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Münsterland 1896: Zwischen Tradition und Sehnsucht kämpft eine junge Pferdeflüsterin um den Mann, den sie liebt …
Münsterland 1896. Marie Paas, der Tochter des Stallmeisters, lag Gut Friesenhain schon immer am Herzen – weil sie Pferde liebt, und wegen Luise und Clara von Scheweney, mit denen sie aufgewachsen ist. Nur eines verschweigt sie ihren Freudinnen: dass sie schon seit Kindertagen in deren Bruder Wilhelm verliebt ist. Als Bedienstete darf sie an eine Heirat mit dem Grafensohn nicht denken. Zudem hofiert Wilhelm ohnehin eine andere. Doch als ein fremder Hengst auf den Ländereien auftaucht, und Marie versucht, das Vertrauen des scheuen Tieres zu gewinnen, schließt sich Wilhelm unverhofft ihrer Mission an – aus Pflicht als künftiger Erbe des Guts, oder vielleicht doch aus anderem Interesse?
Die große Münsterland-Saga von Lotte Grünewald:
Band 1: Gut Friesenhain – Zwischen Traum und Freiheit
Band 2: Gut Friesenhain – Zwischen Hoffnung und Vernunft
Band 3: Gut Friesenhain – Zwischen Liebe und Skandal
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Seitenzahl: 846
Münsterland 1896. Marie Paas, der Tochter des Stallmeisters, lag Gut Friesenhain schon immer am Herzen – weil sie Pferde liebt, und wegen Luise und Clara von Scheweney, mit denen sie aufgewachsen ist. Nur eines verschweigt sie ihren Freudinnen: dass sie schon seit Kindertagen in deren Bruder Wilhelm verliebt ist. Als Bedienstete darf sie an eine Heirat mit dem Grafensohn nicht denken. Zudem hofiert Wilhelm ohnehin eine andere. Doch als ein fremder Hengst auf den Ländereien auftaucht, und Marie versucht, das Vertrauen des scheuen Tieres zu gewinnen, schließt sich Wilhelm unverhofft ihrer Mission an – aus Pflicht als künftiger Erbe des Guts, oder vielleicht doch aus anderem Interesse?
Lotte Grünewald ist das Pseudonym von Mirjam Müntefering. Das Suchen und Erfinden spannender Geschichten begleitet sie schon ein Leben lang – sei es während ihres Studiums der Filmwissenschaften, in den Jahren, in denen sie als Fernsehjournalistin tätig war, oder heute als Autorin. Wenn sie nicht gerade in ihrem Tinyhouse-Schreibwagen Romane zu Papier bringt, genießt sie das Leben mit ihrer Ehefrau und allerlei Tieren am grünen Rand des Ruhrgebiets. Die Friesenstute Jeltje – die beste Freundin ihrer eigenen Stute – diente als Inspiration für ihre Familiensaga-Trilogie »Gut Friesenhain«, in der es um ein malerisches Gestüt im Münsterland geht.
Weitere Informationen unter: www.mirjam-muentefering.de
Lotte Grünewald
Zwischen Hoffnung und Vernunft
Roman
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Originalausgabe 2024 by Blanvalet, einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Copyright © 2024 by Lotte Grünewald
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.
Redaktion: Hanna Bauer
Covergestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Richard Jenkins Photography und stock.adobe.com (winyu, annacovic, Kimo, Lars Gieger, horsemen)
DK · Herstellung: sam
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-28126-7V002
www.blanvalet.de
Für Bine und Haze, mein Dream-Team
Nur noch wenige Schritte sind es, dann ist sie in Sicherheit. Doch da explodiert die Welt um sie herum.
Sie verliert das Gleichgewicht und stürzt zu Boden, das Gesicht in Staub und Asche.
Heiße Flammenzungen schießen an sie heran und lecken am Stoff ihres Mantels.
Hitze versengt die weichen Haare in ihrem Nacken, dringt ihr in Mund und Augen, scheint alles zu verdorren.
Wie aus weiter Ferne hört sie ihren Namen. Ein verzweifelter Schrei. Wie aus einer anderen Welt jenseits des sie umgebenden Grauens.
Es gibt nur die eine Rettung. Sie muss aufstehen. Sie muss hinaus aus dieser Hölle.
Mitten in dem tosenden Inferno um sie her hebt sie den Kopf.
Da. Die offene Tür. Ihre Rettung.
Sie streckt die Hand aus. Zieht sie gleich wieder zurück, so heiß ist die Luft. Sie brennt in ihrer Lunge.
Doch das um sie prasselnde Feuer drückt sie nieder.
Über ihrem Kopf knarrt und ächzt das Holz. Da ist ein Splittern. Dann ein Krachen.
Ein Balken stürzt dicht neben ihr herab. Lodernd, vor Hitze glühend.
Sie krümmt sich zusammen, um sich vor den alles verschlingenden Flammen zu schützen.
Und sie weiß: Allein wird sie es nicht schaffen.
Die ersten Tage des Jahres auf Friesenhain. Über Nacht hatte es geschneit, und die Landschaft sowie das Dach des eleganten Vierkanthofes waren wie mit Puderzucker überstäubt. Im hellen Sonnenschein des frostklaren Morgens leuchteten die roten Mauerziegel. Die weiß gerahmten Fenster des zweistöckigen herrschaftlichen Wohngebäudes blitzten, und aus allen Schornsteinen stieg heller Rauch. Auf den kahlen Bäumen des Parks glitzerte Raureif, während durch die großen Scheiben des gläsernen Treibhauses exotische Pflanzen wie Palmen und Orangen zu erkennen waren. Silbriger Bodennebel waberte über die das Gestüt umgebenden Koppeln.
Aus dem Nordtor, durch das die Stallungen und der Hintereingang des Wohnhauses zu erreichen waren, lösten sich soeben zwei Pferde samt Reiterin und Reiter – eines fuchsrot, das andere dunkel wie die Kohle, die in dieser Region gefördert wurde. Die Atemwolken vor den Mäulern der stolzen Rösser schienen für Augenblicke in der Kälte der Luft zu stehen. Es ging gen Osten, der Morgensonne entgegen.
»Es ist sehr freundlich von dir, Wilhelm, dass du mich zum Reuben-Hof begleitest«, sagte Marie. »Die Mädchen werden sich sehr freuen, dich zu sehen. Ich habe ihnen beim letzten Besuch zum Jahreswechsel nämlich erzählt, dass du es warst, der dem Christkind verraten hat, dass die beiden Kleinen sich zu Weihnachten ein Schaukelpferd wünschten. Daraufhin waren sie nicht mehr vom Glauben abzubringen, dass du einen besonders guten Draht zu ihm haben musst. Weil es doch ihren Wunsch erfüllt und am Heiligabend das Pferdchen vor ihre Tür gestellt hat.« Der kalte Wind fuhr ihr ins Gesicht. Sie war froh, sich über den bequemen Hosen, in denen sie im Herrensitz reiten konnte, für den weiten Rock entschieden zu haben. Dessen derber Stoff wärmte ihre Beine bis hinunter zu den Knöcheln und reichte bis über Stürmers Kruppe.
Der Windstoß ließ von den herabhängenden Ästen kleine Schneeklumpen herunterfallen, und der schwarze Hengst, den Marie ritt, erschrak deswegen und tänzelte aufgeregt. Vorsichtig nahm sie mit behandschuhten Fingern die Zügel auf und raunte ihm mit leiser Stimme ermutigend zu.
Der junge Graf wartete kurz ab, bis das Pferd sich beruhigt hatte. »Die drei sind wirklich herzig«, stimmte er ihr dann zu. »Aber auch wenn ich sie gern um mich habe, komme ich in erster Linie deinetwegen mit.«
Marie warf ihm einen raschen Blick zu. Wegen ihr? Was meinte er damit? Doch Wilhelm erklärte bereits: »So oft bist du auf Stürmer ja noch nicht ausgeritten. Es ist für ihn gewiss leichter, wenn Komet dabei ist und ihm Ruhe gibt.« Er klopfte leicht den Hals seines Jagdpferdes, das sich von Stürmers Nervosität nicht anstecken ließ. »Und falls etwas Unerwartetes geschehen sollte, bin ich zur Stelle, um dir zu helfen.«
Marie lugte zu ihrem Begleiter hinüber, der heute weder Hut noch Reitanzug trug, sondern auf seinem kastanienbraunen, stets etwas zerstrubbelten Haar eine Schiebermütze und um seine große Gestalt einen warmen Mantel. Ausgesprochen gut sah er aus, aufrecht und mit freundlichen Zügen. Die Burschen in Ibbenbüren hätten sich mit ihm allesamt nicht messen können. Das hatte Marie als Kind schon gedacht.
Jetzt warf der Grafensohn ihr aus seinen blauen Augen einen verschmitzten Blick zu. »Ich weiß, was du denkst, Marie, wenn du so zu mir herüberschielst«, bemerkte er schmunzelnd.
Ein kurzer Schreck durchfuhr sie, als ihr selbst klar wurde, dass das, was ihr durch den Kopf gegangen war, wohl nicht angemessen war für die Tochter des Stallmeisters, die den jungen Herrn betrachtete. Was, wenn er ihre Gedanken tatsächlich erraten hatte?
Beinahe spitzbübisch grinste er. »Dass du nämlich mit diesem jungen Friesenhengst besser als jeder andre umgehen kannst, und gewiss viel besser als ich. Überhaupt, wenn jemand von uns beiden mit einem Pferd Hilfe brauchen sollte, dann wärest sicher nicht du es.«
Sie musste lachen, amüsiert über seine Bemerkung, und auch ein wenig erleichtert, weil es mit seiner Fähigkeit, ihre Gedanken zu erraten, doch nicht so weit her zu sein schien. »Das hast jetzt du gesagt, Wilhelm. Und nur, weil du glaubst, aus meinem Blick lesen zu können?«
»Das kann ich tatsächlich!«, bestätigte er.
»So? Was denke ich denn?«, wagte sie einen kecken Vorstoß. Der lockere Wortwechsel löste ein leichtes Kribbeln in ihr aus, freudig und leicht. Fast war es zwischen ihnen wieder so wie damals, als sie noch Kinder waren und im Haus der Grafenfamilie zusammen in der Bibliothek die Bücher nach Abenteuern durchstöberten. Seit der sieben Jahre ältere Wilhelm ihr beim Buchstabieren geholfen und später dann immer dickere Bücher empfohlen hatte, war so viel Zeit vergangen. Wilhelms Freiwilligenjahr bei den Gardedragonern in Berlin, das Erwachsenwerden hatte sie voneinander entfernt.
Wie wunderbar, dass die heimlichen Schulungseinheiten mit Stürmer, dem fremden Hengst, sie wieder zueinandergeführt hatten. Die gemeinsame Arbeit mit ihm hatte Wilhelm und Marie die Distanz vergessen lassen. Und jetzt gerade fühlte Marie sich Wilhelm so nah wie nie zuvor. Bei diesem Gedanken musste sie lächeln, so leicht wurde ihr davon ums Herz.
»Was du denkst, soll ich dir sagen?«, wiederholte Wilhelm nun, legte den Kopf schief und musterte sie mit betonter Kennermiene. »Nun, in einem bin ich sicher: Du bist genau wie ich froh, dass die Weihnachtstage und der Jahreswechsel vorüber sind, mit den Kirchgängen, Christmette, Singen, Essen und Feierlichsein. Nun können alle auf dem Gestüt wieder ihrem unaufgeregten Alltag nachgehen. Und doch ist das neue Jahr 1896 noch frisch genug, um als Verheißung zu gelten.«
Marie strich sich mit dem Rücken des Handschuhs über die Wange, berührt von seinen Worten.
»Schön gesagt, Wilhelm«, stimmte sie ihm zu. »Deine Worte über das frische Jahr und jene Verheißung in ihm klingen wunderbar. Da höre ich den Poeten in dir heraus.«
Er lachte laut auf. Doch sie konnte ihm ansehen, dass ihre Worte ihm schmeichelten. Für sie beide waren Menschen, die dichten, Geschichten erfinden und Bücher schreiben konnten, in ihrer gemeinsamen Kindheit wahre Helden gewesen. Und Marie wusste, dass ein Stückchen dieser magischen Fähigkeit auch in Wilhelm wohnte. In den Kindergeschichten, die er sich damals ausgedacht hatte, war es deutlich zu erkennen gewesen.
»Nun, ich hoffe, dass ich den auch wieder wecken kann, wenn es um meine Rede zur Hochzeit geht«, sagte er in gespielter Verzweiflung, hob kurz die Schirmmütze und fuhr sich durchs Haar, womit er es zerzauste, ehe er die Kappe wieder aufsetzte. »Seit Wochen feile ich daran herum und bin einfach nicht damit zufrieden.«
Marie sah ihn mit großen Augen an. »Du schreibst eine eigene Hochzeitsrede für Luise und Max? Wie wundervoll!«
Wilhelm schnalzte mit der Zunge. »Wenn die ältere meiner beiden kleinen Schwestern heiratet, ist das doch das Mindeste, und Luise wünscht es sich so. Freilich rede ich kürzer als unser Vater und auch erst nach ihm. Er selbst tappt schon seit Wochen im Dunkeln, was die Brautvaterrede angeht. Ich fürchte, er sucht Inspiration im landwirtschaftlichen Anzeiger.« Marie platzte laut heraus, und er grinste ihr zu, ehe er fortfuhr: »Mir selbst ist der richtige Ton auch noch nicht gelungen. Gefällige Worte, ja, die beherrsche ich auf dem Papier, das ist nicht das Problem. Doch der Inhalt muss ja auch stimmen und von einem harmonischen Leben zu zweit erzählen, das den beiden beschieden sein soll, mit viel Glück und Erfolg. Ob ich diese beiden Dinge zusammenbringen kann?«
Marie schüttelte ungläubig den Kopf. Stürmer erschrak kurz vor einem Feldhasen, der hinter einem Busch hervorhoppelte und ihren Weg kreuzte. Sie nahm die Zügel an und strich dem Hengst mit der einen Faust beruhigend über den erhobenen Hals, während sie in Wilhelms Richtung sagte: »Wie kannst du daran zweifeln? Natürlich wird es die wundervollste Rede werden, die es je gab! Ich sag doch, du bist ein Poet! Wieso solltest du das nicht schaffen? Alle werden begeistert sein, und die Jungen werden sich wünschen, du würdest ihnen auch zu ihrem eigenen Hochzeitstage etwas schreiben. Allen voran ich selbst!«
Erschrocken hob sie den Blick. Die letzten Worte waren ihr so herausgepurzelt. Ihre eigene Hochzeit! Es gehörte sich nun wirklich nicht, dies dem Grafensohn gegenüber zu erwähnen, bei dessen Familie sie aufgewachsen war und selbst als Ausbilderin der Pferde für den Heeresdienst angestellt war. Wilhelm, der sie gerade noch angesehen hatte, wandte sich rasch ab. Meinte sie es nur, oder sah er plötzlich sehr viel ernster aus als gerade noch? Ihr munteres Gespräch jedenfalls war versiegt.
Während ihre Pferde leise schnaubten und in der Kälte dampften, ritten sie schweigend Seite an Seite den Bahndamm hinauf, den der Weg kreuzte. Mittags würde hier der Schnellzug von Ibbenbüren nach Berlin vorbeirasen und seine Reisenden in die Hauptstadt des Kaiserreiches bringen. Doch um diese Zeit lag die Strecke verlassen da, und sie konnten die Gleise queren. Jetzt war es an Marie, sich zu wünschen, sie könne seine Gedanken erraten. Warum schwieg er nun, nachdem sie so unbedacht von ihrer eigenen Hochzeit geplappert hatte, sodass sie nun den größten Teil der Strecke still zurücklegten? Ihm war doch sicher bewusst, dass auch sie eine Frau war? Nur zwei Jahre jünger als Luise, nämlich im selben Jahr geboren wie Wilhelms jüngste Schwester Clara. Mit ihren bald zweiundzwanzig Jahren waren sie im Heiratsalter. Doch dieses Thema hatte zwischen ihnen noch nie eine Rolle gespielt. Dass es nun plötzlich so ausgesprochen in der klirrend kalten Luft hing, schien Wilhelm ebenso zu verwirren wie sie selbst.
Oder dachte er an eine andere junge Frau, die in den letzten Monaten oft auf Friesenhain zu Gast gewesen war? Baronin von Assen kam häufig mit ihrer Tochter Baroness Margarete von Assen zu Besuch. Die modebewusste Margarete war ebenfalls im heiratsfähigen Alter und brachte als einziges Kind der Familie eine reiche Mitgift mit. Unten im Gesindetrakt galt es als ausgemachte Sache, dass sie als Braut für Wilhelm auserkoren war und demnach irgendwann die Gräfin von Scheweney sein würde.
Der Gedanke an das stupsnasige Gesicht, das immer ein wenig hochmütig blickte, dämpfte Maries Stimmung. Bevor die Baroness sich aus der Schar der auf Friesenhain verkehrenden Adelsfamilien mit heiratsfähigen Töchtern abzuheben begann, hatte Marie sich nie Gedanken um die zukünftige Hausherrin gemacht. Selbstverständlich würde Wilhelm irgendwann einmal heiraten, so wie alle Grafensöhne es taten. Aber doch noch nicht so bald, erst in weiter Ferne. Und nicht so konkret. Maries Bauch grummelte unbehaglich bei dem Gedanken.
Plötzlich ging ein Ruck durch Wilhelm, und ein Lächeln trat wieder in seine Züge.
»Wie es aussieht, werden der Poet und beste Freund des Christkinds und seine reizende Begleitung bereits erwartet«, sagte er und wies mit dem Kopf voraus.
Tatsächlich war hinter einer Weggabelung ein großer Hof in Sicht gekommen.
Neben dem Eingang in der schadhaften Mauer, welche die Ställe, Scheune, Schuppen und das heruntergekommene Wohnhaus vom vorbeiführenden Weg trennte, waren drei kleine Gestalten auszumachen. Es waren die Töchter des dubiosen Pferdehändlers Reuben: die dreizehnjährige Änne, in einem abgelegten und gekürzten Kleid von Marie, und ihre sechs und fünf Jahre alten Schwestern Berta und Gertrud.
Die beiden Jüngeren zappelten ungeduldig herum, und Änne versuchte, sie durch kleine Knüffe zu rügen und zum Stillstehen zu bringen. Als Marie und Wilhelm heran waren, hüpfte Berta so heftig auf und ab, dass ihre Zöpfe nur so um ihren Kopf schleuderten.
»Scht!«, machte Änne und griff nach einem dieser straff geflochtenen, strohblonden Haarbündel. »Siehst du nicht, dass du das Pferd erschreckst? Gleich geht es durch, mit Fräulein Paas auf seinem Rücken!«
Da blieb Berta wie angewurzelt stehen. Marie verbarg ihr Schmunzeln, als Wilhelm und sie sich von den Pferden schwangen. Komet blieb brav stehen, wo Wilhelm ihn angehalten hatte, auch ohne dass er angebunden wurde. Doch Stürmers Zügel behielt Marie vorsichtshalber in der Hand. Das kindliche Herumgezappel hatte ihn tatsächlich beunruhigt. Wenn etwas Unerwartetes ihn beunruhigte, bestand bei ihm die Gefahr, dass er panisch davonrannte.
»Guten Tag, Fräulein Paas. Guten Tag, werter Graf«, grüßte Änne artig und knickste. Dann knuffte sie ihre Schwestern, die es ihr nachmachten. Alle drei schielten sie ehrfürchtig zu Wilhelm hin.
Und da platzte die vorlaute Berta auch schon heraus: »Das Christkind hat all unsre Wünsche erfüllt, Herr Graf. Du hast ihm alles ganz richtig hergesagt, hast du!«
Änne holte aus, doch Berta duckte sich weg. »Sag nicht Du zum werten Herrn Graf, dummes Gör!«, schimpfte die Ältere. »Das gehört sich nicht. Du musst Sie sagen, wie bei Vaters Kundschaft, hörst du?«
»Lass sie nur, Änne«, wiegelte Wilhelm ab und hockte sich vor Berta hin, um Aug in Aug mit ihr zu sein. »So, hat das Christkind eure Wünsche erfüllt? Ich habe gehört, es war ein Schaukelpferd? Ein Ball? Und ein Springseil?«
»Ja!«, rief Berta, mit der es bei der Erinnerung an diese unverhoffte Überraschung wieder durchging. »Und ’n Korb mit lauter Leckereien hat’s dagelassen, hat es. Frisches Brot und ’n ganzen Schinken, fast so groß wie ich. Dazu noch einen Gugelhupf – mit Zucker drauf! Und süße Äpfel, und Nüsse, und Rosinen«, plapperte die Kleine.
Änne, die ihnen einen scheuen Blick zuwarf, wandte ein: »Vater hat gesagt, wenn das Christkind so gut zu uns ist, dann dürfen wir auch die Spielsachen behalten, und er wird’s nich an die reichen Leute verkaufen, hat er gesagt.«
Marie schnappte nach Luft. Das Spielzeug, das Luise und Clara in Osnabrück eigens für die Kinder ausgesucht hatten, verkaufen! Das hätte Reuben ähnlichgesehen.
Die Kinder waren mager, und besonders die kleine Gertrud hätte ein Bad dringend benötigt, denn sie roch nach Urin, und ihr Haar starrte vor Schmutz. Doch zumindest waren die Mädchen unversehrt von Schlägen, kannten wieder so etwas wie Freude.
Im letzten Herbst hatte Änne nach einer Tracht Prügel Schutz auf Friesenhain gesucht, wo ihr Freund, der kleine sommersprossige Alfred, neue Arbeit als Stallbursche gefunden hatte. Doch Reuben hatte sie zurückbeordert. War Änne für ihn am Hof doch eine kostenlose Arbeitskraft, die Haus und Kleinvieh versorgte, kochte und wusch, während er und sein erwachsener Sohn ihre dubiosen Geschäfte im Pferdehandel betrieben.
Wilhelms Drohung, ihm seine Kameraden aus dem Regiment auf den Hals zu hetzen, hatte zumindest bewirkt, dass der Vater die Kinder von da an unbehelligt ließ. Das konnten Luise, Clara und Marie bei ihren regelmäßigen Besuchen feststellen.
Nachdem Reuben sich anfangs verbitten wollte, dass die Komtessen von Scheweney und ihre Freundin regelmäßig an seiner Hofmauer auftauchten, hatte die schlaue Clara begonnen, kleine Proviantpäckchen als Geschenk für die Kinder mitzunehmen. Diese kamen sicherlich auch dem Vater und Bruder zugute, die sich mit ihrem Pferdehandel eher schlecht als recht über Wasser hielten. Wenn dies der Preis sein sollte für die Unversehrtheit der drei Mädchen, nun, dann sollte es so sein.
Marie, der zu solcher Großzügigkeit selbst das Geld fehlte, war glücklich über ihre mitfühlenden und umsichtigen Freundinnen. Sie selbst konnte nur beisteuern, was ihre liebe Frau Rühl, ihres Zeichens seit vielen Jahren Köchin auf Friesenhain und für sie selbst eine Art Ersatzmutter, an Überbleibseln von den Mahlzeiten beiseitelegen konnte.
Auch Wilhelm hatte nun bei Ännes Bemerkung zum Verkauf der Spielzeuge aufgemerkt und mit Marie einen kurzen Blick getauscht. Doch um die Kinder nicht zu beunruhigen, ging er nicht weiter darauf ein, sondern erkundigte sich: »Erzählt doch mal von eurem Schaukelpferd. Es ist doch sicher ein Fuchs, so wie meines hier?«
»Aber nein!«, rief Berta kichernd. »’s is ’n weißer Schimmel, is es. Mit goldener Mähne. Und rennen kann das! Wir können sogar zu zweit drauf schaukeln. Freilich nur Gertrud und ich. Änne ist zu groß, isse.«
Ihre ältere Schwester reckte sich. »Vater hat mir ein echtes Pony versprochen.«
»Tatsächlich?« Wilhelm hob die Brauen. Marie konnte seine Skepsis nachvollziehen, denn in den letzten Monaten hatten sie noch nie erlebt, dass Reuben irgendetwas unternommen hatte, um seinen Kindern eine Freude zu bereiten.
Änne nickte eifrig. »Mit dem Pony kann ich dann die Besorgungen schneller machen, kann ich. Die Eier zum Markt bringen. Und dem Vater und Bruder das Essen raus auf die Wiesen bringen, wenn die Mahd ist.«
»Dann werden wir Ausschau halten nach dir auf deinem blitzschnellen Pferdchen. Gewiss seid ihr schnell wie der Wind«, erwiderte Wilhelm lächelnd, obwohl Marie in seinen Augen den Ernst stehen sah. Das geschenkte Pony war von Reuben also nur als Arbeitswerkzeug gedacht.
Berta wollte sich über Wilhelms Worte ausschütten vor Lachen. Änne kicherte hinter vorgehaltener Hand. Die kleine Gertrud, die die Zusammenhänge wohl nicht begriff, staunte Wilhelm nur an.
Zum Staunen war es Marie auch ein wenig. Es kam sicher nicht oft vor, dass ein junger Mann sich so gut auf Kinder verstand und das Zusammensein mit ihnen tatsächlich genoss. Von ihrem eigenen Vater, Theo Paas, kannte sie dies natürlich. Er hatte ihr, so gut es ihm eben möglich war, die Mutter ersetzt, die wenige Tage nach Maries Geburt am Kindbettfieber gestorben war. Ja, ihr Vater war tatsächlich besonders. Er hatte Marie mit Zärtlichkeit und Sorgfalt erzogen. Und erst als sie älter wurde, hatte Marie begriffen, welche Kraft ihn das anfangs gekostet haben musste. Hatte doch ihre eigene Geburt seine geliebte Frau Maria das Leben gekostet. Und was Marie selbst seitdem nicht mehr aus dem Kopf ging, schien für ihren Vater nie erwähnenswert.
Wilhelm, so schien es Marie, hatte ähnliche warmherzige Züge.
Er war den Kindern gegenüber fürsorglich und freundlich, ließ es an jeder Strenge mangeln. Sicher würde er einmal ein wundervoller Vater sein, liebevoll, zugewandt und aufmerksam.
In diesem Moment drehte Wilhelm den Kopf und sah sie fragend an. Und plötzlich spürte Marie Hitze in ihre Wangen schießen. Hatte sie ihn etwa die ganze Zeit so versunken angestarrt?
»Ich fürchte, wir müssen wieder heim«, sagte sie rasch, um davon abzulenken. »Der Schmied kommt heute, und der neue Stallbursche soll helfen. Da wäre ich gern dabei, um zu sehen, wie er sich anstellt.«
»Och! Könnt ihr nicht noch etwas bleiben?«, bat Berta und fing sich einen Knuff ihrer älteren Schwester ein.
»Sei nicht so frech! Die Herrschaften können nicht den ganzen Tag hier bei uns stehen«, pflaumte Änne, sah dabei aber selbst enttäuscht aus.
»Wir kommen bald wieder«, versprach Marie. »Und bis dahin …« Sie machte sich an Komets Satteltasche zu schaffen, in der sie vorhin einen Laib Brot und drei Stücke süßes Karamell verstaut hatten, das Frau Rühl in ihrer Pfanne angerührt hatte. Das Brot drückte sie Änne in den Arm, die sich mit großen Augen bedankte, und verteilte die Karamellbrocken, die allesamt sofort in den kleinen, verschmierten Mündern verschwanden.
»Nun schnell hinein ans Feuer! Ihr habt schon ganz rote Finger!«, ordnete Marie an, strich jedem der Mädchen über die Wange, und die drei drehten sich brav um und liefen hinein in den Hof. Auf halbem Wege zum heruntergekommenen Wohnhaus, zwischen Ställen und Scheune hindurch, hielt Änne abrupt inne, wandte sich um und knickste. Dann eilte sie ihren kleinen Schwestern nach, die die Tür schon fast erreicht hatten, den kostbaren Schatz von Süßigkeit genussvoll in den mageren Wangen verborgen.
Als Marie sich bereits lächelnd umwenden wollte, nahm sie an einem der Ställe eine Bewegung wahr. Dort stand im Schatten der Stallgasse eine große, hagere Gestalt mit blassem Gesicht und sah zu ihnen herüber.
Obwohl Marie ihm selbst nur zweimal begegnet war, erkannte sie ihn auf Anhieb: Pferdehändler Reuben. Ein brutal aussehender Kerl mit seltsam brennendem Blick, als lodere in ihm eine beständige Wut aufs Leben.
Kurz sahen sie einander über die wohl fünfzig Meter an, wobei Marie den Ausdruck in seiner unbewegten Miene nicht zu deuten wusste. Mit hohlem Gefühl im Magen nickte sie ihm zu. Denn immerhin stand sie hier an seinem Grund und Boden und hatte soeben mit seinen Kindern eine nette Unterhaltung geführt. Doch er erwiderte die Geste nicht, sondern starrte sie nur weiter an. Eine feine Gänsehaut kroch unter dem dicken Wolltuch, das sie gegen die Kälte schützte, ihren Nacken hinauf. Es lag etwas Bedrohliches in diesem Starren, das sie bis ins Mark erschütterte.
»Bist du so weit?«, fragte Wilhelm, der die Tasche an Komets Sattel geschlossen und den Blickwechsel nicht mitbekommen hatte.
Rasch wandte Marie sich von Reubens Anblick dort im dunklen Stallschatten ab und Wilhelm zu. »Ja. Sicher.«
Wilhelm hielt ihr seine verschränkten Hände hin, sie hob ihren linken Stiefel hinein, und mit einem leichten Schwung half er ihr hinauf in den Sattel.
Sie wendeten die Pferde. Stürmer schlug nervös mit dem Kopf. Der Anblick des Hofes, in dem zwischen den rein zweckmäßigen, schäbigen Ställen und der Scheune alle möglichen Arbeitsgeräte herumlagen, ein Fuhrwerk quer im Weg stand und die zerzaust wirkenden Hühner auf dem Misthaufen gackernd flatterten und scharrten, beunruhigte ihn. Marie konnte es ihm nachfühlen. Und vielleicht war es auch ein wenig ihr eigenes Unwohlsein, das sich auf den sensiblen Hengst übertrug.
Sie konnte es nicht lassen und sah noch einmal zurück zum Stall. Doch im Schatten der Gasse stand niemand mehr. Es war, als habe es den unheilverkündenden Blick gerade gar nicht gegeben.
Seite an Seite ritten sie los.
Sobald sie das Gehöft hinter sich gelassen hatten, entspannte sich auch Stürmer wieder.
Nachdem Wilhelm noch ein wenig darüber gesprochen hatte, wie sehr die Kinder sich über die Gaben zu Weihnachten gefreut hatten und dass es ihnen deutlich besser als noch vor drei Monaten zu gehen schien, erkundigte er sich: »Wo du gerade den neuen Stallburschen erwähnt hast – wie ist sein Name noch? Kurt?« Marie nickte zustimmend. »Wie macht er sich denn? Offenbar traust du ihm nicht zu, dass er dem Schmied mit den Pferden schon allein zur Hand gehen kann?«
Marie zögerte. Der Zwiespalt in ihr ließ eine schnelle Antwort nicht zu. Vorsichtig formulierte sie dann: »Im Grunde will er kein Stallbursche sein. Er hatte Arbeit in der Ibbenbürener Weberei gefunden, als Farbenmischer. Aber irgendwas muss vorgefallen sein. Er hat die Stellung verloren.«
Wilhelm legte den Kopf schief und musterte sie mit seinen leuchtend blauen Augen, was Marie erneut ein nervöses Flattern in der Magenkuhle bescherte. Was war denn heute nur los mit ihr? »Das ist mir auch aufgefallen, als er bei Vater und mir vorgesprochen hat. Eine Arbeit zu verlieren muss nicht unbedingt ein schlechtes Zeichen sein. Aber da du meiner Frage ausweichst, nehme ich an, du willst ihm erst noch die Möglichkeit geben, sich ordentlich einzuleben und zu bewähren? Schließlich ist er erst seit zwei Wochen auf Friesenhain.«
»So ist es«, bestätigte Marie erleichtert. Da Wilhelm den neuen Stallburschen zusammen mit seinem Vater eingestellt hatte, wollte sie den Mann ungern kritisieren. Doch leider schien Kurt das rechte Gefühl für die Tiere zu fehlen. Er bewegte sich zu forsch, fasste sie zu hart an und wurde ungeduldig, wenn sie dann erschraken. Aber vielleicht würde sich das noch finden. »Ich glaube, jeder verdient eine Chance, wenn eine neue Stellung Veränderungen fordert. Niemand ist gleich perfekt in den anstehenden Aufgaben, oder?«
Wilhelm wollte ihr offenbar schon zustimmen, doch dann lachte er. »Niemand außer Emil Neumann, Vaters neuer Kammerdiener«, sagte er schmunzelnd. »Dieser Tausendsassa hat es fertiggebracht, nicht nur Vater mit seiner Perfektion zu beeindrucken – sogar Albrecht findet selbst nach drei Monaten keinen einzigen Fehler an ihm.«
Jetzt stimmte auch Marie in sein Lachen ein. »Du hast recht. Anfangs hat es den guten alten Albrecht schier zur Weißglut getrieben. Aber auch das hat Emil wunderbar gemeistert, indem er stets überaus höflich blieb und zwei- oder dreimal wie nebenbei fallen ließ, dass ein neuer Diener nur so gut sein kann wie sein Vorgänger. Und wie tadellos Albrecht ihm diese Stellung überlassen habe. Seitdem herrscht eitler Frieden, und Albrecht ist voll des Lobes für alles, was er ja doch nicht bekritteln kann.«
Sie grinsten sich einvernehmlich an. Beide liebten sie den alten Kammerdiener des Grafen, der seine Arbeit bei den von Scheweneys schon mit größter Sorgfalt verrichtet hatte, als sie beide noch Kinder waren. Nun hatte die Gicht den Alten in seinen hohen Sechzigern zum Ruhestand gezwungen. Was ihn jedoch nicht daran hinderte, weiterhin den Ton anzugeben und die Dienerschaft in der Gesindestube mit seinen Geschichten zu unterhalten.
»Auch du scheinst viel von Neumann zu halten?«, hakte Wilhelm in diesem Moment nach.
Es war wie verhext, aber unter seinem forschenden Blick spürte Marie schon wieder, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Konnte Wilhelm davon wissen, dass Emil unten bei den Mägden und Dienstmädchen heiß umschwärmt war, dass es aber hinter vorgehaltener Hand hieß, er habe ein Auge auf sie, Marie, geworfen? Das jedenfalls hatte Frau Rühl ihr anvertraut. Vielleicht, um herauszufinden, wie Marie selbst zu dem schmucken Kammerdiener stand. Marie hatte verlegen abgewunken. Sie hatte den neuen Diener von Anfang an gemocht, doch empfand sie keine Schwärmerei für ihn. Emil, nur ein Jahr älter als Wilhelm, war ausgesprochen gut aussehend mit seinen munteren hellgrauen Augen, dem dunklen Haar und dem schmalen, gepflegten Schnäuzer. Dazu war er zu allen gleichermaßen freundlich und liebenswürdig. Er hatte sogar innerhalb kürzester Zeit das Herz der strengen Haushälterin Frau Mecken erobert, die jedoch mit Argusaugen darüber wachte, dass keines der verliebten Mädchen mehr Zeit als angebracht mit dem feschen Kerl verbrachte.
Als Kammerdiener des gnädigen Herrn hatte er innerhalb der Dienerschaft eine Sonderstellung inne. Vielleicht war es dies, warum Marie und er von Anfang an einen besonderen Draht zueinander gehabt hatten. Ihre enge Freundschaft mit den Komtessen hob auch Marie von den anderen ab. Und so war ihre gegenseitige Sympathie doch kein Wunder. Emil war ein feiner Kerl, höflich und zuvorkommend, mit einem klugen Humor. Dass er und sie oft miteinander sprachen und dabei auch zusammen herzlich lachten, hatte wohl zu diesem hartnäckigen Gerücht in der Gesindestube geführt. Ob Wilhelm etwa auch schon davon gehört hatte? So eindringlich, wie er sie jetzt ansah?
»Er ist eine Bereicherung«, gab Marie nun zu und hoffte, dass ihre geröteten Wangen in der Kälte nicht weiter auffallen würden. »Seine Arbeit macht er zur vollsten Zufriedenheit des Grafen. Und alle mögen ihn.«
Wilhelm antwortete nicht. Marie nahm aus den Augenwinkeln wahr, wie er sie nachdenklich betrachtete.
Weil sein Blick ihr zunehmend das Herz in der Brust klopfen ließ, sagte sie: »Wie wäre es, wenn wir für Stürmer eine Schulungseinheit einbauen? Draußen sind wir noch nie galoppiert. Wenn du auf Komet vorwegreitest, fiele es ihm bestimmt leichter.«
Wilhelm blinzelte kurz. Doch dann nickte er zustimmend, ließ, ohne ein weiteres Wort, Komet langsam antraben und fiel dann in Galopp.
Mit der fließenden Bewegung einer jungen Frau, die das Reiten noch vor dem Laufen gelernt hatte, gab Marie Stürmer die Zügel vor und legte die Waden an den Pferdebauch, eine ein Stück hinter den Sattelgurt. Als sie den Druck sanft verstärkte, begriff er, was sie von ihm wollte, und sprang ebenfalls in den Galopp.
In weiten Sätzen ging es über den Feldweg und in den nahen Wald hinein. Stürmers Bewegungen waren geschmeidig und ausgeglichen. Das Training mit ihm machte sich in jeder Hinsicht bezahlt. Wie er wohl liefe, wenn sie ihn richtig rennen ließe?
»Schneller!«, rief Marie Wilhelm zu.
Der warf einen kurzen Blick über die Schulter und ging dann in den leichten Sitz, wobei er sich in die Steigbügel stellte, und Komet sauste davon.
Marie musste Stürmer kaum antreiben. Schon ganz von allein machte er seinem Namen alle Ehre. In wenigen Hundert Metern hatten sie Wilhelm und Komet eingeholt. Der Wald endete, der Weg wurde breiter, und vor ihnen kam bereits der Park von Friesenhain in Sicht, der das Gestüt an allen Seiten umgab.
Sie ließen die von großen Platanen gesäumte Allee, die geradewegs auf das herrschaftliche Gut zuführte, links liegen. Als klassischer Vierkanthof war Friesenhain im Quadrat angelegt, im Süden das Wohnhaus der Familie, im Ost-, West- und Nordgebäude die Boxen, Sattelkammern und Kutschenunterstände.
Wie wunderbar es aussah, wie es so im Morgenlicht dort lag! Das prachtvolle Gebäude und die Landschaft weiß verzaubert. Der einzige Ort, an dem Marie sich vorstellen konnte zu leben. Dieser grandiose Anblick und das kraftvoll ausgreifende Pferd ließen in ihr eine unbändige Freude heraufschießen.
Schon war Stürmer mit Komet gleichauf. Der junge Hengst flog nur so dahin. Der eisige Wind biss Marie in die Wangen, Tränen stoben über ihre Schläfen. Sie spürte, wie die vertraute Welle aus Glück und Freiheit sie erfasste, eine wilde Euphorie, die sie laut lachen ließ. Wilhelm schnalzte seinem Wallach zu, und sie erhöhten noch einmal das Tempo. Die beiden Pferde schnaubten, ihr Hufschlag donnerte und hinter ihnen flogen die Erdbrocken, als sie Seite an Seite in den Park schossen.
Sobald sie den Hauptweg erreichten, ließen sie sich beide aus dem leichten Sitz zurück in den Sattel sinken, nahmen die Zügel an und parierten durch zum Schritt. Wilhelms Augen blitzten über den geröteten Wangen.
»Dieses Pferd wird Friesenhain alle Ehre machen!«, keuchte er mit Blick auf Stürmer, während er Komets Hals als Lob für den wilden Ritt streichelte. Seit sie und der Grafensohn heimlich mit Stürmer trainiert hatten, um dem Hengst seine rätselhafte Angst vor Männern zu nehmen, ging Wilhelm noch sehr viel umsichtiger mit seinem eigenen Fuchswallach um.
Nun hallten Wilhelms letzte Worte in Maries Kopf und vertrieben ein Stück weit die gerade noch so befreiende Leichtigkeit, die der schnelle Ritt ihr geschenkt hatte.
»Ich hoffe, du behältst recht, was Stürmers Zukunft angeht, Wilhelm«, sagte sie, während sie mit den behandschuhten Fingern über Stürmers dichten Mähnenkamm strich. »Wir alle haben uns an seine Anwesenheit auf Friesenhain gewöhnt. Aber in wenigen Wochen schon kommt dieser niederländische Züchter De Vries, um ihn zu begutachten. Wenn Stürmer tatsächlich der Sohn vom legendären Deckhengst Rigel ist, wird De Vries ihn bestimmt mitnehmen wollen.« Sie konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme bei diesem Gedanken ein wenig zitterte, wie immer, wenn sie daran dachte.
Wilhelm schüttelte entschieden den Kopf. »Denk noch nicht daran, Marie. Erst einmal muss De Vries ja beweisen können, dass Stürmer tatsächlich dieser vermisste Gjalt aus seiner Zucht ist. Das wird nicht so einfach sein. Stürmer ist ein Musterbeispiel seiner Rasse: ein rein schwarzer Rappe ohne Abzeichen. Und zudem ist er noch so jung, in einem Alter, wo Pferde sich innerhalb weniger Monate sehr verändern können. Womöglich kommt De Vries an und stellt fest, dass er dieses Pferd gar nicht kennt.« Wilhelms Zuversicht tat Marie wohl. Sie wusste, dass er Stürmer ebenfalls gernhatte und ihre Angst nachvollziehen konnte.
Inzwischen waren sie auf dem Zufahrtsweg angelangt und passierten das alte Pförtnerhaus, das Marie zusammen mit ihrem Vater, Theo Paas, bewohnte. Das Häuschen war klein, doch bot es ihnen die Behaglichkeit eines eigenen Zuhauses.
Hier auf der Nordseite des Gutes befand sich das sogenannte Tor – der tunnelartige Durchgang im Gebäude, der in den Innenhof führte. Hier hindurch kamen alle Lieferanten, die Lebensmittel für die Küche brachten, der Postzusteller, und auch die Dienerschaft nahm diesen Weg, zum Kirchgang oder wann immer sie Erledigungen zu tun hatte.
Das Tor war breit genug für die Kutschen. Und so ritten sie nun nebeneinander hindurch in den quadratischen Innenhof des Gestüts. Jetzt im Winter schauten die etwa achtzig Hannoveranerstuten und einige Friesenpferde zu den Boxen heraus, die im Sommer auf den weiten Koppeln rund um das Gestüt grasen durften.
Es gab einen Trockenplatz, einen zum Satteln und einen zum Putzen der Pferde. Von dort kam nun der vierzehnjährige Rudi herübergerannt, um Komet in Empfang zu nehmen, nachdem Wilhelm abgestiegen war. Während Marie selbst sich um Stürmer kümmern würde, war es Aufgabe der Stallburschen, die Pferde der Herrschaften abzusatteln, trocken zu führen und zu füttern. Marie entging jedoch nicht, dass der Grafensohn seinem Wallach noch rasch eine Möhre aus seiner Manteltasche zusteckte, ehe Rudi das Tier fortführte.
»Na, sieh einer an. Wo wir gerade über ihn sprachen …«, murmelte er nun, vielleicht eher zu sich selbst, doch Marie hatte es gehört.
Und im nächsten Moment sah auch sie die ordentlich in einen langen Mantel gehüllte Gestalt von Emil Neumann die Rasenfläche im Hof auf dem Kiesweg umrunden.
Er trug ein Paar Stiefel unter dem Arm und hielt ein paar Meter von ihnen entfernt an, um höflich zu grüßen.
»Guten Morgen, gnädiger Herr, guten Morgen, Fräulein Paas.«
»Morgen, Neumann. Sie sind schon mit einem Auftrag unterwegs, wie ich sehe?«, erwiderte Wilhelm freundlich und deutete mit dem Kopf auf die Stiefel.
»Sehr wohl, gnädiger Herr, zum Schuster im Ort«, antwortete Emil Neumann mit einer eleganten Verbeugung. Obwohl er weiterhin an Wilhelm gerichtet stand, glitt sein Blick zu Marie herüber. »Und da fiel mir gerade ein, dass Sie, Fräulein Paas, doch gestern noch sagten, Sie hätten auch ein Paar Schuhe, die dringend hinmüssten?«
»O ja. Wie freundlich, dass Sie daran denken, Herr Neumann«, sagte Marie und wandte den Kopf. »Ich habe sie in der Sattelkammer. Alfred?«, rief sie zu Rudis zwei Jahre jüngerem Freund hinüber. »Bringst du mir bitte die Stiefel neben der Kammertür?« Der Bursche flitzte sofort los.
»Nun …«, machte Wilhelm zögernd. Da Rudi bereits mit Komet davongegangen war, hielt ihn im Grunde hier nichts weiter.
»Danke für die Begleitung, Wilhelm«, sagte Marie schnell, während sie Stürmers Sattelgurt lockerte.
»Es war mir ein Vergnügen«, antwortete er, und während er deutlich den Blick zum Kammerdiener mied, setzte er hinzu: »Bis morgen früh dann?«
Marie erschrak ein wenig. Wie gewagt von ihm, in Anwesenheit eines anderen eine solche kleine Andeutung fallen zu lassen. Damit meinte er ihre geheimen Treffen, bei denen sie Stürmer wieder Vertrauen gelehrt hatten und sich nun auf die Arbeit an der Hand und unter dem Sattel konzentrierten. Auch als Stürmer sich immer besser machte, hatten sie an dieser Gewohnheit festgehalten.
Emil Neumann tat das einzig Höfliche, er hielt Ausschau nach Alfred und gab vor, nichts gehört zu haben.
»Bis morgen«, erwiderte Marie an Wilhelm gewandt rasch.
Für einen Moment stand Wilhelm unschlüssig da, als wolle er sich nicht so recht von ihr trennen. Und dieser Gedanke verwirrte Marie so sehr, dass sie fast vergessen hätte, die Steigbügel am Gurt heraufzuziehen, ehe sie den Sattel von Stürmers Rücken herunternahm.
Doch dann drehte Wilhelm sich allerdings abrupt um und ging mit langen Schritten über das raureifüberzogene Gras inmitten des Hofes zur Treppe hinüber, die für die Herrschaften gedacht war.
»Hier sind die Stiefel, Fräulein Paas«, ertönte da Alfreds Stimme. »Ich kann auch den Sattel in die Kammer bringen, Fräulein Paas. Mach ich gern. Soll ich?«, bot er diensteifrig an.
Den Sattel auf den Armen, wandte Marie rasch den Blick von Wilhelms Gestalt, die gerade im Haus verschwand, und dem Jungen zu. Dabei merkte sie, dass Emil Neumann schnell die Augen niederschlug, und ihr kam der Verdacht, er könne sie dabei beobachtet haben, wie sie Wilhelm nachgeschaut hatte. Wie peinlich.
»Danke, Alfred, sehr gern.«
Kurz kam es zu einem kleinen Durcheinander, da Marie trotz des Sattels auf ihrem Arm dem Jungen die Stiefel abnehmen wollte, gerade in dem Moment, als auch Emil Neumann danach griff. Doch dann waren alle Sachen so verteilt, wie sie gehörten.
»Wenn ich fragen darf, Fräulein Paas«, brach es dann aus Alfred heraus. »Wo Sie doch am Reuben-Hof waren, wie geht’s denn der Änne? Lässt der Herr Reuben sie?«
Alfred hatte eine Weile dort gearbeitet und ausschließlich von Änne Freundlichkeit erfahren. Daher war er überglücklich gewesen, als die Komtessen von Scheweney sich Ännes Problem annahmen.
»Es sieht so aus, Alfred. Wollen wir weiter das Beste für sie und die Kleinen hoffen, nicht wahr?«, erwiderte Marie mit einem Lächeln.
Eifrig nickte der Bursche. »Beim Kirchgang bete ich immer für sie und Berta und Gertrud. Natürlich auch für Vater, damit er wieder gesund wird, und für Mutter und für die Großeltern. Und für alle auf Friesenhain, damit alles seinen rechten Weg geht und ich meine Stellung hier behalte.« Er holte Luft.
»Da tust du recht«, unterbrach Marie ihn rasch, ehe er weitere Gebete aufzählen konnte. »Aber jetzt sieh zu, dass Komet sein Futter bekommt.«
Die großen Jungenaugen blickten sie einen Moment lang beinahe ehrfürchtig aus dem sommersprossigen Gesicht an. Dann nickte Alfred zackig mit dem Kopf und lief mit dem Sattel davon.
Emil Neumann und sie mussten beide schmunzeln.
»Dann werde ich mich mal auf den Weg in den Ort machen«, sagte der Kammerdiener, klemmte sich auch Maries Stiefel unter den Arm und verneigte sich. Die Geste geriet nicht so tief wie bei den Komtessen oder Wilhelm, aber dennoch berührte sie Marie, denn es war keineswegs üblich, dass innerhalb der Dienerschaft solche Artigkeiten getauscht wurden.
Marie deutete einen Knicks an, und Emil Neumann ging davon.
Während sie Stürmer zu dem Anbinder hinüberführte, an dem sein Halfter hing, schwirrte Marie ein wenig der Kopf. Wie seltsam Wilhelm sich gerade benommen hatte. Fast so, als wolle er nach diesem schönen, gemeinsamen Morgen Marie nicht mit dem Kammerdiener allein lassen. Und dann Emil Neumanns Blicke und die Verneigung. Sollten Frau Rühl und die anderen vielleicht doch recht haben und er war kurz davor, ihr den Hof zu machen? Der Gedanke löste in Marie aufgeregtes Herzklopfen aus. Aber auch eine Scheu. Sie mochte diesen Emil Neumann wirklich gern. Aber bisher hatte sie weder bei sich noch bei ihm Anzeichen für solcherart Gefühle entdeckt.
Am Anbinder wechselte Marie Stürmers Zaumzeug gegen das Halfter.
»Ich bin gleich wieder da«, raunte sie dem Hengst zu. »Trocken reiben und füttern mach ich im Hengststall. Nicht dass dir die vielen Stuten im Hof den hübschen Kopf verdrehen.«
Stürmer schnaubte leise, und Marie musste grinsen bei dem Gedanken, er könne sie verstanden haben.
Sie brachte das Kopfstück hinüber in die Kammer und hängte es an die entsprechenden Vorrichtungen. Nebenan in der Futterkammer hörte sie Alfred hantieren. Also nutzte sie die Gelegenheit und gab ihm noch ein paar Anweisungen für Arbeiten, die heute getan werden mussten. Er hörte aufmerksam zu, nickte und beteuerte, alles zur Zufriedenheit richten zu wollen.
Als sie wieder aus der Kammer trat, sah sie, dass jemand bei Stürmer am Anbindehaken stand. Der Hengst schlug unruhig mit dem Kopf und drehte sein Hinterteil.
Der Mann an seiner Seite schlug ihm mehrmals kräftig auf die Kruppe, sodass Stürmer den Hals reckte und ein erschrockenes Quietschen von sich gab.
»He!«, rief Marie und rannte mit flatterndem Rock hinüber. »Was soll denn das?«
Der Mann, der nun mit demonstrativ erhobenen Händen von Stürmer zurücktrat, war Kurt, der neue Stallbursche.
»Wollte aus lauter Bosheit nach mir treten«, brummte er. »Das darf man nicht durchgehen lassen.«
Marie schob sich zwischen Mann und nervös tänzelndes Pferd.
»Pferde tun nie etwas einfach aus Bösartigkeit«, erwiderte sie entrüstet an Kurt gewandt. »Und was hast du überhaupt bei ihm zu suchen?«
»Hat sich fast losgerissen«, antwortete er scheinheilig und nickte zum Strick, dessen Ende tatsächlich lose im Eisenring hing.
»Das ist nicht weiter tragisch. Ich bin sicher, er wäre brav hier stehen geblieben. Auf keinen Fall ist es ein Grund, um grob zu werden«, erklärte Marie, wobei sie Stürmer zuliebe versuchte, den Ärger in ihrer Stimme zu unterdrücken.
»So wie ich hör, is er ja schon mal irgendwo auf und davon«, erwiderte Kurt uneinsichtig. Dabei sah er sie auf diese Weise an, die Marie schon ein paarmal aufgefallen war, wenn sie ihm Anweisungen für den Umgang mit den Pferden gegeben hatte. Seine verkniffenen Lippen wirkten, als wolle er gleich ausspucken.
»Ein für alle Male, Kurt: Mit Stürmer hat niemand etwas zu schaffen. Nur mein Vater und ich gehen mit ihm um. Verstanden?« So wenig sie es mochte, derart deutlich zu werden, schien er es anders nicht begreifen zu wollen.
»Davon hat Ihr Vater nichts erwähnt«, knurrte Kurt und setzte mit einem freudlosen Lächeln hinzu: »Fräulein.«
»Nun, dann sage ich es dir jetzt«, beharrte Marie. Wenn sie mit den anderen Stallburschen und Knechten sprach, musste sie nie so harsch werden, denn die respektierten ihr stets freundliches Wort ebenso wie das des Stallmeisters. Und egal wie groß zum Beispiel der älteste unter ihnen, der lange Fritz, auch war, fühlte Marie sich in seiner Gegenwart nie so winzig wie jetzt gerade. Der kräftige Kurt sah sie von oben herab abschätzend an. Fast, als wäge er ab, ob ein Widerspruch sich lohne. Doch dann tippte er sich mit einem verächtlichen Zucken der Mundwinkel an die schief sitzende Mütze, drehte sich um und verschwand im Stall.
Maries Herz schlug rasch vor Wut und Aufregung. Sie atmete bewusst einige Mal tief ein und wieder aus, bevor sie sich an Stürmer wandte und ihn mit am Hals aufgelegter Hand zu beruhigen suchte.
»Es ist alles in Ordnung, mein Hübscher«, raunte sie ihm leise zu. »Und von jetzt werde ich auf dich aufpassen wie ein Luchs. Das passiert nicht noch einmal. Versprochen.«
Stürmer schnaubte leise in ihr Haar. Marie löste den Strick aus der Halterung und führte den Hengst hinüber zum Tor. Wilhelms Frage nach dem Neuen und ihre Erwiderung fielen ihr wieder ein. Nun, sie blieb dabei: Jeder sollte eine gerechte Chance bekommen. Doch von nun an würde sie doppelt wachsam sein, ob Kurt eine solche auch verdient hatte.
»Schau, Irmgard hat mir noch ein Kaffeebrett mitgegeben, nachdem wir das erste so leer geräumt haben«, sagte Max und balancierte ein Tablett aus dem engen, schmalen Flur des Brugge-Hauses ins geräumige Wohnzimmer.
»Wie freundlich von ihr! Sie scheint meinen Appetit inzwischen schon recht gut zu kennen«, sagte Luise und winkte ihn zu sich auf das gemütlich breite Sofa. Es stand unter einem der großen Ölgemälde von Max’ Schwester, mit denen Paula alle Zimmer in jenem Bürgerhaus mitten in Ibbenbüren zu Orten voller Farben und Leichtigkeit zu machen verstand.
In der kleinen Villa auf der Breiten Straße des Ortes lebte Max zusammen mit Paula und deren Gefährtin Hedwig. Alle drei pflegten ein Haus der offenen Tür. Und so hatten sie den Morgen gemeinsam mit einigen Damen der Frauenbewegung verbracht, hitzig eine neue Petition zum Frauenwahlrecht diskutiert und dabei dem von der Haushälterin Irmgard zubereiteten Imbiss zugesprochen. Die Frauenrechtlerinnen waren gerade zusammen mit den beiden Hausherrinnen zur Tür hinausgeweht, auf dem Weg zu einer öffentlichen Versammlung. Und Luise bedauerte, nicht mit ihnen gehen zu können, doch Max und sie hatten heute etwas ganz anderes vor.
Sie schenkte Max und sich selbst Kaffee und Wasser nach.
»Wie fühlst du dich?«, wollte Max wissen, während er sich neben ihr auf dem Sofa niederließ und sie mit seinen munteren braunen Augen aufmerksam musterte.
Luise seufzte tief. »Ich muss dir ja sicher nicht sagen, wie froh ich bin, dass Hedwig und Paula mich so unterstützen. Du natürlich auch …«, setzte sie rasch hinzu, als sie sah, wie er den Mund öffnete. »Aber bei den beiden ist es noch etwas anderes. Deine Schwester behauptet sich schon lange in eurer Tapetenmanufaktur. Paula ist tatsächlich gleichberechtigt neben dir, egal was eure Geschäftspartner sagen mögen. Und was ihre liebe Hedwig von ihrem Architekturstudium erzählt, ist brennend interessant für mich. Weißt du, da wird deutlich, wie viel besser wir als Frauen in unserer Arbeit sein müssen, wie viel mehr wir leisten müssen als ihr Männer, um überhaupt Anerkennung zu erhalten.«
»Davon …«, begann Max, doch Luise unterbrach ihn.
»Ich weiß, was du sagen willst, Lieber. Es warten mehrere Hindernisse auf mich.« Sie hob die eine Hand, an der sie wie meist und entgegen aller Schicklichkeit keine Handschuhe trug, und reckte den Daumen in die Luft. »Bevor ich überhaupt an einen Studienplatz denken kann, muss ich die Gelegenheit bekommen, ein Gespräch mit dem Direktor der Tiermedizinischen Hochschule Hannover zu führen. Auf diese Zusage warte ich ja gerade.« Sie ließ die Brauen nach oben wandern, als Max erneut etwas sagen wollte, und er fügte sich mit einem amüsierten Zucken seiner Mundwinkel. Luise streckte den zweiten Finger in die Höhe. »Wenn ich vor Direktor Dammann bestehe, muss ich mich auch den anderen Lehrkräften stellen.« Der dritte Finger folgte. »Dann, und vor allem, muss ich die Aufnahmeprüfung bestehen. Was mir hoffentlich gelingen wird, denn du weißt, wie intensiv ich mich darauf vorbereite. Das wird mir gewiss helfen, meinst du nicht? Aber dann muss ich noch neiderfülltes und gehässiges Betragen der männlichen Studenten ignorieren.« Sie seufzte tief und betrachtete ihre Hand, an der nun alle fünf Finger sichtbar waren. »Am schlimmsten aber wird es sein, das Brummen und Knurren meines Vaters und die pikierte Miene meiner Mutter zu ertragen. Da kommt wahrlich viel auf mich zu.«
Max lachte. »Mit allem hast du gewiss recht, Liebes. Aber wenn du mich nur zu Wort hättest kommen lassen, hätte ich dir längst sagen können, dass ich davon gar nicht sprach, sondern von der Hausbesichtigung, die uns bevorsteht.«
Kurz starrte Luise ihn verblüfft an. Dann stimmte sie in sein Lachen ein.
»Ach, Max, da siehst du es wieder: Deine Zukünftige hat nur ihre hehren Ziele im Kopf«, sagte sie. »Darüber kann sie durchaus vergessen, was bei anderen jungen Bräuten aus gutem Hause wohl das erste Thema wäre: dass wir pflichtschuldig ein Landhaus besichtigen – das wir dann allerdings möglichst höflich als Hochzeitsgeschenk meiner Eltern ablehnen müssen.«
»Und du bleibst dabei?«, hakte er nach, während er sie mit schief gelegtem Kopf prüfend ansah. »Wir sind uns einig, dass wir lieber ein Stadthaus wie dieses hier kaufen wollen? Natürlich repräsentativ und hübsch genug für eine Grafentochter, ganz wie deine Eltern es wünschen. Aber eben hier im Ort?«
Luise nickte lebhaft. »Aber ja. Du hast es dann nicht weit zur Fabrik, und ich kann bequem den Zug nach Hannover nehmen, um zum Studieren zu fahren.« Sie legte die Hand, mit der sie gerade noch die Schwierigkeiten aufgezählt hatte, auf ihre Knie im Reitrock, den sie heute trug. »Und wenn meine Jeltje mal wieder richtig rennen will, sind es ja nur ein paar Minuten zum Ort hinaus und über die Felder.«
Max, der ihre Vernarrtheit in ihre junge Friesenstute kannte, schmunzelte.
»Nun, dann bin ich gespannt, wie du unsere Entscheidung gegen einen Landsitz deinem Vater erklären willst«, erwiderte er mit einer Grimasse. »Er scheint mir wild entschlossen, für uns das richtige Haus in Nachbarschaft zu Friesenhain bereits gefunden zu haben.«
Luise liebte ihn besonders für seine Klarsicht, die sich stets mit Humor mischte. Andernfalls hätte er, als überzeugter Sozialdemokrat, wohl die vielen Dinner und Nachmittagstees mit ihren Eltern nicht so heiter überstanden. Ihre Eltern hatten sich nun einmal in den Kopf gesetzt, dass eine von Scheweney, aufgewachsen auf Gut Friesenhain, hinaus in die Weite des Tecklenburger Landes gehörte. Es würde guter Argumente und eines langen Atems bedürfen, sie davon zu überzeugen, dass sie auch in dieser Hinsicht ihren eigenen Weg gehen wollten. Gut, dass zumindest sie beide sich darin einig waren.
Luise warf einen Blick auf die hübsche Standuhr an der gegenüberliegenden Wand, die leise vor sich hin tickte, und setzte hastig ihre Tasse ab.
»Wenn wir Vater nicht schon vor der Besichtigung verärgern wollen, sollten wir uns nun aber beeilen«, drängte sie und sprang vom Sofa auf. »Er besteht auf die preußische Tugend der Pünktlichkeit.« Damit war sie schon auf halbem Weg durch den Raum.
»Nun, ich war es nicht, der über die mahnenden Zeiger der Uhr hinaus über Frauenrecht und Studium debattiert hat«, hörte sie ihren Verlobten hinter sich brummen. Doch er folgte ihr rasch. Offenbar lag auch ihm daran, sich mit seinem zukünftigen Schwiegervater gut zu stellen.
***
»Das ist es also!«, sagte Graf Hermann von Scheweney mit nicht zu überhörendem Stolz in der tiefen Stimme und deutete in das Tal hinunter. Er saß auf seiner braunen Hannoveranerstute, während Luise und Max auf ihren Tieren neben ihm angehalten hatten.
Dort lag in der Landschaft, hübsch eingebettet in weite Wiesen und geschützt von einer Einfriedung aus niedrigen Bäumen und Büschen, ein helles Gebäude. Kein grob wirkendes Landhaus, wie es sie hier in der Gegend viele gab, sondern ein eleganter Bau, der sich an diesem Ort sehr wohlzufühlen schien – so wie er sich der Sonne entgegenreckte und ihnen all seine Schönheit präsentierte.
Für einen kurzen Moment hielt Luise den Atem an. Eine instinktive Reaktion, mit der sie in diesem Moment wahrlich nicht gerechnet hatte.
Max wandte kurz den Kopf und lächelte ihr mutmachend mit einem kleinen Zwinkern zu. Ihr Herz machte unwillkürlich einen Hüpfer. Sein blondes Haar und der gleichfarbige Schnäuzer machten ihn im Vormittagslicht zu einer hellen Gestalt, bei deren Anblick sie immer noch Herzklopfen bekam. Wie wunderbar war es doch, dass sie trotz der gesellschaftlichen Hindernisse einander hatten finden dürfen. Und nun stand die erste Hausbesichtigung für sie an. Das Kribbeln, das Luise nun erfasste, stammte gewiss auch davon.
»Was sagt ihr?«, verlangte Graf Hermann zu wissen. In seinem dicken Mantel wirkten seine Schultern noch breiter als sonst. Den Hut hatte er sich tief ins Gesicht gezogen. Über seinem braunen Schal lugten die Spitzen des aufwärtsgezwirbelten mächtigen Schnurrbarts heraus, den er nach Kaisermode trug. »Ich weiß, es ist lange nicht so repräsentativ wie Friesenhain, aber es macht doch was her, meine ich. Der Erbauer, ein gewisser Eduard Schwalbe, ist schon vor Jahren mit seiner Familie fortgezogen. Aber sein Neffe hat sich wunderbar um das Anwesen gekümmert, und nun will die Familie die Villa verkaufen.«
Luise starrte hinunter und strich sich mit der dick behandschuhten Hand nervös eine verirrte Locke von ihrer Wange.
»Es ist wunderschön, Vater!«, stimmte sie jetzt vorsichtig und beinahe ein wenig überrascht zu. »Ich erinnere mich, dass ich früher auf Ausritten ein paarmal hier vorüberkam. Und ich fand schon damals, dass es sich ausgesprochen hübsch machte. Es wirkte stets wie ein Ort, an dem die Menschen glücklich sein können.« Verwirrt lauschte sie ihren eigenen Worten nach.
Max gab ein leises Brummen von sich. »Es scheint mir ein wenig groß für uns zwei«, bemerkte er, wobei er den Blick zu seinem zukünftigen Schwiegervater mied, sondern vielmehr Luise intensiv ansah. Vielleicht war sie in ihrem spontanen Lob zu weit gegangen? Schließlich waren sie sich einig, dass sie das Landhaus letztendlich ablehnen würden. »Wenn ich bedenke, dass Paula, Hedwig und ich zusammen mit der guten Seele Irmgard allesamt in unserem Ibbenbürener Stadthaus Platz finden und es uns nicht zu eng ist.«
»Ach was!« Graf Hermann winkte ab. »Ihr werdet ja wohl nicht zu zweit bleiben, denke ich. Und natürlich braucht ihr Dienerschaft. Es geht nicht an, dass eine Komtess von Scheweney nur eine einzige Haushälterin beschäftigt, die ganz nach Belieben in die Rolle der Köchin, des Zimmermädchens, der Waschfrau und der Zofe schlüpft.« Er fasste das Gebäude dort unten erneut ins Auge und nickte, wie um sich seine gute Wahl selbst zu bestätigen. »Zu diesem Zwecke scheint mir das kleine Anwesen geradezu ideal. Der Eltern Segen baut den Kindern Häuser, nicht wahr?«
Max holte bereits Luft, um etwas zu erwidern, doch Luise warf ihm einen bittenden Blick zu.
Mit einem halb resignierten, halb liebevollen Lächeln ließ er leise Atem in die kalte Luft strömen. Auch dafür liebte und bewunderte Luise ihn: Wie er es schaffte, als überzeugter Sozialdemokrat und arbeiterfreundlicher Fabrikant alle naselang Rücksicht auf den Adelsdünkel zu nehmen, den Graf Hermann durchaus zu pflegen gewillt war.
Max, dem an finanziell wertvollen Zuwendungen in Form von einer reichen Aussteuer nichts lag und dessen Grundsätzen es widersprach, ein solch kostbares Geschenk seiner Schwiegereltern anzunehmen, verhielt sich jedoch nicht nur ihr zuliebe so zurückhaltend. Nachdem Graf und Gräfin von Scheweney ihre Vorbehalte ihm gegenüber beiseitegeschoben hatten, war Max klar gewesen, dass auch er ihnen würde entgegenkommen müssen. Nur deswegen hatte er dem Besichtigungstermin des Landsitzes zugestimmt. Schließlich lag der Hochzeitstermin Ende Januar nicht mehr weit.
Noch heute Morgen hatte Luise sich bei ihrem Aufbruch auf Friesenhain etwas unwohl gefühlt bei dem Gedanken, heute wieder einmal eingezwängt zu sein zwischen Max’ hehren, sozialdemokratischen Vorsätzen und den aristokratischen Ansprüchen ihrer Eltern. Doch als sie nun zu dritt den breiten Weg hinunter zum Fuß des bewaldeten Hügels nahmen, ging etwas Seltsames, vollkommen Unerwartetes in ihr vor: Der Anblick des näher kommenden Hauses mit seinen Sandsteinmauern und den drei hübschen Säulenbogen vor dem Eingang berührte sie auf eine eigenartige Weise.
Zu ihrer eigenen Überraschung merkte sie, wie sie den lang gestreckten Stall für einige Pferde und eine Kutsche, die dahinter liegende Scheune und ein paar kleine Nebengebäude mit lebhaftem Interesse in Augenschein nahm.
Je näher sie der Villa Schwalbe kamen, desto flatteriger fühlte Luise sich.
Der heraufziehende Gedanke, dass dieser heimelige Ort, hier draußen in der Natur, ihr eigenes Zuhause sein könnte, in dem sie selbst würde schalten und walten können, ließ nun mit einem Mal und zu ihrer eigenen Verwunderung Wärme in ihr aufsteigen.
Details kamen in Sicht, die von der Anhöhe aus nicht auszumachen gewesen waren. Das harmonische Muster, in dem die gelbbraunen Steine gesetzt worden waren. Die anmutigen Bogen über den weiß gestrichenen Fenstern. Der hübsche Giebel, in dem ein künstlerisch veranlagter Fassadenbauer eine freundliche Sonne hatte aufgehen lassen, die nun auf sie herablächelte.
In die Villa hinein führte eine doppelflügelige Holztür mit kunstvoll gefertigtem bunten Glaseinsatz. Luise starrte einige Sekunden darauf, denn von irgendwo kam ein Bild angeflogen. Sie sah sich durch diese Tür hinaustreten, auf dem Weg zum Bahnhof, um zur Hochschule zu fahren, oder einfach nur zur nahen Koppel, von wo Jeltje ihr vorfreudig entgegensah. Als sie nun die schmale Auffahrt zum Haus entlangritten, wirkten die umstehenden Birken, Pappeln und Rhododendren wie eine Garde aus Freunden, die den Hof umstanden und sie nach langer Abwesenheit willkommen hießen.
Da war ein sanftes Zittern in ihr. Fast so wie jenes, welches sie vor drei Monaten stets erfasst hatte, wenn sie Max begegnet war. Konnte es sein, dass sie soeben dabei war, sich erneut zu verlieben? In ein Haus? Luise sog die Unterlippe zwischen ihre Zähne und knabberte daran. Oje, das war nicht geplant. Was würde ihr Liebster dazu sagen?
Etwas schräg und vom Wohnhaus zurückgesetzt, lag der Stall. Dort war in der ersten Ständerbox ein Kaltblutpferd angebunden, das vor sich hin döste und verwundert den Kopf hob, als sie ihre drei Pferde zum Schutz gegen die Kälte ebenfalls hineinführten.
»Ist das nicht der alte Schwarzwälder vom Tischler Heumann?«, fragte Luise und trat zu dem dunklen Pferd mit heller Mähne, dessen Kopf doppelt so groß und schwer zu sein schien wie der ihrer Friesenstute.
»So ist es.« Ihr Vater nickte und rieb sich die kalten Hände. »Kommt mit rein, dann erkläre ich euch alles.«
Wieder ging er ihnen voraus.
Max, der Luise den Vortritt ließ, raunte ihr zu: »Sehe ich das recht, und dein Vater hat bereits einen Tischler bestellt? Obwohl wir noch nicht einmal zugesagt haben?«
Luise griff nach seinem Arm. »Oh, bitte, Max, lass uns erst einmal anhören, was Vater sich ausgedacht hat«, bat sie ihn flüsternd. »Es ist so selten, dass er so für etwas brennt, das nicht mit dem Gestüt zu tun hat. Schau nur, wie er sich daran freut.«
Tatsächlich lief der Graf durch die nur angelehnte Tür mit beschwingtem Schritt über die ebenerdige Schwelle aus von vielen Schuhen glatt poliertem Sandstein und erklärte dabei an sie gewandt: »Achtet auf die kostbaren Fliesen, bitte! Von Villeroy und Boch. Und dann die Lincrusta-Paneele, nach dem Patent eines Engländers natürlich. Ausgesuchter Geschmack!« Er winkte mit der Hand über die Schulter und war bereits hinein.
Luise und Max sahen beide am Haus hinauf, während sie ihre dicken Handschuhe abstreiften. Dann ließ Max ihr den Vortritt, und sie betraten ebenfalls die kleine Halle. Die war auf keinen Fall zu vergleichen mit dem pompösen Auftritt Friesenhains und nur wenig breiter als der Flur im Ibbenbürener Stadthaus, in dem Max noch wohnte. Doch die markanten Bodenfliesen mit wunderschönem Blumenmuster ließen alles frisch und großzügig erscheinen. Die gelungene Kombination aus erlesenem Geschmack und natürlicher Heimeligkeit nahm Luise sofort für sich ein. Ein an einem fremden Ort nie gekanntes Gefühl von nach Hause kommen erfasste sie so heftig, dass sie abrupt stehen blieb. Max konnte nicht mehr ausweichen und legte bei ihrem kleinen Zusammenstoß schützend die Arme um sie, um sie nicht stolpern zu lassen. Die unerwartete intensive Nähe ließ Luise die Luft anhalten, bis Max sich vergewissert hatte, dass sie sicher stand, und seine Arme wieder löste. Kurz blickten sie einander in die Augen. Der Ausdruck in seinen haselnussbraunen ließ ihr Herz geradezu rasen. Immer hatte dieser Mann solche Wirkung auf sie, wenn sie sich nah waren. Es war, als würde zwischen ihnen jene wundersame Elektrizität fließen, die ganze Leuchter zum Strahlen bringen konnte. Gut, dass ihr Vater bereits in den kleinen Flur zwischen Treppenaufgang und Empfangsraum eingebogen war und ihre kurze, innige Umarmung nicht bemerkte. Verschmitzt zwinkerte Max ihr zu. Während sie nebeneinander durch das kleine Foyer gingen, berührte Max wie zufällig noch einmal Luises Hand, und sie lächelten sich an.
»Ah hier!«, rief Graf Hermann aus dem Flur. Luise beeilte sich, ihm zu folgen.
Ihr Vater hatte den Flur bis zur Hälfte durchschritten und nahm jetzt die Tür zu seiner Linken.
»Guten Morgen, Heumann, da sind wir!«, verkündete er.
Luise, die dicht hinter ihrem Vater über die Schwelle trat, war augenblicklich hingerissen. Der Raum war riesig und zog sich mit sechs bodentiefen Fenstertüren über die gesamte Westfront des Gebäudes.
Tischler Heumann, den Luise von etlichen Arbeiten auf Friesenhain kannte, stand weiter hinten im Raum neben der abgegriffenen Kiste mit seinem Arbeitsmaterial. Bei ihrem Eintreten hatte er die Schiebermütze vom fast kahlen Kopf gerissen und verneigte sich nun tief. »Euer Hochwohlgeboren!«
»Der Graf reicht aus, Heumann«, beschied Luises Vater mit einem wohlwollenden Lächeln. »Wie oft soll ich das noch sagen?« Doch er schien angetan, als der Handwerker nun auch Luise mit »Komtess« ansprach. Dann jedoch geriet Heumann ins Schwimmen und starrte Max ratlos an.
Graf Hermann half dem Handwerker aus der Verlegenheit, indem er vorstellte: »Gewiss kennen Sie meinen zukünftigen Schwiegersohn, Herrn Max Brugge?«
Als Heumann Anstalten machte, sich auch vor Max zu verneigen, reichte dieser dem Tischler die Hand. Der Tischler starrte einen Moment darauf. Dann wechselte er rasch die Mütze in die andere Hand und erwiderte Max’ Gruß mit einem breiten Lächeln.
Graf Hermann sah derweil in eine andere Richtung. Und Luise, die schon vor Wochen entschieden hatte, die feinen Unterschiede zwischen ihren Eltern und Max, besonders im Umgang mit Dienstboten, Handwerkern und Arbeitern, am besten zu ignorieren, betrachtete intensiv das honigfarbene Parkett.