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Handbuch Inklusion E-Book

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Beschreibung

Inklusion fordert dazu auf, Kinder mit all ihren sozialen Identitäten zu sehen und nicht zuzulassen, dass sie wegen eines Aspekts ihrer Identität herabgewürdigt oder ausgeschlossen werden. Vielfalt respektieren, der Ausgrenzung widerstehen: Diese beiden Anforderungen verknüpfen die Autoren konsequent und bieten zusätzlich Grundlagenwissen für eine inklusive, vorurteilsbewusste Praxis. Empfehlenswert insbesondere für die Aus- und Fortbildung von pädagogischen Fachkräften. Vor 15 Jahren war dieses Buch in der frühen Bildung eines der ersten Bücher, das den Fächer von Vielfaltsaspekten weit aufspannte und Diskriminierungserfahrungen aufzeigte, wie sie im Leben von Kindern in Deutschland bedeutsam sind. Inzwischen ist dieses Buch ein Klassiker. Jetzt durchgesehen und aktualisiert.

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Überarbeitete Neuausgabe 2022

(4. Gesamtauflage)

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2021

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Verlag Herder

Umschlagmotiv: © Xenia Artwork/shutterstock

Fotos im Innenteil: S. 13: © Warchi – GettyImages; 23: © New Africa – AdobeStock; 42: © New Africa – AdobeStock; 66: © Jacob Lund – AdobeStock; 87: © FatCamera – GettyImages; 245: © dtatiana – AdobeStock; 264: © New Africa – AdobeStock; 281: © Rawpixel.com – AdobeStock; 299: © New Africa – AdobeStock

E-Book-Konvertierung: Newgen Publishing Europe

ISBN Print 978-3-451-39260-3

ISBN EBook (E-Pub) 978-3-451-82636-8

ISBN EBook (PDF) 978-3-451-82632-0

Inhalt

Vorwort

1Inklusion als Werterahmen für Bildungsgerechtigkeit

(Annika Sulzer)

1.1Was ist das: Inklusion?

1.2Vielfalt ist Normalität

1.3Inklusion und Exklusionsrisiken

1.4Inklusion braucht systematische Arbeit auf mehreren Ebenen

1.5Inklusion betont allgemeine rechtliche Grundlagen

1.6Werteorientiertes demokratisches Handeln als Grundlage für Inklusion

2Der Ansatz Vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung© als inklusives Praxiskonzept

(Petra Wagner)

2.1Inklusive pädagogische Praxis entwickeln

2.2Anforderungen an pädagogische Fachkräfte

2.3Wissen um soziale Identitäten und institutionelle Vor- und Nachteile

2.4Lernen und Arbeiten mit dem Ansatz vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung

2.5Inklusion als Ergebnis systematischer Qualitätsentwicklung

2.6Auch die Lernumgebung vorurteilsbewusst gestalten

3Gleichheit und Differenz im Kindergarten – eine lange Geschichte

(Petra Wagner)

3.1Homogenisierung und Diskriminierung

3.2»Einwirkungspädagogik«, um allen Kindern hohe Bildung zu vermitteln

3.3Sozial selektive Heterogenität und Unverbindlichkeit

3.4Vielfalt und Bildungsqualität

3.5Strategien im Umgang mit Unterschieden

3.6Gewissheiten und offene Fragen

4Die Entwicklung und Förderung moralischen Denkens und moralischer Gefühle in der Kindheit

(Monika Keller)

4.1Positionen der entwicklungspsychologischen Moralforschung

4.2Die Entwicklung des moralischen Verstehens

4.3Die Entwicklung empathischer und moralischer Gefühle

4.4Moralische Gefühle und Verantwortungszuschreibung

4.5Das moralische Denken von der mittleren Kindheit bis zum Jugendalter: Ergebnisse einer empirischen Studie

4.6Moral und Kooperation in der frühen Kindheit

4.7Moralisches Lernen: Die Rolle der sozialen Umwelt

5Vielfalt und Diskriminierung im Erleben von Kindern

5.1Wie erleben junge Kinder Vielfalt und Diskriminierung? (Petra Wagner)

5.2Geschlechterbewusste Pädagogik – eine Gratwanderung (Tim Rohrmann)

5.3Heterogenität als Motor für Bildungsprozesse – für Kinder mit und Kinder ohne Behinderung (Daniela Kobelt Neuhaus)

5.4»Woher kommst du?« – Wie junge Kinder Herkunftsfragen begreifen (Anke Krause)

5.5Vom Weggehen zum Ankommen – Kinder mit Fluchterfahrungen in der Kita: Von den Hürden auf dem Weg ins Bildungssystem (Mercedes Pascual Iglesias)

5.6»Weil ich dunkle Haut habe …« – Rassismuserfahrungen im Kindergarten (Stefani Boldaz-Hahn)

5.7Quer durch viele Sprachen hindurch – Vielgestaltigkeit der Sprachenwelten von Kindern (Petra Wagner)

5.8Adultismus – (un)bekanntes Phänomen: »Ist die Welt nur für Erwachsene gemacht?« (ManuEla Ritz)

5.9»Meine Mutter hat ja kein Geld …« – Soziale Ungleichheit und Armut in der Wahrnehmung von Kindern (Antje Richter-Kornweitz)

5.10Religion – Diskriminierungsgrund oder kulturelle Ressource für Kinder? (Christa Dommel)

5.11Verhältnis zwischen Ost und West – einem Tabu auf der Spur (Sabine Beyersdorff & Evelyne Höhme)

5.12Sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität – bedeutsam für junge Kinder? (Stephanie Gerlach)

6Zusammenarbeit mit Eltern: Respekt für jedes Kind – Respekt für jede Familie

(Serap Azun)

6.1Wie leben Familien in Deutschland?

6.2Zusammenarbeit mit Eltern – eine unüberwindbare Hürde?

6.3Dominanzverhältnisse erschweren den Dialog

6.4Zusammenarbeit mit Eltern – unverzichtbar!

6.5Die Familien machen sich bekannt

6.6Der Kindergarten macht sich bekannt

6.7Mit Eltern in den Dialog treten

6.8Gesprächskreise zu Erziehungsfragen

6.9Und wenn es Konflikte gibt?

6.10Was ist nötig für eine gelingende Zusammenarbeit?

7Vielfalt respektieren, Ausgrenzung widerstehen – wie kann man das lernen? Konzepte und Praxis der Aus- und Fortbildung

(Petra Wagner)

7.1Welche Kompetenzen sind bei der Inklusion entscheidend?

7.2Interkulturelle Kompetenz – Schlüsselkompetenz des 21. Jahrhunderts?

7.3Managing Diversity – Der neue Boom?

7.4Vorurteilsbewusste Selbst- und Praxisreflexion

7.5Vorurteile und ihren Einfluss auf pädagogische Praxis untersuchen

7.6Diskriminierung zur Sprache bringen

7.7Gesellschaftliche Macht- und Dominanzverhältnisse beleuchten

7.8Machtverhältnisse in Dialogen berücksichtigen

7.9Fachliches Unterstützungssystem

8Internationale Zusammenarbeit für Vielfalt und Gleichwürdigkeit

(Regine Schallenberg-Diekmann)

8.1Voneinander lernen – über kulturelle und andere Grenzen hinweg

8.2Das internationale Netzwerk DECET

8.3Jede und jeder fühlt sich zugehörig

8.4Jedes Kind und jeder Erwachsene entwickelt die vielfältigen Aspekte der eigenen Identität

8.5Alle lernen voneinander

8.6Jeder Erwachsene und jedes Kind beteiligt sich als aktive Bürgerin/aktiver Bürger

8.7Jeder und jeder bezieht aktiv und offen Stellung gegen Einseitigkeiten

8.8Alle gemeinsam gegen Vorurteile und institutionelle Formen von Diskriminierung

8.9Umsetzung in die pädagogische Praxis

9Anti-Bias Education for Everyone – Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung für alle

(Louise Derman-Sparks)

9.1Inklusion und soziale Identitäten

9.2Gesellschaftliche Zukunftsvisionen und Anti-Bias Pädagogik

9.3Ziele der Anti-Bias Pädagogik

9.4»Was tun, wenn alle Kinder weiß sind?«

9.5Anti-Bias Ziele in die Praxis umsetzen: Pädagogische Prinzipien

9.6Anti-Bias Arbeit und der Kampf für soziale Gerechtigkeit

Verzeichnis der Autor*innen

Fachstelle Kinderwelten für Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung

Über die Autorin

Vorwort

Inklusion ist mehr denn je eine (Zukunfts-)Aufgabe von Kindertageseinrichtungen. Sie zielt auf Bildungsgerechtigkeit und folgt dem Anspruch, die Wertschätzung für Heterogenität mit dem Erkennen und Abbauen von Bildungsbarrieren zu verknüpfen. Inklusion muss praktisch werden, um nicht als Phrase zu enden. Die Vorannahmen und Erkenntnisse aus dem Ansatz Vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung© fließen in dieses Handbuch ein – ein Ansatz, der die Ansprüche an Inklusion mit Zielen und Prinzipien konkretisiert, die Orientierung für inklusives pädagogisches Handeln geben, ohne es zu gängeln.

Ein Handbuch zum Thema Inklusion – was soll es leisten? Es soll deutlich machen, wo Inklusion im Bereich der Frühpädagogik anschlussfähig ist: Wie entwickeln Kinder ihre unterschiedlichen Identitäten in Deutschland und was wissen wir über Identitäts- und Moralentwicklung? Wie lässt sich die Geschichte des Kindergartens verstehen in Bezug auf Gleichheit und Differenz, in Ost und West? Was brauchen pädagogische Fachkräfte, um inklusiv und vorurteilsbewusst zu handeln und gut mit Eltern zusammenarbeiten zu können? Was können wir zum Umgang mit Heterogenität von anderen lernen, von Bewegungen gegen Diskriminierung und Einseitigkeiten in Europa, in den USA?

Kinderwelten im Sinne der vielen Welten, in denen Kinder aufwachsen, sind in diesem Buch Ausgangspunkt und Kompass: Da macht es einen Unterschied, ob Kinder auf dem Land oder in der Stadt leben, in welcher Region sie aufwachsen, ob die Familie Fluchterfahrung oder eine Migrationsgeschichte hat, ob die Kinder als Jungen oder Mädchen adressiert werden, ob sie viele Geschwister haben oder keine, ob sie in einer armen oder wohlhabenden Familie aufwachsen, ob sie mit einer Behinderung oder mit einer Krankheit leben, ob sie einen Kindergarten besuchen oder nicht, ob die sozialen Netzwerke der Familie stabil und tragfähig sind oder eher nicht, ob der soziale Status der Familie mit Anerkennung oder mit Ausgrenzung verbunden ist. Über die jeweilige Lebensgestaltung ihrer Familien werden diese Unterschiede für Kinder subjektiv bedeutsam und beeinflussen ihren lernenden Zugang zur Welt.

Kinder erschließen sich Sinn und Bedeutung auf eine Weise, die von den Verhältnissen und von den Erwachsenen zwar beeinflusst, aber nicht vollständig gesteuert oder kontrolliert werden kann. In den »Welten der Kinder« regieren die Kinder selbst, mit ihrem Eigensinn und ihrer Kreativität, ihrer je individuellen Art, das zu verarbeiten, was sie beobachten und wahrnehmen. »Kinderwelten« sind also auch die Lernwege, die Kinder gehen, um ihr Verständnis von der Welt, ihr Bild von sich und anderen Menschen in der Welt in einem aktiven Aneignungsprozess zu konstruieren. In diesem Prozess verarbeiten Kinder auch die bewertenden Botschaften über sich und andere Menschen, die sie aus ihrem Umfeld erhalten.

Einrichtungen der frühen Bildung müssen diese Kinderwelten berücksichtigen. Kitas geben Qualitätsversprechen in Bezug auf die Betreuung, Erziehung und Bildung von Kindern und stellen sicher, dass wirklich alle Kinder davon profitieren. Sie versprechen eine demokratische Kultur, an der alle Kinder vom ersten Tag an beteiligt sind. Wie diese Versprechen halten?

Dieses Handbuch ist als Unterstützung gedacht. Es fundiert die Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung als

inklusives Bildungskonzept für Kindertageseinrichtungen, das Respekt für die Vielfalt mit dem Nichtakzeptieren von Ungerechtigkeit und Diskriminierung verbindet

Bildungskonzept, das stereotype Vorurteile, diskriminierende Ausgrenzung und Einseitigkeiten in den Äußerungen und im Verhalten von Menschen wie auch in den Abläufen und Gesetzmäßigkeiten der Institutionen bewusst zum Thema macht, um die lernbehindernden Implikationen von Ausgrenzung und Abwertung nicht länger zu ignorieren

Bildungskonzept, das Kinder stark macht, weil sie eine positive Resonanz auf das bekommen, was sie mitbringen und was sie ausmacht, weil Kinder lernen, mit Menschen respektvoll zusammen zu sein; und weil sie ermutigt werden, sich zusammen mit anderen gegen Ungerechtigkeiten zu wehren

Bildungskonzepte mit einer klaren Werteorientierung für Gerechtigkeit und gegen Diskriminierung braucht es gerade in Krisenzeiten: Die gegenwärtige Covid-19-Pandemie verschärft soziale Ungleichheiten.

Sie macht vorhandene Benachteiligungen und Demokratiedefizite, von denen Kinder betroffen sind, sichtbarer. Dass Kinder zu Beginn der Krise »vergessen« wurden, zeigen Machtungleichheiten und Prioritätensetzungen, die Kinder ausschließen.

Berlin, im September 2021

Petra Wagner

1Inklusion als Werterahmen für Bildungsgerechtigkeit

Annika Sulzer

1.1Was ist das: Inklusion?

Zentrale gesellschaftliche Aufgabe des Bildungswesens

Die Inklusions-Debatte hat in Deutschland eine hohe Dynamik, die rechtlichen Verpflichtungen geschuldet ist. Vor allem mit der Ratifizierung der UN Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen durch die deutsche Bundesregierung wird Inklusion seit 2009 als zentrale gesellschaftliche Aufgabe des Bildungswesens betont. Damit sind Veränderungen in den Strukturen der Bildungslandschaft gefordert, um Auslese und Aussonderung zu beenden und Bildungsgerechtigkeit herzustellen.

Allerdings gibt der Begriff Inklusion reichlich Raum für Interpretation: Inklusion von wem wohin? Und warum? Wer inkludiert wen? Wie kann ich als Pädagogin oder Pädagoge inklusiv tätig sein? Es gibt viele Akteur*innen und viele Stimmen, die gegenwärtig dazu Aussagen treffen – hier seien einige genannt

»Inklusion – ich finde das gut, dass man mit dem Begriff mehr als nur behinderte Kinder meint!« (Sozialpädagogin im Integrationsbereich, Coburg)

Inklusion »eröffnet eine sichtbare gedankliche Aufhebung des gängigen Zwei-Welten-Bildes: Auf der einen Seite Normalität und auf der anderen Seite Behinderung« (Jerg 2010, S. 29).

»Inklusion bringt nichts als das Wegkürzen von Leistungen, die wir uns jahrelang mühsam mit der Integration aufgebaut haben!« (Erzieherin, Bremen)

»Inklusion ist nichts anderes als weiter darüber zu schweigen, wo in Bildungseinrichtungen Exklusion betrieben wird.« (Bildungsforscherin, England)

Definition der deutschen UNESCO-Kommission

Die Akteur*innen bringen Inklusion mit recht verschiedenen Inhalten in Verbindung, wie auch insgesamt im Fachdiskurs verschiedene, zum Teil einander widersprechende Auffassungen existieren (vgl. Sulzer & Wagner 2011, S. 9ff.). Um als Konzept für pädagogische Arbeit Handlungsrelevanz zu erhalten, braucht Inklusion Eindeutigkeit und Zielorientierung: Was sind ihre Kernelemente, was die tragenden Mauern und Pfeiler?

Nach einer Definition der Deutschen UNESCO-Kommission wird »Inklusion (…) als ein Prozess verstanden, bei dem auf die verschiedenen Bedürfnisse von allen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen eingegangen wird. Erreicht wird dies durch verstärkte Partizipation an Lernprozessen, Kultur und Gemeinwesen, sowie durch Reduzierung und Abschaffung von Exklusion in der Bildung (…)« (DUK 2010, S. 9; Hervorhebungen durch die Verfasserin). Diese Auffassung enthält mehrere Elemente, die im Folgenden erläutert werden (ausführlicher in Sulzer & Wagner 2011, S. 18ff.).

1.2Vielfalt ist Normalität

Gleiches, wo möglich, Besonderes, wo nötig

Die Definition der Deutschen UNESCO-Kommission beinhaltet die Aufforderung, auf die verschiedenen Bedürfnisse von Kindern einzugehen. Wie sind entsprechende pädagogische Prozesse zu gestalten? Bisherige Erfahrungen im Umgang mit sozialer Vielfalt im Bereich der Gender-Arbeit, der integrativen Arbeit, der interkulturellen Arbeit stellen pädagogische Strategien infrage, die alle Kinder gleich behandeln, weil sie vorhandene Ungleichheitsverhältnisse verstärken können (vgl. a. a. O., S. 12ff.). Ebenso wird eine ausdrückliche Sonderbehandlung kritisiert, zum Beispiel im Rahmen dauerhafter homogener Gruppenbildung, da dies die Sonderposition von Kindern mit bestimmten Merkmalen verstärkt. Weder »Gleiches für Alle« noch »Besonderes für Besondere« haben sich als Strategien im Umgang mit Verschiedenheit bewährt. Als Weiterentwicklung aus den gemachten Erfahrungen empfiehlt sich für Inklusion eine Koppelung: Gleiches wo möglich, Besonderes wo nötig. Kinder brauchen Unterschiedliches, um erfolgreiche Bildungsprozesse zu durchlaufen.

Kinder in ihrer Mehrfachzugehörigkeit wahrnehmen

Inklusion stellt demnach eine Aufforderung dar, Kinder in ihrer Unterschiedlichkeit wahrzunehmen und anzuerkennen – in ihrer ganzen Persönlichkeit als mehrfachzugehörig und nicht nur mit Blick auf einen Aspekt ihrer Identität. Es wird davon ausgegangen, dass Menschen in sehr verschiedenen Lebenswelten leben und sich ihre Identitäten immer aus mehreren Merkmalen und Zugehörigkeiten, veränderlichen wie unveränderlichen, selbst gewählten wie zugeschriebenen, zusammensetzen. Skepsis gilt Sichtweisen, die Kinder ausschließlich unter einem bestimmten Blickwinkel wahrnehmen, zum Beispiel als »behindert« oder »nicht-deutscher Erstsprache« oder »hochbegabt«. Ein plurales Gesellschaftsverständnis legt demgegenüber einen pädagogischen Blick nahe, der alle Kinder in ihrer Mehrfachzugehörigkeit und in ihrer konkreten Lebenslage wahrnimmt.1 Dies liegt nicht »auf der Hand«, es braucht Erkundungen und Situationsanalysen, eine bewusste Anstrengung, um seinen eigenen Blick zu schärfen (Kron, Papke & Windisch 2010; Sulzer & Wagner 2011; Prengel 2010).

Normierung befördert Exklusion

Inklusion beinhaltet auch die Aufforderung, Unterschiedlichkeit nicht zu bewerten – entlang eines »Zwei-Welten-Bildes« von Normalität und Abweichung, etwa »behindert« und »nicht-behindert« (vgl. Albers 2011, S. 13ff.). Doch dies ist in der Praxis ein sehr hoher Anspruch, vor allem je größer die Unterschiede zu den eigenen Normalitäten (und damit verbunden: Normen) sind. Pädagogische Fachkräfte brauchen ein Verständnis darüber, dass Normierung Exklusion befördert. Die Beschäftigung mit Inklusion beinhaltet daher stets auch die Auseinandersetzung mit Exklusion.

1.3Inklusion und Exklusionsrisiken

Mit der Betonung, die Bedürfnisse aller Kinder zu berücksichtigen, spricht die Deutsche UNESCO-Kommission ausdrücklich die Risiken an, die insbesondere Minderheiten oder Personen in schwierigen Lebenslagen tragen: dass Bildungsangebote für sie nicht passen, dass Bildungseinrichtungen nicht auf ihre Bedürfnisse eingestellt sind, dass sie Ausgrenzung erfahren, ihnen Zugehörigkeit und Teilhabe verwehrt wird. Die Möglichkeiten für Teilhabe und Zugang zu relevanten gesellschaftlichen Ressourcen wie Bildung, Arbeit, Wohnraum liegen dabei nicht im Ermessen des Einzelnen, sondern sind beeinflusst von seinen sozialen Zugehörigkeiten. Das gilt bereits für junge Kinder.

Den Blick für Ausgrenzung schärfen

Das Risiko, mit ungleichen Chancen für Bildung konfrontiert zu sein, haben in Deutschland gegenwärtig vor allem Kinder mit einer körperlichen oder geistigen Beeinträchtigung, Kinder in Armutslagen, Kinder aus Migrantenfamilien und da insbesondere Familien mit einem Herkunftsort außerhalb der Europäischen Union, Kinder und Familien mit muslimischen und jüdischen Glaubensanschauungen, Kinder aus Roma-Familien und Kinder mit Fluchterfahrung sowie auch Kinder von alleinerziehenden Eltern (Motakef 2006; ECRI 2004/2009).2

So verstanden hat Inklusion das Potenzial, in Bildungseinrichtungen den Blick für Ausgrenzung zu schärfen – im Jargon der UN für »most vulnerable groups« – also für diejenigen Kinder und deren Familien, die nachweislich ein besonders hohes Risiko haben, von Ausgrenzung betroffen zu sein.

Einen Perspektivwechsel vornehmen

Bei Inklusion steht mithin ein Perspektivwechsel im Mittelpunkt: Bildungseinrichtungen werden ermutigt, sich der Frage zu stellen, wo sie in ihren Strukturen, ihrem Handeln, ihren Curricula dazu beitragen, bestimmte Gruppen zu benachteiligen bzw. auszuschließen. Es wird gezielt danach gefragt, welche Abläufe in den Einrichtungen zu Barrieren werden, die eine uneingeschränkte Teilhabe behindern oder sogar verhindern. Inklusion kann also nur dann erreicht werden, indem Mechanismen von Exklusion wahrgenommen – und abgebaut werden.

1.4Inklusion braucht systematische Arbeit auf mehreren Ebenen

Gesellschaftliche Ausgrenzung und Benachteiligung bzw. Privilegierung und Bevorteilung sind oft nicht leicht zu durchschauen, weil sie auf verschiedenen Ebenen wirken, die einander wechselseitig durchdringen (vgl. Pates et al. 2010; Gomolla 2010):

gesamtgesellschaftlich bzw. »ideologisch-diskursiv« (a. a. O.), wenn stereotype Darstellungen oder tradierte Norm-Vorstellungen in Medien, Politik, Öffentlichkeit verbreitet und reproduziert werden

institutionell, wenn Teilhabebarrieren bestehen, die Resultat von institutionellen Strukturen, Selbstverständlichkeiten und Routinen sind

interaktional, wenn Personen zum Beispiel aufgrund ihres Alters, ihrer Herkunft beleidigt, nicht beachtet oder missachtet und dadurch abgewertet werden

subjektiv, wenn Vorurteile oder blinde Flecken über Andere in der eigenen Vorstellung dominieren

Diese Ebenen sind letztlich nicht voneinander zu trennen. Um Teilhabebarrieren zu erkennen, mit dem Ziel, sie abzubauen, kann es allerdings hilfreich sein, sich entlang dieser Ebenen quasi als Lupen für die eigenen Erkundungen und Reflexionen zu orientieren.

»Wir können das nicht fordern«

Ein Forschungsteam führt einen Gesprächskreis mit aus Kasachstan eingewanderten jungen Müttern in einer Kita in Berlin durch. Die Mütter sind seit fünf bzw. sieben Jahren in Deutschland. Zum Kontakt mit den Erzieherinnen sagen sie:

Anna: Wir haben kaum Kontakt zu den Erzieherinnen, weil wir Probleme mit der Sprache haben. Einfach zu ihnen zu kommen und zu sprechen, sogar an den Elternabenden, das nun ja … (dreht den Kopf zu Magda).

Magda: Wir sind einfach peinlich berührt. Natürlich könnten wir was sagen und beitragen.

Anna: Ja, peinlich (nickt).

Magda: Ja, man ist sich einfach bewusst, dass neben dir Deutsche sitzen, also sitzt du da und verhältst dich ruhig.

Die Mütter trauen sich auch nicht, mit den Erzieherinnen über ihre Wünsche für die Erziehung ihrer Kinder zu sprechen und haben das bisher auch nicht getan.

Im Gespräch kommt die Interviewerin auch auf die Frage, ob die Mütter gerne mehr von den Dingen einbringen wollen würden, die für sie aus ihrer Heimat wichtig sind, zum Beispiel russische Lieder oder Gedichte oder das Feiern von Festtagen ihrer Heimat. Die Mütter reagieren begeistert, wiegeln dann aber ab:

Magda: Ja, zwei Sprachen von Beginn an zu lernen … oder Väterchen Frost feiern … Vielleicht sind es aber nur wir, die das wollen.

Anna: Nun, und wir leben in ihrem Land, also wie könnten wir so etwas fordern?

Magda: Ja.

Die Mütter in diesem Beispiel fühlen sich nicht in der Rolle, dass sie mit den Erzieherinnen über ihre Vorstellungen reden könnten. Die Rolle hat mit ihrer Lebenslage zu tun – zum einen sehen sie sich in ihrer Zugehörigkeit als neu zugewanderte Personen in der Position, sich anzupassen und unterzuordnen, in dem Fall an die vermeintlichen Einstellungen der deutschen Erzieherinnen zum Umgang mit kultureller Vielfalt in der Kita. Und zum anderen auch in ihrer Rolle als Eltern, die es aus ihrer Heimat kennen, dass Mütter und Väter sich nicht in Kita-Belange einbringen. Die Erzieherinnen mögen dieses Nicht-Einbringen wiederum als Abwehr oder Desinteresse deuten. Das Beispiel findet sich so oder ähnlich in einigen Kitas, wenn es um Schwierigkeiten im Kontakt mit Eltern geht.

Teilhabebarrieren erkennen

Die Teilhabebarrieren zeigen sich in der Qualität der Beziehungsverhältnisse, in dem gefühlten Unwohlsein der Mütter im Kontakt mit den pädagogischen Fachkräften und anderen Eltern und in der Folge in der eingeschränkten Beteiligung, was häufig zu einer Beeinträchtigung des Eltern-Erzieher*innen-Kontakts führt, der durch die Distanz belastet wird. Sie wirken auch im Selbstverständnis der Mütter in der Haltung, dass sie perspektivisch nur dann an der deutschen Gesellschaft im Großen und der Kita im Kleinen teilhaben können, wenn sie sich anpassen und einen Austausch auf gleicher Augenhöhe nicht erwarten.

Das Beispiel verweist auf gesellschaftliche Strukturen in Deutschland, in denen Migrant*innen eher das Risiko haben, nicht gleichberechtigt mit Nicht-Migrant*innen zu interagieren, und in denen in vielen Bereichen Anpassung von ihnen erwartet wird und die Möglichkeitsräume, sich einzubringen, begrenzt werden.

Teilhabebarrieren zu erkennen hat daher auch immer etwas damit zu tun, zu verstehen, wie die gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse aussehen, im Kontext derer Kinder, Familien und pädagogische Fachkräfte miteinander zu tun haben. Ausgrenzung und Benachteiligung von Personen aufgrund bestimmter Merkmale geschehen selten isoliert – häufig sind Menschen in mehreren Bereichen mit Diskriminierung bzw. mit reguliertem Zugang zu Ressourcen konfrontiert, zum Beispiel auf dem Wohnungsmarkt, Arbeitsmarkt, in Ausbildung und Bildungssystem (vgl. Pates et al. 2010, S. 27ff.).

Inklusion als Aufforderung, Exklusion abzubauen, bedeutet also eine systematische Auseinandersetzung mit Benachteiligung und Privilegierung in der Gesellschaft, in Bildungseinrichtungen und im konkreten eigenen professionellen Handeln (vgl. Sulzer & Wagner 2011, S. 9ff.; Albers 2011; Prengel 2010).

1.5Inklusion betont allgemeine rechtliche Grundlagen

Die Bedürfnisse von Kindern zu berücksichtigen, ein für sie passendes pädagogisches Angebot zu entwickeln, so wie es für Inklusion angestrebt wird, ist kein pädagogischer Sonderauftrag, sondern grundlegender gesetzlicher Auftrag an Kindertageseinrichtungen.

Gleicher Zugang zur und innerhalb der Kita

Das spezifisch inklusive Moment erwächst zum einen aus der kontinuierlichen Aufmerksamkeit dafür, ob alle Kinder gleichen Zugang zur Kita haben. Müssen sich zum Beispiel die Eltern eines Kindes mit mehrfacher körperlicher Behinderung engagieren, um ihr Recht auf ein passendes Betreuungsangebot (und einen Betreuungsplatz) einzufordern, wie es oft noch der Fall ist, oder sorgen staatliche Stellen, Einrichtung und Träger dafür, dass ein entsprechendes Angebot wohnortnah bereitgestellt wird und dem Kind (und seiner Familie) aus seiner persönlichen Lebenssituation kein Nachteil entsteht? Es erwächst zum anderen aus der systematischen Aufmerksamkeit dafür, ob auch innerhalb der Kita jedes Kind entsprechend seiner Möglichkeiten und Fähigkeiten teilhaben kann (vgl. Kreuzer & Ytterhus 2009; Sulzer & Wagner 2011; Sulzer 2013).

Dabei ist eine inklusiv ausgerichtete pädagogische Praxis keine im Vergleich zu einer allgemeinen pädagogischen völlig verschiedene Praxis – im Gegenteil. Inklusive pädagogische Praxis fokussiert allgemeine pädagogische Abläufe (Projekte, Materialien, Interaktionen etc.) in Bezug darauf, inwiefern diese die unterschiedlichen Lebenslagen der Kinder berücksichtigen und Risiken für Teilhabe mindern. Sie weist zahlreiche Schnittstellen mit bereits entwickelten Ansätzen auf, die soziale Heterogenität zum Ausgangspunkt ihrer pädagogischen Praxis machen, wie zum Beispiel Menschenrechtsbildung, Kinderrechte-betonte Ansätze, Demokratiepädagogik, Geschlechterbewusste Pädagogik, Lebensformenpädagogik, Interkulturelle Pädagogik etc. (vgl. Sulzer & Wagner 2011, S. 12ff.; Pates et al. 2010). Die Aktivitäten haben ihre Grundlage in den Rechten, die im Grundgesetz, in der Kinderrechtskonvention, dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz etc. verankert wurden (vgl. Forum Menschenrechte 2011, S. 9ff.). Sie fußen auf dem gesetzlichen Anspruch, dass jedes Kind das gleiche Recht auf Bildung und das Recht auf Schutz vor Diskriminierung hat.

Das Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungsangebot von Kindertageseinrichtungen »soll sich am Alter und dem Entwicklungsstand, den sprachlichen und sonstigen Fähigkeiten, an der Lebenssituation sowie den Interessen und Bedürfnissen des einzelnen Kindes orientieren und seine ethnische Herkunft berücksichtigen« (§ 22 Abs. 2 SGB VIII).

1.6Werteorientiertes demokratisches Handeln als Grundlage für Inklusion

Inklusion kann verstanden werden als ein gesellschaftliches und pädagogisches Modell, das auf bestimmten Werten beruht: der Anerkennung der Besonderheit und Mehrfachzugehörigkeit von Individuen, der Anerkennung dessen, dass bestimmte Gruppen eher gefährdet sind, Barrieren zu erfahren als andere, und dass es daher auch in pädagogischen Einrichtungen Aufmerksamkeit für Teilhabebarrieren geben muss.

Koppelung von Diversitätsbewusstsein und Diskriminierungskritik

Es geht also um eine Verknüpfung der Berücksichtigung sozialer Vielfalt mit einer Aufmerksamkeit für Ausgrenzung und Ungleichbehandlung: Teilhabebarrieren und Diskriminierung müssen benannt werden, damit Kinder sich in ihrer Verschiedenheit entfalten können. Das Abbauen von Barrieren erfordert eine Koppelung von Diversitätsbewusstsein und Diskriminierungskritik.

Diese Wertebasierung ist wie eine Brille, durch die pädagogische Prozesse angesehen werden – die Eckpfeiler im Bauplan oder Koordinaten der Landkarte für Inklusion. Es geht darum, Fragen über gesellschaftliche Verhältnisse im Großen und Kleinen zu stellen, Erkundungen anzustellen und auf dieser Grundlage zu handeln.

Literatur

Albers, T. (2011): Mittendrin statt nur dabei. Inklusion in Krippe und Kindergarten. München.

Deutsche UNESCO-Kommission (Hrsg.) (2010): Inklusion: Leitlinien für die Bildungspolitik. 2. Auflage. Bonn (Original UNESCO 2009, Paris).

Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) (2004): Dritter Bericht über Deutschland. Strasbourg. www.coe.int/ecri.

Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) (2009): Vierter Bericht über Deutschland. Strasbourg. www.coe.int/ecri.

Forum Menschenrechte (2011): Menschenrechte und frühkindliche Bildung in Deutschland. Empfehlungen und Perspektiven. Berlin. www.forummenschen-rechte.de oder www.unesco-menschenrechte.de.

Gomolla, M. (2010): Institutionelle Diskriminierung. Neue Zugänge zu einem alten Problem. In: U. Hormel & A. Scherr (Hrsg.): Diskriminierung. Grundlagen und Forschungsergebnisse. Wiesbaden, S. 61–94.

Jerg, J. (2010): Inklusion von Anfang an. Entgrenzungen als Herausforderung für eine inklusive Gestaltung von Kindertagesstätten. In: Frühe Kindheit, S. 29–33.

Kobelt-Neuhaus, D. (2010): Inklusion – Konsequenzen für die Praxis in Kindertageseinrichtungen. Frühe Kindheit, S. 18–23.

Kreuzer, M. & Ytterhus, B. (Hrsg.) (2009): Dabeisein ist nicht alles. Inklusion und Zusammenleben im Kindergarten. München.

Kron, M.; Papke, B. & Windisch, M. (Hrsg.) (2010): Zusammen aufwachsen: Schritte zur frühen inklusiven Bildung und Erziehung. Bad Heilbrunn.

Motakef, M. (2006): Das Menschenrecht auf Bildung und der Schutz vor Diskriminierung. Exklusionsrisiken und Inklusionschancen. Berlin.

Pates, R.,; Schmidt, D.; Karawanskij, S. et al. (Hrsg.) (2010): Antidiskriminierungspädagogik: Konzepte und Methoden für die Bildungsarbeit mit Jugendlichen. Wiesbaden.

Prengel, A. (2010): Inklusion in der Frühpädagogik – bildungstheoretische, empirische und pädagogische Grundlagen. Expertise erstellt im Auftrag der WIFF am Deutschen Jugendinstitut. München. www.weiterbildungsinitiative.de.

Sulzer, A. (2013): Kulturelle Heterogenität in Kindertagesstätten im Kontext von Migration. Qualifikationsanforderungen an die Fachkräfte. Expertise im Auftrag des Deutschen Jugendinstituts. München.

Sulzer, A. & Wagner, P. (2011): Inklusion in Kindertageseinrichtungen – Qualifikationsanforderungen an die Fachkräfte. Expertise im Auftrag des Deutschen Jugendinstituts. München. www.weiterbildungsinitiative.de.

1Vgl. vertiefend Prengel 2010, Kobelt-Neuhaus 2010, Jerg 2010, Sulzer & Wagner 2011.

2Hier leisten vor allem Einrichtungen wie das Deutsche Institut für Menschenrechte, Antidiskriminierungsstellen, Sonderberichterstatter der UN und EU unabhängige Berichterstattung.

2Der Ansatz Vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung© als inklusives Praxiskonzept

Petra Wagner

2.1Inklusive pädagogische Praxis entwickeln

Der Anspruch auf Inklusion bezieht seine Legitimität aus den Menschen- und Kinderrechten. »Education for all« war bereits 1990 das Motto der globalen Initiative der Vereinten Nationen für Bildungsgerechtigkeit und gegen Bildungsbenachteiligung.3 Im aktuellen Weltbildungsbericht der UNESCO zum Thema »Bildung und Inklusion« wird dies bekräftigt: »Für alle heißt für alle!« (UNESCO 2020). Praxiskonzepte müssten von dieser Werteorientierung ausgehen und verdeutlichen, dass die Gestaltung einer inklusiven pädagogischen Praxis nicht ausreichen wird, um Bildungsbarrieren abzubauen, sondern von institutionellen und strukturellen Veränderungen begleitet und initiiert sein muss.

Konzepte, die Kinder und Familien in ihren Mehrfachzugehörigkeiten adressieren, die Diversitätsbewusstsein mit Diskriminierungskritik verknüpfen, die nicht nur individuelles professionelles Handeln, sondern auch den institutionellen Kontext in den Blick nehmen, sind nach wie vor Mangelware (vgl. Sulzer & Wagner 2011, S. 42). Eines der wenigen inklusiven Praxiskonzepte ist der Ansatz vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung, der seit 2000 vom Berliner Institut für den Situationsansatz im Rahmen von Kinderwelten entwickelt und bundesweit erprobt wurde.4

Inzwischen wird der Ansatz häufig genannt und zuweilen etwas unpräzise rezipiert. Die Reduzierung auf die Verwendung des Adjektivs »vorurteilsbewusst« für unterschiedliche Zwecke bedeutet eine Verflachung des Ansatzes, insofern eine vage Qualität angedeutet wird, ohne auf die systematische Qualitätsentwicklung vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung Bezug zu nehmen. Damit wird der Eindruck erweckt, die Qualität ließe sich über einen Vorsatz, eine programmatische Aussage oder über eine Haltungsänderung herstellen. Langjährige Erfahrungen mit der Implementierung vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung in Kitas und Schulen lassen etwas gänzlich anderes schlussfolgern. Ein inklusives Praxiskonzept zu realisieren ist

Ein inklusives Praxiskonzept realisieren

langwierig, weil sowohl das individuelle als auch das institutionelle Lernen rund um Inklusion / Exklusion lange dauert und ohne Qualitätseinbußen nicht zu beschleunigen ist,

kooperativ, denn zu Einsichten und Erkenntnissen kommt man nicht für sich alleine, sondern es bedarf eines Teams als Lerngemeinschaft, das seine eigene Praxis kritisch erforscht,

anspruchsvoll, weil es keine Rezepte gibt, sondern Ziele und Prinzipien systematisch auf den eigenen Kontext bezogen werden müssen,

aufwendig, weil notwendigerweise mehrere Verantwortungsebenen einzubinden sind,

mit Kosten verbunden, denn es verlangt neben inklusiven Strukturen im Bildungssystem eine kontinuierliche Investition in Fortbildung und fachliche Begleitung und damit in die Ermöglichung kontinuierlicher Selbst- und Praxisreflexion der pädagogischen Fachkräfte.

Praxiskonzepte für die Kita und Qualifizierungskonzepte sind als ein Baustein im Großprojekt Inklusion zu sehen.

2.2Anforderungen an pädagogische Fachkräfte

Inklusionskompetenzen

Im erziehungswissenschaftlichen Diskurs hat die Auseinandersetzung darüber, welche Qualifikationsanforderungen die Implementierung von Inklusion an pädagogische Fachkräfte stellt, eben erst begonnen (vgl. Sulzer & Wagner 2011). »Inklusionskompetenzen« können gesehen werden als eine Fokussierung allgemeiner pädagogischer Handlungskompetenz:

»Die Fokussierung liegt darin, das Handwerkszeug, das man als Erzieherin bzw. Erzieher mitbringt, kritisch zu überprüfen und grundlegend um ein Bewusstsein für Diversität wie auch für Diskriminierungs- und Ausschlussrisiken zu ergänzen« (a. a. O., S. 50).

In der Expertise zu Qualifikationsanforderungen, die Inklusion an frühpädagogische Fachkräfte stellt, wird der Versuch unternommen, pädagogische Grundkompetenzen auf Inklusion hin zu spezifizieren (a. a. O., S. 26ff.). Zentral ist die Kompetenz, wertebezogen im Sinne der Inklusion zu handeln.

Werteorientierte Handlungskompetenz

Werteorientierte Handlungskompetenz bedeutet, Inklusion als wertebezogenen Begründungszusammenhang zu vertreten, also bei konkreten Entscheidungen im Alltag in der Lage zu sein, diese mit Verweis auf Inklusion zu begründen. Erforderlich ist eine grundlegende Entscheidung, gegen Exklusion und für Bildungsgerechtigkeit einzustehen. Es handelt sich um eine Entscheidung, die eine Auseinandersetzung mit moralischen Grundwerten erfordert und von Fall zu Fall wieder neu überprüft und argumentiert werden muss. Ein solcher Entscheidungs- und permanenter Klärungsprozess ist mühsam und voraussetzungsvoll – und hat nichts zu tun mit dem einfachen Beschwören einer »Haltungsänderung«, die gegenwärtig viele Texte zu Inklusion durchzieht.

Methodisch-didaktische Kompetenz

Hervorgehoben sei die methodisch-didaktische Kompetenz, die praktische Antwort auf die Fragen nach dem »Wie« der Umsetzung inklusiver Praxis: Wie bewerkstelligt man einen Alltag, der alle Kinder einbezieht? Wie wird man ihrer Verschiedenheit gerecht? Wie interveniert man bei Abwertung und Ausschluss? Was sind inklusive Fragestellungen, welche schließen eher aus?

Grafik: Annika Sulzer

Zur Beantwortung dieser Fragen können sich pädagogische Fachkräfte allerdings kaum auf verfügbares Wissen stützen, denn die erziehungswissenschaftliche Fundierung elementardidaktischer Handlungskompetenz erfolgt bislang selten auf Werteorientierungen hin (Fröhlich-Gildhoff et al. 2014; DJI 2017).

»Respect for Diversity«

Für den Bereich der inklusiven Pädagogik stellt die australische Forscherin Glenda MacNaughton in ihrer Übersicht von Forschungsergeb(nissen im englischsprachigen Raum ebenfalls fest, dass die Forschungslage lückenhaft sei. Einige Forschungsergebnisse geben allerdings Hinweise auf methodisch-didaktisches Handeln, das sich in der Praxis zu »Respect for Diversity« in Bezug auf Gender, ethnisch-kulturelle Unterschiede, Entwicklungsunterschiede und sozioökonomische Unterschiede bewährt hat.

Es ist die Kombination von nicht-stereotyper Lernumgebung mit dem expliziten Ansprechen von Unterschieden und dem verlässlichen Intervenieren bei Einseitigkeiten und Diskriminierung (MacNaughton 2006, S. 3ff.).

Das verweist darauf, dass inklusive Fachkräfte methodisch-didaktische Kompetenzen zur Alltagsgestaltung brauchen, insbesondere zur Raumgestaltung und zur Interaktion mit den Kindern, und eher nicht ein bestimmtes Repertoire an Aktivitäten mit Kindern, wie etwa Spielanregungen oder thematische Projekte. Gefragt sind allgemeine methodisch-didaktische Kompetenzen mit einem Fokus auf inklusionsbezogene Fragen, die wiederum auf fachlichem Wissen darüber aufbauen, wie Kinder Einseitigkeiten wahrnehmen und verarbeiten.

Der Ansatz vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung liefert mit seinen Grundlagen, seinen Zielen, didaktischen Prinzipien und einem erprobten Repertoire an Methoden eine realisierbare Arbeitshilfe für die Gestaltung einer inklusiven pädagogischen Praxis. Er ist eine Adaption des »Anti-Bias-Approach« (= Ansatz gegen Einseitigkeiten und Diskriminierung), der in den 1980er Jahren von Louise Derman-Sparks in den USA mitentwickelt wurde (vgl. Derman-Sparks & Olsen 2020; Derman-Sparks, siehe Seite 299 ff.).

2.3Wissen um soziale Identitäten und institutionelle Vor- und Nachteile

Im Anti-Bias Approach wird danach gefragt, wie junge Kinder in gesellschaftlichen Verhältnissen aufwachsen, die von Ungleichheit und Diskriminierung gekennzeichnet sind, und welche Auswirkungen dies auf ihr Selbstbild und auf ihre Vorstellungen über andere Menschen hat. Unterschiede zwischen Kindern sind damit nicht reduziert auf individuelle Besonderheiten im Sinne von Neigungen oder Befindlichkeiten, sondern verbunden mit ihren sozialen Zugehörigkeiten, die bereits früh wesentlicher Teil ihrer Identitäten sind:

»Menschen haben viele Identitäten: ihre Identitäten als Familienmitglieder (Mutter, Enkel, Tante), ihre Identität als arbeitender Mensch (Erzieherin, Lehrer, Schriftstellerin), ihre Identifikationen mit bestimmten Talenten und Interessen (als Joggerin, Tänzer, Künstlerin, Musiker). Sie identifizieren sich mit bestimmten persönlichen Charakteristika (gesprächig, versorgend, guter Student) und mit körperlichen Besonderheiten (behindert/beeinträchtigt, stark, attraktiv). All dies gehört auch zu den Identitäten eines Kindes.

In der Anti-Bias Arbeit achten wir auf soziale Identitäten im Sinne von Gruppenidentitäten. Sie haben einen Einfluss auf jedes Mitglied der Gruppe und sind mit strukturellen oder institutionalisierten Vorteilen oder Nachteilen verbunden. Die Gruppenidentitäten der pädagogischen Fachkräfte und die der Familien haben außerdem einen Einfluss darauf, welche Aspekte und Ziele der Anti-Bias Arbeit sie für besonders wichtig und bedeutsam halten. Die Gruppenidentitäten, die für Anti-Bias Arbeit besonders bedeutsam sind, beziehen sich auf ethnische Herkunft, Familienkultur, Hautfarbe, sozialen Status, Geschlecht, sexuelle Orientierung und Behinderung/Beeinträchtigung« (Derman-Sparks 2008, S. 241).

Unterschiede werden bewertet

Kinder lernen aktiv und beobachten aufmerksam, was sich um sie herum ereignet. Gerade Unterschiede zwischen Menschen machen sie neugierig, und sie haben früh ihre eigenen Theorien darüber, wie Unterschiede entstehen. Sie entnehmen ihrer Umwelt permanent Botschaften – unmittelbare Vorurteile genauso wie unbewusste Mitteilungen. Auch all das, was in ihrer Umgebung unsichtbar bleibt, hat eine Bedeutung für sie. Sichtbares und Unsichtbares gibt ihnen Aufschluss darüber, wie wichtig etwas ist. Botschaften entnehmen sie nicht nur ihrem häuslichen Erfahrungsfeld. Sie sind überall mit stereotypen Bildern konfrontiert: in Bilderbüchern, Filmen, Slogans auf T-Shirts etc. Sobald Kinder unterscheiden können, erfahren sie auch, dass Unterschiede bewertet werden. Zunächst bezieht sich dies auf äußere Unterschiede, auf körperliche Merkmale oder Merkmale des Aussehens. Ohne jemals direkten Kontakt zu haben, übernehmen Kinder Stereotype und Vorurteile über Menschen oder Gruppen von Menschen aus all dem, was sie zuhause und im weiteren Umfeld hören und sehen: »Man lernt Vorurteile aus dem Kontakt mit den vorherrschenden Einstellungen in einer Gesellschaft, nicht aus dem Kontakt mit Einzelnen« (Derman-Sparks 1998, S. 6).

Kinder sind nicht »neutral«

Kinder sind nicht »neutral« als junge Lerner*innen: Was sie sehen und hören, verarbeiten sie immer auf der Grundlage ihrer sozialen Identitäten; es gibt keinen anderen Resonanzboden. Sie ziehen ihre eigensinnigen Schlüsse daraus und zeigen zuweilen, wie die gesellschaftlichen Ungleichverhältnisse Eingang in ihre Konstruktionen von Weltwissen finden. Sie zeigen auch, dass und wie frühe Botschaften über soziale Identitäten bildungsrelevant sind, indem sie Bildungsprozesse von Kindern ermutigen oder behindern5:

Eine Erzieherin hört, wie sich vierjährige Kinder in der Puppenecke unterhalten. Drei Kinder, zwei Jungen und ein Mädchen, spielen zusammen. Mark kommt zu ihnen. Einer der Jungen, der sonst häufig mit Mark spielt, sagt: »Jetzt kannst du nicht mitspielen. Schwarze und Weiße können nicht heiraten.«

Paul (4 Jahre) ist außer sich: Als die anderen Kinder sahen, dass er eingepinkelt hat, haben sie ihn »Baby!« genannt.

Metin (5 Jahre) malt sich selbst. Ganz genau. Schaut sich im Spiegel an und malt. Jetzt die Haare. Metin ist blond. Er nimmt gelb – und schaut gequält auf den Stift, bevor er ihn ansetzt: »Ist aber eine Mädchenfarbe …!«

Lisa verteilt gerade Einladungen zu ihrem fünften Geburtstag an die Kinder. Klaus, ein Junge mit einer angeborenen Muskelschwäche, bekommt keine Einladung. Als die Erzieherin nachfragt, sagt Lisa: »Ein behindertes Kind lade ich nicht zu meinem Geburtstag ein«.

Bewertungen entlang bestimmter Identitätsmerkmale

Die Beispiele zeigen, dass Kinder Bewertungen entlang bestimmter Identitätsmerkmale vornehmen und mit Verweis darauf auch beim Aushandeln von Spielinteressen und bei Präferenzen für Spielpartner*innen argumentieren. Dabei zeigt sich die Überschneidung bzw. Gleichzeitigkeit von Differenzlinien, auf die Kinder Bezug nehmen: Sie argumentieren als Junge oder Mädchen, mit oder ohne Migrationshintergrund, nehmen Bezug auf Alter, Religion, Behinderung, Familienkonstellationen, im Grundschulalter auch auf sozioökonomische Unterschiede der Familien und sexuelle Orientierung. Das tun sie, weil sie ihre sozialen Identitäten als Gesamtheit entwickeln und gleichzeitig in Korrespondenz zu ihren kognitiven und sprachlichen Fähigkeiten die Botschaften über Unterschiede verarbeiten, die sie ihrer Umgebung seit ihrer Geburt entnehmen. Ihre Kategorisierungen sind auch zu sehen als Fähigkeiten – und erfordern gleichzeitig Hinterfragung und Irritation, auch indem diejenigen deutlichen Schutz erfahren, die über die bewertenden Kategorisierungen ausgegrenzt, herabgewürdigt, beschämt werden.

»Hierarchiekompetenz« bereits in frühen Jahren

Das gesellschaftliche Wissen, das Kinder bereits in frühen Jahren haben, zeigt »Hierarchiekompetenz«: Es ist ein Wissen um die in ihrer Lebenswirklichkeit vorherrschende Dominanzkultur, in die sie sich selbst und andere einordnen. Dominanzkultur bedeutet, »dass unsere ganze Lebensweise, unsere Selbstinterpretationen sowie die Bilder, die wir von anderen entwerfen, in Kategorien der Über- und Unterordnung gefasst sind« (Rommelspacher 1995, S. 22). Über- und Unterordnung, Höherbewertung und Geringschätzung, viel oder wenig Einfluss sind Informationen über die Gesellschaft, die Kinder in frühesten Jahren tangieren. Es sind Informationen, mit denen sie bereits in die Kita kommen und die sie im Weiteren im Kindergarten und anderen Erziehungs- und Bildungseinrichtungen aufnehmen.

Inklusive Interaktion

Bestätigt die institutionelle Kultur der Kita die gesellschaftlichen Wertsetzungen, so trägt sie dazu bei, dass Kinder früh Vor- oder Nachteile aus ihren sozialen Identitäten ziehen. Kinder, deren Familienkulturen viel Übereinstimmung mit der institutionellen Kultur aufzeigen, können in der Regel einfacher auf die Bildungsgelegenheiten zugreifen, die ihnen die Kita bietet, wohingegen sich Kindern, die nichts Vertrautes vorfinden und zusätzlich verunsichert oder entmutigt sind, Barrieren auftun können, weil ihre Familienkultur nicht vorkommt oder abgewertet wird. Die Kinder sind dann häufig still und bringen sich wenig ein. Sie profitieren unter Umständen nicht in dem Maße vom Bildungsangebot der Kita wie die anderen Kinder (vgl. Gonzales-Mena 2008, S. 18; Keller 2011). Eine Lernumgebung, die ihnen »Anker« bietet, weil die Kinder sich und ihre Familienkultur wiedererkennen, kann ihnen helfen, sich einzulassen. Eine »inklusive Interaktion«, die so angelegt ist, dass sie auch nach ihren Erfahrungen fragt und diesen einen Raum bietet, kann ihnen vermitteln, geschätzt und wichtig zu sein. Dabei lernen alle Kinder etwas: Sie lernen, sich in die anderen hineinzuversetzen. Sie erfahren, dass Menschen unterschiedlich leben. Sie lernen, kompetent damit umzugehen. Sie erleben, dass die Kita ein Ort ist, wo es fair zugeht und nicht immer dieselben die »Bestimmer*innen« sind. Und dass sie gemeinsam für Fairness und Gerechtigkeit sorgen können.

2.4Lernen und Arbeiten mit dem Ansatz vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung

Klare Werteorientierung

Die bildungs- und gesellschaftspolitische Relevanz und Brisanz des Ansatzes liegt in der Verknüpfung des Rechts auf Bildung mit dem Recht auf Schutz vor Diskriminierung. Damit hat vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung eine klare Werteorientierung: Unterschiede sind gut, diskriminierende Vorstellungen und Handlungsweisen sind es nicht. Respekt für die Vielfalt findet eine Grenze, wo unfaire Äußerungen und Handlungen im Spiel sind. Interventionen sind gefordert, mit denen man sich deutlich gegen Abwertung und Ausgrenzung ausspricht.

Der Ansatz bezieht alle Vielfaltsaspekte ein, die im Leben von Kindern bedeutsam sind, und orientiert sich an vier Zielen (vgl. Derman-Sparks & Olsen 2020; Derman-Sparks, siehe Seite 299 ff.):

Die vier Ziele

Ziel 1: Alle Kinder in ihren Identitäten stärken

Jedes Kind findet Anerkennung und Wertschätzung, als Individuum und als Mitglied einer bestimmten sozialen Gruppe. Dazu gehören Selbstvertrauen und ein Wissen um seinen eigenen Hintergrund.

Ziel 2: Allen Kindern Erfahrungen mit Vielfalt ermöglichen

Auf der Basis einer gestärkten Ich- und Bezugsgruppen-Identität wird Kindern ermöglicht, aktiv und bewusst Erfahrungen mit Menschen zu machen, die sich von ihnen unterscheiden, sodass sie sich mit Unterschieden wohlfühlen und Empathie entwickeln können.

Ziel 3: Kritisches Denken über Ungerechtigkeit und Diskriminierung anregen

Das kritische Denken von Kindern über Ungerechtigkeiten und Diskriminierung anzuregen heißt auch, mit ihnen eine Sprache zu entwickeln, um sich darüber verständigen zu können, was gerecht und was ungerecht ist.

Ziel 4: Das Aktivwerden gegen Unrecht und Diskriminierung unterstützen

Kritisch denkende Kinder werden ermutigt, sich aktiv und gemeinsam mit anderen für Gerechtigkeit einzusetzen und sich gegen einseitige oder diskriminierende Verhaltensweisen zur Wehr zu setzen, die gegen sie selbst oder gegen andere gerichtet sind.

Die Ziele bauen aufeinander auf. Sie setzen an Alltagserfahrungen von Kindern und Familien an und realisieren sich im Alltag.6 Anti-Bias Arbeit ist »wie eine Linse, durch welche alle Interaktionen, Lehrmaterialien, Aktivitäten geplant und betrachtet werden müssen« (Derman-Sparks 2001, S. 15).

Verantwortung für die Lernumwelt

Die Auseinandersetzung mit Einseitigkeiten und Diskriminierung ist zunächst von den Erwachsenen, allen voran von pädagogischen Fachkräften, zu führen. Sie tragen Verantwortung für eine Lernumwelt, die gesellschaftliche Abwertung und Ausgrenzung nicht bekräftigt, sondern hinterfragt und herausfordert. Sie sind aufgefordert, ihren Umgang mit Unterschieden kritisch zu reflektieren und für Einseitigkeiten, Vorurteile, Diskriminierung und deren Folgen sensibler zu werden. Die Aus- und Fortbildung von pädagogischen Fachkräften ist der Bereich, in dem der Ansatz vermittelt wird. Das Konzept der Aus- und Fortbildung sieht neben der Wissensvermittlung zu Diversität und Diskriminierung die kritische Selbstreflexion im Zusammenhang mit der Reflexion pädagogischer Praxis vor (vgl. Derman-Sparks & Phillips 1997).

Sensibilisierungs-Workshops sind kein Selbstzweck. Sie begleiten die Entwicklung einer Anti-Bias Praxis mit jungen Kindern. Damit unterscheidet sich der Ansatz wesentlich von Diversity-Trainings, die nicht auf eine bestimmte Zielgruppe und auch nicht auf die Qualitätsentwicklung eines bestimmten Praxisfeldes ausgerichtet sind.

Kritische Selbstreflexion

Es ist eine hohe Anforderung, pädagogische Praxis diversitätsbewusst und diskriminierungskritisch zu gestalten, weil diese Herangehensweise in Vielem dem entgegensteht, was Menschen üblicherweise erleben oder erlebt haben. Auch Erzieher*innen erinnern sich in Fortbildungen an Einseitigkeiten, an Ausschluss und Herabwürdigungen, und auch daran, ohnmächtig und hilflos gewesen zu sein. Es sind Erfahrungen, die sie häufig in Erziehungs- und Bildungseinrichtungen gemacht haben7:

»Im Kindergarten wurden Engel gebastelt, auf den Vorlagen waren sie alle blond. Ich habe als junge Erzieherin vorgeschlagen, die Vorlagen zu verändern, damit auch Engel mit anderen Haarfarben gebastelt werden können. Das hat die Gruppenerzieherin abgelehnt.«

»Als ich in die Grundschule kam, nannten mich die anderen Kinder ›Russland‹. Das war hart. Ich habe mich dann verbündet mit den zwei anderen ›Ausländern‹ in der Klasse.«

»Als Praktikantin bekam ich eine Rüge, weil ich Russisch gesprochen hatte und das in der Kita nicht statthaft war. Ich hatte der russischstämmigen Oma eines Kindes, die nicht Deutsch sprach, etwas auf Russisch erklärt.«

»Ich habe schon als Kind Lego-Figuren einseitig gefunden, später auch als Erzieherin, aber aus der Erkenntnis habe ich nie etwas gemacht! Man denkt immer, so ist es halt, da kann man nichts machen.«

Solche Erinnerungen sind wichtige Ansatzpunkte, um die Rechtfertigungen und Beschwichtigungen zu durchbrechen, mit denen üblicherweise versucht wird, Unrecht und Leidvolles abzumildern oder zu ignorieren. Notwendig sind Gelegenheiten für Reflexionen mit dem Ziel, die eigene Praxis ohne Scheuklappen in den Blick zu nehmen und Veränderungsnotwendigkeiten zu erkennen. Sie zu realisieren erfordert immer auch, sie mit den Veränderungsmöglichkeiten abzugleichen: Die durch Rahmenbedingungen gesetzten Grenzen sind realistisch einzuschätzen, ohne vorschnell das Machbare auszuschließen.

2.5Inklusion als Ergebnis systematischer Qualitätsentwicklung

Das Qualitätshandbuch

Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung als inklusives Praxiskonzept lässt sich realisieren in einem längeren Prozess der Praxisentwicklung, in dem Kita-Teams fortgebildet und fachlich begleitet werden. Das Fortbildungskonzept basiert auf systematischer Selbst- und Praxisreflexion (vgl. ISTA/Fachstelle Kinderwelten 2018) entlang eines Qualitätshandbuchs (ISTA/Fachstelle Kinderwelten 2021), das mit zahlreichen Kitas unterschiedlicher Träger entwickelt und erprobt wurde.

Das Qualitätshandbuch orientiert sich an den vier Zielen vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung und an vier Handlungsfeldern, in denen pädagogische Fachkräfte diese Ziele realisieren – in der vorurteilsbewussten Gestaltung

der Lernumgebung,

der Interaktion mit Kindern,

der Zusammenarbeit mit Eltern und

der Zusammenarbeit im Team.

Fachlicher Austausch über Qualität

Zu jedem Handlungsfeld pro Ziel sind es zwei bis vier Qualitätsansprüche, die im Qualitätshandbuch pädagogisches Handeln präzisieren und mit jeweils vier bis acht Qualitätskriterien ausführen. Die Vorgehensweise zur internen Evaluation, die Kita-Teams mit diesem Instrument vornehmen können, folgt der Systematik der Materialien für die Qualitätsentwicklung im Situationsansatz (Preissing & Heller 2014, S. 56ff.): Selbsteinschätzung der Einzelnen, strukturierte Gruppendiskussionen zur Teameinschätzung, Zusammenfassung der Einschätzungen und Verabredungen für die Weiterarbeit. Dabei werden Stärken sichtbar, die es zu erhalten gilt. Entwicklungsbedarf wird ebenfalls deutlich, realisierbare Veränderungen werden geplant und durchgeführt. Ausschlaggebend ist, wieweit es den Kolleg*innen gelingt, mithilfe des Handbuchs in einen fachlichen Austausch einzutreten, der Erkenntnisse befördert und fachliche Begründungen für das pädagogische Handeln zu vertiefen hilft.

Die Erfahrung zeigt, dass dies meistens gelingt. Auch wenn nicht das ganze Qualitätshandbuch bearbeitet wird, sondern nur ein Ausschnitt davon. Im Folgenden handelt es sich um einen Qualitätsanspruch im Handlungsfeld »Zusammenarbeit im Team« zum zweiten Ziel vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung, bei dem die Entwicklung von »Diversitätsbewusstsein« im Vordergrund steht (vgl. Wagner 2011).

Zunächst wird der Qualitätsanspruch mit den folgenden Kriterien vorgestellt (2021, S. 36):

Pädagogische Fachkräfte erarbeiten sich im Team eine sachlich korrekte und wertschätzende Sprache, um Unterschiede zwischen Menschen zu benennen.

1.Pädagogische Fachkräfte machen sich die negativen Auswirkungen von abwertenden Bezeichnungen für Menschen bewusst und achten auf eine anerkennende Sprache. Dazu gehört auch eine geschlechtergerechte Sprache, die verschiedene Geschlechter einschließt.

2.Pädagogische Fachkräfte vermeiden es, Kinder und ihre Familien als »anders« oder von der Norm abweichend zu bezeichnen und verwenden stattdessen sachlich korrekte Beschreibungen für ihre Merkmale, Verhaltensweisen, Fähigkeiten.

3.Pädagogische Fachkräfte vermeiden die Verwendung von »wir« oder »man«, wenn »ich« oder »ihr« oder »wir hier in der Gruppe« gemeint ist.

4.Pädagogische Fachkräfte achten bei der Beschreibung von Familien auf deren Individualität und machen sie nicht zu Repräsentanten einer ganzen sozialen Gruppe.

5.Pädagogische Fachkräfte orientieren sich bei der Beschreibung ethnischer Vielfalt an der konkreten Lebensrealität der Familien in Deutschland und vermeiden touristische und folkloristische Bilder.

6.Pädagogische Fachkräfte beschreiben körperliche Merkmale von Menschen sachlich korrekt.

7.Pädagogische Fachkräfte schließen nicht vorschnell von Sprache, Hautton, Augenform, Haarfarbe oder -struktur auf die Herkunft von Menschen.

8.Pädagogische Fachkräfte erarbeiten sich ein respektvolles Vokabular für die Bezeichnung von Menschen bzw. Gruppen von Menschen, das sie immer wieder überprüfen.

9.Pädagogische Fachkräfte achten darauf, Menschen mit Behinderungen nicht defizitär oder bemitleidenswert zu beschreiben, sondern realistisch mit ihren Stärken und Beeinträchtigungen.

Arbeit in Kleingruppen

Der Arbeitsauftrag für Kleingruppen lautet: Diskutieren Sie die Kriterien zu diesem Anspruch. Wie wichtig sind sie Ihnen? Wo können Sie mitgehen? Wo gibt es Widerspruch? Wieweit erfüllen Sie diese Kriterien? Bringen Sie Beispiele mit.

Einige Teilnehmer*innen bei Fortbildungen haben sich damit beschäftigt, wie es kommt, dass man häufig nicht wertschätzend über Unterschiede spricht und was man dagegen tun kann:

»Wenn ich mir die Zeit nehme zu formulieren, dann kann ich mich sachlich korrekt und wertschätzend ausdrücken. Oft stehe ich aber unter Handlungsdruck und kann das dann nicht so ausdifferenzieren.«

»Man ist sich oft nicht bewusst, was man sagt. Die Reflexion muss vorher kommen.«

»Ob man mit diesen Kriterien arbeiten kann, hängt von der Bereitschaft ab, sich mit sich selbst kritisch auseinanderzusetzen.«

»Man braucht Mut, um sich im Team auf die Sprachverwendung anzusprechen.«

»Man braucht Zeit, bis man andere Begriffe übernommen hat. Gut wäre es, eine Sammlung zu machen mit wertschätzenden Worten/Bezeichnungen.«

»Wenn ich bei mir selbst schaue, wie oft ich von »wir« schreibe, wenn ich Deutsche meine, obwohl ich nicht mal Deutsche bin. Es wäre vielleicht gut, mit Erzieher*innen anhand von Bildern zu üben, ein Kind zu beschreiben und damit Sprachverwendungen zu überprüfen. Oder zu sammeln: Was sind abwertende und anerkennende Ausdrücke, zum Beispiel, wenn bei uns von »Kopftuchmüttern« geredet wird.«

Manche Fortbildungs-Teilnehmenden sprechen auch das Dilemma an, das in der Verwendung von Bezeichnungen liegt, aufgrund derer es Abwertung in der Gesellschaft gibt:

»Es heißt da, man solle die Beschreibung ›mit Behinderungen‹ nicht defizitär sehen. Will man allerdings Eingliederungshilfen bekommen, so muss man das so schreiben, also sehr auf Defizite und Bedürftigkeiten hin orientiert, fast so, dass die Kinder scheitern müssen. Das ist ein Widerspruch, eine starke Spannung.«

»Warum wird die Behinderung überhaupt hervorgehoben? Schon das ist problematisch!«

Kategorien und Bezeichnungen

Unterschiede zu benennen geht nicht ohne die Verwendung von Kategorien, die bereits mit Bewertungen »belegt« sind. Die Kategorien zu verwenden heißt aber immer auch, eine Praxis der Vereinfachung, Verallgemeinerung und damit der Verzerrung von tatsächlicher Vielschichtigkeit fortzusetzen. Sie nicht zu verwenden heißt aber nicht, dass die Zuschreibungen und Diskriminierungen entlang bestimmter Merkmale aus der Welt sind, sie werden dadurch nur nicht benannt. Es geht nicht anders: Man muss Kategorien verwenden, als Begriffe, um die Welt zu begreifen, und gleichzeitig muss man um die Wirkmächtigkeit der Begriffe wissen und sich davor hüten, sie für die Wirklichkeit zu halten. Sie verwenden und sich gleichzeitig von ihnen distanzieren, ein bewusstes Sprechen in »Anführungszeichen«, könnte deutlich machen, dass man um die Unzulänglichkeit der verwendeten Bezeichnung weiß und im Moment keine bessere kennt.

In solchen Auseinandersetzungen werden Ansatzpunkte erkennbar, wie mithilfe des Qualitätshandbuchs Erkenntnisprozesse und Praxisveränderungen angeregt werden können:

»Die Ansprüche im Team zu besprechen wäre gut. Man könnte sich dann besser darauf aufmerksam machen, wenn einem im Folgenden etwas Abfälliges in der Sprache auffällt. Wenn ich zum Beispiel nicht merke, was ich da gerade sage, aber eine Kollegin merkt es und stupst mich dann an und nimmt Bezug auf diesen Anspruch, dann kann ich mitgehen, ohne mich angegriffen zu fühlen.«

Die Beispiele zeigen, wie mühsam und kleinteilig eine inklusive Praxis entwickelt werden muss. Während pädagogische Fachkräfte sich hierbei auf die Mikroprozesse im Alltag mit Kindern, Eltern und im Team konzentrieren, braucht inklusive Qualitätsentwicklung flankierende Maßnahmen auf der Meso-Ebene der institutionellen Kultur und Struktur. Hier sind die Träger der Einrichtungen gefragt. Das Qualitätshandbuch für die vorurteilsbewusste Kita-Praxis wird ergänzt durch ein Handbuch für die Trägerqualität8, das Ansprüche an vorurteilsbewusstes Trägerhandeln enthält.

2.6Auch die Lernumgebung vorurteilsbewusst gestalten

Das Qualitätshandbuch gibt auch Hinweise für die vorurteilsbewusste Gestaltung der Lernumgebung. Ein Qualitätsanspruch lautet: »Pädagogische Fachkräfte überprüfen ihre Räume und deren Ausstattung daraufhin, ob sie stereotype oder einseitige Materialien enthalten.« Eine derartige Überprüfung setzt voraus, dass sie sich mit Stereotypen und deren Wirkungen auf Kinder auseinandergesetzt haben. Pädagogische Fachkräfte müssen wissen, dass Erwachsene stereotype Darstellungen von Menschen anders wahrnehmen als Kinder. Erwachsene erkennen Verallgemeinerungen und Verzerrungen, während Kinder auch mit stereotypen Bildern ihre Wirklichkeitskonstruktionen aufbauen.

Materialien als bedeutsamer Weltausschnitt

Für Kinder sind die Materialien, die ihnen erwachsene Autoritäten geben, ein besonders bedeutsamer Weltausschnitt, weil sie von den Erwachsenen ausgewählt wurden. Sie gelten damit als richtig und wichtig und sind etwas, worauf sich Kinder einen Reim machen müssen. Junge Kinder können stereotype Bilder von Menschen zwar uninteressant finden, aber weil ihnen das Wissen noch nicht zur Verfügung steht, dass und wie diese Darstellungen die Wirklichkeit verzerren, können sie sich davon nicht zur Gänze distanzieren. Das betrifft insbesondere die jüngsten Kinder, während es mit Kindern im Kindergartenalter möglich ist, über solche Darstellungen kritisch nachzudenken. Louise Derman-Sparks folgert hieraus, dass konsequenterweise stereotype Darstellungen in der Krippe nichts zu suchen haben9.

Stereotype Materialien auszusortieren fällt schwer: Teure Spiele, die man soeben angeschafft hat, einfach in den Müll geben? Gerade angesichts knapper Ressourcen sind solche Entscheidungen langwierig. Und natürlich sind sie gebunden an Alternativen.

»Das Familienspiel« (2010) wurde von Kinderwelten entwickelt, weil Materialien vermisst wurden, die vielfältige Familienkonstellationen und -kulturen in einer respektvollen und realistischen Weise darstellen. Das Familienspiel besteht aus 36 Memory-Kartenpaaren, die jeweils ein Kind und ein Kind mit seiner Familie zeigen. Eine ausführliche Handreichung enthält Anregungen, was außer dem »klassischen« Memory mit den Karten gemacht werden kann, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu thematisieren. »Suchen und finden« lautet eine Aufforderung, bei der es darum geht, ganz genau auf die Details zu schauen: Finde das Kind mit den Ohrringen, mit der Baseballmütze, mit einem Pferdeschwanz … Finde die Familie mit den Großeltern, mit dem Hund, mit zwei Papas … Beim »Sortieren und Zuordnen« erkennen Kinder bestimmte Merkmale und beziehen sie aufeinander, wodurch sie ihre Vorstellungen hinterfragen und um neue Sichtweisen erweitern können: Suche Kinder, die schwarzes, blondes, braunes Haar haben. Welche Haarfarben findest du hier nicht? Welches Kind hat die gleiche Haarfarbe wie du? Suche Familien mit einem, zwei, drei, mehr als drei Kindern. Wie viele Kinder sind in deiner Familie? »Gespräche über Familien« können mit Fragen angeregt werden, die Kinder Vermutungen und eigene Erfahrungen äußern lassen: Welche Familien sehen fröhlich aus? Woran erkennst du das? Was macht dich fröhlich?

Das Familienspiel eignet sich, um die Ziele vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung methodisch zu realisieren. Allerdings erklärt sich auch dieses Arbeitsmaterial nicht selbst: Es setzt voraus, dass sich pädagogische Fachkräfte kritisch mit ihrem Verständnis von Familie beschäftigen, um Kindern und Eltern gegenüber glaubhaft vertreten zu können, dass sie damit alle die Konstellationen meinen, in denen Erwachsene für Kinder sorgen.

Damit ist ein weiterer Anspruch formuliert, der nicht alleine auf die Schultern der pädagogischen Fachkräfte gelegt werden kann. Inklusion erfordert neben Praxiskonzepten, Fortbildungsansätzen und methodisch-didaktischen Handreichungen auch inklusive Materialien. – Gefragt ist die Zuarbeit von vielen, zum Beispiel von Forschungsinstituten, Hochschulen, Fortbildungseinrichtungen, Verlagen und auch der Spielzeugindustrie.

Literatur

Booth, T.; Ainscow, M. & Kingston, D. (2010): Index für Inklusion. Lernen, Partizipation und Spiel in der inklusiven Kindertageseinrichtung entwickeln. 3. Auflage. Frankfurt am Main.

Das Familienspiel (2010): verlag das netz in Kooperation mit Kinderwelten/ISTA. Kiliansroda/Weimar.

Derman-Sparks, L. (1998): »Education without prejudice« – Goals and Principles of Practice. Manuskript. Vortrag in Dublin/Irland.

Derman-Sparks, L. (2001): Culturally Relevant Anti-Bias-Education with Young Children. Manuskript. Pasadena/Kalifornien.

Derman-Sparks, L. (2008): Anti-Bias Pädagogik: Aktuelle Entwicklungen und Erkenntnisse aus den USA. In: P. Wagner (Hrsg.): Handbuch Kinderwelten. Vielfalt als Chance – Grundlagen einer vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung. Freiburg.

Derman-Sparks, L. & A.B.C. Task Force (1989): Anti-Bias-Curriculum: Tools for empowering young children. Washington D.C.

Derman-Sparks, L. & Phillips, C. (1997): Teaching/ Learning Anti-Racism. A developmental Approach. New York.

Derman-Sparks, L. & Olsen Edwards, J. (2020): Anti-Bias Education for Young Children and Ourselves. 2. überarbeitete Auflage. Washington D.C.

Deutsches Jugendinstitut (DJI) (2017) (Hrsg.); Bildungsteilhabe und Partizipation. Grundlagen für die kompetenzorientierte Weiterbildung. WIFF Wegweiser Weiterbildung Band 12.

Deutsche UNESCO-Kommission (Hrsg.) (2009): Frühkindliche Bildung inklusiv gestalten: Chancengleichheit und Qualität sichern. Resolution der 69. Hauptversammlung. Brühl. www.unesco.de/bildung/inklusive-bildung/fruehkindliche-bildung-inklusiv-gestalten-chancengleichheit-und-qualitaet.

Fröhlich-Gildhoff, K.; Weltzien, D.; Kirstein, N.; Pietsch, S. & Rauh, K. (2014): Expertise Kompetenzen früh-/kindheitspädagogischer Fachkräfte im Spannungsfeld von normativen Vorgaben und Praxis. Im Auftrag des BMFSFJ: AG Fachkräftegewinnung für die Kindertagesbetreuung.

www.bmfsfj.de/resource/blob/94174/6a47780ac348d80e4718f38d52230ae8/kompetenzen-frueh-kindheitspaedagogischer-fachkraefte-im-spannungsfeld-von-normativen-vorgaben-und-praxis-data.pdf.

Gonzalez-Mena, J. (2008): Diversity in Early Care and Education. Honoring Differences. 5. edition. New York.

Institut für den Situationsansatz/Fachstelle Kinderwelten (Hrsg.) (2017): Inklusion in der Kitapraxis. 4 Bände. Band 1: Die Zusammenarbeit mit Eltern vorurteilsbewusst gestalten; Band 2: Die Lernumgebung vorurteilsbewusst gestalten; Band 3: Die Interaktion mit Kindern vorurteilsbewusst gestalten; Band 4: Die Zusammenarbeit im Team vorurteilsbewusst gestalten. Berlin.

Institut für den Situationsansatz/Fachstelle Kinderwelten (2018): Lernprozesse zur Vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung begleiten. Ein Methodenhandbuch. Band 6. Berlin.

Institut für den Situationsansatz/Fachstelle Kinderwelten (Hrsg.) (2021): Qualitätshandbuch für Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung in Kitas. Verfahren und Instrumente für die interne Evaluation zur Weiterentwicklung inklusiver pädagogischer Praxis Band 7. Berlin.

Keller, H. (2011): Kinderalltag. Kulturen der Kindheit und ihre Bedeutung für Bindung, Bildung und Erziehung. Berlin/ Heidelberg.

MacNaughton, G. (2006): Respect for diversity. An international overview. Den Haag: Bernard van Leer Foundation.

Preissing, Ch. & Heller, E. (Hrsg.) (2014): Qualität im Situationsansatz. Qualitätskriterien und Materialien für die Qualitätsentwicklung in Kindertageseinrichtungen. 3. Auflage. Berlin.

Rommelspacher, B. (1995): Dominanzkultur: Texte zu Fremdheit und Macht. Orlanda.

Sulzer, A. & Wagner, P. (2011): Inklusion in der Frühpädagogik: Qualifikationsanforderungen an die Fachkräfte. Expertise für die WIFF im Deutschen Jugendinstitut, München. www.weiterbildungsinitiative.de.

UNESCO/ Deutsche UNESCO-Kommission (Hrsg.) (2020): Inklusion und Bildung: Für alle heißt für alle. Weltbildungsbericht – Kurzfassung. Bonn. www.unesco.de/bildung/weltbildungsbericht.

Wagner, P. (Hrsg.) (2008): Handbuch Kinderwelten. Vielfalt als Chance – Grundlagen einer vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung. Freiburg.

Wagner, P. (2011): Diversitätsbewusstsein als Qualifikationsanforderung an pädagogische Fachkräfte. pfv-Jahrbuch. Berlin, S. 94–103.

Wagner, P. (2012): Der Ansatz vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung. KiTa spezial, 19–21.

Wagner, P. (2014): Was Kita-Kinder stark macht: Gemeinsam Vielfalt und Fairness erleben. Berlin.

Wagner, P.; Hahn, S. & Enßlin, U. (Hrsg.) (2006): Macker, Zicke, Trampeltier … Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung in Kindertageseinrichtungen. Handbuch für die Fortbildung. Weimar/ Berlin. www. kinderwelten.net.

3Vgl. UNESCO: World Declaration on Education for All. Jomtien, Thailand. 5–9 March 1990, https://unesdoc.unesco.org/ark:/48223/pf0000127583 (Zugriff: 27.08.2021).

4www.kinderwelten.net.

5Beispiele aus Kinderwelten; www.kinderwelten.net.

6Vgl. Praxisbücher zur Vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung in den vier Handlungsfeldern Lernumgebung, Interaktion mit Kindern, Zusammenarbeit mit Eltern, Zusammenarbeit im Team (ISTA/Fachstelle Kinderwelten 2017).

7Aus Fortbildungen im Rahmen von Kinderwelten; www.kinderwelten.net.

8Handbuch für die vorurteilsbewusste Trägerqualität (2010, unveröffentlicht).

9Im persönlichen Gespräch.

3Gleichheit und Differenz im Kindergarten10 – eine lange Geschichte

Petra Wagner

3.1Homogenisierung und Diskriminierung

Der Kindergarten war – im Unterschied zur Schule – in seinen Anfängen vor 200 Jahren als Einrichtung privater christlicher Sozialfürsorge und seit 1920 als Teil der Jugend- und Wohlfahrtspflege nicht obligatorisch. Hier regulierte seit jeher die Kostenpflicht bzw. die finanzielle Beteiligung der Eltern den Zugang und hatte Auswirkungen auf die Ausstattung und darauf, ob der Schwerpunkt einer Einrichtung eher auf Bewahren11 oder auf Bilden und Erziehen12 lag. Dies führte zu einer jeweils relativ homogenen Zusammensetzung in sozialer Hinsicht.

Die Homogenisierung13 von Lerngruppen ist historisch ein Organisationsprinzip von Schule: Anfänglich nach sozialem Stand und nach Geschlecht, später weitgehend nach Alter und Leistung wurden und werden Schüler*innen in Klassen zusammengefasst. Es sind die Einheiten, von denen aus die weitere Auslese nach Leistung vorgenommen wird (vgl. Diehm 2004). Der Zwang zur Homogenisierung galt in Deutschlands Schulen verstärkt mit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht ab Beginn des 19. Jahrhunderts, denn nun besuchten Kinder aller sozialen Stände die Grundschule.

Grundlegung früher Bildungsprozesse

Zu Beginn waren die meisten Kindergärten von konfessionellen Vereinigungen getragen und christlich ausgerichtet. Innerhalb der Einrichtungen bestand aber kein Zwang eines permanenten Leistungsvergleichs wie in der Schule, um Selektionsentscheidungen zu rechtfertigen. Infolgedessen waren homogene Lerngruppen kein durchgängiges Organisationsprinzip im Kindergarten. Diehm (2004, S. 531) erklärt dies mit der gesellschaftlichen Funktion, die dem Kindergarten zugewiesen war: der Betreuung und Erziehung von jungen Kindern sowie der Grundlegung früher Bildungsprozesse. Bis in die Weimarer Zeit brauchte man Jungen und Mädchen dafür nicht zu trennen. Die Trennung nach Alter geschah eher aus Gründen der Rationalisierung und weil Reifungstheorien zur Verwissenschaftlichung der Pädagogik beitrugen, die Alter gleichsetzten mit psychischer Entwicklung und Lernvermögen (a. a. O., S. 536).

Das Ende von Reformansätzen aus der Weimarer Zeit