Hadewych / Dominique - Johann van Rossum - E-Book

Hadewych / Dominique E-Book

Johann van Rossum

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Beschreibung

Hadewych ist Biologielehrerin an einem Lyzeum in Breda; sie lernt das Bogenschießen kennen und entpuppt sich als ein Naturtalent. Sie ist nicht nur eine hervorragende Bogenschützin, sondern auch eine gute Sportkletterin, die sich mit den Besten messen kann. Dominique ist eine Regressionstherapeutin mit einer Leidenschaft für die Jagd. Nach dem Mord an ihrem Ehemann flieht sie nach Frankreich, wo sie bei einer Freundin Unterschlupf findet.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

1

Ich weiß nicht, wie schnell ich zur Baronielaan fahren soll, um die Neuigkeit zu erzählen. Die Motorhaube vom Defender steht auf, der stolze Besitzer des Geländewagens wird nicht weit sein.

Ich erkenne die abgetragenen Jeans und die alten Turnschuhe; wenigstens hat sich der Herr die Mühe gemacht, seine ordentliche Kleidung auszuziehen, bevor er mit der Wartung begann.

Zwei Beine ragen unter der Karosserie hervor; von dem nicht sichtbaren Teil des Körpers des Geschichtslehrers kann ich inzwischen träumen. Wir haben vor zwei Jahren geheiratet.

Wir sind seit mehr als einem Jahrzehnt Kollegen am Breda Lyzeum. Ich darf dort Biologie unterrichten. Mein liebevoller Mann ist zweifellos der leidenschaftlichste Lehrer an unserer Schule; seine Schüler tragen ihn auf Händen.

Er macht aus jeder Unterrichtsstunde ein Wissensfestchen; er verkauft sein Geschichtsfach wie ein Standbetreiber auf dem Wochenmarkt.

Die Begeisterung, mit der es ihm gelingt, die Schüler für historische Themen zu gewinnen, ist geradezu beneidenswert. Bei einer Gelegenheit protestierten Schüler bei der Schulleitung, als der Geschichtsunterricht mehrmals hinter-einander wichtigeren Themen weichen musste.

Er hat 'etwas Besonderes' an sich. Das lange, zu einem Pferdeschwanz gebundene Haar verleiht ihm nicht gerade das Aussehen, das man von einem Lehrer an einem renommierten Lyzeum erwarten würde. Er schwärmt von seinem klassischen Landrover Defender 110 und kann nicht aufhören, über die Leistung des Fünfzylinder-Dieselmotors mit einhundertfünfundzwanzig Pferdestärken unter der jetzt geöffneten Motorhaube zu sprechen. Der Defender muss sich die Zuneigung mit seinem Rhodesian Ridgeback Kibwana, einem südafrikanischen Jagdhund, teilen, der außerhalb der Schulzeit sein ständiger Begleiter ist. Wann immer möglich, ist Kibwana dort, wo er ist.

Für mich ist mein Ehepartner der hübscheste und liebste Mensch, der je in mein Leben getreten ist. Wir wohnen in einer großen Villa an der vornehmen Baronielaan, die wir uns mit meiner Schwägerin Freya teilen. Wir leben im Haus ihrer Kindheit.

Als ihre Eltern vor acht Jahren kurz nacheinander starben, beschlossen die Geschwister, im Haus zu bleiben. Mein Liebster hat die ehemaligen Praxisräume seiner Mutter, der Hausärztin, und die seines Vaters, des Psychiaters, zu Wohnräumen umbauen lassen, und im hinteren Anbau befindet sich die Hausbibliothek mit der Büchersammlung der Großeltern, der Eltern und dem selbst angeschafften Lesestoff. Hier steht auch das Klavier meiner Schwiegermutter.

Freya ist bildende Künstlerin; sie hat den Wohnbereich im zweiten Stock in ein wunderschönes Atelier umgewandelt und einen bescheidenen Wohnbereich beibehalten. Im dritten Stock haben wir einen gemeinsamen Fitnessraum und eine Sauna.

„Ich fange mit Bogenschießen an!“ platzte ich sofort heraus.

Unter dem Geländewagen ist ein undeutliches Geräusch zu hören. Zwei ehemals saubere Hände fassen die Stahlstoßstange des Fahrzeugs und der Hobbymechaniker rutscht unter dem Auto auf der Garagentorschwelle hervor. Bei dem Versuch, sich aufzusetzen, verheddert sich sein Pferdeschwanz in dem gelben Nummernschild. „Autsch! Hadewych! Ich stecke fest! Hilf mir mal, bitte!“

Ich beeilte mich, mein Mountainbike an der stattlichen Kastanie zu parken und den Liebling aus seiner unbequemen Position zu befreien. Wer schön sein will, muss manchmal Schmerzen erleiden.

„Was wirst du tun? Bogenschießen? Wie bist du darauf gekommen?“

Diese Reaktion auf meine Ankündigung enttäuscht mich, denn normalerweise ist er von meinen sportlichen Ambitionen begeistert. Habe ich ihn damit völlig überrascht oder ist es der Schmerz der Kopfhaare, die am Nummernschild zurückgeblieben sind?

„Ich war mit dem Fahrrad in der Nähe vom Asterdplas unterwegs und stieß immer wieder mit Radfahrern zusammen, die einen fremd aussehenden Köcher auf dem Rücken trugen. Zuerst dachte ich, es seien Hockeyschläger oder Nordic-Walking-Stöcke. Ich wurde neugierig und ging ihnen nach. Sie hielten an einer eingezäunten Wiese an. Es gab Leute, die mit Pfeil und Bogen übten. Sie schossen auf große Scheiben, aus Stroh oder so etwas. Ich wurde eingeladen, es auszuprobieren. Es hat mich nicht einmal enttäuscht. Das lief auf Anhieb ziemlich gut. Scheint ein lustiger Sport zu sein.“

„Kannst du das immer noch draufpacken? Du verbringst schon so viel Zeit mit Mountainbiking und Sportklettern.“

„Früher habe ich Bogenschießen gemacht. Das haben wir damals im Garten der Dorfkneipe gemacht“, mischt sich wie aus dem Nichts Nachbar Van der Speck in das Gespräch ein.

„Damals war es ein Kneipensport, genau wie Darts und Billard. Das Bogenschießen ist jetzt ein ernsthafter Sport, Nachbar. Es wird auf olympischem Niveau geschossen. Außer auf große Zielscheiben wird in diesem Verein auch auf Tiere geschossen. Ich habe dort Wildschweine, Bären und Rehe gesehen. Das scheint Spaß zu machen.“

„Äh, Bären, hier in den Haagse Beemden? Wildschweine und Rehe? Und auf die wird geschossen? Und das ist einfach so erlaubt? Viel verrückter sollte es nicht werden!“

Die Naivität des alten Chefs ist rührend.

„Nein, Nachbar, das sind Tiere aus Kunststoff, das aus einem pfeilabbremsenden Material besteht. Sie sehen wirklich sehr echt aus.“

Van der Speck hat sich von dem Schock etwas erholt und verfolgt das Gespräch aus der Ferne weiter.

„Willst du das wirklich? Scheint ein teurer Sport zu sein.“

„Nein, ganz und gar nicht. Einen schönen Bogen kann man schon für ein paar hundert Euro kaufen. Pfeile kosten höchstens fünf Euro pro Stück. Der Mitgliedsbeitrag in einem solchen Club ist nicht teuer. Und man muss nicht unbedingt an Wettbewerben teilnehmen; es gibt Mitglieder, die nur zum Üben kommen. Einen Pfeil lösen und auf den Treffer warten, das scheint wirklich etwas für mich zu sein. Ich überlege dort einen dieser Anfängerkurse zu machen.“

Nachbar Van der Speck verschwindet so unerwartet, wie er zuvor aufgetaucht ist. Mein Mechaniker schiebt sich wieder unter das wartungsbedürftige Offroad-Monster. Mit der Ankündigung meiner vielleicht neuen Freizeitbeschäftigung geht er auf seine Weise unter der britischen Verkehrsikone um. Ich pflücke mein Mountainbike vom Kastanienbaum.

Unser stets neugieriger und manchmal allzu hilfsbereiter Nachbar nähert sich mit einem Stück dünnen Holzes, in dessen Mitte sich etwas befindet, das wie ein Griff aussieht. Bei näherer Betrachtung sieht es aus wie einer dieser antiken Bögen, die ich an den Wänden des Clubhauses gesehen habe.

„Du musst Dir noch eine neue Sehne und Pfeile kaufen, die zu Dir passen. Das ist mein alter flämischer Bogen. Du kannst ihn haben.“ „Nett von Ihnen, Nachbar. Ich möchte mich erst einmal orientieren, was es gibt und was zu mir passt. Ich nehme Ihr Geschenk sehr gerne an. Ich verspreche nicht, dass ich schon nächste Woche mit diesem Bogen schießen werde. Ich werde auf jeden Fall sehr vorsichtig damit sein.“

Unbequem gehe ich mit der Kombination von Mountainbike, Fahrradhelm und zwei Metern belgischer Eiche in der Hand die Auffahrt hinauf.

Ich spüre den selbstgefälligen Blick vom Nachbarn in meinem Rücken, bis ich aus dem Blickfeld verschwinde.

Zweifellos gibt der alte Mann demnächst dem Mechaniker unter dem Landrover unaufgefordert Ratschläge.

Nach dem Abendessen beginne ich sofort mit den Vorbereitungen für den Biologieunterricht am Montag für die Drittklässler Oberstufe und Gymnasium.

Mein Kollege, mit dem ich zusammenlebe, hat mit der gleichen Arbeit angefangen. Am Montag hat er sechs Stunden Geschichte für die Schüler der vierten Klasse Gymnasium und Athenäum unterrichten.

Unterrichtsvorbereitung, Korrektur und Benotung sind untrennbar mit dem Lehrerdasein verbunden; das Unterrichten ist der angenehmste und anspruchsvollste Teil. Ich beende meine Arbeit früh, mein Mann verbringt den Rest des Samstagabends damit, seine vierten Klassen vorzubereiten. Ich hole meinen Laptop heraus und google ein paar Begriffe, die ich heute Nachmittag beim Bogenschießclub mitbekomme habe. Auf YouTube entdecke ich Videos über das Schießen mit verschiedenen Typen von Handbögen; Pfeile gibt es in allen Formen und Größen.

Es steckt mehr dabei, als ich anfangs dachte.

„Und etwas für dich gefunden?“

Ich schaue vom Bildschirm auf; mein Liebling hat seine Unterrichtsvorbereitungen unterbrochen. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass es bereits nach halbzwölf ist. Schlafenszeit!

Am frühen Morgen gehe ich mit einer Gruppe zum Mountainbiken in die Drunense-Dünen. Ich sollte eigentlich schon längst im Bett sein.

„Es gibt so viele Optionen und Wahlmöglichkeiten bei den Bögen. Ich muss das erst einmal verarbeiten. Du bist nach dem Abendessen noch nicht mit Kibwana spazieren gegangen?“

Der Ridgeback steht sofort auf, wenn er seinen Namen hört. Das Gassi gehen mit dem Hund ist zur Routine vor dem Schlafengehen geworden.

In der Regel machen wir das gemeinsam. So können wir den vergangenen Tag Revue passieren lassen und die Pläne für den nächsten Tag besprechen, wozu vorher keine Gelegenheit war. In der Zwischenzeit sucht sich Kibwana die interessantesten Bäume und Büsche entlang der vornehmen Allee aus, um dort seine Duftfahne zu hinterlassen.

Heute Abend gebe ich mein erworbenes Wissen über das Bogenschießen weiter. Während wir zusammen über die nun verkehrslaue Baronielaan schlendern, muss er mir zuhören.

Ich erzähle ihm vom Schießen mit traditionellen Bögen ohne Zielvorrichtung und von modernen Bögen, die ein Visier verwenden, um das Ziel zu treffen. Das Schießen ist zu einer olympischen Sportart geworden, in der sich vor allem Koreaner hervortun.

Für mich wäre das Schießen auf dreidimensionale Ziele die größte Herausforderung, vermute ich. 3D-Schießen ist ein Outdoor-Sport. Man wandert mit dem Bogen durch die Wälder. Unter den Visierbögen gibt es unter anderem den beeindruckenden Compound-Bogen, der dank eines Rolle-Kabel-Systems die dreifache Leistung eines normalen Bogens bringt.

„Ein mit einem Compound-Bogen geschossener Pfeil fliegt mit einer Geschwindigkeit von dreihundert Stundenkilometern direkt durch die Tür deines schönen Defenders!“

Ich habe plötzlich die volle Aufmerksamkeit des Herrn neben mir. In den Vereinigten Staaten und Kanada wird der Compound-Bogen für die Jagd auf Wild verwendet. Ein Pfeilschuss ist fast lautlos; wenn man danebenschießt, hat man nicht die gesamte Tierwelt im Jagdgebiet alarmiert.

„Hier wird das Wild nicht mit Pfeil und Bogen gejagt, oder? Ist das verboten?“

Mein Liebling interessiert sich tatsächlich ernsthaft für meinen neu entdeckten Sport.

„Hier fällt so etwas unter Wilderei. In unserem Land darf man nur mit einer Flinte jagen.“

„So wie Dominique das macht. Gott, wie wäre es denn mit unserer Freundin aus Wernhout? Wir haben seit über zwei Jahren nichts mehr von ihr gehört. Nach dem schrecklichen Mord an ihrem Mann löste sie sich in Luft auf. Wohin ist sie? Ich denke oft an sie.“

„Ich auch. Sie war meine feste Kletterfreundin geworden. Ich vermisse sie. Das Band, das sich zwischen euch gebildet hat, als sie mit dir einen Monat lang durch Frankreich reiste, muss etwas ganz Besonderes gewesen sein. Mit ihrer Regressionstherapie hat sie dir die Angst vor Zügen und Eisenbahnen genommen. Sie war eine außergewöhnliche Frau und atemberaubend schön.“

„Sie verstand ihren Job. Ich finde es immer noch erstaunlich, dass sie bei ihren Klienten verdrängte Ereignisse wieder hervorholen und damit aktuelle Probleme bearbeiten konnte.“

„Dominique war ein Tausendsassa in allen Bereichen. Sie spricht perfekt Französisch. Sie liebte es, mit deinem Defender im Gelände zu fahren. Kibwana verstand sich gut mit ihrem Beagle. Wie hieß dieser lustige kleine Hund noch?“

„Sie hatte ihn Herrn Jansen genannt. Wie wäre es Dominique und ihrem Herrn Jansen ergangen?“

„Und wo sollte sie sein? Soweit ich weiß, hält die Polizei sie immer noch für eine mögliche Täterin.“

„Außerdem wurde damals vermutet, dass sie das zweite Opfer gewesen sein könnte. Der Mord an dem Architekten und das Verschwinden von Dominique sind offenbar in der Schublade der ungeklärten Fälle verschwunden.“

Ich schlage eine kleine Brücke zu dem früheren Thema unseres Gesprächs.

„Neben Wild schoss Dominique auch Tontauben. Falsche Fasane, könnte man sie nennen. Auch beim Bogenschießen gibt es etwas Ähnliches. Der Bogenschütze versucht, eine Plastikscheibe zu treffen, die in die Luft geschleudert wird. Scheint Spaß zu machen.“ „Das klingt alles sehr interessant. Du bist schon ganz begeistert von diesem Sport, oder?“

„Ja, man hat so viele Möglichkeiten beim Bogenschießen. Ich glaube, am meisten Spaß macht das 3D-Schießen, das Schießen auf dreidimensionale Ziele. Die Kunststofftiere sind auf einem Parcours und du versuchst, sie an der tödlichsten Stelle zu treffen. Ein Treffer ins Herz oder in die Lunge bringt dir die höchste Punktzahl. Man könnte einen solchen Platz mit einem Golfplatz vergleichen, bei dem die Strecken zwischen den Holes zu Fuß gemacht werden.“

„So ein Bogen ist doch sicher eine Waffe! Kann man damit einfach in die Wälder und Felder gehen? Braucht man dafür nicht einen Waffenschein?“

„Es ist in der Tat eine Waffe, mit der man jemanden schwer verletzen oder sogar töten kann. Ein Handbogen wird jedoch als Sportgerät betrachtet und fällt nicht unter das Waffengesetz. Jeder kann einen Bogen und Pfeile kaufen. Ein Polizeibeamter wird aber wahrscheinlich sehr nervös werden, wenn man sich mit einem aufgespannten Bogen und Pfeilen in Reichweite auf öffentliche Straßen wagen würde. Schützen transportieren ihren Bogen und ihre Pfeile in der Regel in einem Koffer oder einer Tasche. Ich habe schon schöne Pfeilköcher für traditionelle Bögen im Internet gesehen. Pfeilhüllen gibt es in allen Formen und Größen. Für mich hat sich eine neue Welt eröffnet.“

„Dein Enthusiasmus ist ansteckend. Es freut mich, dich so inspiriert zu sehen. Das Gleiche galt damals bei dir für Sportklettern und Mountainbiking.“

„Wenn ich mich für etwas entscheide, dann auch hundertprozentig. Genauso wie ich vor zwei Jahren zu dir 'Ja, ich will' gesagt habe.“

Ich rückte näher an ihn heran, legte meinen Arm um seine Taille und drückte ihm einen Kuss auf den Hals.

Kibwana gibt ein leises Knurren von sich.

„Es ist in Ordnung, mein Freundchen. Sie wird mir nicht wehtun.“

Wir sind früher als erwartet zurück vor dem Herrenhaus.

Das Obergeschoss ist noch beleuchtet. Meine Schwägerin macht Überstunden in ihrem Atelier.

Wir sollten besser zu unserem Bett eine Etage tiefer gehen. Morgen darf ich wieder früh in die Pedale treten. Ein Wochenende wie dieses ist für mich viel zu kurz.

2

„Je suis prêt! Tirez!“ Ich bin bereit! Schieß los! Eine kleine graue Scheibe saust etwa fünfzig Meter von mir und meiner doppelläufigen Beretta Silver Pigeon entfernt durch die Luft.

Herr Jansen bewegt im übertragenen Sinne keine Flosse, als ich abdrücke und etwa hundert Stahlkugeln mit einem lauten Knall den Gewehrlauf verlassen.

Vor dem hellblauen Hintergrund treffen die Projektile aufeinander; die graue Scheibe zerbricht in hundert Teile.

Herr Jansen sieht mich angespannt an. Leider muss ich den Beagle enttäuschen; er wird heute nicht damit gefordert, einen geschossenen Fasan oder eine Ente zu apportieren.

Ein Beagle ist vielleicht nicht der offensichtlichste Apportierhund unter den Jagdhunden, aber mein Herr Jansen erfüllt diese Aufgabe oft sehr gut. Zumindest versucht er es; normalerweise ist der geschossene Vogel einfach eine Nummer zu groß für den englischen Jagdhund und er beschränkt sich darauf, lautstark anzuzeigen, wo ich die Beute abholen kann.

„Encore!“ Noch mal!

Ich muss laut schreien; Halette ist etwa fünfzig Meter entfernt hinter dem Felsvorsprung in der Nähe vom Katapult. Ich höre das Klicken des Abschussmechanismus; sie schickt das Projektil in die Luft. Schnell schultere ich mein Gewehr, ziele etwas vor der Flugbahn, die das graue Geschirr nehmen sollte, und drücke kontrolliert ab. Ich bin immer noch zufrieden mit dem bescheidenen Rückstoß, den meine ‘Silbertaube‘ erzeugt.

Ich verfehle ihn, der ‘Vogel‘ fällt unversehrt weiter unten ins hohe Gras.

„Bird away!“ rufe ich meiner Freundin zu, die den Katapult bedient hat; ein Fehlschuss. Vierzig Schüsse und nur der letzte war ein Fehlschuss; Müdigkeit macht sich breit. Es reicht für heute. Ich zerbreche mein Gewehr und lasse die leeren Patronen bei dem Rest auf den Boden fallen. Ich nehme sie später auf, wenn die zwei abgekühlt sind.

Halette hat den Katapult abgeschlossen; sie kommt mit den restlichen Tontauben zu mir. Dieser Fehlschuss liegt noch im Feld. Eine schöne Aufgabe für Herrn Jansen.

Auf „Suche!“ reagiert er wie von einer Wespe gestochen; so schnell ihn seine kurzen Beine tragen können, rennt er dorthin, wo er den ‘Bird away‘ landen sah.

Auf der Stelle versucht er, seine Zähne in die Tonscheibe zu setzen, um sie aufzuheben. Der Beagle merkt schnell, dass dies kein großes Erfolg sein wird. Bellend und knurrend bleibt er bei seiner Beute und wartet darauf, dass ich komme und sie abhole.

Wir gehen zurück ins Dorf. Es dauert, bis wir aus dem eingezäunten Waldstück der örtlichen Jägervereinigung in der Nähe von den Ausgrabungen der antiken römischen Stadt Glanum herauskommen. Mit dem ungeladenen Jagdgewehr in der Tasche, den unbenutzten Schrotpatronen in der Jägertasche und dem Beagle an der Leine gehen wir nach Saint-Rémy-de-Provence, dem Dorf, in dem Vincent van Gogh etwa ein Jahr verbrachte und seine schönsten Bilder machte.

Es ist Mittwochmorgen, das Dorf ist überschwemmt von Touristen, die den Regionalmarkt als beliebten Ausflug auf dem Programm haben. Am frühen Morgen bauen rund zweihundert Standbetreiber ihre Stände auf, danach herrscht ein Kommen und Gehen der Besucher. Dieser Wochenmarkt ist sowohl bei den ‘gens de coin‘, den Einheimischen, als auch bei den Touristen sehr beliebt. Von den Touristen muss sich Halette hauptsächlich mit ihrem Halbedelsteinladen begnügen. Meine Freundin verkauft Steine mit therapeutischen Kräften. Sie kennt sich sehr gut mit der energetischen Edelsteintherapie aus. In ihrem Laden im Zentrum des Dorfes sind die oft polierten Steine, sortiert nach Art und therapeutischer Wirkung, in Holzkisten und Vitrinen ausgestellt. Vitrinen mit Schmuck aus Halbedelsteinen. Von jedem Stein in ihrem kleinen Laden weiß Halette, welche Heilkraft der Stein durch seine Energieschwingungen übertragen kann. Die Verwendung von Edelsteinen und Mineralien gegen geistige und körperliche Beschwerden ist uralt; meine französische Freundin erforscht seit Jahren den heilenden Einfluss auf das Tun und Denken. Die Steine geben dem Körper die Kraft und Energie, sich selbst zu regenerieren. Halette versteht es sehr überzeugend, ihr Wissen mit den Besuchern ihres Ladens der 'Steine des Lichts' zu teilen.

Ich lernte Halette vor einigen Jahren kennen, als sie an den ‘Tables de Morts‘, einer prähistorischen Grabkammer, einem Dolmen, in der Nähe des Dorfes Massac im Süden des Departements Aude ein Hexenritual durchführte. In der Gîte, wo wir uns anschließend wieder trafen, stellte sich heraus, dass wir viele gemeinsame Interessen hatten. In meiner Praxis der Regressionstherapie habe ich, wie sie, Auren verwendet.

Ich hatte sie als die liebe, moderne Hexe in Erinnerung, mit der ich meine Gedanken teilen konnte. Seelenverwandte.

Halette blieb alleinstehend; sie hatte nie das Bedürfnis nach einer Beziehung. Männer und Frauen, die interessierten sie nicht wirklich. Wir haben Adressen ausgetauscht.

Ich hatte das Gefühl, dass ich der Aufregung um den Mord an meinem Ehemann entkommen musste. Ich reiste mit meinen wertvollsten Besitztümern, meinem kleinen Beagle und meinen Jagdgewehren, nach Frankreich. Herr Jansen ist der Einzige, der mir jeden Tag bedingungsloses Vertrauen entgegenbringt; das kleine Tier spürt meine Stimmungen perfekt.

Die Browning und die Beretta sind Erbstücke meines Vaters; sie würden zweifellos Gegenstand der Ermittlungen zum Mord an Louis werden. Ich habe meinem Vater einmal versprochen, sie immer zu behalten.

In meinem Austin Mini Cooper kam ich nach einer langen Reise im südfranzösischen Departement Bouches-du-Rhône an, wobei ich die französischen Mautstraßen mit ihren Kamerawächtern bequem umfahren konnte.

Saint-Rémy-de-Provence, Region Alpes-Côte d'Azur, eine Stadt mit weniger als zehntausend Einwohnern. Weltberühmt geworden durch den Brabanter Impressionisten, der weniger als drei Kilometer von unserem Bungalow in Wernhout entfernt geboren wurde. ‘Pierres de Lumière‘, Halette du Mas des Bourboux, steht auf der verblichenen Visitenkarte, die ich seit Tagen wie ein Schmuckstück mit mir herumtrage.

In dem kleinen Laden in der Avenue de la Libération wurde ich gastfreundlich empfangen. Halette hörte meine Geschichte über den tragischen Tod meines Mannes und mein plötzliches Verschwinden vom Schauplatz des Unglücks.

Sie beschloss sofort, mir einen sicheren Hafen zu bieten. Über ihrem kleinen Laden hatte sie eine geräumige Etage zur Verfügung, die erst einmal ausgeräumt werden musste, bevor wir sie in einen schönen Wohnraum verwandeln konnten. Wir haben uns schnell auf die Miete für das Studio geeinigt.

Halette wohnt in dem Abschnitt hinter ihrem kleinen Laden; ich könnte mir keine bessere Nachbarin und Vermieterin wünschen.

Auf dem Wochenmarkt herrscht reges Treiben. In den Straßen und auf den Plätzen werden Strohhüte, Gemälde, Keramik, Kleidung und Stoffe, Erdbeeren und Melonen aus der Region, Olivenöl, Gewürze, Wurst und Käse angeboten. Mit einer doppelläufigen Schrotflinte vor neugierigen Blicken verborgen, eilen wir durch das Getümmel, mit den sich kreuzenden Ständen, den hier und da geparkten Lieferwagen, den Menschen überall und obendrein dem normalen Verkehr, der versucht, sich seinen Weg über die Ringstraße um das Dorf zu bahnen, an der genau der Fußgängerweg für die Marktbesucher vorbeiführt.

An dieser Ringstraße befindet sich der Laden mit den therapeutischen Halbedelsteinen der Dame, die eine Schachtel mit grauen Scheiben auf den Boden vor ihrer Ladentür stellt und in ihren Taschen nach dem Schlüssel sucht.

Pünktlich um halb zehn, wie auf dem Schild mit den Öffnungszeiten versprochen, klingelt es an der halb geöffneten Tür des kleinen Ladens.

„Saved by the bell“, mein Versuch, witzig zu sein, scheitert völlig.

Halette antwortet nicht; sie muss sich mit der Schachtel Tontauben beeilen, um den Weg für die ersten Kunden des Morgens freizumachen. „Ich bin froh, dass du mir heute Morgen helfen konntest und ich doch noch schießen konnte.“

„Gern geschehen. Wenn wieder einmal jemand vom Jagdverein in letzter Minute verhindert ist, komme ich gerne wieder mit.“

Halette bedient den Kunden; ich versuche, mit meinem Gewehr und der Tontaubenschachtel beschädigungsfrei über die viel zu enge Wendeltreppe in mein Studio zu gelangen. Herr Jansen hatte viel weniger Probleme hochzugeraten.

Die nächste Viertelstunde verbringe ich damit, die Beretta zu reinigen. Die Poliertücher, die ich dafür verwende, riechen nach eingetrocknetem Waffenöl. Vor allem die Läufe und der Abzugsmechanismus erhalten besondere Aufmerksamkeit. Mein Vater wäre stolz auf mich!

„Kaffee!“

Halette blickt erschrocken auf von den Tarotkarten, die sie gerade gelegt hat. Diese sind neu in ihrer Ladensammlung; fasziniert studierte sie die Bilder.

Ich habe mit dem Kaffee gewartet, bis ich sicher war, dass keine Kunden im Laden sind.

„Ha, schön. Darauf hatte ich Lust. Das hat heute Morgen Spaß gemacht. Ich wusste nicht, dass du so gut schießen kannst. Du hast nur einmal danebengeschossen. Ich denke, das ist cool.“

„Du könntest es auch mal probieren. Vielleicht hast du noch verborgene Talente.“

„Nein, danke. Ich verabscheue Schusswaffen. Außerdem jagst du damit auch auf Wild; ich könnte das nicht, ein Tier erschießen.“

„Du isst doch Fleisch. Ich bin sicher, dass das Tier, das ich selbst töte und schlachte, ein viel besseres Leben hatte als die Tiere, die in der Vitrine deines Metzgers landen.“

„Natürlich hast du Recht. Ich sollte dieses Fleisch nicht kaufen und essen müssen. Ich denke manchmal darüber nach, Vegetarier zu werden.“

„Ich fürchte, es bleibt bei der Überlegung“, scherze ich. Es klingelt laut an der Tür; neue Kundschaft.

Halette nimmt hastig einen weiteren Schluck Kaffee und verschluckt sich.

Der Neuankömmling wird hustend begrüßt. Halette entschuldigt sich bei der Kundschaft.

Ich mache mit Herrn Jansen einen Spaziergang durch den Park. Die Versuchung, danach noch einmal über den Markt zu schlendern, ist zu groß; es ist ein wahres Fest für die Sinne, man möchte an jedem Stand etwas kaufen.

Es ist kurz vor halb zwei. Halette ist dabei, ihren Laden zu schließen. Um halb zwei verspricht das Schild nur einen weiteren herzlichen Empfang.

Die Wochenmärkte in Frankreich dauern nur bis zum Mittag. Irgendwann zwischen zwölf und eins, wie von Geisterhand, packen alle zusammen, und ein überstürzter Aufbruch beginnt.

Innerhalb einer Stunde ist das Dorf plötzlich wieder ruhig und nur die Straßencafés sind überfüllt.

Halette und ich suchen uns ein Plätzchen in der Sonne für ein nahrhaftes Mittagessen und kehren dann mit einer Tüte voller frischer Früchte zu den Heilsteinen zurück.

3

Ich bin ein paar Mal am Samstagnachmittag zum Handbogenclub am Asterdplas zurückgekehrt. Zunächst nur, um zu sehen, wie es hier so läuft. Es ist vor allem gemütlich, aber gleichzeitig trainieren sie sehr ernsthaft für Wettkämpfe. Es gibt erfahrene Bogenschützen, die Anfängern helfen, ihre Technik zu verbessern.

Einer dieser Bogenschützen, ein sportlicher Mann von etwa dreißig Jahren mit einer beeindruckenden Dreadlock-Frisur, hat heute für mich einen Vereinsbogen mit einer Zugkraft von fünfundzwanzig Pfund aufgespannt.

Die Länge, die die für mich geeigneten Pfeile haben sollten, wird mit einem graduierten Pfeil gemessen.

„Die Frau sollte mit Dreißig-Zoll-Pfeilen schießen“, sagt er dem Mann, der für die Ausrüstung zuständig ist.

Buchstäblich bewaffnet mit einem so genannten Recurve-Bogen, drei fünfundsiebzig Zentimeter langen Carbonpfeilen, einem dreifingerigen Schießhandschuh und dem unverzichtbaren Armschutz geht es auf das Feld mit den großen runden Zielscheiben. Zehn Kreise, von Weiß für die beiden äußeren über Schwarz, Blau, Rot und schließlich zwei gelbe in der Mitte.

„Wir wollen heute keine Punkte sammeln. Versuchen Sie einfach, den Pfeil so nah wie möglich an die gelben Kreise in der Mitte zu schießen.“

Bevor ich mit meinem ersten Pfeil gleich zehn Punkte erzielen kann, wird mir ausführlich erklärt, wie ich den Pfeil mit den behandschuhten Fingern auf der Sehne fixiere, wie ich beim Ausziehen des Bogens vor allem meine Schultermuskulatur einsetzen muss, wie ich mit dem Zeigefinger über der Sehne den Mundwinkel als Ankerpunkt verwende, wie ich nicht ziele, sondern auf den Punkt schaue, an dem ich den Pfeil abschießen will, wie ich den Pfeil mit äußerster Kontrolle löse und wie ich nach dem Schuss nachziele.

Die Begeisterung, mit der der Mann dieses Wissen und Können vermittelt, erinnert mich an die Leidenschaft, mit der mein Ehemann mich früher zum Klettern geführt hat. Dies ist ein Schütze, der für sein Hobby lebt.

Den Anweisungen meines Lehrers folgend, jage ich schließlich drei Dreißigzöller in die Scheibe. Drei Mal in den blauen Kreisen; zwei Fünfer und ein Sechser, ich zähle sowieso heimlich mit.

Ich mache einen Schritt auf die Scheibe zu und werde sofort von dem Mann am Arm zurückgezogen.

„Halt! Sehe zuerst neben dir nach, ob die Bogenschützen auf den anderen Scheiben ihren dritten Pfeil abgeschossen haben. Sie gehen immer als Gruppe auf die Scheiben zu. Und weiterhin...“, der Mann macht es spannend.

Er nimmt einen Pfeil aus seinem Köcher: „Fühl mal, der Nock, die Hinterseite vom Pfeil, ist genauso scharf wie die Spitze. Wenn Sie direkt auf die Pfeile in der Scheibe zugehen, könnten Sie die Entfernung falsch einschätzen oder stolpern. Im schlimmsten Fall kann Sie das ein Auge kosten. Also immer schräg zu den abgeschossenen Pfeilen gehen!“

Ich habe das Gefühl, Anfängerfehler gemacht zu haben, aber mehr als ein herzliches ‘Oh, Entschuldigung!‘ kann ich nicht tun.

Der Mann muss genau gespürt haben, wie ich mich jetzt fühle.

„Keine große Sache. Ich habe denselben Fehler gemacht, als ich anfing.“

Das Eingeständnis sollte eine ziemliche Erleichterung für mich sein; es erleichtert ein wenig.