich in unseren Mußestunden Griechisch.«
»Hol, mich der Teufel – entschuldigen Sie –, ist dem Alten schwach geworden? Er hat doch sonst nicht viel für die Alten übrig gehabt. Mir hat er damals nur das Notdürftigste fürs Examen beigebracht.«
»So? Was hat er denn damals mit Ihnen gelesen?«
»Ich glaube, ein Stückchen Plato und ein bißchen Demosthenes.«
»Sehen Sie wohl? Und wissen Sie, was ich lese? Ein Stückchen Demosthenes und die Verteidigungsrede des Sokrates. Ein anständiger Mensch muß das im Urtext lesen – sagt Vater; es steckt Stil drin – sagt Vater. Und extra darum lern' ich Griechisch.«
»Und mein Waschwasser?«
Sie sah ihn lächelnd an. Dann sprach sie mit guter Innigkeit:
»Sehen Sie, so viel und so vertraut wie jetzt haben wir die ganzen Jahre nicht gesprochen, selbst uns Kinder trennte etwas Fremdes. Und wer hat uns zu Freunden gemacht, zu offenen Menschen? Ich und mein Mut! Stolz will ich sein. Na – nun kommen Sie nur.«
Und sie zog ihn strahlend an der Hand zum Zimmer hinaus in eine Gaststube und holte ihm selbst das Wasser und ein frisches Handtuch. Dann nickte sie ihm noch einmal zu und trat wieder in das Wohnzimmer.