Heinrich von Kleist - Bernd Oei - E-Book

Heinrich von Kleist E-Book

Bernd Oei

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Beschreibung

Die Monografie untersucht unter Verweis auf die bisherige Forschung sechs Dramen (Die Familie Schroffenstein, Penthesilea, Käthchen von Heilbronn, Hermannschlacht, Prinz von Homburg) und sieben Novellen (Michael Kohlhaas, Marquise von O, Findling, Verlobung von Santo Domingo, Erdbeben von Chili, Heilige Cäcilie, Zweikampf) , die Kleist komplementär anlegt, sowie drei seiner Essays. (Marionettentheater, Verfertigung der Gedanken bei der Rede, Der sichere Weg zum Glück) Schwerpunkt sind sein dramaturgisches Konzept, poetologischer Gehalt und philosophischer Diskurs, vor allem die Nähe zu Rousseau, Kant, Fichte. Die eigene Interpretation wird ergänzt durch die Rezeption Nietzsches und Kafkas. Das Subjekt durchläuft Krisen, sein autonomer Status wird destruiert, der Lebens- schlägt in den Todesplan um. Traum, Ohnmacht, Zufall, Zwang und Glück, die fast immer apokalyptisch enden, verbinden Aufklärung und Mystik, greifen der Moderne vor, u.a. Nietzsche und Kafka. Kleists Sprachstil erweist sich als Schnittstelle zwischen kognitiv und intuitiv erfasster Wirklichkeit, so dass Ohnmacht und Somnambulismus im steten Ringen mit Verstand und Vernunft zur kognitiven Dissonanz führen. Die Sekundärliteratur speist sich aus den Kleist-Jahrbüchern und Aufsätzen, Promotionen und Fachveröffentlichungen, so dass ein eigenständige Vertiefung erfolgen kann. Auch die historische Situation, bedingt durch die Napoleonkriege und die preußische Staatsreformen finden eine angemessene Berücksichtigung. Kleists Werk wurde im Zuge der Komparatistik bereits in den Monografien zu Hölderlin, Kafka und Zweig thematisiert. Bunte Träume am Abgrund lautet der Titel. Zehn Jahre währte der Traum von Kleist, sich als Schriftsteller zu etablieren. Bunt waren einst die Säulen der Akropolis, den Abgrund suchte von Kleist wie kaum ein anderer Zeitgenosse. Bernd Oei, Philosoph, verbindet literaturwissenschaftliche und heuristische Aspekte, um den Grenzgänger Kleist aus sich selbst heraus zu verstehen.

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Bernd Oei

Kleists Bunte Träume

Denken am Abgrund

„Ich passe nicht unter die Menschen. Die Wahrheit ist, dass mir auf Erden nicht zu helfen war.“

Oei, Bernd

Kleists bunte Träume

ISBN: -

Überarbeitete Neuauflage

Erscheinungsort: Bremen

Umschlagbild: Belinda Helmert

Inhalt

Prolog

I. Biografie

I. 1. Leben

I. 2. Das Duell mit sich selbst

I. 3. Todesplan

II. Philosophische Einflüsse

II. 1. Jean Jaques Rousseau

II. 2. Immanuel Kant

II. 3. Gottlieb Fichte

III. Dramen

III. 1. Die Familie Schroffenstein

III. 2. Penthesilea

III. 3. Das Käthchen von Heilbronn

III. 4. Die Hermannsschlacht

III. 5. Der Prinz von Homburg

IV. Prosa

IV. 1. Michael Kohlhaas

IV. 2. Die Marquise O

IV. 3. Der Findling

IV. 4. Die Verlobung von Santo Domingo

IV. 5. Das Erdbeben in Chili

IV. 6. Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik

IV. 7. Der Zweikampf

V. Essays

V. 1. Das Marionettentheater

V. 2. Verfertigung der Gedanken beim Reden

V. 3. Aufsatz, den sichern Weg des Glücks zu finden

VI. Resonanz – Stimmen

VI. 1. Friedrich Nietzsche

VI. 2. Franz Kafka

Epilog

Literaturverzeichnis

Prolog

Die Welt, so Kleist, „ist eine wunderliche Einrichtung“ (Brief eines Malers an seinen Sohn) oder eben eine gebrechliche („Michael Kohlhaas“). „Der Fokus von Kleists Darstellung liegt weniger auf dem Seelenzustand seines Protagonisten als vielmehr auf »der gebrechlichen Einrichtung der Welt«, die nur weniger Un-und Zufälle bedarf, um vollends aus den Fugen zu geraten. Diese Gebrechlichkeit zeigt sich auch in Kleists Aufsatz „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ als die Verworrenheit, die entsteht, sobald jemand versucht, einen fertigen Gedanken »auszudrücken« – und allgemeiner als das Problem des Übergangs vom Gedanken zur Sprache überhaupt.“1 Essayist und Kleist-Preisträger László Földényi spricht in seiner Biografie „Im Netz der Wörter“ (1999) daher zurecht von „sprachlichem Wahnsinn“, wenn er die schreckliche Gegensätzlichkeit und Spannung betont.

Dem gegenüber stehen die von Bernhard Greiner akzentuierte Würde und Erhabenheit, die er in seiner Studie „Eine Art Wahnsinn. Dichtung im Horizont Kants: Studien zu Goethe und Kleist“ (1994) anführt, welche die Kantkrise für den Sonderweg von Kleists zwischen allen Literaturepochen zentriert und ihn weder der Romantik noch der Klassik zuzurechnen lassen, sondern unverwechselbarem Wiedererkennungswert zuspricht.

„Das Streben nach Wahrheit ist Kleist wichtiger als das Anhäufen und Anwenden des Wissens; es geht allein um die Wahrheit selbst, nicht um ihren Gebrauchswert.“2

Spät fühlt er sich zum Dichter berufen, noch später zum Journalisten. Sein poetisches Schaffen währt nicht eine Dekade.

Er dichte nur, weil er es nicht lassen könne, schreibt Kleist August 1806 an seinen Freund aus alten Militärtagen von Lilienstern aus der Kantstadt Königsberg. Niemand weiß, ob er es ironisch meint oder doch sarkastisch. Mythisch ist sein Tod, theatralisch und minutiös inszeniert; sein ganzes Leben scheint darauf ausgerichtet, sein Werk feiert das Sterben.

Gestorben wird seinerzeit viel, auf den Schlachtfeldern und der kollektive Suizid gehört zum guten, zum ehrenhaften Ton. Die folgende Auseinandersetzung erfolgt bewusst in zeitlichem Abstand zu dem Jubiläum 2011, die eine Flut von Biografien, Essays und Forschungsbeiträgen zeitigte. Die Arbeit richtet sich, wie alle Grenzgänger-Monografien vorher, auf etwa 300 Seiten an interessierte Literaturliebhaber mit Sinn für Philosophie und ist durch die zahlreichen Querverweise auch für Forscher interessant, denn alles zu kennen oder sich daran zu erinnern, gelingt nur den Wenigsten und man muss nicht alles wissen, so lange man weiß, wo es steht.

Der erste kurze Teil fasst Aspekte aus dem Leben von Kleists zusammen, der konsequent mit seinem Adelstitel benannt wird, weil sein Denken nicht vom aristokratischen Stand zu trennen ist, insbesondere nicht seine Auffassung von Ehre und Würde. Aus einem Vortrag in der Reihe „Zwei an einem Abend“, die seelenverwandte Dichter mit jeweils einem Text präsentierte, stammt der Beitrag über Puschkin. Auf weiterführende Komparatistik wurde weitgehend verzichtet, weil sich von Kleist schwer anderen Werken zuordnen lässt. Das anschließende Kapitel handelt über Gedanken, die der Dichter seinen mutmaßlich wichtigsten philosophischen Quellen verdankt und ohne die er wohl nicht die künstlerische Laufbahn eingeschlagen hätte.

Von den sieben Dramen, sieht man vom Fragment „Robert Guiskard“ ab, wurden fünf zur näheren Betrachtung ausgewählt, die dem eigenen Plus-Minus Schema entsprechen und die Familienmit Geschichts-und psychologischem Drama verknüpfen. Von Kleists Stücke entziehen sich einer klaren Zuordnung, selbst Gattungsbegriffen wie Trauerspiel und Tragikomödie. Sie sind an Shakespeare angelehnt und halten sich grob an die Aristotelische Dramaturgie, doch sie erfüllen nicht das Kriterium einer eindeutigen Moral noch das Kriterium nach Kohärenz; stattdessen implementiert er Bedeutungsvielfalt und Transgression. Fiktion und Realität treten in einen Diskurs, der weder zu romantischen noch zur klassischen Rezeptionsästhetik gehört und die eine Aufhebung von Identifikation inkludiert.3

Dabei erfolgt eine kurze Erläuterung zur zeitlichen Einordnung, den Begleitumständen und der Intention, eine äußerst kurze Inhaltsangabe und Interpretation nach diversen Schwerpunkten. Die beiden Komplementärwerke sind die Frauen Penthesilea und Käthchen sowie die Protagonisten Hermann und Friedrich von Homburg. Die Familie Schroffenstein repräsentiert das einzige reine Familiendrama.

Nach selbigen Prinzip wurden sieben Erzählungen untersucht. Auch hier tritt die Sekundärliteratur in den zweiten Rang und wird nur in Ausnahmefällen zitiert, der Hinweis auf thematische oder argumentatorische Überschneidung muss genügen, da sich die Monografie als eigenständige Reflexion versteht. Die Plus-Minus Gegenüberstellung besteht zwischen Verlobung und Erdbeben, Findling und Marquise von O, Cäcilien-Legende und Zweikampf. Die Novelle „Michael Kohlhaas“ steht nicht nur aufgrund ihrer Länge für sich, da sie mindestens drei Themen in sich vereinigt (Recht, Rache, Gottessuche).

Abschließend finden zwei Essays eine Würdigung. Den Schlussstein liefert eine Rezeption Nietzsches und Kafkas eine Form von Komparatistik und Einordnung, die zu den vorab untersuchten Grenzgängern erfolgt.

I. Biografie

I. 1. Lebensstationen

Nur wenige Bilder existieren von ihm, eigentlich nur zwei, auf denen der Mann mit dem markanten Stammeln kindlich wirkt. Bereits seine Geburt wirft Rätsel auf; das genaue Datum liegt trotz des hohen Rangs seiner Familie im Dunkeln. Mutmaßlich erblickt der älteste Sohn des Stabskapitäns und späteren Majors Joachim Friedrich von Kleist und dessen zweiter Frau Juliane Ulrike am 18. Oktober als Bernd Heinrich Wilhelm von Kleist im Brandenburgischen Frankfurt an der Oder das Leben. Die Stadt zählt um die Jahrhundertwende etwa 15 000 Einwohner. Der Dreißigjährige Krieg und die ihm folgende Pest hatten über 80 Prozent der Bewohner getötet.

Der Tod spielt schon früh eine Rolle. Als sein Vater stirbt, ist er elf, als die Mutter das Zeitliche segnet, vierzehn Jahre alt. Von den sechs Geschwistern stammen zwei Schwestern (Wilhelmine und Ulrike) aus der ersten Ehe des Vaters. Als er Vollwaise wird, dient er schon beim Militär und strebt eine Offizierskarriere an; sein Stammbaum verweist auf einige bekannte Militärs. Familie besitzt daher einen zweischneidigen Charakter für ihn.

1799 erfolgt der erste einschneidende Wandel, einer von vielen, die kommen werden; er entschließt sich zum Studium der Naturwissenschaften, vor allem der Physik in seiner Geburtsstadt. Philosophie erregt sein Interesse.

Lebenslang ringen in dem Stellvertreter für den modernen Menschen, dem homo oeconomicus, der Bedürfnis und Begehren zu verwalten hat, zwei etwa gleichstarke Prinzipien: die (preußisch-soldatische) Gefühlskontrolle und die romantisch-leidenschaftliche Idee des souveränen und autonomen Subjekts. Rationale Objektivität und Zweckmäßigkeit sind das Erbe Kants, Ahnung vom Unbewussten und Sentimentalität die Mitgift Rousseaus. Um die Jahrhundertwende bricht er das Studium ab, um eine Beamtenkarriere einzuschlagen und seine Verlobte Wilhelmine von Zenge zu ehelichen. Seine peniblen Ratschläge, wie sie sich zu verhalten hat („Denkübungen“), was er von ihr und der Ehe erwartet, sind trotz der Konservativismen seiner Zeit rigide. Alles, bis ins letzte Detail, ist geplant.

Ein Kutschenunfall Mai 1801 verändert alles; zeitlich koinzidiert er mit der intensiven Lektüre Kants, dessen Denken das Gebäude seiner Epoche, die Architektur der Frühaufklärung, in Frage stellt. Zweifel an seiner Bestimmung, aber auch der Tauglichkeit zur Ehe begleiten ihn für immer. Aus dem Lebensplan reift erst unbewusst, dann zielgerichtet, ein Todesplan.

Der Lebensplan von Kleists besteht in einer wissenschaftlich angelegten vernünftigen und nützlichen Existenz. Drei Zitate von Kleist vor der Kantkrise 1801 verdeutlichen dies.

„Tausend Menschen höre ich reden und sehe ich handeln, und es fällt mir nicht ein, nach dem Warum? zu fragen. Sie selbst wissen es nicht, dunkle Neigungen leiten sie, der Augenblick bestimmt ihre Handlungen. Sie bleiben für immer unmündig und ihr Schicksal ein Spiel des Zufalls. Sie fühlen sich wie von unsichtbaren Kräften geleitet und gezogen, sie folgen ihnen im Gefühl ihrer Schwäche wohin es sie auch führt, zum Glücke, das sie dann nur halb genießen, zum Unglücke, das sie dann doppelt fühlen.“4 „Ein freier, denkender Mensch bleibt nicht da stehen, wo der Zufall ihn hinstößt; oder wenn er bleibt, so bleibt er aus Gründen, aus Wahl des Besseren.“ „Unaufhörliches Fortschreiten in meiner Bildung, Unabhängigkeit und häusliche Freuden, das ist es, was ich unerläßlich zu meinem Glücke bedarf.“ „In meiner Seele sieht es aus wie in dem Schreibtische eines Philosophen, der ein neues System ersann und einzelne Hauptgedanken auf zerstreute Papiere niederschrieb. Es wird Zeit, daß ich Ordnung schaffe und mich bilde.“5

Nach einem Intermezzo in Paris, der Schweiz und Königsberg, entscheidet sich von Kleist 1806 für die literarische Laufbahn und gegen das ins Auge gefasste konventionelle Leben. Karriere will er trotzdem machen, der Name verpflichtet.

Mit der sklavischen Hingebung an den Tyrannen Schicksal bleibt der Anspruch eines denkenden Menschen unvereinbar. Mit dem Bild eines Nomaden: „er bleibt nicht stehen, wo der Zufall ihn hinstößt“ (An Ulrike Mai 1799) nimmt der künftige Schriftsteller seinen Werdegang vorweg, der über den Umweg Paris, der Schweiz, und Königsberg durch ganz Europa führt, erst zuletzt kristallisieren sich Dresden und Berlin als Schwerpunkte heraus. Zweimal wird er als Spion verhaftet.

Er muss früh gefühlt haben, dass man sich über das Schicksal erheben könne und sogar müsse. In den frühen Jahren ist er sicherlich auf der Suche nach Glück, neben Freiheit kommt kaum ein anderes Wort in seiner Korrespondenz so häufig vor.

Am Ende nimmt er das selbst erwähnte Zitat aus der Bibel „willst du das Himmelreich erwerben, so lege selbst Hand an“ (Matthäus13,1-35) allzu wörtlich. Doch wenn jemand im Leben nicht zu helfen ist, dann hilft er sich selbst in den Tod – dies entspricht der paradoxalen Logik und der Konsequenz.

Stefan Zweig stellt von Kleist als dionysischen Charakter in Zusammenhang mit seinem Zeitgenossen Hölderlin und Nietzsche, die er gleichfalls dämonische Gestalten heißt. Er urteilt in zweiten Band der Trilogie „Baumeister der Welt“ (1925): „Kleist weiß, wohin es ihn treibt – in den Abgrund.“6 Zweig verwendet dabei das Attribut „zugesperrt“ in Bezug auf verweigerter Rettung und Ausweg. „Kleist war überspannt im Sinne von zu viel gespannt, er war von seinen Gegensätzen ständig auseinander gerissen.“

Laut Dürrenmatt ist eine Geschichte erst zu Ende erzählt, wenn das schlechtmöglichste Ende erreicht ist.

Dieses Profil erfüllt von Kleist sicherlich. Vielleicht ist sein bekanntester Aufsatz „Über das Marionettentheater“ daher so sehr um Mitte, Maß, Natürlichkeit bemüht, weil sie den exzessiven Leben von Kleists fehlt. Exzess und Maßlosigkeit sind die Parameter, die sein Leben wohl am besten eingrenzen, weil dies geo-und topografisch nicht möglich erscheint.

Es ist, als ob er sich von Kleist durch Gewaltobsessionen von eignen Mordvisionen kathartisch reinigt. Zweig nennt von Kleist einen Gequälten seiner Leidenschaft, der keines Genusses fähig ist, sondern ein Nichterfüllter seiner heißen bunten Träume bleibt: „Was immer ihn bewegt, wird zu Krankheit und Exzeß; selbst die geistigen, die intellektuellen Neigungen zu Sittlichkeit, Wahrheit und Rechtlichkeit verzerrt sein Übermaß zu Leidenschaften, aus Rechtliebe wird Rechthaberei. ... Seine Schwermut drängt sich an die andern und sucht durch zehn Jahre vergebens Begleiter in den Tod – aber er wartet zehn Jahre. Sein Tatendrang, seine Kraft füttern nur seine Träume und machen sie wild und blutrünstig.“

Von Kleist neigt zum pleonastischen Pathos, aber auch einer sehr präzisen, geometrischen und teilweise bürokratischen Sprache. Seine Metaphorik kann kraftvoll wie grazil anmuten, sperrig langen Sätzen mit gehäufter Interpunktion folgen klare kurze Aussagen gleich Strichen in der Landschaft. Er besitzt Humor, Gespür für feinsinnige Ironie, aber auch groteske Gewaltfantasie. Anekdoten scheint er dem Soldatenleben zu entnehmen, Chronist seiner Zeit will er dennoch nicht sein.

Von Hass erfüllt auf Napoleon und von Liebe zu Frankreich, ihrer Revolution und den Gesetzen, besitzt er zu viel Geist bei zu viel Kraft, zu viel Sittlichkeit und Sensibilität bei dieser sinnlichen Leidenschaft, zu viel Zucht bei zu viel Zügellosigkeit. Goethe, nicht unwesentlich an von Kleists literarischer Isolation beteiligt, spricht abfällig von einer „Überkraft“ und „Überfluss“.

Er ist religiös, anfänglich protestantisch, dann katholisch und gewiss der Mystik verfallen. Daher bietet sich auch für eine Abbreviatur seines Lebens eine Triade an. Am Anfang folgt alles einem Lebensplan, der Pflicht, Ordnung und Bildung an die erste Stelle setzt. Doch die Maxime, frei zu denken und nichts dem Zufall zu überlassen, wird zur Manie. Die Kantkrise macht dem jungen Mann, der mit aller Kraft seinen Platz erobern, seinen Standpunkt verteidigen möchte, klar, dass der Mensch die Welt weder begreifen noch besitzen kann.

Der Soldat leugnet nicht den freien Willen, jedoch, ob er Glück verheißt und sucht zudem das Gesetz zuerst. So wird das Zwanghafte zum markanten Signum seiner Dramen. Zweig urteilt: „Naturhaft, zwanghaft kommt Kleist also zur Tragödie, nur sie konnte die schmerzhafte Gegensätzlichkeit seiner Natur verwirklichen ... und war darum seinem übertreiberischen, extravagenten Charakter einzig willkommen.“

Sein Leben gleicht selbst einem Drama, mit dem Anfang als Lebensplan, dem Höhepunkt als dem Duell mit dem Tod, dem Ringen um Anerkennung und Freiheit, dem Schlusspunkt, wenig überraschend und doch voller Wendepunkte, mit dem Tod. Lebens-und Todesplan ringen nur kurz miteinander, spätestens Dezember 1808 mit der Einstellung seiner Literaturzeitschrift Phönix, fiebert oder taumelt von Kleist nur noch dem Ende entgegen.

Die Kritik an der Rationalität setzt mit den Erfahrungen des Großstadtlebens und der Entscheidung zum Nomadenleben ein. Von Kleist macht die Erfahrung der Entwurzelung auf physischer wie psychischer Ebene. Zwar haben Themen der Philosophie von Kleist fundamental bewegt, aber er ist kein Philosoph im methodischen oder systemischen Sinn. Die Formulierung solcher Probleme erfolgt bei ihm nur in Form von Vorgängen oder Fällen, szenisch wie erzählerisch. Kleists Briefe sind vor allem für seine eigene Dichtung hochwichtig: sein Leben scheint nur aus dem Werk heraus zu verstehen.

In Paris erblickt von Kleist einen apokalyptischen endzeitlichen Zustand der gesellschaftlichen Entwicklung. Die Wirklichkeit setzt sich allen philosophischen Entwürfen der Aufklärung als reale Verneinung entgegen. Der Ursprung seiner Dichtung liegt in der Entdeckung der Grundprobleme von Zeit und Gesellschaft, dem Aufeinanderprallen von Rationalität und Gefühl.

I. 2. Das Duell mit sich selbst

I. 2. 1. Eine Gegenüberstellung mit Puschkin

Nach gregorianischen Kalender (in Russland erst mit der Oktoberrevolution 1918 eingeführt), wird der zweifellos bedeutendste Dichter Russlands am 6. Juni 1799 geboren; er ist etwa 22 Jahre jünger als Heinrich von Kleist. Von dunklen Ahnungen, der bizarren Synthese aus Aufklärung und und Aberglaube erfüllt, bewegt sich sein Werk gleichfalls zwischen Romantik und Realismus. Der Heißsporn, der auch von Kleist bisweilen sein kann, duelliert sich als Offizier infolge einer Intrige mit dem französischen Gardeoffizier Georges-Charles de Heeckeren d’Anthès am 8. Februar 1837. Er wird dabei durch einen Bauchschuss schwer verletzt, an deren Folge er zwei Tage später im Alter von 36 Jahren in Moskau verstirbt, womit er nur wenig älter wird als Heinrich von Kleist.

Die beiden Männer geraten trotz ihrer Reputation aufgrund ihrer liberalen Gesinnung häufig unter Generalverdacht, sehen sich zensiert, verfolgt, ins Exil verbannt. Heinrich von Kleist erschießt sich am Kleinen Wannsee am 21. November 1811. Im selben Jahr tritt Puschkin in die Armee ein.

Gemeinsamkeiten finden sich viele: neben der aristokratischen Herkunft eines alteingesessenen, doch verarmten Adels, dienen sie als Offiziere einem autokratischen System, das sie im Grunde verachten. Ihre liberale Gesinnung zwingt sie ins Exil. Ein kaum zu überbietende Reisefieber, Rastlosigkeit, Nomadenexistenz sind die Folge inklusive der (romantisierten)Todessehnsucht. Ambivalenz prägt ihren Geist. Sie bewundern die französische Kultur, sprechen fließend Französisch, doch aus den Napoleonischen Kriegen erwächst während der Befreiungskriege Feindschaft und Patriotismus. Literarisch brechen sie mit der Tradition und sind schwer zuzuordnen; zudem engagieren sich beide für die Herausgabe eigener kritischer Zeitungen, die ökonomische Misserfolge werden.

In ihren Dramen, Erzählungen und in der Lyrik ist das Thema der Gewalt leitmotivisch, nicht zuletzt wird auch das Duell mehrfach beschworen. Das Übersinnliche und Monströse ist beiden vertraut; Puschkins „Der eherne Reiter“ (in dem sich das steinerne Monument des ersten Zaren verselbständigt) und die rächende Steinstatue in „Don Juan“ dokumentieren dies.

Sowohl Kleist als auch Puschkin sind unversöhnliche Opportunisten der Autokratie, von der Zensur Verfolgte und zeitweise aus ihrer Heimat Verbannte. Es verbindet sie die Kombination aus Freiheit und Mutwille, die man auch als Hasardeur bezeichnen könnte. Mit Puschkin erfährt Russland eine Hinwendung zum Nationalstolz trotz seiner Rückständigkeit. Bezeichnend dafür ist Puschkins Paradox: „Natürlich verachte ich unser Vaterland vom Kopf bis zu den Zehen, aber es ist mir auf das Äußerste zuwider, wenn ein Ausländer dieses Gefühl mit mir teilt."

Vergleicht man Puschkins Erzählung „Der Schuss“ (1830) mit von Kleists Erzählung „Der Zweikampf“ (1811), so lehnen sich beide an historische Ereignisse an, die sie sehr frei interpretieren. Im Fall von Kleist handelt es sich um den Hundertjährigen Krieg, in dem Gottesurteile üblich waren, bei Puschkin spielt die Schlacht von Sculenji im heutigen Moldawien während des osmanisch-griechischen Krieges eine Rolle. Eine Interpretation der Novelle Kleists7verweist mit seiner Metapher der „Tarnkappe“ der politischen Opposition auf die Zensur, die Autoren zu historischen Chiffren nötigt. Selbiges gilt auch für Puschkins Novelle „Der Schuss“. In beiden Geschichten geht es um ein Duell und die Auseinandersetzung mit sich selbst durch einen äußeren Rivalen. Im Zentrum steht die Triade Ehre, Recht und Rache; die Finalisierung läuft apodiktisch auf den Tod hinaus, da er ihr innerer Zweck ist.

Das Geheimnis wird durch Selbstoffenbarung gelüftet, dennoch bleiben viele Rätsel offen, die Unglaubwürdiges beinhalten. Das Leben ist nur Spiel, das Fragen der Theodizee aufwirft.

I. 3. Todesplan

Herrlicher als Kleist ist keiner gestorben, urteilt Zweig: er rühmt die konsequente Selbstbestimmung des Dichters zu einem Zeitpunkt, an dem er noch an eine Wende glaubt und am Leben festhält, es nahezu an sich reißt.

Von Kleists bis ins letzte Detail inszenierter Tod ist mit dem Begriff Selbstmord nicht vollständig oder befriedigend erfasst. Die Tötung Henriette Vogels, Frau des Rendanten Friedrich Ludwig Vogel ist nach den Begriffen der Zeit ein Mord, die Selbsttötung eine Konsequenz von unerhörter Sachlichkeit. Zudem kann dem Doppel-Mörder Kleist nicht sein tiefer christlicher Glaube abgesprochen werden.

Sein fröhlicher Spazier-Gang in den Tod gleicht dennoch einer Hinrichtung, Selbstbestrafung und Anklage. In der Literatur kündigt er sie ohnehin an; kaum ein Werk kommt ohne gewaltsames Sterben aus. In von Kleists Dichtungen sind Konsequenzen rechtlichen Charakters aus vorangegangenen Taten. Nicht ohne Bedeutung auch der Ort: auf einer leichten Anhöhe, nahe der Brücke, die den heutigen Kleinen und Großen Wannsee trennt, in Sichtweite der großen Heerstraße zwischen dem militärischen und dem politischen Zentrum des Staats, zum immer währenden Gedenken für alle, zum fortdauernden Vorwurf aber an das Königshaus. Das hat man dort gewusst und verstanden; die Prinzessin Marianne deutet es am 8.1.1833 in ihrem Tagebuch an.

Der komplizierte, verstörende Vorgang wirft tiefe Schatten auf von Kleists ganze Wirkungsgeschichte, insbesondere einer grotesken Heroisierung während des Nationalsozialismus. Der Vorwurf, eine der reichsten Begabungen der deutschen Dichtung sei an Gleichgültigkeit und Unverstand der Öffentlichkeit, der Kritik, der Obrigkeit zugrunde gegangen, ist Bestandteil des Kleist-Mythos geworden, die Kunst weiter zu gehen (Cuonz) oder die Sehnsucht kein Selbst zu sein (Kehlmann) führen zu einem entstellten Ideal (Ruprecht).

Nekrolog: Zwei Masken, die sich beäugen, kriegerisch sich zugetan, ein Bild mitten im nunmehr vollendeten Rätsel. Unbegreiflich bleibt sein Leben, fassbar nur der Tod. Schweigsam beredt und bedeutsam in den Lücken, den Punkten und Auslassungen, der Morgentau glänzend, wo Raureif die Gräser streichelt. Wie im Rausch ist der Mensch, im Fieber liebt und stirbt sich´s am besten. Abschied von der Qual. Auf Erden nie, im Himmel vielleicht, eher in der Hölle wird ihm zu helfen sein. Wo ist sie hin, die mächtigste Stunde seines Lebens, die ihm zeigt, dass der Zeiger springt, die Zeit klemmt, wenn sie sich ins Mechanische gesperrt sieht. Hört er die Zeit gehen, als das Mondlicht den Schatten seiner Lippen küsst? Oder ist es doch am helllichten Tag, inmitten von Eselslärm, als die Kutsche wankt und schließlich fällt, er überlebt, doch gleichsam nur als ein anderer. Der Vernunft erster Diener will er sein, am Ende ist alles Liturgie, nur noch Musik hat der Gewaltige in seiner Brust, wenn er die Sirenen schweigen und den Seraphim Posaune blasen hört. Sprache gleicht einem inneren Verhör, einem Tasten und Stolpern, endlos müht er sich, das Geschrei des Esels zu vergessen, doch es sind zu viele Esel unter ihm. Ulrike leuchtet in bunten Träumen aus dunklen Schlössern mit ihren fahl leuchtenden Gräbern.

II. Philosophische Einflüsse

II. 1. Jean Jaques Rousseau

II. 1. 1. Grundsätzliche Affinität

Da von Kleist äußerst selten konkrete Angaben über seine Literatur(quellen) macht, ist weder eine eindeutige Angabe der Buchtitel hinsichtlich der Rezeptionsästhetik, noch der Zeitpunkt seiner Beschäftigung mit ihnen nachweisbar. Die früheste Erwähnung Rousseaus in seiner erhaltenen Korrespondenz datiert aus dem November 1799 an seine Halbschwester Ulrike, der auf Dauer wichtigsten Bezugsperson. Die Verweise auf Rousseau mehren sich im darauf folgenden Jahr seiner Verlobung und halten bis zur Auflösung des Ehegelöbnisses, verbunden mit dem Aufenthalt in der Schweiz an. Wilhelmine von Zenge übersendet er die Gesamtausgabe Rousseaus mit den Worten, er sei ihm „der liebste, durch den ich dich bilden zu lassen vermag“ (Brief 3. Juni 1801), etwa einem Jahr nach Einwilligung Wilhelmines in die Verlobung. Von Kleist will die junge Frau nach seinem Idealbild nach pädagogischen Vorbild „Emile oder über die Erziehung“ (1762) erziehen. Da sie ihm nicht in die Schweiz folgt, bricht die Beziehung am 20. Mai 1802 ab mit seinem Schwur, niemals in die Heimat zurückzukehren. Von Kleists Erziehungsplan ist damit wie sein Versuch, sesshaft zu werden, perdu.

Bereits die Rastlosigkeit seiner Wanderungen stiftet eine Analogie zu dem Genfer nebst der Musik, die von Kleist spätestens in seiner Legende über die Heiligen Cäcilie als unmittelbare Macht würdigt. Übereinstimmungen bilden der politische, zivilisations-und staatskritische Sendungsauftrag, die ethische Grundhaltung und die Betonung der natürlichen Lebensform in der Tugendlehre. Eine vorrevolutionäre Gesinnung im Vorgriff auf die Märzrevolution ist beiden nicht abzusprechen. Rousseau wird neben Voltaire und Diderot zum wichtigsten Vertreter der Lumières. Auch wenn der letzte Nachweis der Beschäftigung mit seiner Lektüre in einem Brief an Ulrike Juli 1807 (er steht vor der Entlassung aus französischer Gefangenschaft) stammt, so bleibt er ihm (gleich Hölderlin) in seinem Denken lebenslang verbunden.

Dies gilt vor allem hinsichtlich der Befürwortung des Suizids, die zum paradoxen Freiheitsrecht inklusivem Todesplan gehört. Die Todesumstände Rousseaus sind bis heute ungeklärt; die These, Rousseau habe Suizid begangen, spricht auch Madame de Staël explizit in „Lettres sur le caractère et les écrits de Jean-Jacques Rousseau“ an. Ob von Kleist diese bekannt sind, bleibt spekulativ. Den lange offiziell verbotenen Roman „Julie oder Die neue Heloise“ (1761, „Briefe zweier Liebenden“), der eine Welle von Gefühlsromanen um nicht standesgemäße Beziehungen und Freitod auslöst, darunter „Die Leiden des jungen Werther“ (1774), schätzt er. Der Protagonist Saint-Preux nimmt sich das Leben, als das der geliebten Julie verlischt.

In seinem sechsteiligen Briefroman verteidigt Jean-Jacques Rousseau Leidenschaft, Individualität, Spontaneität und die natürlichen Regungen der Seele gegen die unilaterale Verstandeskultur der rationalen Aufklärung. Die Natur erscheint im Roman als Erzeugerin und zugleich als Spiegel menschlicher Seelenregungen, so etwa der geheime Garten Julies, der zwar künstlich angelegt ist, aber urwüchsig aussieht, oder die Naturgewalt des Gewitters. Echte Tugend besteht nach Rousseau darin, die eigene Leidenschaft zu überwinden, wodurch diese erhöht und gereinigt wird. Die wirklich schuldlose, reine Liebe scheint allerdings nur in der Erinnerung und im Tod möglich. Rousseau entwirft mit der Beschreibung der ländlichen Idylle, in welcher der kleine Kreis um Julie zurückgezogen lebt, eine auf Gleichheit, Gerechtigkeit, Naturverbundenheit und Glück begründete Sozialutopie: Die fortschreitende Bildung der bürgerlichen Schichten und Ausrichtung auf materiellen Wohlstand ist für ihn kein Mittel der Behebung von Unrecht, sondern ursächlich für soziale Ungleichheit. Summa summarum steht Rousseau für eine Sonderform, der sentimentalen Aufklärung, die Romantik integriert.

Zentral wird die Skepsis gegenüber der Allmacht der Wissenschaft, vor allem hinsichtlich ihres moralischen Wertes und für das Glück. Hinsichtlich seines Schlusssatzes im Marionettentheater-Essays, der auf die Rückkehr in den paradiesischen Zustand anspielt wird die Zwiespältigkeit des Wissens deutlich: „Und doch – gesetzt, Rousseau hätte in der Beantwortung der Frage, ob die Wissenschaften den Menschen glücklicher gemacht haben, recht, wenn er sie mit Nein beantwortet, welche seltsamen Widersprüche würden aus dieser Wahrheit folgen! ... Nun also müßte man alle Kenntnisse vergessen, den Fehler wieder gut zu machen; und somit finge das Elend wieder von vorn an. Denn der Mensch hat ein unwidersprechliches Bedürfnis sich aufzuklären. Ohne Aufklärung ist er nicht viel mehr als ein Tier. Sein moralisches Bedürfnis treibt ihn zu den Wissenschaften an, wenn dies auch kein physisches täte. … Auch ist immer Licht, wo Schatten ist, und umgekehrt. Wenn die Unwissenheit unsre Einfalt, unsre Unschuld und alle Genüsse der friedlichen Natur sichert, so öffnet sie dagegen allen Greueln des Aberglaubens die Tore – Wenn dagegen die Wissenschaften uns in das Labyrinth des Luxus führen, so schützen sie uns vor allen Greueln des Aberglaubens.“8

Die Entscheidung, freier Schriftsteller zu werden und auf eine staatliche Besoldung, sei es im Militärwesen oder als Beamter zu verzichten, ist nicht ausschließlich, aber auch auf die Lektüre Rousseaus und von Kleists moralischem Anspruch, zurückzuführen. Es besteht bei ihm ein tiefer Zusammenhang zwischen (verfehlten) Gefühlen, Wissen, Begehren und Rechtsempfinden.

II. 1. 2. Einfluss auf den Dichter

Zahlreiche Motive im Werk von Kleists lassen sich leicht mit Rousseaus Gedanken, speziell seinem Aufsatz über die Ungleichheit „Discours sur l´inégalité“ in Bezug setzen: das aufgeklärte Frauenbild in „Der zerbrochene Krug“ bzw. „Die Marquise von O“, das Auseinandertreten von Eigen-und Selbstliebe in „Penthesilea“, die Kritik an der geschäftigen Torheit9 - in , die Wiederkehr der Idylle mit dem Ideal des sich über sozialen Klassenschranken hinwegsetzenden Weltbürgers (citoyen) in „Das Erdbeben von Chili“, der Abkehr von den Klugheitsregeln und Ökonomisierung der Bedürfnisse in „Der Findling“, die bedingungslose Vertrauen in die Intuition in "Das Käthchen von Heilbronn“, der existentielle Konflikt zwischen Rechtsverletzung und Staatsvertrag in „Michael Kohlhaas“, die Hinterfragung des Gemütszustandes in „Der Prinz von Homburg“, die Hinwendung an Naturunschuld und normübergreifender Identitätsbildung in „Die Verlobung von Santo Domingo“.10 Rousseau erweist sich als unverzichtbare Komplementärfunktion zu Kant und Fichte, die sich gleichfalls von ihm beeinflusst zeigen.

Die Rousseau-Rezeption ist seit 1937 gut erschlossen11 und häufig Gegenstand in der von Kleist-Forschung, gerade hinsichtlich des Misstrauens gegenüber den Verstand und den Hiatus zwischen Erkenntnis und Sittlichkeit, die das Idyll vom Landleben nährt, bei von Kleist konkret nach seines Aufenthalts in Paris 1801. Seine Vorliebe für Kant und Rousseau verdeutlicht bereits die antithetische Grundhaltung der eigenen Gesinnung.

Für das politische Verständnis von Kleists, hier Schiller und Hölderlin analog, ist die Unterscheidung elementar von angestrebten Gemeinwohl (volonté génerale) und Willen aller in ihrer Summe (volonté de tous). Diese Differenzierung entspricht der zwischen natürlichen Selbsterhaltungstrieb, Selbstliebe (amour de soi) und zivilisatorisch angeeignete narzisstische Eigenliebe (amour propre), um nur zwei kongeniale Schlüsselbegriffe zu nennen. Novalis´ Kommentar, kein Staat gleiche mehr einer (seelenlosen) Fabrik als Preußen trifft es pointiert, ebenso wie Hölderlins Satz aus dem Hyperion-Brief „Priester fand ich, aber keine Menschen“. Der Staat als tote Maschine ist abzulehnen, ebenso Prügel-und Todesstrafe bzw. eine materiale Bestimmung des Glücks, die soziale Werte wie Mitgefühl und Solidarität untergräbt. Rousseaus zivilisationskritische Neo-Humanismus ist nicht auf die Formel zurück zur Natur (retour à l'état de nature) zu reduzieren, sondern sensibilisiert für die Missbildung des Menschen durch einseitige Ausbeutung und Schulung seiner Interessen.

Darüber gibt u a. der „Allerneuste Erziehungsplan“ Auskunft, der Herbst 1810 in den Berliner Abendblättern erstmals publiziert wird. Er impliziert das Gesetz des Widerspruchs durch eine satirische Analogie zwischen der Physik und der Moral. Die fälschliche Gleichsetzung von Naturgesetzen mit Imperativen aus der Sittenlehre bzw. die Identität von epistemologischen und ethischen Gehalt einer Erkenntnis für das Urteil oder Handeln ist ein übergreifender Topos, der Rousseau und von Kleists Werk charakterisiert. Die Natur wird von beiden als regulative Idee verstanden; eine Rückkehr zu dem Paradies ist nicht nur unmöglich, sondern auch nicht wünschenswert, da Aberglaube und Rohheit Segnungen der Wissenschaft zunichtemachen würden. Es geht um ein Abwägen für ein „Rechtsgefühl, das einer Goldwaage glich“ (Metapher aus dem „Michael Kohlhaas“), eine Begrenzung von Leidenschaft, Vermögen, Herrschaft. Im Essay empfiehlt von Kleist auch eine Lasterschule zur Entwicklung der Tugend, um wie in der Elektrizität Minus in Plus umzupolen. Mit Rousseaus Pädagogik aus dem „Emile“ betreibt von Kleist an der Zensur vorbei Opposition gegen von Hardenbergs Schul-und Bildungsreformen inklusive seiner Wirtschafts-und Finanzpolitik.12 Dieselbe Ironie verwendet der Autor in seiner Anekdote „Der Griffel Gottes“, in der ein Blitzeinschlag (ohnehin seine Lieblingsmetapher) die Gravur eines Grabsteins ändert und somit die Natur posthum zu ihrem Recht verhilft.

Die Berliner Abendblätter (Oktober 1810 bis März 1811) sind nicht nur die erste Literaturzeitschrift, die Zensur (sowohl die Französische, als auch die Preußische) unterwandert, indem sie nur vorgibt, apolitisch zu sein, sondern auch das erste Tagesblatt überhaupt (Ausnahme Sonntag). So lange von Kleist den Berliner Polizeipräsident Gruner, der zugleich Zensor ist, täuschen kann, etabliert der den Journalismus als die vierte Gewalt. Er mischt Kriminalgeschichte (von Kleist hat ein Exklusivrecht auf Polizeimeldungen) wie die Brandanschläge in Smit der subtil vorgebrachten sozialen Kritik, Karikatur, Gedicht, Unterhaltung und Bildung durch seine „merkwürdige Übereinstimmung der physischen und der moralischen Welt“ (Peters), die in ihrem Skeptizismus weder Idyll noch Utopie zulässt. Rousseau gilt durch seine Artikel für die Enzyklopädie als einer der Begründer des investigativen Journalismus. Man kann folglich Brückenschläge zwischen Natur und Sozialem erkennen und eine Aufklärung des gesamten Menschen. Ohne Aufklärung ist der Mensch nicht viel mehr als ein Tier, aber nur auf-macht ihn zugleich abgeklärte; eine Maschine, einem Rad im Getriebe und systemkonformen, normierten Wesen. Von Kleist sucht einen Weg zwischen symbolischer und imaginärer Identität.

II. 2. Immanuel Kant

II. 2. 1. Die Kant-Krise als Krise der Vernunft

Der von Norbert Thomé im Jahre 1923 verwandte Begriff der Kant-Krise ist zweideutig. So schreibt Ludwig Tieck in der zweiten Auflage der Werkausgabe 1826 über Heinrich Kleist, dass er die Kantische Philosophie „weder zu fassen noch zu würdigen verstand". Der Terminus meint eine Zerrüttung des Weltbildes Kleists durch den übermächtigen intellektuellen Einfluss Kants. Mehrere Studienbeiträge beleuchten die bezeichnete Umbruchsituation des Dichters in einer von Kriegen geprägten Epochenschwelle, die Grenzgänger und „Limesfiguren“13 zeitigt.

Die erste nachweisbare Erwähnung datiert aus seinem Brief an die Verlobte Wilhelmine von Zenge im September 1800 mit der Formulierung „Über den Zweck unseres ganzen ewigen Daseins nachzudenken, auszuforschen, ob der Genuß der Glückseligkeit, wie Epikur meinte, oder die Erreichung der Vollkommenheit, wie Leibniz glaubte, oder die Erfüllung der trockenen Pflicht, wie Kant versichert, der letzte Zweck des Menschen sei, das ist selbst für Männer unfruchtbar und oft verderblich.“14

Was geschieht, wenn gesunder Menschenverstand und Vernunft, logischer Transzendentalismus und Gefühl „auf den Knien meines Herzens“15kollidieren? Die Beschäftigung mit Kant um die Jahrhundertwende führt bei Kleist zu einem Aufklärungs-und Fortschrittsoptimismus, der März 1801umschlägt in eine tiefe Sinnkrise und vorübergehende Orientierung an Rousseaus Natur-Idealismus, sowie Fichtes Subjektivismus. Es besteht ein Zusammenhang zwischen der Kant-und der Guiskardkrise, die in der Vernichtung seines höchst anspruchsvollen Dramas endet und den Lebensin einen Todesplan umschlagen lässt. Ob dies alles Kant zuzuschreiben ist bleibt offen.

Ernst Cassirer postuliert hingegen in seinem Essay „Heinrich von Kleist und die Kantische Philosophie“ (1919)16, Kleist habe erst durch die Lektüre Fichtes (der „neueren Kantischen Philosophie“) diese Krise erlitten, aufgrund der ihn erschütternden Einsicht von der Machtlosigkeit der Vernunft auf das Leben. Rousseaus Mitgefühl, die ständeübergreifende Solidarität im „Erdbeben von Chili“ ermöglicht, bleibt temporär, schlägt um in barbarische Lynchjustiz. Ob Cassirers Hypothese, von Kleist habe zunehmend Ohnmacht gegenüber seiner Epoche (Napoleon auf dem Höhepunkt seiner Macht) und der Ananke (die menschliche Hybris) empfunden, zugleich seit seinem Kutschenvorfall auf der Würzburger Reise 1800 und dem Schock über die sündhaften Zustände in der Kulturmetropole Paris die Bedeutung der Zufälligkeit und Unvorhersehbarkeit höher bewertet. „Verrücktheit des Sinns“ nennt es Kant, dem von Kleist in „Michael Kohlhaas“ kongenial „Schwärmerei krankhafter und mißgeschaffener Art“ entgegenbringt. Der Glaube an die Vernunft und rationale Welterklärung schwindet, heuristisch ist dem nicht beizukommen, so dass die Welt nicht mehr als die beste aller möglichen gilt. Der Dichter wirkt wie ein hybrider Hermaphrodit, zwischen Pflichtgefühl und Leidenschaft, mystischem Glauben und apokalyptischen Visionen zerrissen.

Über die Beziehung von Kleist zu Kant ist viel geschrieben worden; so auch über sein Interesse an „Träume eines Geistersehers“17, die bereits im Titel sich an Rousseaus „Träume eines Spaziergängers“ anlehnen. Die Frühschrift dokumentiert Kants Beschäftigung tranceartigen Zuständen, Somnambulismus und Mesmerismus, wie sie in „Penthesilea“, leitmotivisch in „Das Käthchen von Heilbronn“ am deutlichsten im Drama „Der Prinz von Homburg“ zum Tragen kommen.18

II. 2. 2. Probierstein und metaphysische Gläser

Von Kleist kennt die Metapher vom „Probierstein“ Kants und zudem das Gleichnis von den grünen Gläsern, von der Unhintergehbarkeit des Dings an sich, der trügerischen Selbstgewissheit und fragilen, perspektivischen und niemals absolut zu erkennenden Wahrheit. Die Metapher des Probiersteins erwähnt Kant in seiner kleinen Schrift „Was heißt sich am Denken orientieren?“ (1784) viermal. Die bekannteste Stelle bildet zugleich den Schluss(stein): „Selbstdenken heißt den obersten Probierstein der Wahrheit in sich selbst [d.i. in seiner eigenen Vernunft] suchen; und die Maxime, jederzeit selbst zu denken, ist die Aufklärung“.19 Lüge wird exemplarisch für viele andere Laster, die mitunter aber Gutes bewirken, als unmoralisch und unzweckgemäß verworfen. Ebenso das ungeprüfte Übernehmen von Meinungen, die sich später als richtig herausstellen. Der letzte Probierstein der Wahrheit ist immer die Vernunft und diese nur durch rechten Gebrauch des eigenen Verstandes erreichbar, der allein über die „Zulässigkeit eines Urteils“ befindet. Von Kleist artikuliert sinngemäß: „Wenn man also nur seiner eigenen Überzeugung folgen darf und kann, so müßte man eigentlich niemand um Rat fragen, als sich selbst, als die Vernunft.“20

Neben der Wahrheitsfindung tritt die moralische Vervollkommnung in den Vordergrund. Aus diesem Blickwinkel lässt sich „Der Prinz von Homburg“ als Replik auf die „Kritik der praktischen Vernunft“, in der die Unbestechlichkeit des Gewissens vor dem Gehorsam steht, rezipieren. Ein Recht auf Widerstand gegen die Staatsgewalt findet sich explizit allerdings weder bei Kant noch bei Rousseau aus naheliegenden Gründen: erstens wieg ein Individualinteresse, sei es noch so berechtigt, niemals das Volksinteresse auf, zweitens kann ein subjektiver Grund niemals hinreichend für einen kategorischen Imperativ sein, die Situation kann bestenfalls hypothetisch, weil situativ gerechtfertigt erfolgen und drittens schützt Unwissenheit (die der Prinz vorgibt, da er den Befehl verträumt hat) in keinem Fall vor Verantwortung. Allgemein lässt sich aber ein Bekenntnis von Kleists zu Kants Verantwortungs-und Gewissensethik konstatieren. Selbst die Idee mit der Lasterschule im Essay „Allerneuster Erziehungsplan“ ist mit Kants Schrift „Über das radikal Böse vereinbar“, da es den Gedanken, wofür Laster nützt, aufgreift.21

Vermutlich aber ist die unmittelbare Krise Kleist als Reaktion auf Kant ohne das Dilemma, ihn mit Fichte zu verknüpfen, zu werten.22 Als gesichert darf gelten, dass Goethe den radikalen Anspruch der Autonomie und der Pflichtethik skeptischer gegenüberstand als der enthusiastische von Kleist.23 Ebenso gilt als gewiss, dass Kleist mehrere Quellen für das Gleichnis mit den grünen Gläsern besitzt, u. a. auch Jacobi und Wieland sowie Fichte24. Da von Kleists Briefe klare Hinweise auf seine Kantlektüre, nicht aber die genauen Quellen und Stellen verraten, bleibt dieser Disput, was genau die Krise 1801 ausgelöst hat, die zur Entlobung und auf Umwegen zur literarischen Selbstverwirklichung führt, spekulativ. Unstrittig übt Kants Werte-Anspruch, z. B. hinsichtlich der Leitfrage nach dem Glück, einen bedeutenden Einfluss auf die Lebensgestaltung des Künstlers und Denkers aus. Ironischerweise heiratet seine Verlobte Wilhelm T. Krug den Nachfolger auf dem Kant Lehrstuhl in Königsberg, wo die beiden sich in der Zeit von Kleists Anstellung beim Finanzministerium 1805/06 wieder begegnet sein dürften. „Der zerbrochene Krug“ liest sich vom Titel her als Parodie.

Der Abbruch des Physikstudiums und die Neuorientierung von Natur-auf Geisteswissenschaft erfolgt indirekt und während der intensiven Kantlektüre, da von Kleist seitdem weder an die Objektivität noch die Glückswürdigkeit im irdischen Dasein kraft der tugendhaften Lebensweise zu glauben vermag. Es ist strittig, in wieweit er die Ehe zu einer vermutlich nicht übermäßig geliebten Frau, die er vielleicht als gute Freundin gesehen hat, deshalb verwirft, weil auch Kant und Rousseau Junggesellen blieben, ein Grund liegt aber auch in seinem ehrgeizigen Anspruch als Versorger, den er nie gerecht zu werden vermag.

In „Träume eines Geistersehers“ (1766) taucht das Bild mit den Gläsern auf, das u. a. Hoffmann zur Novelle „Der Sandmann“ inspiriert. Es handelt sich um die verrückte Perspektive auf das Ding an sich bzw. eine Wahrheit hinter den Gläsern. Da die Augenmetaphorik zum unverzichtbaren Bestandteil von Kleists Poetik gehört, lohnt sich der Passus: „Wenn indessen die Vorteile und Nachteile in einander gerechnet werden, die demjenigen erwachsen können, der nicht allein vor die sichtbareWelt, sondern auch vor die unsichtbare in gewissem Grade organisiert ist .., so scheint ein Geschenk von dieser Art demjenigen gleich zu sein, womit Juno den Tiresias beehrte, die ihn zuvor blind machte, damit sie ihm die Gabe zu weissagen erteilen könnte. Denn, nach den obigen Sätzen zu urteilen, kann die anschauende Kenntnis der andern Welt allhier nur erlangt werden, indem man etwas von demjenigen Verstande einbüßt, welchen man vor die gegenwärtige nötig hat. Ich weiß auch nicht, ob selbst gewisse Philosophen gänzlich von dieser harten Bedingung frei sein sollten, welche so fleißig und vertieft ihre metaphysische Gläser nach jenen entlegenen Gegenden hinrichten und Wunderdinge von daher zu erzählen wissen, zum wenigsten mißgönne ich ihnen keine von ihren Entdeckungen; nur besorge ich: daß ihnen irgend ein Mann von gutem Verstande und wenig Feinigkeit eben dasselbe dürfte zu verstehen geben, was dem Tycho de Brahe sein Kutscher antwortete, als jener meinte, zur Nachtzeit nach den Sternen den kürzesten Weg fahren zu können: Guter Herr, auf den Himmel mögt ihr euch wohl verstehen, hier aber auf der Erde seid ihr ein Narr.“25

Um nur ein Beispiel zu nennen, so liegt in Seelandschaft und Sehlandschaft eine Homophonie vor, mit der von Kleist in seinem feinsinnigen Kunstessay „Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft“ vom 13. Oktober 1810 gespielt haben dürfte.26

Kants Verdikt über die Begrenztheit der Logik in den Naturwissenschaften zeigt Spuren. Ein Verzicht auf wissenschaftliche Genauigkeit impliziert durchaus nicht die Lust an der Einbildungskraft, vielmehr Achtsamkeit und Demut gegenüber der Unangemessenheit von Vorstellung und Erkenntnisgegenstand. „So kann man blondes Haar und blaue Augen haben, / Und doch so falsch sein?" sagt Varus über Thusnelda, in der er sich täuscht, weil er nur erkennt, was er erkennen will. Viele naturwissenschaftliche Experimente bestätigen, wonach gesucht oder gefragt wird; der Blickwinkel des Wissenschaftlers trübt daher die Realität, die nicht falsch, aber einseitig bewertet wird.

Besonders in seinem Aufsatz über das Glück, der zeitlich nahe an die Kant-Krise heranreicht, verdeutlicht die Nähe zu Kant, seiner Anschauung über die Tugend und den moralphilosophischen Ansatz, der sich von der Theodizee löst. Viele Gedanken aus der Sittenlehre, exemplarisch Kants Aufsatz „Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee“ (1791) kennt er mit Sicherheit; Erkenntnisse daraus fließen in „Das Erdbeben von Chili“ ein, da der Hintergrund, das Erdbeben von Lissabon 1755 das naturwissenschaftliche Phänomen an die moralische und die Gottesfrage knüpft.

Man kann Gott weder erkennen noch ihn schlichtweg für den Lauf der irdischen Belange zur Verantwortung ziehen, ebenso wenig führten gute Absicht oder Erkenntnis automatisch zur gerechten Handlung. Der Tugend folgt nicht immer die Belohnung auf dem Fuß und man kann aus den richtigen Gründen falsch, aus den falschen Gründen richtig handeln. Das Zweckwidrige spricht nicht gegen die göttliche Instanz, auch die Vorstellung vom Paradies als eine ausgleichende Gerechtigkeit für erlittenen Unbill im Diesseits beruht laut Kant nur auf eine „willkürliche Voraussetzung“. Diese Schrift legt nahe, die wesentlich ältere vom Geisterseher über die metaphysischen Gläser als zwei Prinzipien, die transzendentale und die spekulative Vernunft auszulegen und die Trennung von irdischer und göttlicher Gewalt radikal zu vollziehen.27

Mystisch wie rational erscheint auch Kleists Entwicklung eines unglücklichen Bewusstseins aus der Ahnung von Glück heraus. Die Interjektion Ach ist ein Grenzwort an der Schwelle und am Grenzbereich zwischen Bewusstem und Unbewussten, Gesagtem und Ungesagtem, charakteristisch für „Die Verlobung von Santo Domingo“, in der Tonis gute Tat mit der Ermordung vergolten wird. In der Verlobung wie im Erdbeben scheitert individuelles Glück an der Laune und sinnlichen Begierde des Menschen. Laut Kant hat der Mensch eine starke Affinität zur Gewalt, die ein dauerhaftes Glück verhindert. Darüber hinaus bleibt er zeit seines Lebens einer nicht berechenbaren Welt, dem Zufall und seiner Gewalt über ihn ausgeliefert. Das alles versinnbildlicht sich in Kleists Metapher von der gebrechlichen Welt, was ihn zu einem unendlichen Regress in seinem Bemühen zwingt. „Er fing, da sein Gefühl ihm sagte, daß ihm von allen Seiten, um der gebrechlichen Einrichtung der Welt willen, verziehen sei, seine Bewerbung um die Gräfin, seine Gemahlin, von neuem an.“28 In Variation: „Ihr Verstand, stark genug, in ihrer sonderbaren Lage nicht zu reißen, gab sich ganz unter der großen, heiligen und unerklärlichen Einrichtung der Welt gefangen.“ Unerklärlich und gebrechlich gebraucht von Kleist synonym als Konvergenz psychischer und physischer Fraktur.

Sinnbildlich für die Kant-Krise ist sein Grüne-Gläser-Gleichnis, das Kleist in seinem Brief 1801 äußert, dem er vorausschickt „vor kurzem mit der Kantischen Philosophie bekannt“ geworden zu sein. „Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie urteilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblicken, sind grün – und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzutut, was nicht ihnen, sondern dem Auge gehört. So ist es mit dem Verstande. Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint. Ist das letzte, so ist die Wahrheit, die wir hier sammeln, nach dem Tode nicht mehr – und alles Bestreben, ein Eigentum sich zu erwerben, das uns auch in das Grab folgt, ist vergeblich.“29

Der Gedankengang widerspricht dem seinerzeit vorherrschenden Bild der Wissenschaften. Von Kleist seziert in zwei Klassen: eine Gruppe versteht sich auf Formeln und eine andere auf Metaphern. An anderer Stelle spricht er vom Unterschied zwischen Philosophen und Dichtern; die hinzutretende verbindende Klasse ist die Marionette. Als Autor positioniert er sich dazwischen, denn er überkreuzt zwei narrative Techniken: das defizitäre Erzählen durch Vorenthalt einer entscheidenden Information und das ambivalente Erzählen durch Verweigerung eines eindeutigen (moralischen) Urteils. Theoretische und praktische Vernunft streben demnach wie bei Kant auseinander, wobei sie bei von Kleist auch nicht durch Urteilskraft vereinigt werden.

III. 1. 3. Subjektkonstitution: Zufall und Notwendigkeit

Unter diesen Umständen ist es nachvollziehbar, dass der Schrei eines Esels, der Pferde durchgehen lässt und die Würzburger Reise mit Ulrike nach Paris beinahe zu einem tragischen Ereignis hätte umschlagen lassen können, von Kleist einen nachhaltigen Eindruck von dem Stellenwert des Zufalls beschert. Darunter versteht Kant Bedingungen, die aus dem Subjekt hervorgehen, jedoch aufs Objekt übertragen werden. Aber zugleich gilt „Nichts geschieht durch ein blindes Ohngefähr… keine Notwendigkeit in der Natur ist blinde, sondern bedingte, mithin verständliche Notwendigkeit.“30

Kant denkt die Welt vom transzendentalen Subjekt aus; die Welt an sich existiert nicht bzw. kann nicht zweifelsfrei über logische Schlüsse erkannt werden, da der Mensch ein Sinneswesen ist und bereits durch die Anschauungsformen von Zeit und Raum eingeschränkt wahrnimmt. Entscheidend für von Kleists Subjektkonstitution wird der permanente Konflikt, die Krisis in Permanenz durch eigene Wahrnehmung mit der Autonomie des Denkens und dem allgemeinen Gesetz.

Er sucht Zwecksystem als das Gesetz des Allgemeinen und Zufall als das Gesetz des Besonderen zu synthetisieren. Der Zufall muss bezwungen werden. „Eine solche sklavische Hingebung in die Launen des Tyrannen Schicksal, ist nun freilich eines freien, denkenden Menschen höchst unwürdig. Ein freier, denkender Mensch bleibt da nicht stehen, wo der Zufall ihn hinstößt; oder wenn er bleibt, so bleibt er aus Gründen, aus Wahl des Bessern.“31 Folglich fühlt Kleist sich allein für all sein persönliches Misslingen allein verantwortlich.

Seine Protagonisten sind zu einer sprachlichen Regelung unfähig, wie er betont: „Nur weil der Gedanke, um zu erscheinen, wie jene flüchtigen, undarstellbaren chemischen Stoffe, mit etwas Gröberem, Körperlichen, verbunden sein muß, bediene ich mich ... der Rede.“32 Ähnlich lautet eine andere Stelle: „Das Leben selbst ist ein Kampf mit dem Schicksal; und es verhält sich auch mit dem Handeln wie mit dem Ringen.“ Von Kleist sucht physische Metaphern für die Dialektik aus These und Antithese.

Ein zentraler Begriff in Kants Sittenlehre lautet Pflicht. Nicht von ungefähr unterscheidet er das Gewissen als „aus Pflichtgefühl“ handeln zu wollen gegenüber der ethischen Norm, die eine präskriptive Pflicht als Grundlage zu „pflichtgemäßen Handeln“ verlangt. Das richtige und gute Handeln macht von Kleist abhängig von der unerbittlichen Strenge, sich selbst gegenüber, seine Pflichten zu erfüllen und über die Neigungen zu stellen. Die bloße Anerkennung oder Einsicht, das sich Fügen in das Notwendige hingegen genügt ihm nicht. Gut zu sein beinhaltet für Kleist, die Wahrheit zu erkennen und den Zweck jedes Gedankens und jeder Handlung auf ihre Nützlichkeit hin zu überprüfen. Lebenstatsachen können seiner Ansicht nach nicht weggedacht oder eskamotiert werden; ein isoliertes Denken im philosophischen Käfig ist unredlich.

Wie aber ist Freiheit innerhalb eines Mechanismus, wie es der Staat im Großen und das eigene (selektive) Wahrnehmen im Kleinen inkludieren, denkbar? Wie, mit Kant gefragt, lässt sich die Apperzeption, die Einheit oder ein archimedischer Standpunkt im Ich herstellen, wenn sich das Subjekt permanent neu im Außen spiegelt, um sein Selbst laut dem Gesetz der Identität zu bewahren? Kleists Ringen mit der Wahrheit, am anschaulichsten in „Der Zweikampf“ dargestellt, antizipiert das Verdikt Adornos, der Philosophie eine (tragische) traurige Wissenschaft nennt. Mensch und Leben bleiben aller denkerischen Anstrengung zum Trotz ein Rätsel; der letzte Grund aller Erkenntnis, bei der der Erkennende sich als Teil des Erkannten begreifen muss.

Drei Aspekte umreißen bis heute ungelöste Denkaufgaben, die wesentlich für die Kantkrise sind: Zunächst die tragische Einsicht, dass Plan und Vernunft der Natur allgemein und dem Missbrauch der Vernunft durch den Verstand unterlegen sind. Die Folge ist ein Krisenbewusstsein, die Krise in Permanenz, hinsichtlich der Verwirklichung des Guten dar, da der Zweck laut Kant nicht die Mittel rechtfertigt. Im Werk von Kleist kollidieren Bluts-und Familienbande als das ursprüngliche positive Recht der Natur (Rousseaus Erbe) mit dem Gesetz (Staatsraison), die durch negative Setzung Kontingente in Gestalt der gesellschaftlichen Formation werden. Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Aus der Reibung des Individuums mit seiner Pflicht zu autonomen Handeln und der real existierenden Unmündigkeit, Rechtlosigkeit oder Zwang heraus, resultiert die Unmöglichkeit, seinem Gewissen nach handeln zu können. Wenn das Subjekt alles in Frage stellen darf, dann auch sich selbst.

Wenn alles mit Notwendigkeit geschieht, dann ist subjektiv erworbene Freiheit ein kollektiver Betriebsunfall oder ein zufälliges Ereignis, keineswegs der Sinn von Geschichte. Wenn Spiel, Freude oder Lust dem Ernst der Einbildungskraft zuwiderlaufen, dann erscheinen Erkenntnis, Moral und Ästhetik (was kann ich erkennen? was kann ich tun? wie kann ich urteilen?) stets einem System der Zwecke unterstellt.

II. 2. 4. Kants Gleichnis der Marionette

Selbst der Essay über das Marionettentheater kann in der Auseinandersetzung mit Kant rezipiert werden, da die „Kritik der praktischen Vernunft“ eine metaphorische Steilvorlage bietet. Kann deshalb, weil ungewiss ist, ob von Kleist die praktische Vernunft las und wenn, ob er folgende Stelle über die Fatalität der Handlungen kannte: „In der Tat: wären die Handlungen des Menschen, so wie sie zu seinen Bestimmungen in der Zeit gehören, nicht bloße Bestimmungen desselben als Erscheinung, sondern als Dinges an sich selbst, so würde die Freiheit nicht zu retten sein. Der Mensch wäre Marionette, oder ein Vaucansonsches Automat, gezimmert und aufgezogen von dem obersten Meister aller Kunstwerke, und das Selbstbewußtsein würde es zwar zu einem denkenden Automate machen, in welchem aber das Bewußtsein seiner Spontaneität, wenn sie für Freiheit gehalten wird, bloße Täuschung wäre, indem sie nur komparativ so genannt zu werden verdient, weil die nächsten bestimmenden Ursachen seiner Bewegung, und eine lange Reihe derselben zu ihren bestimmenden Ursachen hinauf, zwar innerlich sind, die letzte und höchste aber doch gänzlich in einer fremden Hand angetroffen wird.“33

Von Kleist gebraucht die Marionette für Kants höchste sittliche Schöne, das Erhabene. Von Kleist zeichnet drei Aspekte der aus dem Prinzip der Urteilskraft Kants nach: Wenn Bär und Fechtmeister wie Natur und Zivilisation, wie Instinkt und Verstand miteinander ringen, gewinnt das verstandeslose Tier und damit das Naturrecht des Körpers das Duell gegen das kultivierte Recht der Bildung und Ratio. Das Argument deckt sich mit Kants Abkehr vom Anthropologozentrismus. Nicht nur hier begegnet der Leser einem befremdlichen Triumph subjektiver Irrationalität, einer Unterlegenheit des Bewussten gegenüber des Unreflektierten (gleichsam Unbewussten), das als Inferno der Vernunft eingeklagt wird.

Die seelenlose Gliederpuppe erweist sich als Ausdruck von Erhabenheit. Kleists unstillbare Sehnsucht nach Kants Paradoxien - Gott kann nicht aus dem Verstand heraus erklärt werden, soll aber als Regulativ der Vernunft gelten - kann als Über-Ich nur im Inneren Bedeutung erlangen. Das Motiv von Gliederpuppen bzw. Marionetten als Metapher für Unmittelbarkeit und Automatismen kehrt leitmotivisch wieder.

Von Kleist sucht den Schwerpunkt der Marionette außerhalb des Menschen und sinnt ihr Menschliches an. Kant nennt das Ding an sich; das Dinghafte kehrt bei Kleist wieder als ein Stolperstein. Anthropologisch bedeutet das, er verortet den Menschen zwischen Tier und Gott; die blicklose Marionette (gleichfalls der Bär, die ohnmächtige Marquise von O oder der träumende Prinz von Homburg) sind schwerelos und von gleicher Grazie. Diese Natürlichkeit wird preisgegeben durch die Normierung und Formatierung des Denkens, der Schwerkraft.

Das Ergebnis ist die Legitimation des Selbst, die Entrückung und Verrückung des Denkens. Das Dilemma der Vernunft besteht darin, Utopie und Dystopie zugleich zu sein. Die Idee der Freiheit schlägt in ihr Gegenteil, den Zwang und die Notwendigkeit, um. Das Tier und die scheinbar mechanisch an Fäden gezogene Gliederpuppe sind ironischerweise freier als der gedankenvolle Mensch, dem schmerzlich die Unvollkommenheit vor Augen stehen muss als unauflösbare Diskrepanz von Sein und Schein.

Zweitens: in Kleists Werk, das Synthese zwischen Autonomie des Ich und Gemeinschaftssinn, ergo zwischen Freiheit und Gehorsamkeit (mitunter Unterwerfung) sucht, äußert sich ein leidenschaftlicher Drang zum Unbedingten a priori, der aber nicht mehr von dem harmonisch und rational begründeten humanistischen Weltbild der Weimarer Klassik, das an die Formbarkeit des Willens durch Bildung glaubt, getragen ist. Stattdessen beruft sich das Subjekt gegenüber den Wirren der trügerischen Welt auf die Intensität eines schmerzhaften Gefühls des Fragmentarischen und Brüchigen. Die Idee einer gerechten Obrigkeit (Napoleon oder der preußische Staat) fehlt zur Gänze; eine mit der Wirklichkeit versöhnende Lösung des tragischen Zwiespalts bleibt aus.

Erhaben ist der Mensch bei von Kleist nur, so lange er sich unbeobachtet wähnt. Sofern er etwas zu beweisen sucht, misslingt ihm das, was vorher mühelos erschien. „Zum Straucheln brauchts doch nichts als Füße“ („Der zerbrochene Krug“, Erster Aufzug). Was wahrhaftig geschieht, bleibt verborgen, wenn nicht unbewusst, im Traum, Affekt oder Rausch, verdunkelt sich durch die nachträgliche Erkenntnis.34 Im selben Maße, in dem sich der faktische Tatbestand klärt, vollzieht sich auch die Kontradiktion; die blinde Körperlichkeit wird unter kultureller Bedeutungsstiftung objektiviert und dem nackten Blick der Unschuld entzogen. Aufklärung erzieht nicht den mündigen, bestenfalls den um sein Unrecht wissenden Bürger. Beides erhellt und verdunkelt sich im fortlaufenden Spiel aus Enthüllen und Verhüllen. Am Ende steht ein Gesetz, das Kant noch metaphorisch „den bestirnten Himmel über mir“ ins Göttliche verweist, weil es die moralische Kraft des Individuums übersteigt. Von Kleist argumentiert: „Nur ein Gott könne sich, auf diesem Felde, mit der Materie messen; und hier sei der Punkt, wo die beiden Enden der ringförmigen Welt ineinander griffen.“35 Der aufrechte Gang des Menschen wird übertroffen vom marionettenhaften, den Penthesilea oder der Prinz von Homburg an den Tag legen, als sie ihrer Bestimmung folgen und das Gesetz zu ihrem Schicksal formen.

Drittens: Kleists Essay zentriert Anmut, die Kant in seiner „Kritik der Urteilskraft“ als „aufsteigende Idee der Kunst“ festlegt. Das ästhetische Wohlgefallen, auf dem sinnliche Erkenntnis basiert, folgt formgebundener Schönheit (form follows function). Kant unterscheidet das untere (sinnliche) vorm oberen (intellektuellen) Begehrungsvermögen; beides wird nur in der Kunst als ein „als ob Zwecksystem“ synthetisiert. Die Lust am Schönen, Kants interesseloses Wohlgefallen, bleibt in der Anmut subjektiv, um im Erhabenen objektiv zu erscheinen. Das planvolle Ausführen eines Kunstwerks transzendiert Natur in Erhabenheit als höchste Potenz, in ihr besteht der finale Zweck aller Ästhetik. Freisein von Imitation und Mimesis liegt allein in der Marionette. Sie scheint die dem Menschen verwehrte Rückkehr in den Zustand der paradiesischen Unschuld zu parodieren.

Über Bewusstsein ins Unwissen zu gelangen erscheint paradox.

Das mechanisch mathematisch berechenbare Grundgesetz der Welt wirkt als „Kleid des Gedankens“. Der Kern der Kunst besteht in der Aufspürung des Schicksals als der reinen Notwendigkeit, denkerisch alle Bewegungen zu bekleiden / begleiten. Die Apperzeption Kant: „Das Ich muss all meine Bewegungen denkerisch begleiten können“36