Gustave Flaubert: Goldenes Meer - Bernd Oei - E-Book

Gustave Flaubert: Goldenes Meer E-Book

Bernd Oei

0,0

Beschreibung

Die verbesserte und erweiterte Monografie von 2010 analysiert drei Erzählungen und sechs Romane Flauberts und vergleicht sie methodisch jeweils mit konvergierenden Werken der Vorgänger Stendhal, Balzac, den Zeitgenossen Gontscharow, Turgenjew, Baudelaire und der Nachfolger Zola, Mallarmé, Maupassant. Thematischen Schwerpunkt bilden die miteinander verwobenen Leitmotive Traum, Orient, Liebe, Politik und Desillusionierung aller Ideale durch zunehmende Profanisierung und Säkularisierung. Als Interpretationsquellen dient seine Korrespondenz mit Colet, Turgenjew und Sand. Flaubert Topografie berücksichtigt das Meer der Normandie und die Wüste, vornehmlich das von ihm bereiste Ägypten und Tunesien als Gegengewicht zu Paris. Hintergrund für seinen Realismus bildet die Enttäuschung der Februarrevolution 1848, die zu einer skeptischen Grundeinstellung und Rückbesinnung der Kunst der l´art pour l´ art führt. Neben das Kriterium der reinen Ästhetik treten Wahrhaftigkeit und Präzision der Beobachtung. Mit dem Stil des Flaubertisme beginnt die Moderne in literarischer Abgrenzung zur Romantik, Naturalismus und psychologischen Realismus. Gedanklich rückt Flaubert in die Nähe Schopenhauers. Künstler und Bürger treten auseinander: Flaubert bleibt ein konservativer Beobachter, selbst wo er die Bourgeoisie unerbittlich verachtet und persifliert. Revolutionär ist ein Verzicht auf Kommentar und sittliche Pädagogik. Drei berücksichtigte Kritiken von Camus, Sartre und Nietzsche erweitern den Blickwinkel auf die Problematik des Engagements und ethischen Anspruchs an Poesie. Bernd Oei, Philosoph, Romanist und Autor, stellt Flaubert in der Reihe Grenzgänger zwischen Philosophie und Poesie vor.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 557

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Bernd Oei

Gustave Flaubert: Goldenes Meer

Grenzgänger zwischen Philosophie und Poesie, Band 3

Bernd Oei

Gustave Flaubert

Das goldene Meer

Literaturwissenschaft

„Wenn ich lebe, bin ich nur Narr, wenn ich schreibe, bin ich ein Gott.“

Flaubert an Sand, September, 1869

Impressum

Texte: © 2021 Copyright by Bernd Oei

Umschlag: © 2021Copyright by Belinda Helmert

Verantwortlich

für den Inhalt: Bernd Oei

Malerstr. 63

28207 Bremen

[email protected]

Inhalt

Prolog: Versuch einer Annäherung 7

I. Flaubert und seine Zeit 10

I. 1. Ein Grenzgänger – Analogien zu Camus 10

I. 2. Sartre: Flaubert - der Idiot der Familie 16

I. 3. Nietzsches Flaubert-Rezeption 27

II. Der Schriftsteller Flaubert 36

II. 1. Das Herz eines Irren – Mémoires d´un fou 36

II. 2. Flaubertismus 48

II. 3. Briefwechsel mit Louise Colet 56

II. 4. Briefwechsel mit George Sand 69

II. 5. Briefwechsel mit Iwan Turgenjew 78

III. Flauberts Romane 90

III. 1. Die Schule des Herzens 90

III. 2. Madame Bovary 108

III. 3. Salambô - Die Orientreisen 147

III. 4. Die Erziehung des Gefühls 170

III. 5.Die Versuchung des Heiligen Antonius 212

III. 6. Bouvard und Pécuchet 236

IV. Erzählungen : Trois Contes 268

IV. 1. Ein schlichtes Herz 268

IV. 2. Die Legende vom Heiligem Julian 287

IV. 3. Herodias 296

Epilog 317

Literaturverzeichnis 320

Prolog: Versuch einer Annäherung

Zu den Grenzgängern zwischen philosophischen Anspruch und poetischer Verarbeitung zählt zweifellos der vielleicht größte Stilist des 19. Jahrhunderts, Gustave Flaubert. Mit seinem Stil wird eine künstlerische Reaktion auf die Märzrevolution ersichtlich, ein autopoietisches Konzept der Moderne, das unter dem Phänomen der Tod des Autors1(Blanchot) eine neue Rezeptionsästhetik begründet. Exemplarisch veranschaulicht dies „Bouvard und Pécuchet“, ein philosophisches Experiment, das die zeitgenössische Wissenschaft belletristisch verarbeitet und hinterfragt. Die omnipräsente Stellung der Desillusionierung als Leitmotiv Flauberts ́ wirft erkenntnistheoretische Fragen auf und führt ihn über die phänomenologische Methode zum Genre des philosophischen Romans, der als Vorbild u.a. für Proust, Malraux und Camus diente.

Kaum ein Schriftsteller investiert mit ähnlich viel Aufwand Recherchen für einen Roman. Echt zu sein ging Flaubert über alles. Beispiellos erscheint die Akribie für einen perfekten Satz. Obschon Flaubert keinem Beruf nachging, schrieb er ein verhältnismäßig überschaubares Werk, klein gegenüber denen von Balzac, Zola oder Hugo, das allerdings seinen Fingerabdruck hinterließ. Für die meisten seiner Werke benötigte er durchschnittlich sieben Jahre.

Auf das Publikum bzw. seinen Geschmack verzichtete Flaubert freiwillig. Er sah sich allein dem Anspruch seiner Ästhetik verpflichtet und wirkte in diesem Sinn als erster Prophet der l´art pour l´art, zeitgleich mit seinem lyrischen Pendant Baudelaire, mit dem ihm nicht nur ein Prozess um die Sittenwidrigkeit ihrer Literatur und eine lose Freundschaft verband, sondern vor allem die gleiche ästhetische Gesinnung, die das Tor der literarischen Moderne aufstieß.

Die zwei Orientreisen für „Salambô“ und die lange Genesis des Ehedramas und Sittengemäldes „Madame Bovary“ verdeutlichen den Bildungsaufwand und die Vielzahl an Querverweisen auf den Kanon der Poesie und Philosophie.

Der Roman „Die Erziehung des Herzens“ zeigt, wie sehr die politischen Umstände das Konzept des Schreibens verändern und die Form der Karikatur zeitigen. Das mehrfach umgestaltete Lesedrama „Die Versuchung des Heiligen Antonius“ als Flauberts persönliches Lebensthema bewegt sich im Grenzbereich von poetischem, religiösem und philosophischem Diskurs: ohne entsprechende Vorkenntnisse bleibt sie unverständlich.2 Paradigmatisch steht der Antonius für ein eigenes Genre: das handlungsarme Drama, dessen Leitmotiv die Kraft der Illusion an sich ist. Für genau das hält Flaubert auch die Religion: eine kreative vergoldete Blase.

Der Großteil der Arbeit beruht auf textinterner Werkinterpretation, ergänzt durch biografisches Material (Briefe und Tagebuchnotizen), hauptsächlich in seiner Korrespondenz mit Sand3, Colet und Turgenjew. Die Romane bieten Vergleiche an mit seinen Vorgängern Stendhal und Balzac und seinen Nachfolgern Zola Maupassant und Roth.

Nietzsche sprach vom Fruchtbarwerden des Hasses auf die Bourgeoisie, der nicht konstruktiv zu werden vermag.4 Thomas Mann unterschied prinzipiell Romane, die etwas über das Leben des Autors aussagen, weil sie vorwiegend von Selbstdarstellung getragen sind, von jenen, die wenig über den Autor verraten und stattdessen ein Kaleidoskop der Zeit sind, wozu er Flaubert zählte.

„Moderne“ ist eine unpräzise Terminologie; paradoxerweise fühlten sich ihre wichtigsten Vertreter nicht wohl in ihr und müssten daher als Kritiker der Moderne bezeichnet werden, zumal Flaubert zu konservativen Ansichten neigte, obgleich er stilistisch mit zahlreichen Tabus brach. Seine immer wieder zitierte Selbstaussage: Madame Bovaryc´est moi entbehrt nicht der tragischen Ironie, da ihr Schöpfer ein erklärter Feind der Emanzipation war und Sentimentalität verachtete. Begrifflich aber steht seine Literatur zwischen dem Realismus Balzacs, dem Psychologismus Stendhals und dem Naturalismus Zolas. Daher hat man, hierin Kafka vergleichbar, einen eigenen Gattungsbegriff erfunden: den Flaubertismus. Denn der Traum spielt die dominante Rolle in seiner Kunst und er währt mitunter über seine Entzauberung hinaus.

Zu den prägenden Begegnungen Flauberts, die ihn träumen ließen, gehörte auch Elisa Foucault (Madame Schlésinger), die als Frauenideal wesensbestimmend und leitmotivisch sein gesamtes Werk bestimmte, indem sie die innere Realität des Autoren besetzte. Illusionen erweisen sich in seinem Werk als realer und dauerhafter als die objektive Wirklichkeit. Flaubert: „Man muß sich daran gewöhnen, in den Menschen um uns herum nur Bücher zu sehen.“5

Zu den Grenzgängern zwischen Philosophie und Literatur gehört auch Rilke, der sich zu Flaubert bekannte: „Sie lesen Balzac. Ich habe mich immer an Flaubert gehalten. So las ich eine wunderbare frischere Fassung der Education Sentimentale, die mit dem späteren Roman kaum etwas gemein hat... unbesonnenes Herzwesen kommt darin nur in köstlicher Übersetzung vor.“6 Dem Zitat ist zu entnehmen, dass Rilke beide Versionen von „Die Erziehung des Gefühls“ kannte: um die Versionen leichter unterscheidbar zu machen, wird die erste Version „Die Erziehung des Herzens“ tituliert.

Wie für alle großen Stilisten gilt: Flaubert zu übersetzen ist nahezu unmöglich, seine Virtuosität geht immer verloren. Flaubert selbst rezipierte - vorwiegend antike Literatur - im Original, weil er um den substanziellen Einfluss der Grammatik wusste. Lesen bedeutet ihm, „Literatur machen“. Walter Benjamin sah sich durch seine Übersetzung Prousts zur Auseinandersetzung mit Flaubert genötigt; er merkte in seinen „Literarischen Notizen“ an, Flaubert habe neben Baudelaire das Konzept des Flaneurs und Voyeurs wie kein anderer umgesetzt und die „Verwichenheit der Naivität“ von dem Autoren genommen. Analog kommentierte Theodor Adorno, Flaubert wäre von „unverwelkter Aktualität“. Sartre unterschied in den Dienst der konkreten Veränderung der Gesellschaft stellen (littérature engagée) von jener Flauberts indifferenten Haltung (littérature desengagée), die sich in purem Ästhetizismus verliere und ohne gesellschaftlichen Wert bleibe, im Gegensatz zu Victor Hugo.

Sartre irrte, denn mit Flaubert setzte ein Bewusstsein dafür ein, dass sie sich keinesfalls ideologisieren lassen dürfe. Hugo schreibt über die Wissenschaft, Flaubert, der ihn einen Dilettanten heißt, schreibt mit wissenschaftlicher Akribie. Hugo macht Verlag und Verleger und dem Publikum zuliebe zahlreiche Kompromisse - Flaubert weigert sich, nur einen Satz für den Erfolg zu ändern - „nicht ein Komma“, schreibt er seinem Verleger Michel Lévy. Für die Autonomie der Kunst nimmt er Scheitern billigend in Kauf: eine solche Haltung ist politisch, auch wenn sie keine Partei ergreift.

Die vorliegende Monografie beginnt mit den historischen. politischen und biografischen Rahmen für die Kunst des Romanciers; dem sich die Kritiken Nietzsches und Sartres anschließen. Sie führt zur Interpretationen seiner sechs Romane, komplettiert durch drei Erzählungen. Jedes Werk wird mit mindestens einem anderen verglichen. Kommentare Flauberts aus seiner Briefkultur bringen eine weitere Facette Flauberts zum Vorschein.

I. Flaubert und seine Zeit

I. 1. Ein Grenzgänger – Analogien zu Camus

Grenzgänger zwischen den Epochen und fernab von Klischees „müssen ankämpfen gegen die neurotische Furcht, nicht perfekt zu sein – erinnern Sie sich an Flaubert, der seine Salambô mit neun Jahre Studium verdarb. Geschichte kann man nie genau reproduzieren-wer weiß denn die Wahrheit – wir müssen sie erfinden.“7Stefan Zweigs Zitat verrät drei Elemente des Flaubertisme: das akribische Arbeiten, das neurotische Streben nach Vollkommenheit im Stil und den Zwang, es nächstes Mal besser zu sagen. Zweig, für den Balzac das Maß aller Dinge unter den französischen Romanciers beinhaltet, unterteilt in seinen drei Monografien über jeweils drei literarische „Baumeister der Welt“ in dämonisch-mephistophelische und faustisch-tellurische Figuren; dabei stellt er eine dionysische Grundhaltung bei Flaubert fest, die ihn in Nähe von, Kleist, Dostojewski, Hölderlin und Nietzsche rückt. Einen „kalten Romantiker“ heißt ihn Camus.

Zweig wird wie Rilke oder die Mannbrüder in jene Zeit der Moderne und des Realismus hineingeboren, die in Flauberts Werken gründet. Im Mittelpunkt seines Realismus steht nicht äußere Erfahrung, sondern das innere Erlebnis. Das Ringen um den wahrhaftigen Ausdruck seelischer Vorgänge tritt an die Stelle der Gesellschaftsbeschreibung und ihrer Veränderung.

Flauberts Grenzgänger-Persönlichkeit ist gespalten in einen melancholisch träumerisch veranlagten Teil und einen kulturkritischen Visionär, der „die Geschichte der Kunst als die des Fortschritts ihrer Autonomie begreift“ und Illusionstechnik induziert : „Will der Roman seinem realistischen Erbe treu bleiben und sagen, wie es wirklich ist, so muß er auf einen Realismus verzichten, der indem er die Fassade reproduziert, nur dieser bei ihrem Täuschungsgeschäfte hilft."8 Er destruiert die Kulturindustrie und deren Behaglichkeit.

Flaubert lebt in der Industrialisierung; Telegrafen und Fotografen revolutionieren die Welt, die Eisenbahn verdrängt das Pferd. Raum und Zeit wachsen ineinander; das Gesicht Paris wandelt sich während der Hausmannisierung unter Napoleon III, so dass es der aus dem Exil zurückgekehrte Hugo nicht wiedererkennt. Ein Leitmotiv Flauberts bildet die zunehmende Entfremdung durch schrumpfende Entfernung, das Auseinanderklaffen von Lebenszeit und historischem Bewusstsein, die perspektivische Verlangsamung der Zeit durch rasende Beschleunigung. Mit Hegel und Hurra oder Glanz und Gloria zieht man in Kriege und erobert Kolonien, weil alles machbar ist und darum auch erlaubt erscheint. Nationen ersetzen Reiche, Erfindungen zerstören Traditionen. Kein Gebäude, keine Institution bleibt vom Wandel verschont. Soziale Brennpunkte führen zu Massenaufständen in Frankreich im Namen der Freiheit, doch was progressiv beginnt, endet in Restriktion und Restauration. Flaubert erkennt den Zusammenhang von Massengesellschaft, Massenvernichtung und Massenmobilität. Gegen so viel Realitätssinn setzt er die Einbildungskraft: „Imaginieren genügt, damit der die erträumte Gestalt sich vage verzehrt.“9

Bataille untersucht in seinem Werk die Wechselwirkung von Traum, Fantasie und Utopie. Er sieht in Flauberts Poesie den einzigen Weg zur Wiederherstellung des verlorenen Glücks: „In der Glückseligkeit der inneren Bewegungen ist die Existenz im Gleichgewicht. Das Glück verliert sich in der atemlosen, lange vergeblichen Suche nach dem Objekt.“ Das Sein ist nirgendwo und gleichzeitig überall und jederzeit. „Die Erfahrung erreicht schließlich die Verschmelzung von Objekt und Subjekt, indem sie als Subjekt Nichtwissen ist, als Objekt das Unbekannte.“ Flauberts Helden handeln passiv und fatalistisch, doch gleichen sie mehr Sisyphos als Prometheus. Nicht zu handeln muss nicht Aufgabe oder Gleichgültigkeit bedeuten, sondern Skepsis gegenüber der Fortschrittsideologie. Camus ist der optimistische Skeptiker, Flaubert der Misanthrop.

Camus' Maxime: „Ich bin, also empöre ich mich, aber wir sind allein“10 trifft auch auf Flaubert zu. Daher nimmt der Gedanke der Erziehung des Herzens einen großen Raum in ihrer beider Literatur ein. Das Herz wird zur terra incognita als die unbekannte, verdrängte oder unbewusste Natur unseres Wesens. Sie zu erforschen ist nur über den Umweg der Beobachtung und des Selbstexperiments möglich, um die Einstellung zu verändern und polymorph zu gestalten. Drei Wege stehen zur Wahl: Mit dem Floß lässt man sich treiben, bleibt den Kräften der Natur ausgeliefert. Mit dem Segelschiff lernt man, auf Umwegen, doch mit Einflussnahme ans Ziel zu gelangen. Mit dem Motorboot gelangt man linear ans Ziel, entwickelt sich dabei aber nicht. Dialektik des Stillstands.

Nicht zufällig findet Flaubert im Maghreb, in der Wüste, seine ideale Landkarte (mind map). Das Licht ist seit der Antike Metapher für Erkenntnis, die Wüste die Geburtsstätte aller großen Weltreligionen, äußere Armut sieht sich häufig mit innerem Reichtum verbunden. Die Aufklärung mit ihrem Anspruch auf Glück und Freiheit wird als Les Lumières bezeichnet. Camus und Flaubert beschreiben, wie das Licht die Vernunft den Menschen blendet, wie die Hoffnung täuscht, die Freiheit verkommt. Sein, Haben und Vorstellung machen den Unterschied.

Auf beide Autoren trifft Schopenhauers Aphorismus zu: „Der Mensch gleicht einem wilden Tier. Wir kennen ihn bisweilen nur im domestizierten Zustand.“11

Was Flaubert das „paradoxe Schreiben“ heißt, weil die Erkenntnis erst Leiden erzeugt, nennt Camus das „Aushalten des Absurden“. Die Veränderbarkeit betrifft allein die innere Wirklichkeit, die Pascal als die Vernunft des Herzens bezeichnet. Man erreicht nie ans Ziel, aber man gelangt auf einen Weg. Für die wahre Erkenntnis wird Täuschung notwendig und der Irrtum erweist sich als die tiefere Wahrheit. Die Geschichte stilisiert häufig den Weisen (den Einäugigen unter den Blinden) zum Außenseiter. Flaubert ist ein Prophet ohne Lehre und konventionelle Moral. Die äußere Erscheinung trügt; dieselbe Erkenntnis vermag zu zerstören oder gebiert neues Leben. Er zwingt sich zu einer vorurteilsfreien Betrachtung und konfrontiert unablässig verklärende Romantik mit pragmatischer Sachlichkeit und unitaristischer Nüchternheit. Die Bewertung überlässt er dem Leser, nur so verbleibt die Reflexion rein. In seinen Tagebüchern und Briefkorrespondenzen dagegen kehrt er nostalgische oder sentimentale Seite hervor.

Das Absurde, so Camus besteht darin, mit logischen Mitteln die Irrationalität zu erforschen. Ein Gefühl der Ohnmacht ist beiden Autoren zu eigen. Zwei Willensformen, reduziert auf den zum Schein (Illusion) und zur Wahrheit (Desillusionierung) ringen miteinander. Dies führt zu einem Konzept der Täuschung, verbunden mit der Negation des Ideals. Für Flaubert liegt in einem Ideal wie Freiheit keineswegs Befreiung vor, sondern das Gegenteil, die Enttäuschung. Die Sehnsucht nach Einsamkeit ist gleichzeitig ein Erbe der Romantik (Kult des Genies und des Individuums) als auch real erlebter Kränkungen. Das Auseinandertreten von biografischen und künstlerischem Selbstentwurf ist unausweichlich: Schreiben ist nur in der Einsamkeit möglich.

Etwa hundert Jahre nach Flaubert erlebt Camus die dreifache historische Desillusionierung einer großen Idee (der Gerechtigkeit) und eines Ideals (der Freiheit) im Kommunismus, im Humanismus und im Existenzialismus. Die Tyrannen siegen, der Krieg hat das letzte Wort, seine Heimat versinkt im Terrorismus. Unentwegt solidarisiert er sich der Seite der Verlierer. Wie Flaubert während der Pariser Commune erlebt er ein okkupiertes Paris unter Deutschen, fühlt er sich als Chronist des Niedergangs, spürt den Verlust menschlicher Werte, wird zum Kritiker unbequemer Wahrheiten, ringt um den Wert von Freundschaft und ist tief bestürzt von dem politischen Verrat an seiner Generation. Camus und Flaubert verbindet die Ablehnung aller Dogmen und Vulgarität.

Bezüglich ihrer Ästhetik finden sich sowohl Parallelen als auch Unterschiede. „Kunst ist eine Bewegung, die gleichzeitig bejaht und verneint ... eine in Form gebrachte Forderung nach Unmöglichkeit.“12

In „Kunst und Revolte“ bezeichnet Camus den Schriftsteller als Revolutionär und Schöpfer, der vor allem dem Stil und der Glaubwürdigkeit gegenüber verpflichtet ist: „In der Kunst, sagt Flaubert, soll man die Übertreibung nicht fürchten. Aber er fügt hinzu, die Übertreibung müsse stetig und im Verhältnis zu sich selbst sein. Wenn die Stilisierung übertrieben ist und sichtbar wird, ist das Werk reine Sehnsucht: die Einheit, die sie zu gewinnen sucht, ist dem Konkreten fremd. Wenn die Realität dagegen im Rohzustand geliefert wird und die Stilisierung unbedeutend ist, wird das Konkrete ohne Einheit dargeboten. Die hohe Kunst, der Stil, das wahre Gesicht der Revolte liegt zwischen diesen beiden Ketzereien.“

Der Widerspruch liegt darin, dass der Mensch die Welt ablehnt, aber nicht zurückweist, so dass er, wenn er sich empört und damit revoltiert, sich zur Stimme dessen macht, was gesagt und gehört werden muss und damit zum Anwalt der Gerechtigkeit. Er darf niemals die Gegner mit den gleichen Waffen der Gewalt unterdrücken, dem Ressentiment erliegen. Camus sieht in Flaubert einen expressiven „van Gogh der Sprache“. Einen Künstler, der den Schöpfer nicht nach der Welt beurteilt, die er hinterlassen hat, sondern nach jener Sphäre des Möglichen und des Traums. Ein „Rembrandt, der zwischen Schatten und Licht“ steht und diese Dissonanz für sich künstlerisch gestaltend zu nutzen versteht. In „Die Heilige Versuchung des Antonius“ liegen drei Aspekte zugrunde: Die Hölle ist die stete Versuchung des Schriftstellers, weil das Schöne die Moral nicht kennt. Doch diese Hölle des inneren Exils, der Verbannung, währt nur kurz. Nicht die Qual am Bewusstsein, sondern die Qual am Selbst ist die wahre Hölle menschlicher Existenz, denn sie inkludiert die Unfähigkeit zu lieben. Die Negation der politischen und historischen Epoche des Nihilismus führt dazu, dass er an nichts mehr glaubt und sich für nichts engagiert.

Der zweite Aspekt besteht in der Diskontinuität; wer sich selbst treu bleiben will, muss sich beständig wandeln, doch zumeist obsiegt die permanente Selbstverleugnung. Bei Flaubert wird deutlich: Die Kunst der Imagination tritt an die Stelle der Religion und des allwissenden Gottes. Sicherheit verkommt zur Zerstreuung und zur Zerfallenheit, doch in der Kunst vollzieht sich Neugeburt des Menschlichen. „Wer die Küste ablehnt, muss doch mit dem Meer übereinstimmen.“ Auf jede Negation folgt eine neue Affirmation, auf den Tod Gottes ein neuer Götze. Die Kunst, so Camus, tritt in Wettstreit zu Gott.

Es ist kein Zufall, dass Flauberts intensivste Freundschaft Turgenjew gilt. Beider Kritik entzündet sich am Nihilismus, den die Wissenschaften auslösen. Obgleich Flaubert erkennt, dass Kultur nur dort möglich ist, wo der Nihilismus überwunden wird, bleibt er im eigenen Ressentiment gefangen. Besonders deutlich macht dies die Figur des Homais aus „Madame Bovary“ – weil der Apotheker in seiner maßlosen Vergottung des Wissens sich am Menschen vergreift und ohne es zu merken zum philisterhaften Esel wird. Sein vergoldetes Messingschild und der amputierte Gehilfe erscheinen als symbolische Absage an den Szientismus, dem Flaubert doch selbst unterliegt.

Politisch kann Flaubert die Wunden der gescheiterten Märzrevolution nie verschmerzen, während Camus´ Widerstand nicht erlahmt. Weder zieht sich nicht in die Isolation zurück, noch resigniert er und öffnet sich dem Neuen, während sich Flaubert dem kategorisch verschließt.

Flauberts´ größter Feind, die Langeweile ist ein Symptom der zunehmenden Dekadenz des Bürgertums im späten 19.Jahrhunderts. Camus´ inneres Exil bleibt fruchtbar, weil er trotz aller Enttäuschung immer den Dialog sucht und weil der Atheist Gott leugnet, niemals aber die Schöpfung, den Zauber der Natur. Der Katholik Flaubert, invers, glaubt an Gott, aber nicht an seine Schöpfung; der Mensch ist nur Makel oder Irrtum für ihn. Hinter allem steht mangelnde Selbstannahme und Selbstwertgefühl, die méchant, die bösartig macht und keine Lösungen mehr sucht, sondern nur Auswege. Während Flaubert den Menschen samt seiner Zukunft auf-und preisgibt, demzufolge in Pessimismus verfällt, nutzt Camus seine Skepsis, um mit dem Absurden, das sich aus der Welt nicht tilgen lässt, umzugehen. Er erkennt die Krisis als Chance zur Umkehr, nimmt die Katastrophe wörtlich als Umkehr hin zu eine, wie er es nennt, mediterranen Denken. Solche Inseln des Glücks kennt Flaubert nicht. Ein Satz wie „Wir müssen uns Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen“ kommt Flaubert nicht über die Lippen. Stattdessen formuliert er: „Es gibt Momente, … in denen ich getrost zusehen kann, wie die Menschheit untergeht.“13

I. 2. Sartre: Flaubert - der Idiot der Familie

Es muss überraschen, dass die detaillierteste Monografie über Flaubert von seinem Kritiker Sartre stammt, die sich auch in ihrem provokanten Titel niederschlägt. In seine fünfbändigen Studie, auf dreitausend Seiten „Flaubert-der Idiot der Familie“, schreibt Sartre im Sinn des historischen dialektischen Materialismus, er könne einen Autoren nur verstehen, wenn er alles über seine Zeit und die ihn prägenden Umstände wisse und bezeichnet dies als Totalisierung des Objekts. Als Summe aller ablaufenden Handlungen und prozessualer Verlauf der Bewusstwerdung „So ist also Dialektik totalisierende Aktivität ... als Einheit der totalisierenden Handlung, welche alle Prozesse einschließt, welche diese Handlung ermöglichen und bedingen und begrenzen.“14

Bereits in der „Kritik der dialektischen Vernunft“ äußert sich Sartre zum Fall Flaubert: „Madame Bovary erklärt Flaubert und nicht umgekehrt.“ Der Schriftsteller wird zur Projektionsfläche einer Selbstinszenierung und Fallbeispiel für einen gescheiterten Lebensentwurf. „Der Mensch ist niemals ein Individuum, sondern ein Allgemeines von seiner Epoche totalisiertes Wesen.“ Flaubert ist anti-hegelianischer „Schöpfer des modernen Romans ... am Kreuzpunkt aller heutigen literarischen Probleme.“

Sartre macht, wie auch in seiner Studie über Baudelaire, die extrem unglückliche Kindheit Flauberts verantwortlich für seinen Trotz und infantile Sturheit. Die Ablehnung des Vaters und Lieblosigkeit der Mutter prägen nicht nur seine Kindheit, sondern auch seinen missgünstigen Blick auf die Menschen. Sartre zentriert die Angst vor dem Wahnsinn als Ausgangspunkt für Flauberts wiederkehrende Selbstmordfantasien, die bis ins hohe Alter anhalten. Geprägt von Inferioritäts-und Minderwertigkeitsgefühlen, in den Augen seiner Familie nur der idiotische Versager und Stotterer zu sein, verkörpert Flaubert laut Sartre – angelehnt an laservitude volontaire den freiwilligen passiven Gehorsam, wie bei einem Sklaven, der sich nicht gegen seinen Herren empört. Indem er seinen Vater nicht anerkennt, verleugnet er zugleich sich selbst. In dieser doppelt negativen Negation hat Leiden Sinn und totalen Unterwerfung wird zum Selbsterhaltungstrieb. Flaubert will, sein Subjekt (das Ich des Kindes) durch Aneignung des Objekts (die Eltern) wiedergewinnen. Wenn Zustimmung und Revolte, wie in seinem Fall gleichermaßen unmöglich sind, bleibt die Unselbständigkeit zurück.

Gehorsam ist für Sartre zugleich Nicht-Sein der eigenen, verweigerten Existenz und Sein in Form von Selbstbestimmung, welche auf sich genommen wird und gesteigert in das Verlangen nach Selbstmord führt. Der Theorie nach nährt die Romantik diesen Trieb bzw. die Sehnsucht nach Auslöschung des Ichs. In seinem Frühwerk, exemplarisch in „Das Herz eines Irren“ thematisiert Flaubert den Freitod und auch „Die Verführung des Heiligen Antonius“ (drei Fassungen) inkludiert ihn in einer Version. Der imaginäre Suizid stellt die Kulmination der Zerstörung dar und diese ist nur die Folge einer negativen Schöpfung. Da jede Negation eine Affirmation voraussetzt hätte es aktiven Widerstands bedurft, um engagierte Kunst zu erzeugen.

Flaubert macht die Erfahrung, sein Traum als auch die Poesie bleiben von der Herrschaft ausgespart. Der Rückzug ins Innere wird so zu seinem übersteigerten Raum der Freiheit. „Auf dem Umweg eines möglichen Selbstmordes gewinnt das Kind seine Existenz aus sich selbst.“15 Suizidfantasien transformieren sich mit der Zeit in sexuelle Unterwerfung, die sich in lethargischen männlichen Protagonisten und dominanten Frauentypen widerspiegelt Flaubert, der „ständig von der Revolte träumt“, schiebt sie durch seine Passivität nur auf.

Die Erlösung folgt durch die unheilbare Krankheit der Epilepsie; das traumatisierte Individuum flüchtet sich in diese Krankheit. In der autobiographisch gefärbten Erzählung „November“, fallen Sätze wie: „Er dachte einen Augenblick daran, ob er nicht Schluss machen sollte“ Flaubert transformiert seine Selbstentfremdung in eine „unaufrichtige Unterwerfung“; er kokettiert mit dem Suizid als eine Freiheit, an die er im Grunde gar nicht glaubt. Für Sartre gefällt er sich wie viele von der Februar-Revolution Enttäuschte in der Rolle des Opfers,

Der Hass auf das Bürgertum ist folglich Selbsthass mit einem Vaterkonflikt als biografische Beigabe. Durch Verzichtet auf alles, was dem Vater gefallen würde, schadet sich der junge Autor selbst und bleibt trotz seines Künstlertums ein Bourgeois. Er verwirft sozialen Aufstieg, Karriere, Engagement, doch nur, um sich zu Hause zu langweilen: „Außerhalb des Familienentwurfs, in dem er sich entfremdet hat, gibt es bei Gustave keinen wirklichen primären Entwurf, er verweigert sich ... er ist einfach krank, faul und projiziert sich nur noch im Schreiben.“ Die Folgen sind Fatalismus und Abwertung der anderen, auf die Flaubert stets als Dilettanten herabschaut. Dabei verurteilt er sich zur Passivität. Mit Sätzen wie: „Ich bin nicht geschaffen um zu leben“ entwirft sich der Zwanzigjährige negativ, d.h. als machtlos gegenüber seinem stets wachsenden Unglück, das er selbst nährt. Dabei entsteht eine weibliche, an Madame Bovary erinnernde Grundhaltung, „alles bis zum Schlimmsten zu durchleiden“ und somit aus der Schwäche eine Tugend zu machen.

Hinter seiner Passion für das Altgriechische und Latein und der Weigerung, Shakespeare zu lesen, steht die Faszination der Ananke; Flauberts Kult, alles schicksalhaft und zwanghaft zu erleben. Dass er Momente der Erinnerung einfriert und alles vermeidet, um diese zu überprüfen oder etwas zu wagen scheint eindeutig, denn die erschaffene Traumwelt zeitigt keine Helden, sondern im Grunde nur Narren und Träumer, was für Sartre auf dasselbe hinausläuft. Hinter dem sich das Bedürfnis nach Ohnmacht verbirgt. Die Faszination für Okkultismus (Ägyptologie, Swedenborg) zeitigt einen bizarren Synkretismus mit der bereits jugendlich rezipierten Antike und Katholizismus.

Ein Hang zur Transsexualität die Frauenrolle, weil er sich mit ihrer unterdrückten Art und devoten Rolle identifiziert. Bereits seine erste Frauenfigur Marguerite in der Erzählung „Un parfum à sentir“ (1836), das noch im romantischen Stil gehalten ist und nichts von seiner Originalität verrät, spielt, wie der Titel verrät, mit der Doppeldeutigkeit der Sprache: sentir inkludiert riechen, empfinden, erinnern – der Duft amalgiert die drei Tätigkeiten, die allesamt rezeptiv sind. Die Handlung nimmt Madame Bovary vorweg: eine unglückliche Frau verliert sich zunehmend in einer Traumwelt, am Ende begeht sie Suizid.

Die Eigenschaften (plump, hässlich, voller Angst und Lebensekel) spricht er sich selbst zu. Sartres Maxime lautet: „Man muß handeln, um zu sein“; Flauberts könnte lauten: „Man muss träumen, um zu vergessen, wer man ist.“ „Diese gefestigten Träume ersetzten die unmögliche Revolte: er stillte in ihnen irreal seine sexuellen Triebe.“16 Flauberts künstlerisches Sendungsbewusstsein fordert die totale Identifikation mit der Kunst und das religiöse Opfer an sie.

Nach dem Balbutismus stellt sich im Alter von 22 Jahren Epilepsie ein, die Flaubert in reiferen Jahren voraussehen und sogar beeinflussen kann. Die Krankheit gewährt ihm alle Freiheiten. „Diederich Heßling ist ein ängstliches und sensibles Kind, das dennoch seine ebenso zarte Mutter für ihre Schwäche verachtet.“ Der erste Satz aus Heinrich Manns „Der Untertan“ könnte nicht treffender Flaubert portraitieren, dessen betont männliches Auftreten auf Imponiergehabe und Kompensations-Aggressivität hinausläuft. Dies gilt auch für seinen kultivierten Hass auf die Bourgeoisie als Spießertum, das er doch selbst in Vollendung praktiziert: „An die Stelle der Dialektik von Haben und Sein wird er die Frage von Sein und Tun setzen.“

Flaubert wählt bevorzugt Passivkonstruktionen: „sich schreiben lassen“ anstelle von lesen oder „sich arbeiten lassen“, wenn er das Gelesene reproduziert. Äußerlich bildet der Orient, innerlich der weibliche Eros das Zentrum seiner Idealisierung, die zugleich eine Illusion von der makellosen Schönheit ist. Man liebt nur, woran man leidet, schreibt Flaubert und Makellosigkeit liefert eine unstillbare Sehnsucht, traurig wie eine glückliche Erinnerung.

Die Rezeption von 27 historischen Studien zu „Salambô“ steht in keinem Verhältnis zu den Recherchen eines Romanciers über seinen Stoff. Sartre hält Flaubert für einen notorischen Sammler, der nach Vollkommenheit strebt. Was Hegel in der Vernunft verabsolutiert und Marx im Kapital wird für den Schriftsteller aus Rouen die Kunst der Improvisation auf der Basis von Wissenschaft. Bestes Beispiel für die Engführung von Fantasie und akribischer Suche des Details liefert seine Begegnung mit Elisa Foucault, der Frau seines Lebens, der vielleicht einzigen, die er liebt. Flaubert lebt, um von ihr zu träumen und sich an sie zu erinnern, nicht, um mit ihr zu leben oder um sie zu kämpfen. Elisa Schlésinger bleibt nur im Traum oder im Verzicht auf ein gemeinsames Glück Quelle für Inspiration. Flaubert gesteht seinem Intimus Maxime du Camp, „daß er sie nicht liebte, solange sie seine Träume in makelloser Schönheit durch ihre lästige Gegenwart störte.“ Die reale Liebe erscheint ihm banal.

Sartre wendet auf Flaubert wiederholt hegelianische Dialektik aus dem Kapitel „unmittelbares und mittelbares Selbstbewußtsein“ an, und verteilt diese Abstraktionen auf Herr (Selbst, Subjekt) und Knecht (Bewusstsein, Objekt) in dem Schriftsteller. „Die geduldige Negation des Knechts durchdringt und verwandelt also nicht nur die Ethik des Herrn, sondern eher der Knecht produziert den Herrn.“ Flauberts Bewusstsein reproduziert durch seine literarische Arbeit den Autoren und subsituiert Leben vollkommen durch den Traum. Der Sinn des Lebens besteht darin träumen zu können, um darüber zu schreiben.

Poesie impliziert das reine „für sich sein“, der Autor wird Gott, verweigert sich in der realen Existenz. Der unendliche Konjunktiv totalisiert sich ausschließlich im Schreiben. Besonders seine Briefen an Louise Colet untermauern die orgiastische Freude am kreativen Prozess „Man muß korrekt und genau schreiben und rasend und leidenschaftlich“ Die Form entspricht dem Traum, der Stoff dem Leben; folglich ästhetisiert Flaubert die Banalität. Keine seiner Geschichten glänzt durch Originalität und das Grundmotiv wiederholt sich, doch diese Langeweile füllt der Autor mit einer beispiellosen Schönheit seiner Vorstellungskraft und Wortfindungskunst. Nur die Imagination erlaubt Vollkommenheit.

Man muss sich an Details abarbeiten um in die Dingwelt sich einzuschreiben. Nichts ist schlimmer als etwas nicht vollkommen schön zu sagen. Melancholie und Langeweile sind grundbestimmend; fatras und ennui bilden existenzielle Grundlagen für Flauberts Flucht in die „Phantasmagorie“.

Kaum ein Schriftsteller ist frei von der Furcht zu scheitern, indem er den eigenen Ansprüchen nicht genügt. Flaubert erlebt sein Fiasko mit „Smarh“, dem ersten Versuch seines Saint Antoine „Ich werde noch so weit kommen, daß ich Angst davor habe, keine Zeile mehr zu schreiben. Die Sucht nach Perfektion läßt einen noch verabscheuen, was ihr nahekommt.“17

Mit zahlreichen Briefstellen ist nachweisbar, wie tief die Versagensängste in Flauberts wurzeln. Er fürchtet die künstlerische Sterilität durch ein Übermaß an Rationalität. Als Maxime du Camp ihm weniger Geschmack und weniger Talent wünscht, um weniger unglücklich zu sein, erwidert er: „Der Schrecken des Schlechten überfällt uns wie ein Nebel ... Egal. Sorgen wir uns nicht um das Ergebnis, das Nichts.“

Auffallend häufig verwendet Flaubert die Worte tant pis, rien und le vide. Sartre konstatiert Flauberts zunehmende Depression bei der „Versuchung des Heiligen Antonius“, die zwanzig Jahre geschichtliche Studien verschlingt. Am Ende erscheint das Drama unverdaulich und unaufführbar. Kontrollverlust und Machtrausch kollidieren „Das imaginäre Kind geht ganz im erwachsenen Mann auf. Die Flut der Bilder lassen sich nie in einen Kanal zwängen. Philosophische Schriften erfordern mehr Disziplin als Einbildungskraft.“

Wie aus seinen Briefen hervorgeht, glaubt er, dass sein Tod als Dichter die Folge eines engagierten Bürgers wäre. Er begreift sich als Mittel eines höheren Zweckes der esthétique pure. Sartre spricht vom „Ensemble inerter Verpflichtungen“, einer pränatalen Identifizierung, die ständigem Kontrollverlust und Versagensängsten ausgesetzt ist. Die Epilepsie befreit und zwingt zugleich zu einem Biorhythmus, der Kontrollzwang und Selbstbeobachtung unterliegt, die der Autor „Hygiene des Schreibens“ nennt. Flauberts écriture ist einem Moment der Fixierung geschuldet. Er macht sich zum Objekt, reinen Gegenstand seiner Schaulust, der „Lust am Masochismus“ (Sartre). Reaktion erscheint Sartre als hysterische Überreizung der Nerven, die zur Imitation des Todes führt.

Flaubert beschreibt seine Anfälle mit Bilderwirbel, Strudel oder Schaum, „als ob mein Bewußtsein unterginge. Man fühlt sein Leben entschwinden.“ Seiner Ohnmacht entspricht der Wunsch nach völliger Passivität; eine kaskadenartige Flut von Bildern strömt auf seine Nerven ein; äußerlich ist er gelähmt, innerlich hyperaktiv. Die apokalyptischen Visionen ermöglichen den Saint Antoine. „Flaubert empfand seine Krankheit als physischen Orgasmus, als Lust am Untergang.“

Die Ambivalenz und Polarität von Wunsch und Furcht der Ichauflösung gehen aus Flauberts Briefen deutlich hervor: „Mein Ich ging unter“ heißt es nach einem epileptischen Anfall. Der Masochismus wird elementarer Bestandteil seiner Poesie. Andere sollen die Entscheidung treffen, handeln, er will nur empfinden. Sartre beschreibt ausführlich die Lust Flauberts an der Illusion für die Erziehung seines Herzens.

Maxime du Camp schildert Flaubert als bereits vor seinem epileptischen Anfall, der sein Leben von Grund auf ändert und bestimmt, in Apathie und Wunsch nach Totsein gefangen: „So wie ich ihn Februar 1843 ... antraf, sollte er während seiner ganzen Existenz sein, 20 Jahre später bewunderte er dieselben Verse, hatte dieselben Meinungen und Vorlieben.“18

Diese Polarität widerspiegelt sich indem Flaubert sein Ich auf jeweils zwei Figuren im Roman verteilt. In seiner „Erziehung des Herzens“ setzt Sartre die Figuren Jules und Henri mit Flaubert gleich. Jules entfernt sich von dem Ideal der romantischen Poesie, wie Henri vom Ideal der romantischen Liebe, so „daß er sich fast das Herz versteinert hätte … An der Oberfläche fließt sein Leben in der Monotonie der gleichen Arbeiten und der gleichen einsamen Bewegung dahin.“ In der vermeintlich negativen Reaktion einer Verweigerung liegt eine Strategie. Flaubert verliert die Kontrolle, als er selbst zum ersten Mal die Droschke lenkt und damit die Zügel in die Hand nimmt. Anschließend empfindet er physisch die totale Abhängigkeit von Bruder und Vater, und zugleich eine absolute Erleichterung und ein nie gekanntes Gefühl der Geborgenheit. Die Ohnmacht verliert ihren Schrecken, gewinnt sogar Verführung und Anziehungskraft.

Die „passive Zustimmung zum Schlimmsten“ befreit ihn vor Verantwortung und Enttäuschung. Sartre bezeichnet diesen Vorgang als „positive Strategie des Dolorismus“, denn die unmittelbare Folge des Sturzes ist das Entstehen des ersten bedeutenden Romans. Der schicksalsweisende Sturz in Folge des ersten epileptischen Anfalls ereignet sich im normannischen Dorf Pont l´Evêque, die Sartre die Spirale des Elbehnon bezeichnet nach dem Titel eines abgebrochenen Gespensterromans Flauberts im Anschluss an das Ereignis. Wenig später ereignet sich ein weiterer Anfall auf der Italienreise vor der Darstellung Breughels Heiligen Antonius; der ihn zu „Smarh“ inspiriert. Von Anfang an macht Flaubert die Erfahrung, dass er nach dem Anfall aufhört zu stottern und anfangen kann zu schreiben. Von Beginn an sieht er sich als Erfinder eines neuen Stils, denn sein wichtigstes Vorbild, Stendhal zu kopieren, genügt ihm nicht. „Der französische Stil ist nicht mehr aufrecht zu erhalten. Ich muss ihn neu erfinden“ schreibt er mit 24 Jahren.

Er sieht sich fortan nicht mehr als Visionär oder Moralist, sondern als akribischen Beobachter und substituiert das aktive Schreiben durch Ein-und Schreibenlassen (se faire écrire): „Man ist nicht mehr Mensch, man ist Auge.“19

Zu seinen Gewohnheiten gehört es niemals von Anfang an, sondern aus der Mitte aus zu lesen, zurück zum Anfang und dann bis zum Schluss. Aus Hamlet und King Lear entwickelt er deren Synthese „Madame Bovary“. Flauberts Aussagen gemäß, geht es bei Shakespeare darum, den Wahn nur vorzutäuschen, um zu reüssieren. Die Motive Stendhals Kristallisation durch Projektion Täuschung und Selbsttäuschung in der Liebe, behält Flaubert bei, montiert jedoch bekannte Motive, Zitate und Stücke hinzu. Er schafft aus Vertrautem Neues, entdeckt das Detail in seinem symbolischen mikroskopischen Gehalt.

Nichts überlässt er dem Zufall, alles ist kühl berechnet, folgt einer Architektur und präzisen Studien. Im Gegensatz zur spontanen und handlungsreichen Erzählkunst Balzacs und Zolas, deren Protagonisten siegen oder untergehen, handeln Flauberts Helden gar nicht, sondern sie sind Flaneure, Voyeure oder Dandys. Sachliche und emotionale Ebene interagieren synästhetisch.

Trotz der Wissenschaft, dem Spott und Sarkasmus lässt ihn die Religion mit Glauben als „passiven Entschluss“ (Sartre) nicht los „Sie ist ein weites Feld“, schreibt er an Louis Bouilhet - Fontane übernimmt den berühmt gewordenen Satz für „Effie Briest“, dem Pendant zu „Madame Bovary“ und bezieht ihn folgerichtig auf die Ehe. Flauberts Bibliomanie – auch der Titel seiner ersten veröffentlichten Erzählung 1836 lautet so - ist unerschöpflich: Der „Heilige Antonius“ enthält Sufismen, Veden, Sutren und christliche Mystik und die wiederkehrende Auseinandersetzung mit dem Tod. Aber auch alle anderen Romane erweisen sich als ein Zitatenlexikon für den gebildeten Leser.

Laut Sartre verarbeitet und konserviert Flaubert den Tod seiner früh, an der Geburt ihrer Tochter Caroline, verstorbenen Schwester20 als „materialistischer Platoniker“21: sie dient ihm neben Schlésinger, der eine gewisse Ähnlichkeit zu Flauberts Schwester nicht abzusprechen ist, als Blaupause seiner romanesken Protagonistinnen, deren berühmteste Vertreterin Emma Bovary wird.

Nicht die Realität sondern allein die Vorstellung macht unser Sein. Obgleich Flaubert Schopenhauer erst nach 1848 zu lesen beginnt, kommt zeitgleich niemand seiner Philosophie, die Welt primär als Vorstellungskraft und die Wirklichkeit als konstruiertes Produkt der Idee zu konstituieren so nahe. Auf diese Analogie kommt auch Nietzsche in seiner Flaubert-Rezeption zu sprechen.

Die Wirklichkeit als antizipierte Möglichkeit vermag Hoffnung nie zu erfüllen, daraus resultiert Enttäuschung und Schmerz (Dolorismus). Flaubert hält die Torheiten der Ideen im „Lexikon der Dummheiten“ unter dem lakonischen Titel „Le Sottisier“ fest, deren Publikation posthum 1881 erfolgt. Die Übersetzung lautet amtsdeutsch „Universalenzyklopädie der menschlichen Dummheit.“ Die Grundidee lauter: wer viel redet hat wenig zu sagen. Verpackt im Bonmot: „Man muss bereit sein für ein Glas Wein zwei Gläser Essig zu trinken, vielleicht noch mehr“. Sartre wertet diese Aussage als negativen Agnostizismus, der Gebrechlichkeit nur vortäuscht, um die Krankheit in Pascals Wette zu transformieren: „Gott existiert, denn er allein macht Genie möglich durch totale Hinnahme des Leidens“.

Den Vergleich mit Pascal trifft bereits Heinrich Mann in seinem Flaubert-Essay; er ist der Metapher des deus absconditus (abwesenden Gottes) geschuldet, der den literarischen Stil Flauberts charakterisiert. Für einen angeblichen Atheisten beschäftigt er sich auffällig viel mit Religionen. ohne Krankheit und Unglück bilden den Preis für sein literarisches Genie. Ein weiteres Paradox: er liebt die Kunst, aber er glaubt nicht an sie. Im Gegensatz zu Baudelaire sieht er in der Kunst weder Religion noch Erlösung.

Sein Leiden an der Unvollkommenheit und Flüchtigkeit des Seins erklärt Sartre mit dem Verweis auf die Nähe zum Krankenhaus, in dem sein Vater als Chirurg tätig ist und dem Verlust zweier Geschwister in früher Kindheit. Schreiben wird zur Passion des Festhaltens „Er erfasst einen Gegenstand, eine dichte und reiche Bildergeschichte, die ihm eine ganze, leider verschwindende Welt zu totalisieren scheint und ihm eine vollständig befriedigende Sicht des Lebens bietet.“

Flaubert nutzt die Wirklichkeit als Stimulation für das Mögliche und antizipiert in dieser ständigen Vorwegnahme (selbst der Erinnerung) Musils Möglichkeitssinn in „Der Mann ohne Eigenschaften“, der gleichfalls Erinnerungen erfindet. Sartre nennt dies die „chtonische Kraft“22, die auf das Gebären von Kunstwerken abzielt und die infernale Lust an der Selbstqual inkludiert. Flauberts historische Neurose, die Pathologie seiner Nervenkrankheit, führt (laut Sartre) zur l ́art pour l ́art, die auf Geringschätzung der gesellschaftlichen Wirklichkeit beruht. Sie mündet in eine „Dialektik des Nichts“, einer ästhetischen Evidenz, „sich in die Leere einzuschreiben durch die Dialektik des Unmöglichen“23: ein kontemplatives Wiedererkennen in der gestaltbaren poetischen Realität.

Flaubert schreibt, womit er sich identifiziert aus Mangel an Identifizierung mit der Wirklichkeit. Die Praxis ist ein Übergang vom Objektiven zum Subjektiven durch Verinnerlichung; dies gilt auch für die Neurose. Sie hat in Trauer, Krankheit und Scheitern konkrete Ursachen; diese führen über das Schreiben zu einer Neurose subjektiver Art. Erst nach 1848 erwächst daraus eine objektive Neurose, in der Flaubert Politik pauschal mit Korruption des Ideals gleichsetzt. Sartre setzt seine Obsession gleich mit subjektiver Neurose, Apathie mit objektiver Neurose – von beidem hat Flaubert zuviel. Sprachbewusstsein ist originär Subjektbewusstsein, politisches Bewusstsein primär Objektbewusstsein ist. Da er neurotisch bleibt, hasst er sich selbst und daher die Bourgeoisie.

Flaubert ist vielleicht der erste Autor, der sich körperlich „leer schreibt“, um seiner Um-und Mitwelt, die er le vide empfindet zu entgehen und um „sich zur Existenz zu bringen, und in der Kunst zu totalisieren“24. Schriftsteller zu sein, impliziert eine Berufung zum Leser. In seiner Polemik gegenüber der zeitgenössischen Erfolgsautorin Louis(e)Colet sucht er den „großen Stil“ jenseits romantischer Phrasen, die „gefallen ohne zu sein.“

Flaubert schreibt gegen die Erwartungshaltung und Rezeptionsästhetik seiner Zeit. Im politischen Urteil bezichtigt Sartre ihn der Unaufrichtigkeit (mauvaise foi): „Aber Flauberts Unaufrichtigkeit kann niemanden täuschen: er studiert nichts, weder die Verfahrensweise noch den Aufbau, das hieße analysieren und dann wieder zusammenzusetzen, beobachten, Hypothesen aufstellen und überprüfen, alles Dinge, um die er sich kaum kümmert.“

Er ist desinteressiert und daher auch ohne Verständnis für soziales Engagement, wie seine Briefe, vor allem die an seine Kollegin George Sand, einer der ersten Schüler Saint Simons unter Napoleon III, dokumentieren. Zumindest einige seiner Aussagen über Politik sind so trivial wie die Colets über die Liebe. Dass Flaubert beides für austauschbar und vergleichbar erachtet, beweisen seine Romane, allen voran „Die Erziehung der Gefühle“.

Ein Bonmot: „Je suis gourmet et pas de gourmand“ (Ich bin ein Genießer und kein Vielfraß) dient Sartre dazu, den Ästhetizismus Flauberts näher zu untersuchen. Das Ziel ist zweifellos stilistische Perfektion durch und die Neutralität oder Abstinenz der Moral gegenüber, da sie mit dem reinen Geschmack unvereinbar ist. „Ich kehre mehr denn je in eine reine Idee zurück, ins Unendliche, ins Leere“.25

Eine reine Idee, das bedeutet die Inversion des cartesianischen „Ich denke, also bin ich“ in ein „Ich bin, also denke ich“ transformiert in „Ich schreibe, also ist es wahr.“ Man darf unter Berücksichtigung der Umstände von Verdrängung ausgehen, die sich in Zynismus entlädt.

Hinter der cogito-Formel steckt die Transformation Ich stelle mir Glück vor, also bin ich glücklich. Die Identifikation mit der Leere als Genuss an der poésie pure und die Absenz der äußeren Wirklichkeit für die Seinsbestimmung ist total. Das Nichts schlägt um in ein Alles, einzig Fantasie macht das Sein: „Auf die erlebte Selbstabwesenheit baut Gustave seine irrealen Eindrücke, daß er in der reinen Idee zurückkehren lies ... Die Weigerung zu leben als negativer Trieb zur Schaffung der Kunst und des Kunstgenusses als positiver Trieb verbinden Thanatos und Eros, Todes-und Lebenstrieb. Die Inspiration zieht Flaubert ausschließlich aus Langeweile, Unglück, Krankheit und Fatalismus. Daher kann er sagen: Qui perde, gagne.“

Sartre erweitert Flauberts Zitat: Wer verliert, gewinnt sich neu durch die Literatur. Der Autor opfert die bürgerliche Existenz und Persönlichkeitsentwicklung für sein Werk.

Summa summarum erklärt Sartre Flauberts mangelndes Engagement dialektisch sowohl aus ihm selbst heraus endogen als auch durch exogene Faktoren, die im Bürgertum und seiner Zeit verankert liegen. Er hält ihn jedoch für verantwortlich, sich dem Sozialen weitgehend entzogen zu haben.

I. 3. Nietzsches Flaubert-Rezeption

Flaubert gehört zu den Autoren, die Nietzsche ebenso wie Stendhal, Pascal, Voltaire, Rousseau, Montaigne, La Rochefoucauld und Baudelaire, für die kulturelle Vormachtstellungseiner Zeit anführt, mehrfach gelesen hat. Die erste Bemerkung über ihn, zwei Jahre nach seinem Ableben, lautet: „Die Psychologen Frankreichs ... haben noch ihr bitteres und vielfältiges Vergnügen an der bêtise bourgeoise nicht ausgekostet ... Flaubert zum Beispiel, der brave Bürger von Rouen, sah, hörte und schmecktezuletzt nichts Anderes mehr: es war seine Art von Selbst-quälerei und feinerer Grausamkeit.“26

Flaubert gehört der Generation vor ihm an. Nietzsche, der zu den ersten Bewunderern seines Stils gehört, bezeichnet den Romancier wie Baudelaire wertschätzend als Décadent, lobt seinen feinen Instinkt eines wahrhaftigen Künstlers und Ausdruck der „intelligentesten Intelligenz“ auszeichnet.

In seiner Bestimmung des Verhältnisses des Künstlers zur Moderne betont er, dass sich dieser vor Idealen und Pathos freihalten müsse und die Kunst nicht für einen Zweck wie der Moral missbrauchen dürfe. Er arbeitet ohne Maske und mythologische Verkleidung und liefert damit das Gegenstück zu Wagner, der falschen Ikone der Moderne. „Würden Sie glauben, dass die Wagnerischen Heroinen samt und sonders, … zum Verwechseln Madame Bovary ähnlich sehen! – wenn man umgekehrt auch begreift, dass es Flaubert freistand, seine Heldin ins Skandinavische oder Karthagische zu übersetzen?“

Die Verachtung der Masse vereint (der Wagner zu gefallen hofft) beide, bewusst die Einsamkeit suchenden, Schriftsteller, wenngleich Nietzsche viel reist und Flaubert immer seltener sein normannisches Nest Croisset verlässt, um Paris aufzusuchen, weshalb der passionierte Wanderer den Franzosen auch als Stubenhocker bezeichnet. Während er verkündet, ein freier Gedanke könne nur an frischer Luft gedeihen, zitiert er den Franzosen, er könne nur beim Sitzen denken. »On ne peut penser et écrire qu ́assis G. Flaubert« – Damit habe ich dich, Nihilist. Das Sitzfleisch ist gerade die Sünde wider den heiligen Geist. Nur ergangene Gedanken haben Werth.“27

Der Unterschied bezieht sich gilt Flauberts eingeschränktem politischen Horizont, sein provinzielles Normannentum. Der Europäer Nietzsche glaubt, er habe die doppelte Bedeutung des Leidens nicht erfasst und kennt nur das passive Erleiden, das Aussitzen von Unannehmlichkeiten. Die Folge davon ist Ressentiment „Wenn ich Etwas vor allen Psychologen voraus habe, soist es das, dass mein Blick geschärfter ist für jene schwierigste und verfänglichste Art des Rückschlusses, in der die meisten Fehler gemacht werden – des Rückschlusses vom Werk auf den Urheber, von der That auf den Thäter ... In Goethe zum Beispiel wurde der Überfluss schöpferisch, in Flaubert der Hass: Flaubert, eine Neuausgabe Pascals, aber als Artist, mit dem Instinkt-Urteil aus dem Grunde: Flaubert est toujours haissable, l ́homme n ́est rien, l ́oeuvre est tout. Er torturirte sich, wenn er dichtete, ganz wie Pascal sich torturirte, wenn er dachte – sie empfanden beide unegoistisch ... Selbstlosigkeit – das décadence Prinzip, der Wille zum Ende in der Kunst sowohl wie in der Moral.“28

Nietzsche stellt den Kontext zur Verdummung der Gesellschaft durch falsche Auslegung Epikurs und den Hedonismus (Gleichsetzung von hedone mit ordinärer Lust und Lustprinzip mit Egoismus) her, so dass er das Fehlen intellektueller Redlichkeit beklagt, auch bei Flaubert, aber weit mehr bei Wagner. Flaubert dient ihm als Exempel dreifacher Kritik: seine Lust an der Boshaftigkeit (Zynismus), seiner mangelnden (dionysischen) Begeisterungsfähigkeit und die inkonsequente Haltung zum Katholizismus, deren Mystik er bejaht und deren tiefere spirituelle Quelle er negiert. Offenbar weiß Nietzsche um Flauberts Reliquienkult und Vorliebe für Malerei mit Bezug zum Neuen Testament. Er hält ihn daher im Vorurteil und im Nihilismus befangen und vergleicht den Romancier mit einem morsch gewordenen Baum, hilflos und zerbrochen, der keine Früchte trägt. Wer nicht frei wird von Ressentiment, kann den Nihilismus nicht überwinden.

Die Auseinandersetzung mit Flaubert findet folglich 1882 bis 1888 in der letzten Schaffensperiode Nietzsches statt. In seinen Notizen und Fragmenten im Frühjahr 1884 akzentuiert er, die Welt sei eine Fabel und der wahre Realismus bestehe einzig in der Fiktion, womit er Flaubert als wesensverwandt erscheint. Paradoxales Denken und eine Vorliebe für Irrationalismen sind evident. Denken soll das Fühlen „einfärben“ (gestalten) aber nicht substituieren. Mit Flaubert schwingt sich der Autor zu einem schaffenden Demiurgen auf. Alle Werte müssen von Grund auf in Frage gestellt und neu bestimmt werden. Das Aufspüren von Fehlleistungen oder Fehleinschätzungen ist daher motivierend.

Einer der auffälligsten Unterschiede besteht im Umgang mit Irrtümern: Nietzsche erachtet sie als notwendig und fruchtbar für jeden Reifeprozess auf dem Weg zur Weisheit, während Flaubert sie schlicht bêtises (Dummheiten) und sottises (Albernheiten) nennt, weil er nur an verifizierten Wissen interessiert ist. Flaubert hat ein negatives Menschenbild, kultiviert das Ressentiment und zeigt kein Interesse an einer Belebung der Humanität. Nietzsche glaubt an die Renaissance, die Umkehr aller Werte und eine Philosophie der Zukunft.

Nietzsche kennt auch posthum von Louise Colet veröffentlichte Briefe Flauberts und dessen Korrespondenz mit George Sand, auf die er sich mitunter bezieht. Sie offenbaren Flauberts Lust zur Maske wie jemand, der seine wahre Identität versteckt. Da Nietzsche eine radikale Selbstbejahung des Lebens (amor fati) verlangt, missbilligt er diese Selbstflucht als Form des Selbstmitleids und betont: „Wir enthalten den Entwurf zu vielen Personen ist uns: Der Dichter verrät sich in seinen Gestalten.“29

Auch der Kult um das Objekt, die Pedanterie stoßen auf sein Unverständnis: „Das Objektiv-sein-wollen z. B. bei Flaubert ist ein moralisches Mißverständnis. Die große Form, die von allem Einzelreiz absieht, ist der Ausdruck des großen Charakters, der die Welt sich zum Bilde schafft: der von allem Einzelreiz weit absieht.“ Nietzsche ist Flaubert darin wesensgleich, dass er die Wissenschaft in ihrer zunehmenden akademischen Trockenheit (dem „Muff der Talaren“) verachtet, aber dies inkludiert den Anspruch auf Objektivität. Folge dieser Objektivierungsversuche ist eine eingeschränkte künstlerische Perspektive: „Die Psychologie dieser Herren Flaubert ist in summa falsch: sie sehen immer nur die Außen-Welt wirken und das Ego geformt (ganz wie Taine?) – sie kennen nur die Willens-schwachen, so désir an Stelle des Willens steht.“

Nietzsches Glaube an den Willen zur Macht schließt den zur Freiheit und evolutionären Entwicklung ein; Flaubert verlagert ihn nur auf das Wollen oder Wunsch, was im Französischen désir im Unterschied zu passion oder volonté zum Ausdruck gelangt. Für Nietzsche steht die Verlagerung des Schwerpunkts von Ereignis in die Erlebniswelt des Subjekts im Vordergrund, für Flaubert das Auflösen der Empfindung im Dinglichen: „Objektivität – als modernes Mittel, sich loszuwerden, aus Geringschätzung (wie bei Flaubert).“30

Der Gedanke, dass starke Individuen von Charakter aus Resilienz hervorgehen, indem sie sich Selbstliebe beibringen und zum Selbstwertgefühl erziehen, anstelle zu resignieren, ist vielleicht der wichtigste Kritikpunkt Nietzsches an Flaubert: das Subjekt soll sich selbst befehlen und gehorchen lernen und sein Schicksal (AMOR FATI) lieben.

Flauberts Mentalität - Pessimismus, Skeptizismus, Szientismus, Selbstkasteiung - führt Nietzsche auf seinen schlechten Lebensstil und diesen auf Mangel an Liebe zurück. Die Folge davon ist die Abhängigkeit vom Ideal und Weltflucht, Idealisierung anstelle einer realen Beziehung zur Welt. Der kämpferische Aspekt und Vitalismus fehlen; Nietzsche erblickt in Flauberts Lebensverneinung den allgemein um sich greifenden Nihilismus der Moderne.

Kritik an seinem Lebensstil hindert Nietzsche nicht an der Wertschätzung seiner künstlerischen Genialität. Er sieht ihm wie in Zola einen Schüler Hippolyte Taines und seiner Milieutheorie, der Nietzsche ablehnend gegenübersteht, auch, weil er auf eine Verallgemeinerung der Rasse zu kollektiven Aussagen und „Rassenschwindel“, neigt. Ein interessanter Vergleich liefert sein Verweis auf Victor „Hugos Maler-Augen, auf alles Sichtbare sehend“. Der visuelle Flaubert malt oder portraitiert das Unsichtbare. Der Verweis deutet auf den Untertitel zu „Madame Bovary“ hin: moers de provence. Die Gefahr besteht durch Übertreibung die Literatur doch zum Zerrspiegel gesellschaftlicher Missstände zu gebrauchen „Ich lache über Flaubert, mit seiner Wut über den bourgeois, der sich verkleidet, ich weiß nicht als was!“

Philosophisch rechnet Nietzsche Flaubert den Positivisten um Taine zu. Dies ist nachweislich falsch, obgleich Flaubert Kontakt zu diesen durch Zola unterhält, so trifft der Spott des Normannen auch die Milieutheoretiker. Zudem offenbart Nietzsche philosophische Defizite, wenn er ihre Schule kurz mit Wirklichkeits-Philosophen gleichsetzt. Flaubert ist ein Begründer dieses unverstellten neuen Realismus und Wegbereiter des Naturalismus, doch steht er mit mindestens einem Bein in der Antike. Nietzsches Hauptinteresse gilt auch nicht dem apollinischen Roman „Madame Bovary“, der zweifellos gelungener ist, sondern dem dionysischen „Salambô“, den er nicht zu Unrecht als „Maskerade des bourgeois“ bezeichnet. Er erkennt darin regulative Funktionen; er nennt den Stil süßlichen Verwesungsgeruch, auf dem die Décadence-Literatur folgt.

Andererseits begreift er Flaubert als Teil und „Sitz der geistigen und raffinierten Cultur Europas“ und betont seinen Geschmack für das Schöne der Grammatik und seinen Humor bzw. esprit. Ist Flaubert auch ein Genius der Sprache: „Er hat das klingende und bunte Französisch auf die Höhe gebracht“, so argumentiert er pädagogisch unredlich durch sein „Bedürfnis nach Gelehrsamkeit und instinktivem Pessimismus“31.

Nietzsche vergleicht Flaubert mehrfach mit Baudelaire hinsichtlich des Begriffspaares spleen et idéal, was für seine Zeit, in der beide kaum über Paris bekannt sind, eine Pionierarbeit bedeutet. Durch zu viel Schopenhauer im Blut missrät beiden das Gleichgewicht aus dionysischem und apollinischem Kunsttrieb und somit mangelt beiden die Liebe zum Leben. Das letzte große Ereignis französischer Literatur und Maß der Dinge des 19. Jahrhunderts ist für Nietzsche Stendhal, als dessen Schüler er Flaubert rezipiert.

Le bon sens (der gute Geschmack) ist ein wichtiges Kriterium Nietzsches, wenn es um Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit geht. Vielleicht versteht man Nietzsches Hassliebe zu Flaubert am besten im Rückgriff auf Stendhal und mit Blick auf Dostojewski, die er als die bedeutendsten Psychologen betrachtet, auch weil sich in ihnen am Ende Liebe und nicht Verbitterung oder Hass triumphiert. „Jene typische Verwandlung, für die unter Franzosen G. Flaubert unter Deutschen R. Wagner das deutlichste Beispiel abgibt: zwischen 1830 und 1850 wandelt sich der romantische Glaube an die Liebe und die Zukunft in das Verlangen zum Nichts.“32

Nietzsches immoralischer33 Kampf um Selbstbejahung schließt jede Form von Lebensfeindlichkeit und Moralisierung und Passivität kategorisch aus. Flaubert ist nicht frei vom Ressentiment, sondern scheint „Rache für eine tief eingenistete Selbstverachtung nötig zu haben“. Die Epoche begünstigt nihilistische Gleichgültigkeit dem Leben außerhalb der Kunst gegenüber. Er verabsolutiert das Nichts, wo Nietzsche das Gesetz ewigen Werdens statuiert und wirkt auf ihn als „Reizmittel, in dem selbst das Hässliche und Ungeheure Emotion erweckt.“ Nietzsche spricht vom Gesetz der Entropie als Bestehen der Energie und ewiger Wiederkehr in steter Verwandlung, Flaubert hingegen begnüge sich mit destruktiver Kritik. „Flaubert hielt weder Mérimée noch Stendhal aus ... Der Unterschied liegt darin: Beyle stammt von Voltaire, Flaubert von Victor Hugo. Die Männer von 1830 (- Männer?) haben eine unsinnige Vergötterung mit der Liebe getrieben … auch mit der Ausschweifung und dem Laster.“34 Nietzsche zitiert einen pathetischen Appell Flauberts im Nachruf auf Hernani, mit dem Hugo 1830 das romantische Drama begründet. Bei der Aufführung kommt es zu einem Skandal, den auf deutschen Bühnen nur Schillers „Räuber“ gleichkommt; Flaubert begeistert sich als Vorpubertierender für das Stück. Dieser pubertierende Trotz ist ihm nach Ansicht des Philologen geblieben.

Nietzsche verweist auf den fundamentalen Unterschied der Generation um Napoleon, zu der u. a. Stendhal gehört, wohingegen der neunzehn Jahre jüngere Hugo zur Übergangsgeneration vor Flaubert gehört, mit dem das moderne Zeitalter der Dekadenten und des Nihilismus beginnt. Stendhal steht noch für eine Wertekultur und als Sympathisant Napoleons für eine elitäre Geistesaristokratie. Flaubert hingegen durchläuft eine Phase der Demokratie, um nach dem Scheitern der 48er Revolution in apolitische Starre zu verfallen. In seiner Haltung, jegliches Ideal zu verspotten, erscheint er Nietzsche vergreister als Stendhal, der sich noch im hohen Alter zu begeistern vermag. Es ist jener Optimismus, das Leben zu feiern, die der Generation Flauberts fehlt. Die „Literatur-Pessimisten“ setzen ihr außergewöhnliches Talent falsch für die mélancholie contemporaine ein. Dieser Rückfall in Romantizismus hat nichts mit jener von Nietzsche geforderten Heiterkeit und Leichtigkeit gemein, jenem Maßhalten der griechischen Tragödie. Die einseitige Desillusionierung ist ihm zu wenig.

Mit „rien“ zu enden entspricht „le sens mal“, (dem schlechten Geschmack), einer „historischen Krankheit“, an die der Mensch zugrunde geht. Ressentiment und Langeweile prägen die Moderne, die Generation der gescheiterten Märzrevolution: „Der Typus von 1830: … Die politischen Ideen von 1848 haben ihn einen Augenblick wieder in Fieber gesetzt. Seitdem die Langeweile und die Nichtbeschäftigung seiner Gedanken und Aspirationen. Ein distinguierter Geist, an einem friedlichen Heimweh nach einem Ideal in Politik, Literatur, Kunst leidend, sich mit halber Stimme beklagend und nur an sich selbst rächend für die Vision der Unvollkommenheit der Dinge hier unten.“35

Ein derartiger Rückzug ins Private führt zur Resignation und fördert die Langeweile; jene von der Politik gelangweilten Schriftsteller stammen aus dem bürgerlichen, nicht der aristokratischen Gesellschaft und zehren das Geld ihrer verhassten Väter auf. Da sitzen sie friedlich auf Bänken, spielen Karten oder besuchen Bordelle und erfinden geistreiche Bonmots. Harmlose Biedermänner, verkleidet, keine „Übermenschen“, die „nach neuen Meeren Ausschau halten“- geschweige denn bereit sind, sie zu überqueren. Weil sie nichts wagen, erregen sie Nietzsches Missfallen. Flaubert verweilt lieber auf festem Boden irgendwo in der behaglichen Provinz und wähnt die Liebe für abgeschafft. Verliebt in factice et artificiel ... analytisch-phantastisch … mehr von der Geschichte im Kopfe erzählend als von der im Herzen.“ (fatice: unecht, artificiel: künstlich)

Nietzsche zitiert einen Brief Flauberts an die Brüder Goncourt der belegt, dass eine hoffnungs-und antriebslose Haltung nur fördre, was man verachtet: Langeweile. Mit Menschen wie Flaubert ist keine Revolte zu machen. „Er hat den Saft der Bäume in den Adern.“ Nietzsche rezitiert Flauberts Kritik an Hugo und unterstellt ihm Eskapismus: »Après tout, le travail c ́est encore le meilleur moyen d´escamoter la vie. « (Alles in allem ist Arbeit noch der beste Weg, dem Leben zu entkommen).

Die romantische Kunst ist eine Folge des Ungenügens am Wirklichen, Realismus eine Folge der Dankbarkeit genossenen Glücks. Nietzsche kritisiert auch Flauberts Tartüfferie. In seinen Romanen tritt er als Verächter der Geldgier, des Geizes und des Konsumverhaltens, übt teilweise marxistische Kritik und stellt die Kirchenvertreter bloß. Im eigenen Leben erweist er sich als kleinkariert, bigott und eitel. Er sammelt Trödel, Kitsch und Klischee, während er echte Künstler verspottet, unter ihnen Vater und Sohn Dumas. Er gibt vor, die Nostalgie zu verachten, doch sind seine Werke ohne sie kaum zu denken.

So verkörpert Flaubert die „bloße Ökonomie des Künstlers mit der Unendlichkeit im Busen“ ohne Vitalität, Fruchtbarkeit und kreativer Zeugungskraft. „Man bemerke, daß die delikateren Naturen in ihren Abneigungen vergröbern, die starken in ihren Abneigungen verdünnen, verzärteln, verkränkeln.“36

So stehen Wagner und Goethe für den vitalen Eros und Vereinbarkeit von Kunst, Genuss und Leben, Baudelaire und Flaubert hingegen, wenngleich unterschiedlich, für eine Form der Selbstaufgabe durch Hingabe an die Kunst. Der Vergleich der „Madame Bovary“ mit Wagners intensiver Libido mag befremden, doch bezieht sich der Vergleich auf die Kunst zu komponieren. Wagner, wie Flaubert beginnen mit dem Mittelstück und suchen von ihrem Leitmotiv aus nach einem Anfang und einem Ende. Es handelt sich aber lediglich um subjektive Wertgefühle, die sich hinter der Maske der Objektivität tarnen.

Gott, so Nietzsches Credo, muss zumindest in der Form des guten Willens, der Redlichkeit und edlen Gefühle überleben, weil eine Welt ohne Glauben, Liebe und Wärme am Geist der Schwere zugrunde gehen muss. Diese Leichtigkeit fehlt Flaubert: „In Salambô kommt Flaubert zum Vorschein, geschwollen, deklamatorisch, melodramatisch, verliebt in die dicke Farbe.“

Wenig später urteilt er, es handle sich um eine »mélancolie non suicidante, non blasphématrice, une tristesse qui n´est pas sans douceur.« (eine nicht selbstmörderische Melancholie, nicht gotteslästerlich, eine Traurigkeit, die nicht frei ist von Süße). Seine eigene Willens-und Genussphilosophie kollidiert mit Flauberts Passivität und Determinismus, aus der Lebensekel spricht.

Wenn man Nietzsches Emanzipation von Schopenhauer und Wagner betrachtet, dann fällt es nicht schwer, die Vorbehalte gegenüber Flaubert nachzuvollziehen: mit Schopenhauer verbindet ihn leitmotivisch Pessimismus, eine lebensverneinende Grundhaltung und Ressentiment, die mit dem Argument der Dummheit xenophobe Züge annimmt. Darüber hinaus schrieb Flaubert meist verächtlich über die Frauen und gefiel sich im Sarkasmus. Die alles ist mit der Konzeption von amor fati unvereinbar. Mit Wagner verbindet Flaubert ein eingeengtes und auf Feindbilder beschränktes Weltbild, die sich nicht mit dem europäischen Geist und Liberalismus in Einklang bringen lässt.

II. Der Schriftsteller Flaubert

II. 1. Das Herz eines Irren – Mémoires d´un fou

„Ich liebe den Herbst. Seine Traurigkeit stimmt mich gut zu Erinnerungen.“37November-Fetzen trunkener Blätter und absterbender Triebe. Notizen eines einfachen unglücklichen Herzens. Un coeur simple, wie Flaubert über sich selbst schreibt, das der Titel seiner bekanntesten Erzählung wird. Jenes einfache Herz, das er im Inneren schlagen hört. Alles wiederholt sich in seinem Leben, doch die besten Worte, um es zu sagen, spart er sich auf für das Ende. Die Normandie ist die graue Grenze seiner Welt. Es ist der Herbst 1837, der Herbst seines Lebens, der Sechzehnjährige weiß es nur nicht. Er hat sich verliebt, die Sommerfrische von Trouville an der normannischen Meeresküste. Flaubert durchträumt die Tage und liegt in den Nächten fiebrig wach, schwer atmend, manchmal den Tod erwartend, um sich dann eilig Notizen zu machen, schreibend gegen sich und die Langeweile und die schwere Leere einer Zeit, die nur sich selbst gehören will. Er sieht sich vor ihr stehen, wie ein eingefrorener See, eine im Sand sich vergrabende Muschel oder ein zu Boden fallendes taumelndes, im Herbst vermoderndes Blatt, wenn sie sich ihm nähert. Einer Erscheinung aus Licht, gebrochen in einem Raum, der das Fenster hinaus mit Blick auf das weit freigibt. So sehr rast sein Herz, das er nicht aufhören kann, an das Gefühl im Inneren, das ihn zerschmettert, zu glauben, der dann im Regen stehen bleibt, stundenlang, sich und die Zeit vergessend, einer Regung nachspürend, die er nicht loszuwerden vermag und nicht loslassen will: Der Eindruck eines hellblauen Sommerkleides, wie es in der Düne von Trouville vor sich hin flattert. Erinnerung an die Gischt des Meeres, die Wellen, ihren Schaum, durchstoßen von der porzellanweißen Hand, einer feindgliedrige an Porzellan reichende Hand, die meist ein Handschuh ziert, mit sandfarben Perlen daran. Erinnerungen an den Saum ihres Kleides, aufgeschäumt wie Milchkaffee, das Hellblau, getragen vom Duft einer Frau, deren Geschmack alle Sommer hin-durch ihn begleitet. Schwere sanfte feine Locken, dunkel gerollt, von einer Haarnadel mit Bernsteinfassung gebändigt und Mandolinen-Augen mit venezianischem Klang. Ein Geschmack, in dem die Welt tanzt und sich spiegelt, so vollkommen rein, dass er es nicht wagt, diesen Geschmack zu verunreinigen mit seiner Gestalt.

Die Suche nach des Herzens erster Regung gleicht dem Versuch, Unsagbares, Unsägliches vielleicht in Buchstaben zu kleiden wie Futter eines Mantels; innere Realität, die sich in nach außen kehrt. Eine Badeausflug, das das schäumende Meer, Belichtung seiner Erinnerung. „Jeden Morgen ging ich weite Wege, nur um sie baden zu sehen. Ich beobachtete sie fern vom Wasser, ich beneidete die sanfte und friedliche Welle, die ihren Körper berühren durfte und die wogende Brust mit ihrem feuchten Schaum berühren durfte.“38

Auf solche Art beginnt Gustave zu lieben, während er von Flaubert beobachtet wird. Manche Liebende vermögen nur einmal lieben und dann wiederholen sie oder versuchen ihre Gefühl von einst zu wiederholen und zurückzukehren zu diesem ersten Mal wie sie zu einem Strand zurückkehren, um nach den Spuren im Sand zu suchen, die sie hier irgendwo vergraben haben. Der Verliebte spürt nur, wie etwas Unerhörtes und Unstillbares von seinem Herzen Besitz ergreift. „Als ich sie sah, fühlte ich zum ersten male mein eigenes Herz und ein geheimnisvolles mystisches Gefühl unerreichbarer Ferne darin, als hätte ich einen neuen Sinn empfangen. Durchströmt von diesen zärtlichen Empfindungen war ich gleichsam wahnsinnig.“ Trouville, der feine Sand und ein blauer Hermelin.

Er sieht zum ersten Mal Elisa Foucault, die später auf den Namen Madame Schlésinger hört. Hauch einer fernen, anderen, unbetretbaren Welt, die ihm alles ist. Sie kennt ihren stillen Begleiter nicht, der ihr überallhin mit seinen Blicken folgt, der sie aufsaugt, in den Gärten seiner erwachten Lust, der auf ihren Spuren im Sand geht, bevor sie die Flut zu sich nimmt, der ihre Lippen studiert, so dass er ihr jede Silbe aus der Entfernung abpflückt, der ihren Schatten aus der Ferne ausgräbt, jede Münze, die sie bei einem Kauf hinterlässt, im eifrigen Tausch dem Krämer gegen eine größere einzuhandeln versteht, indem er wenig später denselben Laden betritt, eine Kleinigkeit kauft, um genau jene Münze zu erhalten, die ihre kleine Hand zuvor verlassen hat. Sein Herz, eingefroren von Träumen und Sehnsucht, einem kühlenden Feuer gleich den im Meer zerfließenden Strahlen im Sonnenuntergang. Die leere Schwere seiner Erinnerungen vereitelt das erfüllte Glück in der Gegenwart, weil alles verblasst gegen die Vorstellung vom wahren Glück eingefrorener Gefühle. Gleich Ampullen liegen sie bereit, wie das Meer weit und breit vor ihm liegt. Er träumt einen Traum, von dem er nie erwacht mit Trouville, dem blauen Kleid, dem Schaum und Elisa als unauflösbare Einheit.

Elisa wird zu Maria in „Mémoires du´un fou“. Dort, wo Himmel und Meer miteinander verschmelzen, ist sein Land, sein Glück, sein ganzes Herz. „Es gibt Dichter, deren Seele ganz voll von Düften und Blumen ist, die das Leben als Morgenröte des Himmels betrachten. Jeder von uns hat ein Prisma, durch das er die Welt wahrnimmt.“39

Erinnerungen eines Verrückten, er ist gerade einmal 17 Jahre alt. Die Zeit vergeht, so schön, dass er glaubt, dass Herz wird ihm zerspringen, wird es nicht mehr, nie mehr.