Gut Friesenhain - Zwischen Liebe und Skandal - Lotte Grünewald - E-Book

Gut Friesenhain - Zwischen Liebe und Skandal E-Book

Lotte Grünewald

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Beschreibung

Münsterland 1896: Zerrissen zwischen familiären Erwartungen und einer verbotenen Liebe hört eine junge Grafentochter auf den Ruf ihres Herzens …

Münsterland 1896. Zu gern würde Clara von Scheweney Gut Friesenhain übernehmen – sprüht die clevere Frau doch vor Plänen für eine glänzende Zukunft des Gestüts. Doch ihr Bruder Wilhelm erbt das Landgut, und so bleibt Clara nur die Rolle als brave Tochter. Einziger Lichtblick sind ihre heimlichen Treffen mit Baron Richard von Thebe. Clara fühlt sich zu dem jungen Adligen hingezogen. Aber kann sie ihm vertrauen? Schließlich sind ihre Familien aufs Heftigste verfeindet. Da besucht der attraktive Kaiserliche Rittmeister Georg von Hofberg das Gut. Und er ist nicht nur an Friesenhains Pferden interessiert. Clara Zukunft scheint bereits besiegelt …

Die große Münsterland-Saga von Lotte Grünewald:
Band 1: Gut Friesenhain – Zwischen Traum und Freiheit
Band 2: Gut Friesenhain – Zwischen Hoffnung und Vernunft
Band 3: Gut Friesenhain – Zwischen Liebe und Skandal

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Buch

Münsterland 1896. Zu gern würde Clara von Scheweney Gut Friesenhain einmal übernehmen – sprüht die clevere Frau doch vor Plänen, um es in eine glänzende Zukunft zu führen. Doch ihr Bruder Wilhelm erbt das Landgut, und so bleibt Clara nichts anderes übrig, als sich ihrer Rolle als brave Tochter zu fügen. Bis sie auf Richard von Thebe trifft. Der junge Baron beflügelt Clara mit seinen fortschrittlichen Ansichten und ermutigt sie, ihre Ideen trotz aller Widerstände in die Tat umzusetzen. Sie fühlt sich zu Richard hingezogen, doch die Familien der beiden sind aufs Heftigste verfeindet. Ist ihre Liebe stark genug, um einen Skandal zu überstehen? Und kann sie Richard überhaupt vertrauen?

Autorin

Lotte Grünewald ist das Pseudonym von Mirjam Müntefering. Das Suchen und Erfinden spannender Geschichten begleitet sie schon ein Leben lang – sei es während ihres Studiums der Filmwissenschaften, in den Jahren, in denen sie als Fernsehjournalistin tätig war, oder heute als Autorin. Wenn sie nicht gerade in ihrem Tinyhouse-Schreibwagen Romane zu Papier bringt, genießt sie das Leben mit ihrer Ehefrau und allerlei Tieren am grünen Rand des Ruhrgebiets. Die Friesenstute Jeltje – die beste Freundin ihrer eigenen Stute – diente als Inspiration für ihre Familiensaga-Trilogie »Gut Friesenhain«, in der es um ein malerisches Gestüt im Münsterland geht.

Weitere Informationen unter: www.mirjam-muentefering.de

Von Lotte Grünewald bereits erschienen Gut Friesenhain – Zwischen Traum und Freiheit Gut Friesenhain – Zwischen Hoffnung und Vernunft

Lotte Grünewald

GUTFRIESENHAIN

Zwischen Liebe und Skandal

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Originalausgabe 2024 by Blanvalet, einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Copyright © 2024 by Lotte Grünewald

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.

Redaktion: Hanna Bauer

Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Richard Jenkins Photography und stock.adobe.com (ksena32, Lars Gieger, Kimo, Konstiantyn, Viktoria Makarova)

DK · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-28127-4V001

www.blanvalet.de

Für Mable

Prolog

Der Wind des schnellen Rittes braust um ihr Gesicht. Strähnen ihres Haares haben sich längst aus dem Knoten gelöst und flattern wie Fahnen in der Schlacht.

Dicke Brocken Erde fliegen hinter den Hufen ihres Pferdes auf.

Niedrige Zweige peitschen ihr gegen die Schulter. Einer trifft mit scharfem Schmerz ihre Wange, und sie spürt, wie ein Tropfen Blut sich mit den Tränen mischt. Es ist ihr gleich.

Sie steht in den Steigbügeln und beugt sich weit über den Pferdehals. Schneller! Nur schneller!

Auch wenn die Luft in ihrer Kehle eng wird, hört sie nicht auf, ihr Reittier anzutreiben. Spürt die ausgreifenden Galoppsprünge. Das fieberhafte Vorwärts.

Sie muss es schaffen! Sie muss sie einholen! Auch wenn ihr Ziel noch nicht zu sehen ist, weiß sie, dass alles davon abhängt.

Angst flutet ihren Körper. Sie ist sich gewiss: Wenn sie nicht rechtzeitig ist, wenn sie es nicht schafft, wird etwas Grauenvolles geschehen!

Sie wird gebraucht von dem Menschen, den sie bedingungslos liebt, wird gebraucht, so wie jeder die Luft zum Atmen braucht.

Der Weg macht eine Biegung. Quer darüber ein gestürzter Baum. Links und rechts dichtes Gebüsch. O Himmel! Sie werden hinübermüssen!

Sie lehnt sich kurz zurück in den Sattel, nimmt die Zügel an. Ihr Pferd schnaubt, drosselt gehorsam das Tempo. Ein so hoher Sprung. Werden sie es schaffen?

Bitte!, denkt sie inständig. Bitte, lass es gelingen!

Denn was passieren wird, wenn etwas sie aufhält, ist zu grauenvoll. Nein, sie will nicht das Schlimmste vor Augen sehen. Und doch ist da etwas in ihr, das ihr unentwegt zuruft, dass es passieren wird. Es wird passieren. Wenn sie nur einen Augenblick lang nachlässt.

Schon ist der dicke Stamm heran. Sie gibt die Zügel vor, legt die Waden an, und ihr Pferd schießt über das Hindernis, ohne auch nur einen der abstehenden Äste zu berühren.

Sie kommen wieder auf. Und der wilde Ritt geht weiter. Und weiter. Denn von ihr hängt alles ab.

Clara 1

Tecklenburger Land nahe dem Städtchen Ibbenbüren,im Juli 1896

Welch strahlendes Blau über ihr! Genau recht für die letzten Julitage!

Komtess Clara von Scheweney zügelte kurz ihre Schimmelstute Tessa und ließ den Blick über das reife Korn zu ihren beiden Seiten streifen. Sicher würden die Pächter das Getreide in den nächsten Tagen einholen können, denn der klare Sommerhimmel über dem Tecklenburger Land versprach weitere Tage mit Sonnenschein. Ein wenig musste Clara über sich selbst schmunzeln, dass sie nicht einfach das schönste Wetter genießen konnte, ohne nicht auch an die Belange Gut Friesenhains zu denken. Aber das Gestüt war nicht nur ihr Zuhause, sondern auch seit ihrer Kindheit ihr größtes Interesse.

Sie ließ den Blick gen Westen gleiten, wo in der Ferne die höchsten Gipfel der Parkbäume auszumachen waren, die den Vierkanthof umgaben. Gerade hatte sie den Bahndamm überquert. Dort würde zur Mittagszeit der Schnellzug von Ibbenbüren kommend kreuzen, auf seinem Weg in die Hauptstadt des Kaiserreichs, Berlin. Clara ließ Friesenhain linker Hand liegen und lenkte Tessa in das Waldstück, das sich den Hügel hinaufzog.

Hier oben im Schatten auf dem bewaldeten Hügelkamm war es kühler, und so gab Clara die Zügel vor, und die Stute fiel in sanften Trab. Aber nur knappe hundert Meter, denn an der nächsten Wegbiegung wartete eine Überraschung: auf dem einsamen Weg kam ihnen ein Reiter entgegen.

Dessen schwarze Stute scheute kurz, und der hochgewachsene dunkelhaarige Mann brauchte einen Moment, um sie wieder unter Kontrolle zu bringen.

»Himmel, Richard!«, entfuhr es Clara. Und Hitze stieg ihr ins Gesicht, weil ihr über das unerwartete Zusammentreffen so ein Ausruf entschlüpft war. »Baron von Thebe«, setzte sie rasch hinzu.

Tessa stand ganz still. Dafür aber galoppierte Claras Herz in einem wilden Takt. Ihr war, als sei sie geradewegs in einen ihrer Tagträume gestolpert. Denn in denen war es in den vergangenen drei Monaten mehr als einmal zu einer solchen unverhofften Begegnung gekommen. Seit ihrem letzten Zusammentreffen auf Gut Friesenhain hatten Richard und sie einander nicht mehr gesehen, hatte sie selbst den Weg hinaus zur alten Jagdhütte gemieden, an der sie davor dem Erben ihrer Nachbarn so oft wie zufällig begegnet war.

Und obwohl Clara doch sicher gewesen war, in der Zwischenzeit nicht vergessen zu können, wie Richard aussah, ließ sein Anblick nun in ihr ein heftiges Kribbeln aufsteigen. Sein schwarzes Haar. Seine nach englischer Mode glatt rasierten Wangen waren von einer sommerlichen Frische überzogen, aus der das tiefdunkle Braun seiner Augen herausblitzte.

Richard schaffte es, sein Reittier mit sanften Worten zu beruhigen und gleichzeitig Clara anzuschauen, während der erste kleine Schreck in seiner Miene dem feinen Lächeln Platz machte, das sie an ihm so mochte.

Als seine Stute nur noch auf der Stelle trippelte, zog er den Hut und neigte den Kopf.

»Komtess von Scheweney, was für eine angenehme Überraschung«, sagte er und sah sie mit schief gelegtem Kopf an, scheinbar ein wenig verlegen.

Vielleicht stand auch ihm gleich wieder vor Augen, wie sie sich bei ihrem letzten Treffen verabschiedet hatten: ohne ein persönliches Wort aneinander, aber mit dem entsetzlichen Verdacht zwischen ihnen, dass sein Großvater den verheerenden Brand auf Friesenhain gelegt haben könnte.

Für einen Moment schien er ebenso nach Worten zu ringen wie Clara. Was hatte sie in ihrer Vorstellung doch alles bei solch einem Wiedersehen zu ihm gesagt? In ihren Tagträumen hatte sie stets eloquente Sätze parat gehabt, die sie selbstverständlich charmant und mit einem reizenden Lächeln vorbrachte. Doch nun saß sie auf ihrem Pferd und spürte ihre Wangen verkrampft schmerzen. »Mein Pferd hat wohl ein schlechtes Gedächtnis, denn unsere Stuten kennen sich doch«, sagte Richard da, und Clara wurde von Erleichterung durchflutet, dass er ein so unverfängliches Thema wählte, in dem sie beide sicher waren. Über Pferde konnten sie als große Tierfreunde immer reden. Doch da setzte er hinzu: »Außerdem scheint Mable auch über ein anfälliges Herz zu verfügen.«

Kaum waren die Worte ausgesprochen, da weiteten sich Richards Augen, und er senkte den Blick. Seine Worte blieben zwischen ihnen in der Morgenluft hängen.

Und Clara spürte, dass ihr eigenes Herz dieser Beschreibung ebenfalls entsprach, denn es war immer noch aus dem Takt. War dem jungen Baron aufgefallen, dass ihr im ersten Moment sein Vorname entschlüpft war?

»Aber … Aber sie haben sich ja lange nicht gesehen, nicht wahr? Unsere Pferde, meine ich«, stammelte er.

Seine Verlegenheit machte auch Clara nicht ruhiger. Sie musste sich anstrengen, ihre flatternden Lider und ihre Stimme wieder zu kontrollieren.

»Ja, Sie haben recht, Baron von Thebe«, hörte sie sich selbst mit leicht heiserer Stimme sagen. »Und ich habe einige Male mit dem Gedanken gespielt, auf Tessa zur alten Jagdhütte hinauszureiten.«

O nein, hatte sie das wirklich gesagt? Ihm damit ganz offen mitgeteilt, dass sie mehr als einmal mit dem Gedanken an ein weiteres ihrer heimlichen Treffen an der Ländereiengrenze gedacht hatte?

Doch Richard wirkte über dieses Eingeständnis weder pikiert noch verwundert, sondern vielmehr erleichtert.

Er stieß mit einem leisen Geräusch, das zwischen Lachen und Seufzen lag, Luft aus und erwiderte so schnell, dass er unmöglich darüber nachgedacht haben konnte: »Und für mich ist kein Tag vergangen, an dem ich nicht hinauf zum Waldrand geschaut habe. In der Hoffnung, dort ein weißes Pferd angebunden zu sehen, dessen Reiterin womöglich auf mich wartet.«

Einen Moment lang starrten sie einander an.

Seine Worte hallten in Clara nach. Und während sie begriff, dass er ihr mit diesem Eingeständnis ebenso viel Persönliches anvertraute, wie sie es gerade getan hatte, sah sie, wie seine gebräunten Wangen noch an Farbe gewannen. Richard von Thebe wurde tatsächlich rot.

Und ihr selbst schwindelte mit einem Mal.

Wo sie schon so viel von sich offenbart hatte, war Clara nur froh, dass Richard zumindest ihre Gedanken nicht lesen konnte. Wie sehr ihr gefiel, dass er den Hut nicht gleich wieder aufsetzte, sodass seine schwarzen Locken zu sehen waren. Eine davon fiel ihm wie so oft in die Stirn. Und plötzlich spürte Clara den unwiderstehlichen Drang, die Hand auszustrecken und sie ihm zurückzustreichen.

Erschrocken über ihren eigenen Gedanken, wandte Clara den Blick ruckartig ab.

Das schien auch Richard aus seiner kleinen Starre zu lösen, in der er ihren Blick wie gebannt erwidert hatte.

»Wie kommt es, dass Sie hier unterwegs sind, Komtess? Sie sind doch nicht auf dem Weg in den Ort?«, erkundigte er sich höflich. Sein Blick, der beständig über ihr Gesicht glitt, wirkte alles andere als förmlich.

Clara wandte den Kopf und sah den Weg zurück, den sie gekommen war.

»Ich war gerade bei den Reuben-Mädchen und habe ihnen ein wenig Essen gebracht«, teilte sie ihm mit, froh über das harmlose Thema.

»Die drei kleinen Mädchen des Pferdehändlers, von denen Sie mir einmal erzählt haben?«, hakte er sogleich ebenso eifrig nach.

Sie nickte. »Änne ist die Älteste mit ihren vierzehn Jahren, Berta ist sieben und die kleine Gertrud sechs.« Ein tiefer Seufzer entkam ihr. »Nachdem ich mich geweigert habe Reuben nach dem Brand zehn Pferde zu einem Spottpreis zu verkaufen, hat er verboten, dass wir die Kinder weiterhin besuchen. Aber Änne ist gewitzt. Bei einem ihrer heimlichen Besuche auf Friesenhain hat sie uns genau geschildert, wo wir uns zukünftig treffen können. Es ist ein Wegabschnitt, der von dichten Hecken umstanden ist. Dort kann man uns vom Hof ihres Vaters aus nicht sehen. So können wir den Kindern regelmäßig Nahrungsmittel geben und uns vergewissern, dass er sie nicht wieder schlägt.«

»Sie sind die Güte in Person, dass Sie sich um die Kleinen kümmern!«, sagte Richard.

Doch Clara wehrte ab. »Ich bin es nicht allein. Meine Schwester und Marie Paas sind ebenso besorgt und reiten hin. Stellen Sie sich vor: Wenn wir eine Möglichkeit finden, die Kinder aus ihrem lieblosen Zuhause ohne Mutter und mit prügelndem Vater herauszuholen, werden sie bei Max Brugges Schwester Paula im Ort leben dürfen.«

»Welch Aussichten für die Mädchen!« Eine warme Welle überkam Clara, als sie Richard so mitfühlend und teilnahmsvoll sah.

»Unser Stallbursche Alfred dient als Botenjunge. Und mein Bruder gilt den Mädchen als großer Held, seitdem er ihrem Vater derart die Leviten gelesen hat, dass er sie nicht mehr schlägt.«

»Großartig! Die ganze Familie hält zusammen!«, sagte Richard und wurde mit einem Mal nachdenklich. »Ich komme aus dem Ort, wo ich ein paar Besorgungen zu erledigen hatte«, erzählte er mit dem leichten englischen Akzent, den er seiner Kindheit und Jugend in Kent verdankte. Clara wollte schon zu einer höflichen Erwiderung ansetzen, als er fortfuhr: »Am längsten war ich im Postamt, um ein Päckchen an meinen Vater aufzugeben.«

Ach herrje, dahin war die Aussicht auf unverfängliche Gesprächsinhalte. Wie könnten sie nun ausgerechnet über Baron Friedrich von Thebe plaudern?

Schließlich hatte der gut aussehende Witwer bei seinem Besuch vor ein paar Monaten viel Unruhe verbreitet. Als die große Jugendliebe ihrer Mutter, Gräfin Anna von Scheweney, hatte er erneut um sie geworben und damit fast alles ins Wanken gebracht. Welch Katastrophe für Friesenhain wäre daraus erwachsen. Obwohl sich ihre Mutter schließlich klar zu ihrer Liebe zu Claras Vater, der Ehe mit dem Grafen bekannt hatte, war Clara froh gewesen, von Friedrich von Thebes Abreise auf seinen englischen Besitz zu hören.

»Ich hoffe, Ihrem Vater geht es gut?«, erkundigte sie sich nun höflich, um Richard nicht ganz ohne Antwort zu lassen.

Er nickte und spielte mit dem Hut, den er in der einen Hand hielt. »Er ist bei bester Gesundheit, danke. Und zudem hat er bei seinem Besuch hier die Leidenschaft für die Pferdezucht entdeckt. Er interessiert sich für das Englische Vollblut.«

Clara konnte nicht verhindern, dass ihr ein begeisterter Ton entschlüpfte. »Wundervolle Tiere! Die Stutbücher lassen sich bis ins frühe achtzehnte Jahrhundert zurückverfolgen, habe ich gelesen. Und bei den Rennen sind sie unschlagbar. Er will tatsächlich züchten?«, erkundigte sie sich ehrlich angeregt. Sie empfand alles als spannend, was mit Pferdezucht zu tun hatte.

»Es sieht ganz so aus.« Richard schüttelte schmunzelnd den Kopf. »Mein Bruder weiß gar nicht, wie ihm geschieht. Schließlich ist er der zukünftige Herr auf dem Familienlandsitz in Kent. Und nun kommt unser Vater mit solch neuen Ideen für das Gut.«

»Ist Ihr Bruder denn nicht für Pferde?«, wollte Clara wissen. Zu gern hätte sie gewusst, ob Richards älterer Bruder ihm ähnlich war. Sah er ebenso gut aus, mit dem schmalen Gesicht und der leicht gebogenen Nase? Und war er ebenso freundlich, belesen, höflich und mitfühlend wie der jüngere? Als sie sich selbst bei diesen Gedanken ertappte, spürte sie ihre Wangen erneut heiß werden.

»Oh doch, doch. Aber Vaters neue Leidenschaft kam so überraschend«, antwortete Richard, während er sie weiterhin intensiv ansah. »Vielleicht haben ihn die Pläne angesteckt, die mein Onkel und ich für das Gut hier verfolgen …« Er brach ab, und sein Blick huschte zur Seite ins dichte Gebüsch.

»Pläne?«, wiederholte Clara neugierig. »Sie meinen, dass Sie peu à peu die Hannoveranerzucht aufbauen wollen?«

»Nun, so allmählich wie ursprünglich geplant, wird es wohl doch nicht gehen«, räumte Richard ein. Clara konnte sehen, wie seine Kiefermuskeln spielten. Konnte es sein, und er ärgerte sich darüber, dass ihm diese Information entschlüpft war? »Als wir im Winter die zwanzig Stuten von Friesenhain beherbergt haben …«

»Wofür wir Ihnen und Ihrem Onkel immer noch sehr dankbar sind, denn Sie haben uns damit eine große Sorge abgenommen und unschätzbar geholfen«, fiel Clara rasch ein.

Richard lächelte. Doch mit einem Mal wirkte es ein wenig unbehaglich.

»Nun, die vielen Pferde auf dem Gut haben meinem Onkel gefallen. Und so hat er entschieden, die Zucht recht bald voranzutreiben und noch weitere Ställe bauen zu lassen«, sagte er, während sein Blick immer noch dem Claras auswich.

Warum wirkte er so angespannt? Vielleicht, weil damit ihrer beider Güter in der Pferdezucht zu einer Art Konkurrenz werden würden?

»Das kann ich nur zu gut verstehen«, antwortete Clara. »Ich selbst liebe es auch, wenn viele Pferde in den Boxen stehen und im Sommer über die Wiesen ziehen.«

Angeregt durch ihre Worte wandte Richard den Kopf, und sein Lächeln wirkte wieder echt.

»Ganz genauso geht es mir. Die ganze Familie steht hinter den Plänen. Sogar Großvater ist hellauf begeistert!«, erklärte er. Doch im selben Atemzug verschlug es ihm erneut die Sprache, und das Lächeln verschwand nun endgültig aus seiner Miene.

Sie starrten einander an. Diesmal nicht verlegen errötend, sondern beide an Farbe verlierend. Denn mit einem Schlag war es, als würde Richards Großvater, der alte Baron Otto von Thebe, mit seinem am Körper schlotternden Anzug und dem oft so verwirrten Geist zwischen ihnen auf dem Weg stehen.

»Verzeihen Sie, Komtess«, stammelte Richard und drehte seinen Hut in den Händen. »Ich hätte meinen Großvater nicht erwähnen sollen. Nicht bei unserem ersten Wiedersehen. Schließlich ist er und was er womöglich getan hat, die Ursache dafür, dass wir uns nun so lange nicht gesehen haben, nicht wahr?«

Er sah sie kurz fragend an. Doch Clara konnte nur an jenen Tag denken, an dem er zusammen mit Onkel und Vater auf Friesenhain erschienen war, um ihnen die schreckliche Botschaft zu überbringen. Zusammen mit einem angekokelten Morgenmantel und schlammverschmierten Stiefeln des alten Barons, die dessen Diener, in einem selten benutzten Schrank versteckt, gefunden hatte. Den Moment, in dem sie begriffen hatte, dass Richards geistig verwirrter Großvater womöglich für all das Leid verantwortlich war, das der Brand über ihr Zuhause gebracht hatte, würde sie niemals vergessen können.

»Komtess?«, hakte Richard leise nach. »Ich habe so gehofft, der Verdacht müsse nicht auf ewig zwischen uns stehen. Wie stehen Sie dazu?«

Clara spürte ihre Kehle eng werden. Was sollte sie darauf antworten? Er hatte recht. Es war ebendies, das sie zurückgehalten hatte, hinaus zur Jagdhütte zu reiten.

»Die Kleidungsstücke, die Ihr Großvater im Schrank versteckt hatte, müssen nicht bedeuten, dass er den Brand gelegt hat«, brachte sie beklommen genau die Worte hervor, die sie sich in den letzten Monaten oft selbst beteuert hatte. »Ich glaube, dass dieser Schurke Hans Fabel das Feuer gelegt hat. Wer seinen eigenen Vater ermordet hat, eine junge Frau ins Unglück stürzen wollte und den Mord an unserem Bruder plante, dem ist auch solches zuzutrauen.«

Richard knetete die Krempe seines Hutes so heftig, dass Clara schon Mitleid mit der Kopfbedeckung empfand. »Doch er ist nicht geständig, nicht wahr?«, presste Richard heraus. Clara meinte ihm anzusehen, dass er sich ebenso wie sie wünschte, es sei anders.

»Nein, darüber schweigt der feine Herr sich aus«, entgegnete sie. »Obwohl es kaum einen Unterschied für ihn machen würde, denke ich. So oder so wartet der Strang auf ihn.«

Stille senkte sich über die Szenerie.

Richard brach ihr Schweigen schließlich, indem er hastig fragte: »Hat Oberwachtmeister Berthel Ihnen von der Untersuchung der Polizei auf unserem Gut berichtet? Nachdem unsere gesamte Familie nichts über jene besagte Nacht aus Großvater herausbringen konnte, hatten die Uniformierten auch kein Glück. Er kann sich offenbar nicht daran erinnern, damals überhaupt das Haus verlassen zu haben. Der Ernst der Befragung war ihm durchaus klar, nicht aber der Zusammenhang.«

Clara senkte den Kopf, denn natürlich stand ihre Familie immer noch in engem Kontakt mit der Polizei im Ort. »Ja, das wurde uns mitgeteilt. Ihr Großvater hat wohl angenommen, es handele sich bei den Polizisten um Kameraden aus dem Regiment, die eine Schlacht gegen Frankreich vorbereiten wollen?«

Richard biss sich auf die Unterlippe. Die Verwirrtheit seines Großvaters schien ihm mehr als unangenehm zu sein. »Alle versuchten, Verständnis zu haben. Doch es ist nicht leicht, bei solch einem Verdacht, ruhig zu bleiben, wenn sich der Angeklagte derart fern der uns bekannten Welt befindet.« Er räusperte sich. »Wir haben auf unserem Gut alle Türen und Tore für die polizeiliche Untersuchung geöffnet. Aber außer den Kleidungsstücken, die wir Ihrer Familie als mögliche Beweisstücke überlassen haben, wurde nichts weiteres Verdächtiges gefunden.«

Er wartete ab, ob sie etwas sagen wolle. Doch Claras Kehle war so eng, dass ihr nicht ein einziges Wort möglich war.

Und so fuhr er fort: »Natürlich ist meine Familie sehr erleichtert, dass nicht weiteres Belastendes gefunden wurde. Und doch lastet der bloße Verdacht nach wie vor schwer auf uns.« Er befeuchtete seine Lippen, und sein Blick huschte über Claras Gesicht. »Besonders auf mir«, setzte er leise hinzu.

Seine deutlich erkennbare Ergriffenheit setzte Clara zu. Sie wollte nicht, dass dieser Mann sich schlecht fühlte. Und doch konnte sie nichts an der Situation verändern. Mit der behandschuhten Hand strich sie an Tessas weißem Hals entlang. Eine hilflose Geste des Trostes, die ihn nicht erreichen konnte.

Erneut dehnte sich Schweigen zwischen ihnen aus und wurde beinah unerträglich.

»Oh, was bin ich für ein Tölpel«, sagte Richard da plötzlich und schlug sich mit dem Hut in seiner Hand gegen die Brust. »Ich gratuliere sehr herzlich zur Verlobung Ihres Bruders mit dem Fräulein Paas!«

Seine Anteilnahme wischte die unangenehme Stille mit einem Schlag fort. Clara spürte, wie ihr ein breites Lächeln in die Mundwinkel sprang.

»Herzlichen Dank! Ich richte es sehr gern aus«, erwiderte sie. »Es freut mich, dass Sie den beiden Glück wünschen, denn es gab durchaus kritische Stimmen zu dieser Verbindung.«

Richard hob die Brauen. »Der Kaiser etwa?«

Clara wiegte den Kopf. »Auch Seine Majestät bat um eine Erklärung, das stimmt. Denn alle erwarteten, dass der neue Graf von Scheweney, dem nun Titel und Besitz gehören, in den Kreisen des Adels gewählt hätte. Vor allem, nachdem schon unsere Schwester mit dem Fabrikanten Max Brugge einen Bürgerlichen geehelicht hat. Aber ein langer Brief unseres Vaters hat die majestätischen Wogen geglättet.«

»Wie das?«, erkundigte Richard sich. »Die Berichte über den Standesdünkel Kaiser Wilhelms II. sind selbstverständlich auch nach England gedrungen, wo schließlich seine Großmutter, Königin Victoria, regiert.«

Clara nickte. »Allerdings hält Seine Majestät Kameradschaft und militärische Bande noch höher als jeden Titel«, wusste sie zu berichten. »Die innige Verbundenheit, die unser Vater zu seinem Stallmeister und ehemaligen Kampfgefährten Theo Paas empfindet, hatte ihn einlenken lassen. Paas hat Papa nicht nur im Krieg treu gedient, sondern auch einige Jahre danach bei einem Jagdunfall das Leben gerettet. Dass die einzige Tochter dieses tapferen Mannes die zukünftige Gräfin von Scheweney werden soll, ist also vom Kaiser höchstpersönlich abgesegnet.«

Richard neigte mitfühlend den Kopf. »Und gewiss werden einige adelige Bekannte auf den Sommergesellschaften und Bällen immer noch hinter vorgehaltener Hand über die Verbindung zwischen Ihrem Bruder und einer Stallmeistertochter flüstern?«

Obwohl sie ihn deutlich auf ihrer Seite spürte, konnte Clara nur beklommen nicken.

Er seufzte.

»Darin unterscheiden sich unsere Heimatländer wirklich nicht. Schon als kleiner Junge in England habe ich oft empfunden, wie ungerecht es war, dass ich meine Spielkameraden nicht immer selbst aussuchen durfte. Die Jungs der Pächter waren meinen Eltern lange nicht so recht wie die Söhne adeliger Familien. Erst als ich älter wurde und aufs College ging, zählte auch bei ihnen mehr Wissen und Fleiß als die Herkunft. Und so durfte ich meine Freunde auch unter Bürgerlichen wählen.«

Sie sahen einander an, beide mit einem leichten Lächeln im Gesicht, da sie beide die Enge der Adelskreise kannten und sich dadurch verbunden fühlten.

Doch dann kam Clara in den Sinn, dass nicht nur fehlende adelige Herkunft eine Verbindung unmöglich machen konnte. Das konnte auch geschehen durch eine alte Fehde zwischen den Familien zweier Menschen, die kürzlich neue Nahrung erhalten hatte.

Der Gedanke verwirrte sie, und so plapperte sie hastig heraus: »Umso herzlicheren Dank für Ihre Worte, Baron. Ich kann Marie gleich davon berichten. Sie und ich wollen Luise beim Packen helfen. Am Wochenanfang beginnt das Studium meiner Schwester in Hannover.«

»Wie aufregend! Dann werden wir demnächst nicht weit entfernt die erste Tierärztin haben, die ich je kennengelernt habe«, erwiderte Richard.

»Oh, bis sie Doktorin ist, wird freilich ein bisschen Zeit vergehen. Das Studium ist anspruchsvoll. Aber ich zweifle nicht daran, dass Luise es mit Bravour meistert«, antwortete sie. Und nun lächelte auch er wieder und schwang seinen Hut in die Richtung, in die sie unterwegs war. »Dann will ich Sie nicht aufhalten, Komtess. Sicher haben Sie später noch das eine oder andere vorzubereiten für morgen?«

Verblüfft starrte sie ihn an. Überzogen sich da seine Wangen tatsächlich erneut mit einer leichten Röte?

»Nun, ich sagte Ihnen ja, dass ich lange im Postamt war«, erklärte Richard.

Und Clara verstand. Der Postbeamte Herr Pohl und seine klatschsüchtige Ehefrau hatten gewiss die Gelegenheit genutzt, nicht nur die neuesten Gerüchte mitzuteilen, sondern auch von Dingen geplaudert, die sich morgen zum zweiundzwanzigsten Mal jähren würden.

»Oh, ich feiere meinen Geburtstag nicht mit einem großen Fest. Es gibt also nichts vorzubereiten«, sagte sie verlegen, während Richard sie weiter betrachtete. »Nur die Familie wird da sein. Und ich erwarte ein paar Freundinnen.«

»Umso schöner. Die kleinen Feiern sind mir persönlich stets die liebsten«, antwortete er. »Dann auf bald!« Er wollte seinen Hut ziehen, stellte fest, dass er ihn bereits in der Hand hielt und vollführte beim Aufsetzen eine ulkige Geste, die Clara ein leises Lachen entlockte.

Von dieser Heiterkeit ermutigt, waren ihr die Worte befreit entschlüpft, ehe sie noch recht nachgedacht hatte: »Vielleicht begegnen wir uns ja wieder einmal bei unseren Ausritten?«, hörte sie sich sagen.

Richards Augen weiteten sich kurz. Dann begannen sie zu strahlen, und er antwortete ohne Zögern: »Sehr gerne, Komtess. Wenn Sie es auch möchten, trotz … allem. Ich jedenfalls habe unsere Gespräche vermisst.«

»Ich auch«, sagte Clara rasch.

Sie lächelten sich an. Ein Moment, der ganz frei war von aller Scheu und aller Last der alten wie auch der jungen Vergangenheit.

Sie nickten einander noch einmal zu, ritten aneinander vorbei, und nach der Biegung war er ihren Blicken entschwunden.

Ihr Herz fühlte sich so leicht und weit an wie schon lange nicht mehr.

Wenn Sie es auch möchten, hatte er gesagt. Was doch so viel bedeutete wie, dass er sie wiedersehen wollte. Sie würden also ihre unregelmäßigen Treffen wieder aufnehmen. Mit flattrigem Gefühl in der Brust stellte Clara fest, dass dies das Schönste war, was sie sich zu ihrem morgigen Geburtstag wünschen konnte.

Zuerst aber würde sie nun zur Villa Schwalbe reiten, um dort Luise und Marie zu treffen. Sie hatte den Stunden bei ihrer Schwester entgegengefiebert, denn seitdem Luise mit ihrem Max vor zwei Wochen in ihr neues Zuhause gezogen war, sahen sie sich nicht mehr täglich. Clara hätte nie gedacht, dass sie ihre Schwester derart vermissen würde. Schließlich trennte sie nur ein zwanzigminütiger Ritt. Und doch fehlten ihr die gemeinsamen Abendstunden, das Plaudern, Luises Heiterkeit und, ja, sogar ihre Temperamentsausbrüche.

Warum nur hatte sie nie die gemeinsamen Stunden genutzt, um Luise von den Treffen mit Richard von Thebe zu erzählen? Zunächst war ihr Kennenlernen mit ihm ihr unwichtig erschienen. Doch schon bald hatte sie begriffen, dass es das Gegenteil für sie bedeutete: Jedes weitere Treffen mit dem jungen Erben des Nachbarguts hatte ihr nach und nach vor Augen geführt, wie wichtig diese Begegnungen ihr waren. Und da hatte sie bereits den Moment verpasst gehabt, in dem sie harmlos und wie nebenbei von ihrer Bekanntschaft hätte erzählen können. Luise hätte gewiss aufgemerkt. Hätte womöglich in Claras Handeln etwas hineingelesen, von dem Clara selbst erst viel später begriffen hatte, dass es in ihr wohnte: ein tiefes Gefühl für Richard von Thebe. Das aus vielerlei Gründen nicht sein durfte.

Diese Heimlichkeit vor ihrer Schwester fühlte sich nun gar nicht mehr richtig an. Sollte Clara wirklich einen Nachmittag mit Schwester und bester Freundin verbringen, ohne über das reden zu können, was sie tief innen so sehr bewegte? Dieser Gedanke setzte ihr so zu, dass sie ihm gern entkommen wollte.

Clara ließ Tessa antraben. Und weil ihr auch dies nicht ausreichte, um ihrer Anspannung Platz zu machen, fiel sie schließlich in Galopp.

Marie 2

Marie Paas verließ das Pförtnerhaus, das sie mit ihrem Vater Theo Paas, dem Stallmeister auf Gut Friesenhain, bewohnte, und lief raschen Schrittes hinüber zum Tor, das in den Innenbereich des Gestüts führte.

Der Vormittag war fast dahin, und so musste sie gegen die kräftigen Sonnenstrahlen anblinzeln, als sie aus dem Durchgang in den Hof trat.

Kurz blieb sie stehen und sah sich um. Wo in den Wintermonaten an die hundert Hannoveraner und das Dutzend Friesen des Gestüts neugierig aus den Boxen schauten und bei Maries Anblick zur Begrüßung wieherten, standen nun die Türen weit offen. Die Pferde liefen allesamt draußen auf den Koppeln. Aus den Stallungen drangen die Stimmen der Burschen zu ihr, die dabei waren, die Wände zu kalken. Das war bitter nötig, nachdem der Brand etliche Stellen zerstört oder verkohlt hatte. Nun würden auch die letzten Zeugen des grauenvollen Ereignisses verschwinden – wunderbar!

Hier war Marie groß geworden. Hier war sie es gewohnt, mit den Pferden zu arbeiten. Und doch hatte sich in den letzten drei Monaten schrecklich viel verändert. Seit genau dem Tag, an dem ihr Wilhelm – sie musste lächeln, wie immer, wenn ihr klar wurde, dass sie ihn nun so nennen durfte – um ihre Hand angehalten hatte. Wilhelm von Scheweney, der junge Graf und Herr über das Gestüt.

Und jedes Mal, wenn sie daran dachte, klopfte ihr Herz ein wenig schneller. Was störten sie also die Veränderungen, an die sie sich nur nach und nach gewöhnen konnte.

Sie blickte an sich herab. Zum Beispiel trug sie nun nicht nur ihre Reithosen, sondern darüber auch einen weiten Rock, der zumindest schicklich kaschieren würde, dass die zukünftige Gräfin von Scheweney nicht im Damensattel ritt.

Ja, bald würde sie selbst Herrin über Friesenhain sein.

Als sie zur Südseite des gewaltigen Gebäudes hinübersah, das den Innenhof umschloss, stieg ein andächtiges Kribbeln in ihr auf.

Das zweistöckige Herrenhaus sah mit seiner weißen Front, dem roten Dach samt der vielen Schornsteine und der im Mittagslicht glänzenden Fenster auch von der Rückseite her beeindruckend aus.

Geradeaus lag die Freitreppe hinauf zum doppelflügeligen Hintereingang, den Marie nun ansteuerte.

Ehe Marie sie erreichte, fiel ihr Blick auf die vertraute Tür ein paar Meter weiter östlich, zu der wiederum wenige Stufen hinabführten.

Unten im Gesindetrakt ging Marie ebenfalls ein und aus, schwatzte in der Küche mit der lieben Frau Rühl, die ihr die früh verstorbene Mutter ersetzt hatte, oder plauderte mit den anderen Dienstboten.

Wie seltsam es für sie alle gewesen war, als plötzlich feststand, dass Mariechen, die Tochter vom Stallmeister, schon im nächsten Jahr ihre Herrin sein würde.

Was hatte es für ein Durcheinander gegeben an verlegenen Knicksen und gestotterten förmlichen Ansprachen, bis Marie ihren Lieben erklärt hatte, sie wolle nicht, dass sich auch nur das Geringste im Umgang zwischen ihnen ändere.

Bei dem Gedanken daran zupfte ein Schmunzeln an ihren Mundwinkeln.

Und in diesem Moment wurde die Tür von innen geöffnet.

Eine junge Frau mit pechschwarzem Haar, leuchtend grauen Augen und dunklem Zofenkleid trat heraus.

»Ida«, rief Marie ihr leise zu, und der Kopf der jungen Frau flog herum. Als sie Marie hier stehen sah, legte sie den Kopf schief. Doch Marie kam ihr zuvor: »Wie du siehst, war ich zu zappelig und habe mir schon selbst geholfen.«

Ida schüttelte lächelnd den Kopf und kam ihr ein paar Schritte entgegen. »Schon wieder? Wie soll ich denn meiner Arbeit nachgehen, wenn du dich beständig selbst umkleidest? Ich scheue mich ja fast, meinen Lohn zu nehmen«, antwortete sie mit zu einem Flüstern gesenkter Stimme.

Marie sah sie zerknirscht an. Dies war auch so eine Veränderung, die seit ihrer Verlobung mit Wilhelm vorgegangen war: Ida Neumann, die seit Mai auf Friesenhain lebte und als ihre Zofe galt, war nun für sie und ihre Garderobe zuständig. Marie, die sich ihr Leben lang der Dienerschaft und nicht den Herrschaften zugerechnet hatte, erschien es jedoch immer noch sehr merkwürdig, im Pförtnerhaus abzuwarten, bis sie Hilfe beim Wechsel ihrer Kleider bekam. Schließlich empfand sie Ida gegenüber vielmehr eine beständig wachsende Freundschaft denn Herrinnengehabe. Von ihrem freundlichen klugen Wesen abgesehen, hatte Ida vor drei Monaten dabei geholfen, eine grauenvolle Intrige gegen Wilhelm aufzuklären, die womöglich zum Tod des jungen Grafen geführt hätte. Wie sollte Marie also auf ein Sie und förmliche Ansprache bestehen? Es war ihr schon unangenehm genug, dass Ida ihre gewohnte Arbeit verrichtete.

Doch während Graf und Gräfin ihr und Paas zuliebe zugestimmt hatten, dass Marie bis zur Hochzeit im nächsten Frühjahr weiterhin mit Paas im Pförtnerhaus lebte, hatten sie auf den Umstand einer Zofe gedrungen. So hatte Marie sich gefügt.

»Ich gelobe Besserung!«, wisperte sie zurück. »Und heute vor dem Frühstück habe ich doch brav stillgehalten. Aber in Hose und Reitrock, die ich nun brauche, kann ich wirklich schnell allein schlüpfen.«

Wieder schüttelte Ida den Kopf. »Sie sind unverbesserlich, gnädiges Fräulein.« Scherzhalber fiel sie in die förmliche Anrede und zwinkerte Marie zu. »Aber erfreulicherweise habe ich noch Änderungen an dem grünen Ausgehkleid zu tun. So kann ich meine Stellung hier zumindest ein wenig rechtfertigen.« Sie zwinkerte Marie zu.

Marie grinste, winkte Ida zu und lief dann rasch die Treppe hinauf, um zur oberen Tür hineinzuschlüpfen.

Während sie eintrat und durch den Flur in Richtung Halle ging, an dessen gegenüberliegenden Seiten sich die Türen zum Arbeitszimmer des Grafen und die Treppe der Dienstboten befanden, überlegte sie, von welchem Kleid Ida gesprochen hatte. Mittlerweile besaß sie so viele, dass sie bisweilen durcheinandergeriet. Ihr Leben stand seit der Verlobung tatsächlich kopf.

Manchmal konnte sie es selbst noch nicht fassen. Konnte es wirklich sein, dass ihr heimlicher Traum in Erfüllung gegangen war? Wilhelm erwiderte ihre Gefühle? Er liebte sie ebenso wie sie ihn?

Falls sie wirklich an dieser Tatsache gezweifelt hätte, wären ihre Bedenken in dem Moment zerstreut worden, in dem sie um die Ecke in die prächtige Eingangshalle Friesenhains bog.

Das Vestibül war beeindruckend, denn die hohe Decke, die bis hinauf zum Dach reichte, wurde von vier schlanken weißen Marmorsäulen gestützt. Neben jeder dieser Säulen stand eine mannsgroße Palme in einem riesigen Kübel auf den glänzenden blau-weißen Fliesen. Von der Decke hing ein gewaltiger Kronleuchter, kostbare Kandelaber an den Wänden über wertvollen Tischchen samt den darauf platzierten Blumenvasen und Antiquitäten.

Gegenüber dem verglasten Windfang an der Eingangstür führte eine breite, mit Teppich ausgelegte Treppe hinauf zu den Räumlichkeiten der Herrschaften.

Und ebendiese Treppe kam soeben Wilhelm herunter. Die Fingerspitzen der einen Hand ließ er über das massive Geländer gleiten, während er in der anderen den Stock hielt, ohne den er seit seinem Unfall niemals unterwegs war.

Eng bei ihm schlurfte der schwarze Doggenrüde Gimpel, der nun leise blaffte, als er Marie hier stehen sah.

Wilhelms Gesicht leuchtete auf, als sei ein Strahl des Sommertages draußen darauf gefallen. »Da bist du ja schon«, sagte er mit in ihre Richtung gewandtem Kopf. Auch wenn er sie seit dem schrecklichen Brand auf Friesenhain vor drei Monaten nicht mehr sehen konnte, fehlte er nie, wenn es darum ging, sie in einem Raum auszumachen, als habe er ein untrügliches Gespür für ihre Anwesenheit.

Seine Freude bei ihrem Auftauchen wärmte Marie von innen, und sie durchquerte langsam die Halle, um ihm entgegenzugehen.

»Woher weißt du, dass ich es bin?«, wollte sie wissen, während sie zusah, wie ihr Verlobter sich mithilfe des Treppengeländers und des Stocks die letzten Stufen zu ihr herunterbewegte. Natürlich hätte sie ihm helfen können. Doch sie wusste, dass sein Ehrgeiz darin lag, sich möglichst ohne fremde Anleitung zurechtzufinden.

»Woher ich das weiß? Nun … Gimpel«, antwortete Wilhelm ihr, nachdem er den Fuß der Treppe erreicht hatte, und tastete mit der nun freien Hand nach dem Kopf des großen Rüden. Der wedelte vor Freude wild mit dem Schwanz. »Er hat für jeden einen eigenen Blaffer. Früher ist mir das nicht aufgefallen, aber nun, da ich mich auf meine Ohren verlassen muss, ist es ganz deutlich. Bei Luise kann er kaum an sich halten vor Begeisterung, weil sie ihn immer zu Unsinn anstiftet, den er liebt. Bei Clara klingt er pflichtbewusst, so wie sie es selbst ist. Bei Vater wie ein Kamerad. Und bei Mutter fragend, als wolle er wissen, wo diese flauschige weiße Katze ist, die sie immer begleitet. Ich habe nämlich den Verdacht, dass er heimlich in Hummeltje verliebt ist.«

Über diese Vorstellung musste Marie lachen. Ihr war leicht ums Herz. Schon vorhin beim Frühstück hatte sie gemerkt: Wilhelm hatte heute einen seiner guten Tage, an denen er in allen Winkeln versteckte Geschichten lauern spürte. Geschichten, die er nur zu gern ausspann und sich darin übte, sie mit seiner neuen Schreibmaschine aufzuschreiben. Von diesen guten Tagen gab es seit ihrer Verlobung viele.

Nach dem schrecklichen Unfall hatte es erst düster für ihn ausgesehen. Doch Maries unermüdlicher Einsatz für den jungen Grafen hatte ihm aus seiner Lethargie herausgeholfen.

Und dann gab es ja auch den Hoffnungsschimmer am Horizont, denn bald stand der Untersuchungstermin bei jenem Arzt in Osnabrück an, der eine mögliche Operation angeboten hatte.

Doch ob diese erfolgreich sein würde, stand noch in Zweifel.

Und so gab es auch jene anderen Tage. Tage, an denen Wilhelm mit seinem Schicksal haderte, sich sein Augenlicht sehnlichst zurückwünschte und alle Hoffnung anzweifelte. Manchmal konnte seine Stimmung auch von einer auf die andere Minute kippen und ihn mit Dunkelheit fluten. Dann brach jene Verzweiflung eines jungen Mannes hervor, der sich seines gesunden, sehenden Lebens beraubt fühlte. Aber an diese finsteren Stunden wollte Marie jetzt nicht denken. Sie zauste Gimpel die Schlappohren, und er ließ es sich mit Begeisterung gefallen.

»Und wie klingt er, wenn er mich ankündigt?«, erkundigte sie sich neugierig.

Wilhelm streckte die Hände nach ihr aus. Er ertastete ihre Schulter und zog sie an sich. Dies waren die Momente, von denen Marie träumte, wenn sie abends in ihrer Kammer im Pförtnerhaus im Bett lag. Doch nun erfüllte die Geste Marie mit Verlegenheit. Jeden Moment könnte sich eine der Türen öffnen, die des Salons oder der Bibliothek, der Graf könnte aus seinem Arbeitszimmer, die Gräfin auf der Empore erscheinen. Und doch war Wilhelms Nähe so verlockend, dass sie sich an ihn sinken ließ und ihn gleichermaßen an sich drückte.

»Da ist deine Liebste!, sagt Gimpel dann. Die wunderbarste Frau der Welt!«, raunte er ihr zu.

Eine prickelnde Gänsehaut kroch Maries Nacken hinauf.

»Gimpel ist wirklich ein ausnehmend kluger Hund«, erwiderte sie leise, während sie Wilhelms Lippen an ihrer Schläfe spürte.

»Das ist er. Ich werde ihn demnächst wohl beim Verein für Sanitätshunde anmelden können«, erwiderte er, und sie sah ihn schmunzeln. »Im Gegensatz zu Neumann kann ich ihm nicht befehlen, mich allein durchs Haus gehen zu lassen. Er besteht darauf, mich zu begleiten. Allerdings läuft er mir dabei häufiger im Weg herum, als dass er mir andere Hindernisse anzeigt.« Langsam lösten sie sich voneinander, und Wilhelm strich ihr zart mit der Fingerspitze über die Wange.

Emil Neumann, Idas Bruder, war ursprünglich als Kammerdiener für Graf Hermann eingestellt worden. Seit Wilhelms Erblindung hatte es sich jedoch so eingespielt, dass Neumann auch für den jungen Grafen zuständig war und ihm mit allerlei Handreichungen half. So war der junge Mann bald unabkömmlich geworden, und das nicht nur für seine Verlobte, Claras Zofe Agnes.

»Wollen wir dann hinausgehen? Stürmer wartet schon auf dich«, schlug Marie vor. »Und darf ich dir denn behilflich sein?«

Wilhelm griff mit seiner freien Hand nach ihrer. »Ich werde doch die Gelegenheit nicht ausschlagen, mit dir Händchen halten zu können«, antwortete er. Und so verließen sie zu dritt die Halle in Richtung Hintertür. Dort ließ Wilhelm seinen Stock an die Wand gelehnt zurück, denn draußen verließ er sich lieber auf Maries Führung.

Als sie durch den Hof gingen, einige der Stallburschen herübergrüßten und Gimpel eine kurze Visite beim Zwinger der Jagdhunde einlegte, stellte Marie fest, wie viel sicherer Wilhelm sich inzwischen bewegte. Besonders wenn er sie an seiner Seite wusste, würde ein Außenstehender auf den ersten Blick wohl nicht erkennen, dass der junge Graf sein Augenlicht verloren hatte.

Und so gingen sie raschen Schrittes nebeneinander durch das Nordtor hinaus und bogen dahinter rechts ab zum neuen Hengststall und den kleinen Wiesen, die ihn umgaben. Gimpel ließen sie am Außenputzplatz für die Hengste zurück, wohin sie gleich zurückkehren würden, und gingen Hand in Hand weiter.

Sie kamen an den drei Hannoveranerhengsten vorbei, die alle auf ihren einzelnen Koppeln friedlich grasten, dem alten Friesenhengst Donner, der sich gerne noch mal aufführte wie in seinen besten Jahren. Und schließlich war da Stürmer. Der nun Vierjährige hatte beim Geräusch ihrer Stimmen den Kopf gehoben und sah ihnen entgegen.

Seit Luise ihn draußen im Seewald entdeckt und eingefangen hatte, war nun beinahe ein Jahr vergangen. In dieser Zeit hatte der Friesenhengst sich noch deutlich entwickelt, hatte an Muskulatur und Substanz gewonnen. Auch Mähne und Schweif waren gewachsen und wehten in der leichten Sommerbrise.

»Wie sieht er aus?«, wollte Wilhelm in diesem Moment wissen. »Wenn du auf diese Art und Weise den Atem anhältst, muss er gerade besonders schön sein.«

»Oder besonders lustig?«, erwiderte Marie. »Ihm hängen Grashalme aus dem Maul, und er schaut so erwartungsvoll drein, dass die Ohrspitzen sich fast berühren.«

Wilhelm schmunzelte. »Und du hast recht«, sagte er, an Stürmer gewandt. »Marie wird mit dir einen schönen Ausritt unternehmen, und du wirst bei meiner lieben Schwester Luise die hübsche Friesenstute Jeltje treffen.«

Marie prustete. »Das werde ich zu verhindern wissen. Vielleicht will Luise ja wirklich einmal ein Fohlen von den beiden. Aber im Moment hat sie mit ihrem eigenen Nachwuchs bestimmt genug zu tun.«

»Du wirst meine kleine Nichte doch grüßen, wenn du die beiden gleich siehst?«, bat Wilhelm sie schmunzelnd. »Ich bin sicher, sie spürt es, auch wenn sie noch nicht auf der Welt ist.«

»Was macht dich eigentlich so sicher, dass es ein Mädchen wird?«, fragte Marie statt einer Antwort.

Wilhelm zuckte mit den Schultern. »Mit einer Frauenrechtlerin als Mutter und einem Sozialdemokraten als Vater wird das Kind wohl nicht wagen, ein aufmüpfiger, konservativer Bursche zu werden.«

Marie lachte auf und wusste, dass er es liebte, wenn er sie erheiterte. Doch er selbst ließ sich außer einem feinen Zucken seiner Mundwinkel nichts anmerken, sondern tastete mit der Hand über den Pfosten am Gatter.

An dem dafür vorgesehenen Nagel fand er das Halfter samt Führstrick. Dann öffnete er den Riegel und trat in die Koppel hinein.

Aufmerksam sah Stürmer Wilhelm entgegen, wie der mit ausgestreckter, aber abwärts gerichteter Hand auf ihn zukam.

Marie beobachtete das harmonische Zusammenspiel zwischen Mann und Pferd. Wie vorsichtig und doch sicher Wilhelm sich dem Hengst näherte. Und wie Stürmer ihn durch sanftes Schnauben begrüßte, sich genüsslich zwischen den Ohren kraulen ließ und dabei den Kopf senkte, damit Wilhelm das Halfter überziehen konnte.

Bei diesem Anblick spürte Marie, wie ihr Herz sich weitete.

In jener schrecklichen Brandnacht Ende Januar hatte sie die grauenvollsten Ängste um Mann und Pferd ausgestanden. Und so empfand sie in deren Zusammensein stets eine warme Welle der Dankbarkeit, dass sie beide noch da waren. Umso mehr, weil die beiden großes Vertrauen zueinander entwickelt hatten – der Mann, der temperamentvollen Pferden stets mit Vorsicht begegnet war, und der Hengst mit einer ausgeprägten Angst vor fremden Männern.

Auch jetzt folgte Stürmer Wilhelm ohne Zögern. Bei diesem Anblick lächelte Marie unwillkürlich.

Fast schon zu spät merkte sie, dass sie für die beiden das Gatter öffnen sollte. Der Riegel sträubte sich kurz, und sie musste mit beiden Händen kräftig drücken. Ein Moment, in dem sie unaufmerksam war und nicht registrierte, dass Wilhelm auf seinem Kurs zwei volle Schritte zur Seite abgewichen war.

Erst im letzten Moment sah sie ihn im Augenwinkel neben sich auftauchen und konnte noch »Vorsicht!« rufen.

Wilhelm stoppte abrupt. Aber leider nicht rechtzeitig, und so stieß er unsanft mit dem Pfosten zusammen. Ein kurzer Schmerzenslaut und ein »Verflucht!« entfuhr ihm. Prompt erschien ein unwilliges Runzeln auf seiner Stirn unter dem kastanienbraunen Haar.

»Entschuldige, ich war vom klemmenden Riegel abgelenkt. Ich hätte besser aufpassen …«, begann Marie.

Doch Wilhelm schüttelte sofort den Kopf, deutlich ärgerlich über sich selbst. »Das war nicht deine Schuld, Marie. Du bist nicht dafür zuständig, fortwährend auf jeden meiner Schritte zu achten. Ich hätte tasten sollen. Eine Hand habe ich ja frei.« Die, mit der er sich jetzt die schmerzende Seite rieb.

»Zwei Schritte weiter nach links«, lenkte Marie ihn daraufhin. Er befolgte ihre Anweisungen, und diesmal gelangten er und das Pferd ohne weitere Probleme hinaus.

Marie nahm Wilhelms Hand, und sie gingen gemeinsam in Richtung Hengststall. Am Außenputzplatz für die Hengste, der sich neben deren repräsentativem Stall befand, lag immer noch der brave Gimpel genüsslich in der Sonne und klopfte mit dem Schwanz auf den Boden, als sie sich näherten.

Wilhelm sprach nicht. Der kleine Vorfall am Gatter hatte seine heitere Stimmung verfliegen lassen.

Am Putzplatz tastete er nach dem eisernen Ring an der Mauer und band den Strick geschickt dort fest, die Stirn düster umwölkt.

»Mach dir bitte keine Gedanken wegen dieser einen kleinen Situation gerade«, sprach Marie es schließlich an, während sie Stürmers glänzendes Fell mit dem Striegel bearbeitete. Natürlich hätten sie einen der Stallburschen bitten können, diese Arbeit für sie zu übernehmen. Aber sie beide liebten es, sich zusammen um den Hengst zu kümmern, der ihr gemeinsamer Schützling war.

Wilhelm, der die lange, volle Mähne bürstete, gab ein unwilliges Brummen von sich.

»Es war keine kleine Situation«, widersprach er. »Sie hat nur wieder einmal gezeigt, wie fragil meine neu gewonnene, scheinbare Selbstständigkeit ist. Kaum tue ich zwei Schritte vom Weg ab, verletze ich mich selbst. Wie soll ich auf diese Weise das Gut führen? Ja, ich weiß, Vater geht es wieder besser, und er ist fast wieder ganz der Alte. Aber offiziell bin ich nun Friesenhains Eigentümer. Und irgendwann wird Vater die Geschäfte ganz an mich übergeben wollen. Wie soll das gehen?«

Marie hielt im Putzen inne und legte ihre Hand auf seinen Rücken. »Du hast mich, Liebster. Und Clara.«

Wilhelm schüttelte unwillig den Kopf. »Clara ist im heiratsfähigen Alter und wird gewiss unter etlichen Bewerbern auswählen können. Dann zieht sie fort, wer weiß wohin, und ich kann bestenfalls mit ihr korrespondieren.«

Bei diesen Worten stutzte Marie kurz, und ein feiner, scharfer Schmerz durchfuhr sie. Natürlich wusste sie, dass die gleichaltrige Clara nicht immer auf Friesenhain bleiben würde. Sie würde ihrem zukünftigen Ehemann an seinen Heimatort folgen müssen. Doch die Vorstellung vom Verlust ihrer Vertrauten, die womöglich weit wegziehen würde, schien Marie so unerträglich, dass sie sie in der Regel mied. Rasch räusperte sie sich, denn ihr eigener Kummer zu diesem Thema hatte hier und jetzt nichts zu suchen.

»Das steht noch lange nicht an!«, entgegnete sie daher entschiedener, als ihr eigentlich zumute war. »Noch ist Clara hier, bei uns. Und sie versteht sich auf alle Belange des Gestüts beinahe ebenso gut wie euer Vater. Mehr noch, sie ist ganz versessen darauf, dir zu helfen und …«

»Das ist es ja gerade!«, unterbrach Wilhelm sie beinahe verzweifelt. »Ein Gutsherr, der permanent auf Hilfe angewiesen ist? Das ist doch lächerlich!«

»Das ist es nicht, Wilhelm!«, widersprach Marie ihm energisch. »Denk nur an Herrn Lobrecht, den Verleger in Osnabrück. Er ist auf den Rollstuhl angewiesen. Aber hältst du ihn deswegen für einen schlechteren Geschäftsmann? Oder für einen weniger klugen, belesenen Fachmann für gute Bücher?«

Wilhelm ließ ebenfalls die Bürste sinken, die eine Hand immer noch in Stürmers dichter Mähne vergraben.

»Nein«, musste er zugeben. »Natürlich nicht.«

»Ich halte ihn sogar für genial«, setzte Marie hinzu. »Denn er hat gleich die Größe deines ersten, fertigen Manuskripts erkannt, und so wird es noch in diesem Jahr in den Druck gehen. Seine Beine haben damit nicht das Geringste zu tun. Ebenso wenig wie deine Augen mit der Leitung Friesenhains zu tun haben.«

Wilhelm schwieg. Offenbar dachte er über ihre Worte nach.

Marie wollte nicht, dass er erneut Argumente für sein schweres Schicksal finden konnte, und fuhr daher mit ihrem größten fort: »Und vergiss nicht, dass der Termin mit Dr. Benterwerk noch aussteht. Nächste Woche um diese Zeit liegt die Untersuchung gerade hinter dir, und wir wissen, ob eine Operation möglich ist, ob Aussicht auf Erfolg besteht.«

Mit ernstem Gesicht lauschte ihr Verlobter ihren Worten. Dann seufzte er tief. »Ach, Marie, du hast wie immer recht. Ich bin zu ungeduldig, nicht wahr?«

Sie lächelte und berührte seine Hand, die auf Stürmers Hals lag. »Ich finde, du warst bemerkenswert geduldig«, erwiderte sie. »Die Wartezeit von drei Monaten, in denen der Doktor im Ausland unterwegs gewesen ist, war für uns alle schrecklich lang. Aber vielleicht hat er aus Amerika oder sonst wo neue Erkenntnisse zur Augenheilkunde mitgebracht? Und am Ende hat sich das Ausharren gelohnt?«

Durch Wilhelm ging ein Ruck. Ob ihr zuliebe oder weil ihre Worte ihn wirklich überzeugt hatten, hätte sie nicht sagen können. Aber er lächelte leicht, drehte die Hand und verschränkte seine Finger mit ihren.

»Was wäre ich ohne dich?«, fragte er leise.

Und was wäre ich ohne dich?, dachte Marie. Doch die Schwere der Situation ließ sie es nicht aussprechen. Stattdessen feixte sie: »Ein verboten gut aussehender, umschwärmter Junggeselle, der sich vor herumschwirrenden, kichernden jungen Damen aus bestem Hause nicht zu retten wüsste.«

»Was für ein Albtraum!«, antwortete er prompt und mit so unverstelltem Entsetzen, dass sie ehrlich grinsen musste.

Damit ließen sie das Thema vorerst ruhen und fuhren fort, Stürmer zu putzen. Schließlich sattelte Marie den Hengst und legte ihm die Trense an.

An der Aufstiegshilfe hielt sie jedoch noch einmal inne. Zwar sprach Wilhelm nicht mehr darüber, aber es war deutlich, dass ihr Gespräch noch in ihm gärte.

»Möchtest du mich begleiten?«, schlug Marie vor, die es nur schwer ertragen konnte, ihren Liebsten in dieser Stimmung zurückzulassen. »Luise würde sich bestimmt über deinen Besuch freuen.«

Für einen kurzen Moment schienen in Wilhelms Miene diverse Gefühle miteinander zu ringen.

»Das«, sagte er schließlich mit einem etwas schiefen Lächeln, das er gewiss nur ihr zuliebe aufbrachte, »ist ein wirklich lieber Versuch, mich wieder aufzumuntern, meine Marie.«

Sie seufzte. »Du hast mich also durchschaut.«

»Bis auf den Grund deiner blütenreinen Seele«, antwortete er. Dann verbreiterte sich das Lächeln.

»Aber weißt du, so gern ich auch bei dir bin und sosehr ich die Gesellschaft meiner Schwestern schätze«, sagte er, »ein Nachmittag unter Frauen ist wahrscheinlich nicht ganz das Richtige für mich. Zumindest nicht, wenn sie Kleider begutachten und möglichst platzsparend in Koffern verstauen, damit so viele wie möglich hineinpassen.«

Spontan schlang Marie die Arme um seinen Hals und küsste ihn.

Wilhelm erwiderte ihren Kuss zärtlich.

Als sie sich wieder voneinander lösten, murmelte er: »Dies allerdings wäre durchaus das Richtige.«

Wenn es doch nur immer so einfach wäre, überlegte Marie, als sie schließlich in Stürmers Sattel stieg und die Zügel aufnahm.

Sie verkniff sich alle guten Ratschläge, wie Wilhelm sich auf dem Rückweg zum Tor und durch den Hof am besten orientieren sollte, denn sie wusste, dass er es allein schaffen wollte. Und gewiss würde Gimpel ihn leiten. Stattdessen drückte sie noch einmal seine Hand, die er ihr zum Abschied heraufreichte, und ließ Stürmer im Schritt losgehen. Wilhelm blieb an Ort und Stelle stehen, neben sich den großen schwarzen Hund. Marie sah, dass ihr Liebster den Kopf in ihre Richtung gewandt hielt, bis sie schließlich zwischen die Bäume des Parks ritt und er aus ihrem Blick verschwand.

Luise 3

Über dem Teich im kleinen Garten der Villa Schwalbe kreisten Libellen. Luise, mit einer Hand auf ihrem inzwischen schon deutlich gerundeten Leib, stand am Rand des Idylls und sah ihnen verzaubert zu. Mit glitzernden Flügeln schwirrten die Insekten um die hohen Gräser, setzten sich kurz auf die Blüten der rosa leuchtenden Seerosen und surrten dann weiter hinüber in den Gemüsegarten.

Dort war die Küchenmagd Frieda gerade dabei, das Gemüse für das Abendessen in eine große Emailleschüssel zu sammeln. Das Mädchen mit dem gepunkteten Kopftuch hatte Luise in ihrer kleinen Nische am Teich noch nicht bemerkt und summte während der Arbeit leise vor sich hin.

Was für ein friedlicher Moment im Garten der Schwalbenvilla. Dieser kleine Spitzname ließ Luise wieder einmal schmunzeln. Der Erbauer des doppelstöckigen Sandsteinhauses, Gottfried Schwalbe, hatte es nicht nur am Fuße eines sanften Hügels gebettet, sondern dem Haus auch seinen Namen gegeben, den Luise und Max bereits ein wenig abgewandelt hatten. Schwalbenvilla passte wunderbar, denn so repräsentativ das Gebäude mit seiner auf hohen Säulen überdachten Terrasse nach vorn auch wirken mochte, so heimelig empfand Luise die Rückseite des Hauses mit seinem Garten und dem angrenzenden Stall.

Es war lang nicht so herrschaftlich wie Gut Friesenhain. Doch Luise liebte an ihrem neuen Zuhause gerade jenes Gefühl von Überschaubarkeit und Gemütlichkeit.

Vom Haus her näherten sich jetzt über den Kiesweg Schritte. Luise wandte kurz den Kopf und sah Max auf sich zukommen. Wie immer strahlte er Selbstbewusstsein und eine gewisse Forschheit aus. Sogar seinem flotten Gang war anzusehen, was ihn in seinem Leben bewegte. Dass er zum einen mit seiner Schwester Paula zusammen eine große Tapetenmanufaktur betrieb. Dass er zum anderen aber auch als kritischer Journalist seinen Glauben an die Sozialdemokratie und den Kampf für die Frauenrechte energisch vertrat.

Luise drehte den Kopf wieder fort und wartete lächelnd, bis das Knirschen der Kiesel dicht hinter ihr verklang.

»Hier bist du also«, sagte ihr Liebster leise und schob seine Hände zwischen ihren Armen und dem Körper hindurch, um sie vorn über Luises Bauch sanft zu schließen. »Geht es dir gut?«

Über seinen besorgten Tonfall musste Luise schmunzeln. So selbstbewusst Max in allen anderen Lebenslagen war, die Vorstellung des in seiner geliebten Frau heranwachsenden Kindes und der Gedanke, dass er bald Vater werden würde, waren in dieser Hinsicht sein wunder Punkt. Wann immer es darum ging, wurde er weich wie Butter.

In seiner Umarmung drehte sie sich herum und schmiegte ihr Gesicht an seinen Hals.

»Ganz hervorragend«, antwortete sie. »Mir war nur nach ein wenig Stille und Einsamkeit, bevor der Nachmittag mit Clara und Marie in ununterbrochenes Geschnatter übergeht.«

»Ich dachte, das liebst du?«, erwiderte er bestürzt.

Luise lachte leise. »Das tue ich auch. Aber es ist umso schöner, wenn ich vorher ein wenig dieses kleine Paradies genießen kann. Ist es nicht wunderschön hier?« Eng umschlungen sahen sie gemeinsam über den kleinen Teich mit seinen blühenden Pflanzen am Rande, aus deren Schutz nun auch eine Entenfamilie geschwommen kam. Die Eltern begleiteten sieben kleine Küken, die piepsend um sie herumpaddelten. »Weißt du noch, wie wir die Villa im Winter besichtigt haben?«

Sie konnte Max’ Brummen in seiner Brust spüren. »Und ob ich das noch weiß. Dein Vater wollte uns das Haus schenken. Und wir hatten uns eigentlich in den Kopf gesetzt, ein Stadtleben zu führen. Aber dann hast du dich vom Fleck weg verliebt. Besonders in den Garten mit dem Teich, nicht wahr? Als du oben am Fenster standest und hinuntersahst. Obwohl alles unter einer Schneedecke begraben lag, wusstest du, wie schön es sein würde.«

»Und hatte ich recht?«, fragte sie keck.

»Wie immer«, antwortete er klug, und sie knuffte ihn liebevoll in die Seite.

»Willst du schon los?«, erkundigte sie sich dann. »Dann wirst du Clara und Marie verpassen.« Er trug Hemd und Anzug mit sorgfältig gebundener Krawatte. Das so oft zerstrubbelte dunkelblonde Haar war sorgfältig gekämmt unter einem leichten Sommerhut verborgen, und auch sein Schnäuzer war gestutzt. Drüben am Stall spannte Ludwig gerade den Einspänner an. Den nutzte Max meist, um zur Tapetenmanufaktur nach Ibbenbüren hineinzufahren.

»Ja, ich muss leider. Paula ist gewiss schon da. Ein Großabnehmer aus Frankfurt will sich ihre neuen Muster für die nächste Kollektion anschauen.« Max’ frauenrechtsbewegte Schwester war die Künstlerin unter den Geschwistern. Luise bewunderte sie für ihr Talent, sich immer wieder neue, frische und faszinierende Muster für die Tapeten auszudenken. Max hingegen war für den Verkauf zuständig.

»Ihr werdet ihn natürlich begeistern«, beschied Luise überzeugt. Dafür bekam sie einen liebevollen Kuss, den sie nur zu gern erwiderte. Wie konnte es sein, dass sie von der festen Weiche seiner Lippen, dem leichten Kratzen des Schnäuzers, seinem würzigen, ihm so eigenen Duft einfach nie genug bekommen konnte?

Als sie sich voneinander lösten, schob Max sie ein kleines Stückchen von sich, sodass er ihr ins Gesicht blicken konnte. Er runzelte die Stirn.

»Und war die Sehnsucht nach etwas Stille vor dem Sturm der einzige Grund, aus dem du hier draußen die Einsamkeit gesucht hast? Oder geht dir etwas im Kopf herum, jetzt, wo der Einstieg ins Studium ansteht?«, fragte er behutsam.

War dies der Mann, der sie bei ihrem Kennenlernen im letzten Jahr durch seine spitzen Bemerkungen stets so in Rage versetzen konnte? Diese Feinfühligkeit hatte sie in ihm damals nicht erwartet. Erst als sie ihn näher kennengelernt hatte, entdeckte sie, dass er die Fähigkeit besaß, ihre Gedanken zu erraten.

»Du hast recht«, antwortete sie leise. »Es sind nur noch zwei Tage, und dann beginnt das, wofür ich so hart gekämpft habe. Aber wie werden meine Kommilitonen und auch die Dozenten reagieren, wenn sie mich nun so sehen?« Bedeutungsvoll strich sie sich über ihren Bauch, der sich unter ihrem hellblauen Sommerkleid wölbte.

»Die jungen Männer werden eine wunderschöne und wild entschlossene Frau sehen, die ihnen allen voraus sein wird. Denn du wirst es ihnen zeigen!«, erwiderte Max aus tiefster Überzeugung und küsste ihre Nasenspitze. »Und die Dozenten werden durch Professor Dammann, dem du geschrieben hast, bereits unterrichtet sein und sich Bemerkungen gewiss verkneifen. Wenn der Rektor in einer Schwangerschaft kein Hindernis sieht, warum sollten sie es dann?«

Luise lauschte seinen Worten und forschte in sich nach diesem kleinen Widerspruch, den sie empfand.

»Was ist, wenn sie mich einfach nur aus dem Grund akzeptieren, weil sie zuschauen wollen, wie ich scheitere?«, fragte sie. Denn dies war der Gedanke, der ihr in der letzten Zeit immer wieder gekommen war.

»Dagegen gibt es ein probates Mittel«, antwortete ihr Mann.

Luise spürte, wie ihre Mundwinkel sich hoben, und gleichzeitig sagten sie: »Nicht scheitern!«

Sie mussten lachen. Und dann zog Max sie erneut in eine enge Umarmung und raunte ihr ins Ohr: »Ich sage dir das nicht, weil du meine wunderbare Frau bist und ich dich mehr als alles liebe. Ich sage es dir, weil ich davon vollkommen überzeugt bin: Du wirst es schaffen! Du wirst das Studium meistern und hier im Tecklenburger Land als Tierärztin praktizieren.«

Luise hob den Kopf.

Max, der glaubte, sie wolle noch einmal Einspruch erheben, war schon im Begriff, ihre Lippen mit einem erneuten Kuss zu verschließen. Doch Luises Ohren hatten auf der Zufahrt Hufschlag vernommen.

»Da kommen sie!«, rief sie. Rasch wand sie sich aus Max’ Umarmung. Und ehe er reagieren konnte, rannte sie bereits mit flatterndem Rock den Kiesweg entlang zur Gartenpforte an der Seite des Wohnhauses. Sie kam an der überraschten Frieda mit der Gemüseschüssel vorbei, die hastig zur Seite sprang und über ihre ungestüme Herrin kicherte.

»Gib acht! Nicht so eilig!«, rief Max hinter ihr besorgt, wie so oft in der letzten Zeit, wenn sie hierhin und dorthin flatterte, wie es ihre Art war.

Doch Luise lachte nur und lief weiter, so schnell sie konnte. Sie hatte Clara und Luise ein paar Tage nicht gesehen, und obwohl es nach dem Umzug hierher im Haus noch viel zu tun gab, von Langeweile also keine Spur, hatte sie die beiden bereits schrecklich vermisst.

Ein weißes und ein schwarzes Pferd schritten gerade nebeneinander die letzten Meter aufs Haus zu. Schwer atmend erreichte Luise die Pforte, riss sie auf und stürzte hinaus.

»Clara!«, rief sie und winkte ihrer Schwester zu. »Marie!«

Sie griff nach den Zügeln der Schimmelstute ihrer Schwester und liebkoste den Pferdehals. »Und natürlich die wunderbare Tessa«, säuselte sie dabei.

Daraufhin wieherte Friesenhengst Stürmer, als wolle er sich beschweren, nicht auch genannt zu werden, und sie alle drei mussten darüber lachen.

»Wir haben uns oben auf dem Hügel zufällig getroffen«, erzählte Marie, die sich bereits aus dem Sattel schwang. Als ihr weiter Rock dabei hochschwang, sah Luise, dass die Freundin wie meist beim Reiten Hosen trug. Schließlich hatte ihre Arbeit auf Friesenhain schon immer im Bereiten der Pferde für die Kavallerie bestanden, und das konnte nicht im Damensattel getan werden.

»Getroffen? Seid ihr denn nicht zusammen losgeritten?«, erkundigte Luise sich verwundert.

Clara schüttelte den Kopf. »Ich war noch bei den Reuben-Mädchen. Und auf dem weiteren Weg hierher habe ich …« Sie brach abrupt ab, und eine feine Röte überzog ihre Wangen. Warum wirkte sie nun so verlegen?

Ehe Luise um Tessa herumgehen und ihrer Schwester beim Absteigen behilflich sein konnte, war auch Max zur Stelle. Den Hut, der ihm beim schnellen Lauf wohl abhandengekommen war, trug er nun in der Hand, und seine sorgsam gekämmte Frisur war durcheinandergeraten.

»Ich hätte wissen müssen, dass nichts etwas daran ändern wird, was für ein Wirbelwind du bist«, schnaufte er zu Luise hin und reichte seiner Schwägerin die freie Hand. »Gerade noch stehen wir in trauter Zweisamkeit im hinteren Garten. Und schon spurtet sie los, weil sie eure Pferde auf dem Zuweg gehört hat. Durch nichts aufzuhalten!« Er schüttelte den Kopf, seine Miene zwischen Empörung und Amüsement schwankend.

»Das hätte ich dir sagen können«, bemerkte Clara und klopfte den Rock ihres Reitkostüms ab, auf dem sich weiße Pferdehaare gesammelt hatten.