Hannah - Binjamin Zwi - E-Book

Hannah E-Book

Binjamin Zwi

0,0

Beschreibung

Die Berliner Jüdin Hannah Epstein und ihre große Liebe Hans Mangold haben die nationalsozialistische Judenvernichtung mit viel Glück im Berliner Untergrund überlebt. Hans' totgeglaubter Vater betreibt in der Schweiz eine Vermögensverwaltung, holt Hans ins Geschäft, und dieser holt bald seine Hannah zu sich in die Schweiz. Sie heiraten im August 1952; Im November 1952 kommt ihr Sohn Samuel auf die Welt. Das Foto auf dem Buchtitel stammt aus dieser Zeit. Dies ist die Geschichte von Hans, Hannah und Samuel, erzählt von Hannah, eine Geschichte von märchenhaftem Reichtum und Glück. Aber es ist kein Märchen. Es ist Hannahs Lebensgeschichte, aufgezeichnet von einem ihrer Nachkommen anhand eines Entwurfs in ihrem Nachlass.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 397

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Binjamin Zwi

MANGOLD

I Hannah

Roman

JUNGES GLÜCK (1945–1951) ·

JUNGE FAMILIE (1952–1975) ·

JUNGE GEMEINDE (1976–2008) ·

Dieses Buch widme ich Hannah

(* 1934, † 2017)

Einleitung

Mein Name ist Hannah. Ich bin Jüdin. Ich erwähne es hier gleich am Anfang, denn es hat mein Leben geprägt. Und in diesem Buch geht es um mich und um mein Leben – alles in allem ein glückliches Leben, auch wenn es erst nicht so aussah. Doch dann hat sich der Erfolg eingestellt, und wir gehören heute zur Oberschicht.

Für alle sichtbar wurde unser Glück, als mein Mann Hans und ich in Freiburg eine der schönsten Villen dort kauften. Damals trug sie den schönen Namen Villa Else, benannt nach Else Weil, die dort einst mit ihrem Mann lebte. Nun sitze ich hier in der Villa Mangold – die heute unseren Familiennamen trägt – an meinem Schreibtisch und schreibe in meinem eleganten Arbeitszimmer an diesem Buch und lasse mein Leben Revue passieren.

Heute ist es ein ganz normales Gefühl, sich als Jüdin frei draußen auf der Straße zu bewegen. Es sieht einem ja niemand an, und Juden werden längst nicht mehr in der Öffentlichkeit gedemütigt. Nur ich selbst weiß eben, wer ich bin und dass meine heutige Freiheit alles andere als selbstverständlich ist.

Natürlich gibt es den Antisemitismus schon lange. Er hat sich tief und fest in weite Teile der Gesellschaft hineingefressen und sich dort wie ein Bazillus eingenistet. Niemand sollte also denken, dass wir diese Form des Barbarismus endgültig überwunden haben. Manche Leute brauchen eben ihre Vorurteile, und einige wenige setzen sie sogar in die Tat um. Aber das ist heute selten geworden; gleich erhebt sich in solchen Fällen ein gesellschaftlicher Aufschrei.

Aber als ich ein Kind war, wurde man für seine Herkunft nicht nur belästigt, sondern ermordet. Es ist nicht einmal lange her. Ich kann mich noch gut daran erinnern. Ich war um die 12. Es wird mir für immer in den Knochen stecken, so friedlich die Verhältnisse inzwischen auch sind.

Ich war ein bildhübsches Mädel, bereit für die erste große Liebe. Doch daraus wurde nichts. Mein Traum platzte, als der Krieg begann. Mein Volk wurde gejagt, verschleppt und zum großen Teil ermordet, obwohl wir doch gar keine Kriegspartei waren. So viele Menschen, Buben und Mädel, aber auch Mütter und Väter wurden bestialisch ermordet – bis in die letzten Kriegstage hinein, als der Krieg längst verloren war.

Ich und meine Familie hatten Glück. Gemeinsam mit ein paar wenigen anderen konnten wir einem Todeszug entkommen, uns verstecken und diese grauenhafte Zeit überleben.

Wir waren aus unserem Zuhause verschleppt, vom Nazi wie Dreck behandelt worden. Mancher wurde ermordet, weil er sich weigerte, sein Heim zu verlassen. Wir waren in sogenannte Umsiedlungslager gekommen, dann wie dreckiges, stinkendes Vieh in Eisenbahnwaggons getrieben worden. In einem Waggon waren so viele Menschen, dass man sich nicht hinsetzen oder gar sein Geschäft verrichten konnte. Man ließ es einfach laufen und versuchte zu überleben. Wer überlebte, kam in ein Internierungslager und überlebte auch dies, wenn er Glück hatte.

Wir hatten Glück. Unser Zug wurde von Kampffliegern angegriffen und entgleiste. Wir suchten Unterschlupf in einem verlassenen Gehöft, und eine kleine Gruppe von uns wagte sich auf den Rückweg nach Berlin. Dort gab es eine Zuflucht. Viele von uns überlebten dort dank unseres Helden Eliam Katzenstein. Er war der Anführer in der Zuflucht und nahm uns auf.

Karl, ein junger Wehrmachtssoldat, tötete sogar einen Kameraden, um Eliam Katzenstein und Adam, meinen Bruder, zu retten. Karl und Eliam waren vor dem Krieg beste Freunde gewesen und hatten einander bei ihrem Blute ewige Freundschaft geschworen. Nun bewies Karl seine Treue, indem er unseren Feind tötete, auch wenn es nur ein einzelner Soldat war.

Als Eliam damals den Schuss aus Karls Waffe hörte, dachte er erst, Karl habe sich selbst erschossen, und er und Adam blieben jahrelang in diesem Glauben, denn sie flohen, so rasch ihre Beine sie trugen. Erst in den letzten Kriegstagen fand Eliam heraus, dass Karl noch lebte und rettete ihm nun seinerseits das Leben.

Karl war desertiert, da er keinen Sinn in einem nutzlosen Krieg sah und diesen auch nie gewollt hatte. Er wurde aufgegriffen und sollte an einer der Laternen in der Wilhelmstraße Nähe Reichskanzlei aufgeknüpft werden. Doch er stolperte benommen und fast verhungert vor Eliams Geländewagen und konnte im Bombenhagel entkommen, weil die Soldaten, die ihn hängen sollten, fast noch Jugendliche waren und abhauten. Karl ließen sie unverrichteter Dinge zurück.

Ja, Eliam war unser Held. Er wollte das aber nicht hören. Er ging nach dem Krieg nach Holland, um seine Freundin Rachel zu suchen.

Auch in einer Ära des Schreckens bleibt die Zeit nicht stehen. Trotz aller Bedrohungen muss das Leben weitergehen. Wer das Ganze schließlich überstehen und am Ende zu den Überlebenden gehören will, darf nicht aufgeben, niemals. Es finden sich immer wieder Verbündete und Gerechte. Sie werden nicht allein gelassen, sondern finden Verbündete, Gerechte sogar. Ich fand im Überlebenskampf meinen geliebten Mann Hans Mangold. Ihn heiratete ich später.

Es gab auch gute Menschen wie das Bauernpaar Adaja und Gustav, welche uns sehr geholfen haben. Wir mussten ja etwas zu essen haben. Gustav und zwei weitere Bauern aus dem Berliner Umland gaben uns, was sie entbehren konnten. Die beiden sind uns sehr ans Herz gewachsen. Erst später erfuhr ich, dass Gustav auch Adaja vor dem Nazi gerettet hatte. Sie war Jüdin, er evangelischer Christ. Ein befreundeter Pfarrer verheiratete sie und besorgte gefälschte Papiere. Ihr Name war seitdem Marta, aber in ihrem Herzen blieb sie Adaja.

Ohne Adaja und Gustav hätten wir oft hungern müssen, und ich hätte Hans nie getroffen. Die beiden fanden ihn fast tot im Wald und pflegten ihn gesund. Wir nahmen ihn in der Zuflucht auf. Es war Liebe auf den ersten Blick.

Die beiden nahmen auch unseren Eli auf. Seine Familie war von den Nazi ermordet worden. Eliam hatte ihn gerettet und ihm ein Zuhause in der Zuflucht gegeben. Eli war richtig vernarrt in Adaja, und als wir dort einmal Nahrung holten, beschloss er, bei den beiden zu bleiben. Eli wurde ihr Sohn. Das war das Beste für ihn, und sie halfen ihm auch dabei, nicht angesichts seines schweren Schicksals zu verbittern. Eli wurde ein fabelhafter Mensch. Er lebt heute noch mit seiner Familie auf dem Hof seiner Eltern und ist Rinderzüchter. Die ländliche Region um Berlin bot sich damals und bietet sich auch noch heute sehr gut dazu an.

Nachdem wir den Krieg überlebt hatten und Eliam Katzenstein (Gott hab’ ihn selig) mit dem russischen Befehlshaber Marschall Konstantinowitsch eine Übereinkunft getroffen hatte, waren wir endlich wieder frei! Aufgrund von Eliams beachtlichem Verhandlungsgeschick bekamen wir von Marschall Konstantinowitsch ein altes Lager, welches vor dem Krieg Jugendfreizeiten gedient hatte. Dort machten wir es uns gemütlich und bauten unsere Gemeinde auf. Heute stehen dort nur noch Mauerreste. Die DDR wollte nicht an unsere Geschichte erinnern. Die jüdische Flagge mit unserem Davidstern weht dort schon lange nicht mehr.

Was war das für ein Gefühl, nach so langer Zeit unter der Erde auf einmal durch die zerbombten Straßen von Berlin zu laufen! Nun, es war nur eine prekäre Freiheit, und wir verdankten sie nur dem russischen Besatzer. Wäre es nach den Deutschen gegangen … Wir Juden wurden jetzt zwar nicht mehr ermordet, aber gehasst haben sie uns dennoch, vielleicht sogar noch mehr als zuvor, denn wir wussten ja jetzt, was sie uns angetan hätten, wäre ihnen nicht im letzten Augenblick das Handwerk gelegt worden.

Wir sahen es an ihren Blicken, als sie uns zerlumpte Gestalten sahen, und sie ließen sich auch einschlägige Kommentare nicht nehmen wie zum Beispiel: »Na! Hat man euch vergessen? In Auschwitz brennen sicher noch die Öfen!« Später wollten sie ja alle nichts gewusst haben, aber damals waren sie gut informiert, und man konnte auch nicht sagen, dass sie etwa eine Faust in der Tasche gemacht hätten, weil sie ja doch keinen Widerstand hätten leisten können. Nein, das ist alles nicht wahr, und sie denken auch heute noch nicht anders, trauen sich nur nicht mehr.

Oder diese alte verbitterte Naziwitwe aus unserer Nachbarschaft, die einen Eimer mit eiskaltem Wasser von oben aus ihrem Fenster auf uns goss. Ich werde das nie vergessen, spüre heute noch den Kälteschock, als ich das Wasser abbekam. Sie war es, die mich immer als Judengöre beschimpfte. Nur weil ich ein schwarzes Kleid trug, das nicht mehr so schön aussah.

Juden trugen und tragen die meiste Kleidung in Schwarz. Schwarzer Anzug, weißes Hemd, Weste. Je nach Glauben kommt noch die Kopfbedeckung dazu, entweder Kippa oder Schtreimel. Frauen trugen oder tragen auch heute noch schwarze Kleider mit langen Ärmeln und darüber eine schwarze Strickjacke. Die Kopfbedeckung ist je nach Glaube entweder Perücke (Scheitl) oder Kopftuch. (Umgangssprachlich wird bei uns Juden ein älterer Mantel oder ein älteres Kleid, welches nicht mehr so adrett aussieht, auch mal als Judenrock bezeichnet.)

Wir wollten wieder in die Levetzowstraße ziehen, wo wir vor dem Krieg gewohnt hatten, aber da war nichts mehr so, wie es einmal gewesen war. Die Synagoge war so gut wie vernichtet. Sie wurde auch nicht mehr restauriert und in den 50er-Jahren durch die DDR-Behörden abgerissen. Doch so lange stand sie immerhin da und war – für uns unzugänglich und entweiht – eine ständige stumme Mahnung unseres Schicksals!

Als Kind war ich mit meiner Familie immer dorthin gegangen. Wir hatten gebetet, unsere Freunde getroffen und mit Rabbi Lewkowitz über unsere Religion gesprochen. Es tat mir richtig weh, wie ‹meine› Synagoge so zerstört vor uns stand.

(1960 wurde eine Mauer mit einer Gedenktafel errichtet. Nach der Wende ging ich dorthin und war schockiert. Aus einem religiösen Ort war ein Spielplatz und Bolzplatz geworden. Lediglich auf dem halben Grundstück wurde 1988 eine Flammenwand aus Stahl aufgestellt, eine Rampe und ein Waggon mit Figurationen, die in Eisen geschnürte ‹Menschenpakete› abstrakt darstellen. Danke!)

Ansonsten waren der Osten und die DDR nie ein Thema in meinem Leben. Ich wollte nie dort leben, ich hasste dieses Regime und die Auffassungen von Ulbricht. Nur meine liebe Mutter Sarah war immer noch gerne in der Levetzowstraße, aber das Haus war bautechnisch nicht mehr zu retten – dachten wir damals.

Mein Vater suchte uns eine Wohnung im Bezirk Mitte, und so gingen wir schon bald alle in den Westen von Berlin. Er holte nur noch die letzten Habseligkeiten aus unserer alten Wohnung und auch das, was noch im Laden übriggeblieben war. Wie ich erst kurz vor seinem Tod erfuhr, holte er damals anscheinend weit mehr aus dem Keller, als wir wissen durften. Die Dokumente und Fotos, die er damals rettete, sind für einen Bestseller gut, doch bei mir wusste mein Vater das Geheimnis in guten Händen, als es mit ihm zu Ende ging.

Wer weiß, vielleicht kommt in unserer Familie noch ein Schriftsteller zur Welt, der dieses Thema aufgreift? Ich versprach meinem Vater, dass ich es nicht machen würde. Natürlich hielt ich mich bis heute daran! Nicht nur weil ich es ihm versprochen habe – ich würde es mir auch nicht zutrauen, oder möchte es mir nicht zumuten. Nur meine eigene Geschichte, die kann ich erzählen.

Junges Glück

(1945 – 1951)

HANNAH EPSTEIN (MITTE) MIT MUTTER SARAH (LINKS) UND BRUDER ARI (RECHTS) VOR DER VERFOLGUNG, BERLIN CA. 1940

Neues Leben und der Umzug

Weil aus der Familie von Hans niemand mehr lebte, wollte mein lieber Vater Yaron, dass Hans auch nach der Befreiung bei uns blieb. Nicht nur waren wir im Untergrund so etwas wie eine Familie geworden: Mein Vater wusste bereits, dass wir uns liebten, und ich hatte auch bald meine Bat-Mizwa; ich wurde religiös mündig und durfte einen Freund haben.

Als wir dann 1946 in unsere neue Wohnung im Bezirk Mitte gingen, kam Hans mit mir und meinen Eltern mit, ebenfalls meine älteren Brüder Ari und Adam, Adam mit seiner Verlobten Rosa und ihrem Sohn Leon. Alle zusammen bekamen wir eine 4-Raum-Wohnung ohne Toilette, und es gab weder Strom noch fließendes Wasser, aber immerhin lebten wir.

Mein Vater fing in dem Wohnblock als Hauswart an, denn er hatte im Krieg oft genug seine vielseitigen Talente bewiesen. Den Wohnblock hatten sich damals erst die Russen genommen. Doch als die Sektoren unter den vier Besatzungsmächten aufgeteilt wurden, kamen wir zum Britischen Sektor – zum Glück! Dieser Wohnblock war einer von den wenigen Wohnblöcken in dieser Straße, die noch fast intakt waren. Vater genoss durch seine handwerklichen Fähigkeiten einen guten Ruf bei den Besatzern. Er hatte vor dem Krieg in der Levetzowstraße eine Tischlerwerkstatt mit Ladengeschäft betrieben. Eliam hatte den neuen Herren oft genug von der täuschend echt aussehenden Drehtür im alten Eisenbahntunnel erzählt, ohne die wir nicht so lange hätten überleben können.

Vater wollte erst nicht, dass Hans bei mir im Zimmer wohnt, aber ich verstand es, ihn um den Finger zu wickeln. (Meine Enkelin Leah ist heute genauso wie ich damals, denke ich schmunzelnd, als ich diesen Satz niederschreibe.)

Auf jeden Fall lebte Hans dann bei mir, und auch Adam und Rosa hatten ein gemeinsames Zimmer. Ari wollte mit Zuria zusammenwohnen, der wundervollen Schäferhündin. Natürlich hatten auch Mama und Papa ein gemeinsames Zimmer. Dann gab es noch die Küche und ein Wohnzimmer, wo aber nichts drinnen stand. Was sind schon Sessel oder eine Couch, wenn man auch auf Kisten sitzen konnte. (Ja, heute kann man darüber lachen!)

Mein Vater nahm unser Schicksal gelassen und ermahnte uns zur Bescheidenheit. Er sagte immer: »Was sind materielle Werte, wenn man sich nur hat und lebt!« Recht hatte er! Ja, er hatte oft recht, auch wenn ich ihn damals nicht immer verstanden habe.

Wir meldeten uns freiwillig zum Wiederaufbau. Wir Kinder durften leichtere Arbeiten machen, denn Schule war noch nicht. Sollte niemand sagen, dass wir Juden faul sind! Oft genug wurde uns weiterhin vorgehalten, dass wir die Schuld an all dem hatten. Das hatte schon Hitler so gesehen, oder jedenfalls hatte er es behauptet. Und sie glaubten es weiterhin gerne.

Meine Mutter weinte sehr viel, aber sie war eine starke Frau. Sie hätte gerne erneut als Lehrerin gearbeitet, aber das Land lag am Boden, und keiner dachte in den ersten Monaten an Bildung. Ich war aber froh, dass wir Juden dann ab September 1946 wieder zur Schule durften. Unsere Besatzer hatten dafür gesorgt, dass unsere imperialistischen und militaristischen Auffassungen in der Schule zu einer demokratischen Haltung umgewandelt wurden. Das war im Westen Berlins nicht anders als im Osten.

Für uns Juden war es ja auch gut so. Wir konnten nur gewinnen. Der Besatzer betrachtete uns nicht anders als andere Deutsche. Aber die arischen Kinder weigerten sich, neben einem Juden Platz zu nehmen. So etwas sprach sich in der Klasse schnell herum, zumal wir ja aus Berlin waren. Ich hatte wenigstens mehr Glück als Ari. Er musste alleine hinten sitzen. Ich dagegen durfte neben Hans sitzen.

Nach der Schule mussten wir täglich zum Wiederaufbau gehen, Mörtel von den Ziegelsteinen klopfen. Die Besatzer wollten die Ziegelsteine wiederverwenden, und so entstanden daraus viele neue Wohnblöcke für die Bevölkerung – hieß es. Oft mussten aber die beschädigten Gebäude als Erstes renoviert werden. Dort zogen die Besatzer ein. Wir kamen zum Schluss; und unter diesem Gesichtspunkt waren wir plötzlich doch ein einziges deutsches Volk!

Wir trafen uns mit unseren Leidensgenossen aus dem Untergrund in provisorisch eingerichteten Synagogen. In der langen Zeit zusammen unter der Erde waren viele Freundschaften entstanden. Teils halten sie bis heute. Ich ging damals oft zu solchen Treffen. Es waren ja die einzigen Freunde, die ich hatte.

Es gab immer sehr viel zu erzählen. Uns allen ging es ja nun von Tag zu Tag besser, so schlecht es uns auch gehen mochte. Auch Hans kam gelegentlich mit, aber er war da unten nie glücklich gewesen und wollte nicht an diese Zeit erinnert werden. Er sagte: »Das einzige Gute an meiner Rettung war, dass ich dich getroffen habe.« Das hat mich damals zutiefst berührt.

Meine Mutter und mein Vater begleiteten mich immer gerne zu den Treffen, denn sie hatten dort viele Freunde. Besonders zur Familie Bundschuh hatten sie ein sehr gutes Verhältnis. Jakob Bundschuh gelang es nach dem Krieg, sein Bankhaus im amerikanischen Sektor zurückzubekommen. Adam durfte aus Dank, dass er zusammen mit Eliam Familie Bundschuh gerettet hatte, in seiner Bank arbeiten.

(In der amerikanischen Besatzungszone wurde das Restitutionsverfahren im Militärgesetz Nr. 59 vom 10. Oktober 1947 geregelt, das zwei Jahre später auch für die britische Besatzungszone und für Berlin, nicht aber für die französische Besatzungszone in Kraft gesetzt wurde. Das Gesetz sah die Rückgewähr aller feststellbar entzogenen Vermögensgegenstände, in erster Linie gewerbliche Vermögen und Immobilien, vor und wies die einzelnen Fälle örtlichen Wiedergutmachungsbehörden zu, vor denen sich die beiden Parteien möglichst über einen Vergleich einigen sollten.)

Bundschuh eröffnete seine Bank als einer der Ersten in Berlin wieder, ließ aber als Kundschaft nur die jüdische Bevölkerung zu. So bekam meine Familie ein Bankkonto. War das damals aufregend! (Heute hat das bereits ein Kind, eingerichtet von Oma und Opa.)

Bedingt durch den Krieg und den Mangel an Rabbinern und Synagogen konnte ich meine Bat-Mizwa erst mit 15 Jahren feiern. Jedoch übte ich bereits seit meinem 13. Lebensjahr für dieses Ereignis. Meine Mutter erzählte mir getreulich, was ich zu tun habe und was die anderen machen würden, aber in der Realität war es später ganz anders. Rabbi Chaim, der selbst in der Zuflucht gewesen war, vollzog meine Bat-Mizwa in der Synagoge in der Joachimsthaler Straße, und ich war überglücklich, dass gerade er es war.

Es war eins der schönsten Feste, das ich je hatte. Ich kann heute noch meine Mutter vor mir sehen, wie sie weinte, als ich auf dem Stuhl saß und in die Höhe gestoßen wurde. Abgesehen von den vielen Geschenken bekam ich Dinge, die ich bis zu diesem Moment in meiner Schmuckschatulle liegen habe. Herr Bundschuh schenkte mir eine Goldmünze, die im alten Jerusalem gegossen worden war. Wie er sie durch den Krieg retten konnte, war mir ein Rätsel, aber er hat es nie verraten.

Mutter und Vater schmolzen ihre Eheringe ein und ließen von einem Goldschmied einen Ring daraus anfertigen. Innen stand »קשוראיתךתמיד, אמאואבא«: »Ewig verbunden mit dir, Mama und Papa«. Bis dahin hatte ich immer gedacht, Vater habe seinen Goldring diesem braunen Bastard von Wehrmachtler gegeben, der ihn nicht zu uns lassen wollte, als wir aus unseren Wohnungen in der Levetzowstraße getrieben wurden. Er hatte mir aber gesagt, dass der Ring, wo dieser Soldat bekam, nichts wert war. Heute würde man sagen, es war Modeschmuck oder Tinnef.

Das größte Geschenk war, dass alle unsere Freunde da waren. Sogar Eliam kam aus Holland. Er brachte uns einen Laib Gouda mit. Heute ist das nichts, aber damals war es wie Gold. Die Freunde, die nicht viel hatten, schenkten mir Selbstgemachtes. Ich wollte gar nichts haben, wollte nur, dass alle da waren und dass alle glücklich sind. Ich war nie materiell eingestellt, im Gegenteil: Ich gab lieber, als dass ich annahm!

Adam brachte sogar Wein mit. Angeblich hatte er ein paar Flaschen aus dem Keller des alten Güterbahnhofs in Moabit retten können. Ich durfte noch keinen Alkohol trinken, aber ich nahm eine Flasche als Geschenk an. Sie steht heute noch in der Vitrine hier neben meinem Schreibtisch.

(Ebenso übrigens eine Zeichnung mit all den Personen, die mit uns in der Zuflucht waren. Ein befreundeter Maler, der auch dabei gewesen war, hatte einmal die Idee, dieses Bild zu erstellen. Ich werde all diese Sachen, denen ich gerade nachsinne, nicht meinem Sohn Samuel vererben. Er kann so etwas nicht schätzen. Aaron ist der Mangold, der dasselbe Blut hat wie ich. Er ist gutmütig, feinfühlig und pfeift auf religiöse Gepflogenheiten. Ich habe so viele Dinge, die er bekommen wird, wenn ich meinen letzten Weg antrete. Doch momentan fühle ich mich fit und denke nicht an meine letzte Reise.)

Nach meiner Bat-Mizwa musste ich noch ein Jahr zur Schule. Ich ging mit einem guten Zeugnis ab, aber was nützte mir das damals? Ich wollte meine Lehre als Friseurin machen, doch kein Friseursalon nahm mich an, weil ich nun einmal Jüdin war, und es gab damals auch keine jüdischen Friseure in Berlin.

Ich war traurig, aber ich gab es nicht auf, ging zur Hauswirtschaftlichen Schule – ein neues Modell, um Mädchen die Hauswirtschaft näherzubringen. Die Nazis hatten die erste solche Schule am Wannsee eingerichtet. Die Besatzer fanden Gefallen daran und erlaubten diese schulische Ausbildung. Ich habe dort viel gelernt, aber es hat mich nicht glücklich gemacht. Hans sagte immer, dass es gut ist, wenn eine Frau kochen und putzen kann. Männer waren damals echte Possenklopfer!

Hans hatte damals gerade erfahren, dass es Meldewände gab. Dort konnte man seine Daten anbringen. Wenn jemand aus der Familie kam und den Anschlag las, konnte man sich auf diese Weise wiederfinden. Hans tat dies nun also ebenfalls in seiner alten Straße und wartete täglich auf ein Zeichen von jemandem aus seiner Verwandtschaft.

Unseres Wissens war seine ganze Familie tot. Doch eines Tages sprach ein junger Mann mit einem Schweizer Akzent vor. Sein Name war Martin Hornmann, Anwalt in Zürich.

Es klopfte an unserer Haustür, und noch immer bekomme ich Gänsehaut, wenn ich an diesen Moment denke.

Ich ging zur Tür und machte auf.

»Guten Tag, die Dame!«, sagte er.

»Guten Tag. Sie wünschen?«, sagte ich.

»Mein Name ist Martin Hornmann, ich bin Anwalt und komme aus der Schweiz. Ich erfuhr, dass hier ein Hans Mangold leben soll.«

»Ja, das ist richtig. Aber was wollen Sie von ihm? Er hat vor fremden Menschen Angst.«

»Oh, das muss er nicht. Ich bin da, um ihm etwas Erfreuliches zu sagen.«

»Kommen Sie bitte herein, ich hole ihn.«

»Danke, liebes Fräulein!«, sagte er höflich, trat ein, und ich bot ihm in der Küche einen Stuhl an.

Dann ging ich zu Hans, um ihn zu holen: »Du, Hans, da ist ein Mann, er sagt, er heißt Hornmann und kommt aus der Schweiz!«

»Was will er?«

»Er sagt, er hat erfahren, dass du hier lebst, und er hat dir etwas Gutes zu sagen.«

»Gut, ich komme.«

Hans ging mit mir zu Herrn Hornmann, der in unserer Küche saß.

»Herr Mangold, ich habe lange nach Ihnen gesucht!«

»Guten Tag, was kann ich für Sie tun?«

»Kennen Sie einen Samuel Mangold?«

»Ja! Das war mein Vater, er wurde 44 ermordet. Aber warum fragen Sie?«

»Ihr Vater hat das Massaker damals überlebt! Er konnte in die Schweiz fliehen.«

»Das kann ich nicht glauben, er lag tot neben mir!«

»Er war angeschossen, aber er überlebte. Mein Onkel hat ihn damals gerettet und nach Zürich geschmuggelt. Das soll ich Ihnen geben!«

Hornmann gab Hans einen Ausweis; es war sein eigener. Sein Vater hatte damals sicherheitshalber alle Papiere an sich genommen.

Auf einmal fing Hans an zu weinen, er konnte sich nicht beruhigen.

»Lebt mein Vater noch?«, fragte er dann mit verweinter Stimme.

»Ja, aber er will keinen Fuß auf deutschen Boden setzen! Aus diesem Grund schickt er mich. Ich las in Ihrer alten Straße, dass Sie hier leben.«

»Hannah, mein Vater lebt!«

»Ja, unglaublich, fast 7 Jahre sind vergangen!«

»Lebt sonst noch jemand aus meiner Familie?«

»Leider nein!«, sagte Herr Hornmann traurig.

»Meine Mutter, meine Brüder – alle tot?«

»Ja, aber ihr Tod bleibt nicht ungesühnt! Ich werde in Nürnberg Klage gegen das Naziregime erheben. Das haben schon Hunderte von uns Juden getan!«

Plötzlich blitzte Zorn in Hornmann auf. Man merkte ihm den kämpferischen Rechtsanwalt an. Nun, in der Schweiz mochte ein Jude als Rechtsanwalt auftrumpfen können, aber ausgerechnet in Nürnberg? Waren die Juden denn eine Siegermacht?

Auf so ein schlüpfriges Terrain wollte sich Hans nicht begeben. Er blieb lieber bei naheliegenden Familienangelegenheiten: »Wann kann ich meinen Vater sehen?«

»Wann Sie wollen! Ich kann Sie gleich mitnehmen!«

Das war zu viel! Hans hatte nicht einmal verdaut, dass sein Vater noch lebte. Nun sollte er ihn sogar aufsuchen! Dabei hatte er doch hier längst ein neues Leben an meiner Seite gefunden. Er sackte auf den Küchenstuhl und blieb dort einen Moment lang in sich zusammengesunken sitzen.

Er dachte nach, war hin- und hergerissen. Aber er konnte wohl kaum säumen, seinen Vater wiederzusehen. Also gab er sich einen Ruck und erklärte mir mit dumpfer Stimme: »Hannah, ich werde zu meinem Vater gehen, aber ich werde dich nachholen!«

Ich wollte kein Aufhebens machen. Ich verstand Hans. In unseren Zeiten war eben nichts von Dauer. So bestärkte ich ihn in seinem Entschluss: »Geh’ erstmal zu ihm, und irgendwann sehen wir uns wieder.«

Damals glaubte ich nicht daran, dass wir uns je wiedersehen würden. Er gehörte zu den Seinen, und dort ging er nun eben hin. Es war ein schwerer Abschied, aber es musste sein. Hans musste seine Geister begraben und sein Leben ordnen.

Der Tag, wo er und Herr Hornmann abfuhren, war für mich der schwerste Tag seit Kriegsende. Ich weinte nur noch, und meine Familie versuchte mich zu trösten. Adam wollte mit mir in einen Liebesfilm gehen, aber ich konnte darauf verzichten.

Fast drei lange Jahre musste ich auf Hans verzichten. Er vergaß mich nicht, ich bekam Briefe von ihm – ein großer Trost – und am Ende hielt er sein Wort.

Ich habe die Briefe noch. Sie sind zu einem Bündel gebunden und liegen in meiner Vitrine neben meinem Schreibtisch. Ich habe eben einen herausgenommen und zitiere ihn hier:

»Liebste Hannah, wie sehr ich dich hier in Basel vermisse! Mein Herz schmerzt vor Sehnsucht nach dir. So lange haben wir uns jetzt schon nicht gesehen! Meinem Vater geht es gut, nur nachts höre ich ihn. Er ruft nach Mutter, dann ist es plötzlich still. Morgen haben wir einen Termin bei Martin Hornmann, es geht um Vaters Firma und um mein Erbe. Ich verspreche dir: Wenn ich endlich wieder bei dir bin, werde ich dich fragen, ob du meine Frau werden willst. Sei gespannt, liebste Hannah! Du und Vater seid mein einziger Halt, ich würde mein Leben für euch geben. Ich hoffe, dass du meine Liebe erwiderst. Bei einem so schönen Mädel, wie du es bist, ist es schwer, nicht darüber nachzudenken. Liebste Hannah, ich muss zu einem Termin, aber in meinen Gedanken bist du immer bei mir. Ich liebe dich vom ganzen Herzen. Dein Hans«

Ich schmelze heute noch dahin, wenn ich lese, was er mir damals geschrieben hat.

An meinem 17. Geburtstag im September 1949 klingelte es an unserer Haustüre. (Wir hatten seit fast einem Jahr Strom.) Ich rannte zur Tür und erschrak, als ich öffnete. Ein gut gekleideter junger Mann in schwarzem Anzug, weißem Hemd und einer gestreiften Weste stand vor mir und sagte zu mir: »Hallo Liebes, da bin ich wieder!«

Ich sprang ihm in die Arme und knutschte ihn ab, ja, ich küsste ihn wie schon lange nicht mehr. »Hans, da bist du! Wie siehst du denn aus!«

»Ich versprach dir in jedem meiner Briefe, dass ich wiederkomme. Mein Vater würde dich gerne kennenlernen. Kannst du mit mir nach Basel kommen?«

»Mit dir würde ich überall hingehen, aber wir müssen erst mit Vater und Mutter darüber sprechen.«

Hans runzelte seine Stirn. Ich wusste, dass er Respekt vor Vater hatte. Doch dann fragte er mich: »Sind deine Eltern auch da?«

»Ja, heute ist doch mein Geburtstag, und es gibt Torte!«

»Das wusste ich doch. Alles Liebe zum Geburtstag, Liebes. Dies ist für dich!«

Er gab mir eine elegant aussehende Schachtel und eine kleine Schatulle. Natürlich machte ich die kleine Schatulle sofort auf und schrie, als ich sah, was da in dieser kleinen feinen Box war. Es war ein Goldring mit einem Brillanten. Ich dachte mir jedoch nicht zu viel dabei. Es war ein Ring zu meinem Geburtstag – dachte ich.

Ich zog Hans an der Hand mit mir in Richtung Küche: »Komm, Hans, meine Eltern werden sich freuen!« Und so war es auch.

Hans wirkte nervös. Dann fing er mit leicht stockender Stimme an zu sprechen: »Bevor ich nicht mehr zu Wort komme, mache ich es kurz.« Hans ging vor mir auf die Knie und sagte: »Hannah Epstein, willst du meine Frau werden?«

Ich schrie, ohne abzuwarten: »Ja, ja, ich will!«

Alle wünschten uns viel Glück. Dann erst ging Hans zu meinem Vater und holte seinen Segen für die Hochzeit ein. Vater gab ihn uns gerne.

»Ich muss euch noch etwas sagen«, sagte ich zu meiner Familie. »Ich gehe für eine Zeit lang mit Hans in die Schweiz. Hans’ Vater möchte mich kennenlernen, ich hoffe, ihr habt nichts dagegen!«

Zunächst hatten meine Eltern noch Zweifel. Ich war noch nicht volljährig und wollte ins Ausland. Doch ich konnte sie umstimmen und dann gab es Torte und ‹Kaffee Kotz›. Das war Kaffee, wo mit Zichorie gestreckt wurde und wie eingeschlafene Füße schmeckte.

»Wann werdet ihr fahren, und warum müsst ihr unbedingt in die Schweiz?«, fragte mich Vater.

Hans antwortete. »Bereits morgen, Yaron. Wir müssen in die Schweiz, weil mein Vater dort lebt und ich in seiner Firma arbeite. Versteht doch, Hannah wird es dort sehr viel besser ergehen. Vor allem kann ich meinen Vater nicht alleine lassen, er hat niemanden. Ihr dagegen habt euch und die Familie.«

Vater runzelte seine Stirn. Man konnte sehen, dass es ihm wehtat, aber er ließ mich gehen. Bei Hans war ich gut aufgehoben, schließlich liebten wir uns und waren verlobt. Somit war es der letzte Nachmittag mit meiner geliebten Familie für eine lange Zeit. (Ich würde länger in der Schweiz bleiben, als ich dachte.)

In meiner letzten Nacht in Berlin schlief ich sehr unruhig, war sehr aufgeregt und hatte Magenschmerzen. Am Morgen schliefen Hans und ich aus. Wir hatten eine sehr lange Zugfahrt vor uns, über 14 Stunden von Berlin nach München, wo wir dann den Zug nach Basel nehmen würden.

Wir mussten um zehn vor sechs abends am Bahnhof sein. Hans wollte noch einen Termin bei Herrn Bundschuh wahrnehmen. Sein Vater wollte eine Kooperation mit dessen Bank eingehen. Ich wäre gerne mitgegangen, aber er sagte mit fester Stimme: »Liebes, bleibe du bei deiner Familie und genieße den Tag. Ich habe nur langweilige Gespräche in einem staubigen alten Büro.«

Ich sagte damals nicht viel dazu, war ja noch ein junges Mädel. Ich genoss den letzten Tag mit Vater und Mutter. Später kamen noch Ari, Adam und Rosa mit meinem Neffen Leon.

Um vier Uhr kam Hans von seinem Termin zurück und musste erst etwas trinken. Ich gab ihm noch etwas Torte, bot ihm Kaffee an. Ich hatte am Nachmittag auch die Schachtel, die ich von Hans zu meinem Geburtstag bekommen hatte, aufgemacht. Es war ein wunderschönes Kleid: schwarz, langärmlig und sehr edel (eben kein Judenrock). Dieses Kleid würde ich auf unserer Fahrt anziehen und neben Hans glänzen.

Vater und Mutter brachten uns zum Bahnhof in der Friedrichstraße. Wir konnten laufen; es war nicht weit. Von dort ging der Fernzug FD 150. Am Bahnsteig mussten wir uns verabschieden. Ob es für immer war?, fragte ich mich insgeheim.

Vater schaute mich an und schüttelte seinen Kopf. Wollte er mich doch noch zurückhalten? Nein, er fragte Hans: »Wie lange wird der Zug nach München benötigen?«

Hans zog einen Fahrplan heraus und schaute nach. »Von Berlin nach München werden wir fast fünfzehn Stunden brauchen. Wir werden sicher wieder einen längeren Grenzaufenthalt in Probstzella haben.«

Vater blickte uns verunsichert an und fuhr fort: »Werden Juden ohne Probleme über diese Grenzen kommen?« Ich sah die Angst in Vaters Augen.

»Mach dir keine Sorgen, Yaron. Ich habe einen Passierschein und ein Visum für Hannah. Sie wurden von der Schweizer Regierung für sie ausgestellt. Mein Vater hat dort sehr gute Kontakte.«

Mutter blickte mich an und weinte. Dann sagte sie leise: »Mein Kind, pass’ auf dich auf. Und du, Hans, pass’ auf meine Tochter auf. Möge Adonai euch auf eurem Weg begleiten.«

»Mutter, mach dir nicht so viele Sorgen, Hans passt auf mich auf.«

»Ich werde auf eure Tochter aufpassen, und wir melden uns per Telegramm bei euch.«

Da war meine Mutter schon realistischer. Sie wusste, dass dies kein lustiger Ausflug war, sondern eine Lebensentscheidung.

Vater drückte mich nur, ich sah die Tränen in seinen Augen. Wir stiegen ein und suchten unsere Plätze. Hans packte die Koffer in das Gepäcknetz und ich öffnete das Fenster, um Vater und Mutter noch zu winken.

»Macht es gut, ich liebe euch!«, rief ich ihnen noch einmal zu, und schon setzte sich der Zug in Bewegung. Mama und Papa winkten mir nach, und ich schaute ihnen nach, bis ich sie nicht mehr sah.

»Ach, Hans, bin ich aufgeregt, wie ist es in Basel? Ist man da wirklich anders zu uns Juden?«

Er hatte es ja in seinen Briefen oft genug angedeutet, aber ich konnte es nicht so recht glauben. Vielleicht wollte er mich nur beruhigen oder die Zensur täuschen.

»Basel ist eine wundervolle Stadt und ja: Sie haben dort nichts gegen uns Juden. Lass’ dich überraschen, meine Liebe!«

»Das werde ich, mein Lieber!«

Die erste Wegstrecke ging von Berlin nach München. Eigentlich war es eine angenehme Strecke. Die Abendsonne schien, und ich hielt mein Gesicht in die Sonne. Ich konnte die Wärme spüren, hauchte die Scheibe an und malte Figuren in den Atem. So entstanden vor meinem Auge die schönsten Geschichten. (Ich war schon immer sehr fantasievoll).

Unser erster Halt war Leipzig. Die Uhr zeigte Viertel nach neun abends.

»Schau’, Hans, wie schön der Bahnhof ist. Und die riesige Halle, so viel Stahl.«

Hans war nachdenklich. Machte er sich etwa Sorgen wegen der Zonengrenze? Dennoch gab er mir eine Antwort. »Ja, Liebes, es sieht gewaltig aus.«

Zwanzig Minuten später setzte sich unser Zug wieder in Bewegung. Nächster Haltepunkt war Saalfeld. Der Bahnhof war noch stark beschädigt. Dennoch konnten Züge fahren. Komisch war nur, dass niemand ein- oder ausstieg.

Hans sagte mir, unser nächster Halt sei Probstzella. Es war der Grenzpunkt. Dort würden wir alle aussteigen und zu Fuß zur Zonengrenze gehen müssen. Ich hatte Angst. Hans konnte es mir ansehen und hielt meine Hand.

Der Zug setzte sich wieder in Bewegung. Ich zitterte am ganzen Leib. Als wir um Viertel nach eins ankamen, konnte man schon die Schäferhunde hören. Durch das Gebell musste ich mich an unsere damalige Deportation erinnern. Mir schossen die Tränen in die Augen. Hans bemerkte es und nahm mich in den Arm.

»Was hast du denn, Liebes?« Hans beschützte mich immer und überall. (Das wusste ich.)

»Ich habe Angst, und das Gebell der Hunde erinnert mich an Berlin, die Deportation.« (Seit dies alles geschah, habe ich ein gestörtes Verhältnis zu Moabit. Selbst Jahre später, als ich mit Hans dort die Gedenkstätte Güterbahnhof Moabit besuchte und am Gleis 69 stand, flossen bei mir die Tränen. Ich kann mich bis heute nicht damit auseinandersetzen. Nein, ich schaffe es einfach nicht.)

Hans nahm sein weißes Taschentuch und wischte mir die Tränen weg. »Hab’ keine Angst, wir haben alle Genehmigungen, und ich bin Schweizer Staatsbürger.«

Der Zug blieb stehen!

Wir mussten mit unserem Gepäck aussteigen. Auf dem Bahnsteig standen junge russische Soldaten, die nicht sonderlich stark bewaffnet waren, aber mit einem Hund. Vor diesem hatte ich Angst, denn wir mussten an ihm vorbei, um zur Kontrollstelle zu gelangen. Der junge Soldat in sowjetischer Armeeuniform blickte uns nur an. Hans wusste zum Glück, wo wir hinmussten; er war diesen Weg bereits zwei Mal zuvor gegangen.

An der Kontrollstelle angekommen, mussten wir in einer Schlange stehen und warten. Es ging um diese Uhrzeit zum Glück schnell. Etwas weiter vorne sah ich, wie man ein junges Pärchen wegbrachte. Das Mädel weinte, und ich versuchte, ruhig zu bleiben.

Dies gelang mir auch, bis wir an der Reihe waren. Vor uns standen drei Soldaten der Sowjetarmee und zwei deutsche Polizeibeamte. Die beiden Polizeibeamten kontrollierten die Pässe und unser Gepäck.

Zum Glück hatten wir nur zwei Koffer dabei. Dennoch fragte der Polizist: »Haben Sie Ostgeld dabei?«

Hans sagte ganz ruhig: »Nein, nur Schweizer Franken. Nicht mehr als 300 Franken.«

Der Polizist wirkte gelangweilt, er schaute die Pässe an, sah die nötigen Stempel von der Hinfahrt und auch, dass ich natürlich keinen hatte. Hans erklärte ihm das anhand der Dokumente, die er von der schweizerischen Regierung hatte. Diese sah sich der Polizist genauer an, und ich dachte unweigerlich an dieses junge Paar von vorhin. Als der Polizist dann noch einen russischen Offizier rief, rutschte mir das Herz in die Hose.

Gottlob konnte der russische Offizier Deutsch, zwar etwas gebrochen, aber gut genug. Er betrachtete das Dokument und las, betrachtete es erneut, schaute mich an und fragte mich nach meinem Namen. Ich sagte ihm: »Ich heiße Hannah Epstein« und war sofort wieder still.

Er nahm meinen Pass von dem Polizisten, betrachtete ihn noch einmal und sagte dann: »Gut, gehen Sie!« Der Polizist ließ uns durch. War ich erleichtert und froh, dass Hans dieses Dokument von der Schweizer Regierung hatte!

(Jahre später erfuhr ich von meinem Schwiegervater Samuel, dass es ein Schreiben des damaligen Bundespräsidenten Ernst Nobs war. Er war auch Vorsteher des Finanzdepartements und ein guter Freund von Samuel. Jedoch wie viel Geld er ihm damals für diese Gefälligkeit gab, blieb geheim. Ich kann mich noch daran erinnern, dass ich ihn Jahre später bei einem Dinner kennenlernte.)

»So, Liebes, jetzt müssen wir ein paar Meter zu Fuß gehen. Dann kommt die amerikanische Grenzkontrollstelle, und wenn wir dort durch sind, haben wir es geschafft.«

Ich rollte mit den Augen und war müde. Aber ich musste durchhalten; darin war ich ja erprobt. Nach 200 Metern und einer Kurve sah man die Grenzkontrollstelle der Amerikaner. Wieder hieß es in einer Schlange anstehen und warten. Diesmal ging es schnell. Wir waren bereits nach einer Viertelstunde an der Reihe. Wieder standen drei Soldaten vor uns, diesmal Amerikaner. Die Kontrolle machten deutsche Polizisten.

Der Polizist warf einen Blick in unser Gepäck, schaute unsere Pässe und natürlich auch das Dokument an. (Ich erschrak, doch der Polizist lächelte mich an.) Dann wollte er noch wissen, ob wir Ostmark dabei hätten. Wie verneinten schnell, und er ließ uns weiter. Irgendwie mochte ich ihn, er sah nett aus und lächelte. Obwohl ich davon ausgehen musste, dass sein Vater einer unserer Mörder gewesen war.

Zum Glück war der Omnibus bereits da. Er würde uns durch das Tal der Loquitz bis nach Ludwigsstadt bringen. Der Fahrer nahm unser Gepäck entgegen. Wir konnten einsteigen, der Fahrpreis war im Zugticket beinhaltet. (Welch ein Luxus!)

Als die letzten Reisenden eingestiegen waren, konnte es losgehen. Unser Weg führte durch das Loquitz-Tal – seit die Mauer offen ist, ein sehr schöner Ort. Ein paar Jahre vor Hans’ Tod haben wir uns den Spaß erlaubt und sind diesen beschwerlichen Weg noch einmal gegangen.

Durch den steilen Berganstieg kam der Omnibus 20 Minuten zu spät am Bahnhof an, aber wir hatten noch Zeit. Unser Zug fuhr erst um drei nach zwei weiter. Wir hatten Hunger, uns war kalt, und müde waren wir auch.

»Liebes, ich geh’ schauen, ob ich etwas zum Essen bekomme. Im Bahngebäude muss es einen Kiosk oder etwas Ähnliches geben.«

Es war vergebens; Hans kam bereits nach fünf Minuten zurück. Er schaute grimmig, und ich fror.

»Da gibt es nichts!«, sagte er brummig. »Komm’, lass’ uns einsteigen und uns etwas ausruhen.«

Im Zug suchten wir unser Abteil. Als Hans in der dritten Klasse eine dicke Frau in eine Fleischwurst beißen sah, wurde seine Laune nicht besser. Wir liefen durch den Wagen und kamen in unserem Abteil an. Hans stopfte die Koffer in das Gepäcknetz und warf sich in seinen Sitz. Ich setzte mich gegenüber und schaute ihn an.

Dies tat ich so lange, bis er mich anlächelte und mir einen Kuss zuhauchte: »Ich liebe dich, Hannah Adriana Epstein. Ich liebte dich damals, ich liebe dich jetzt, und ich werde dich bis ans Ende meiner Tage lieben.«

Ich schmolz dahin und wurde durch das Anfahren des Zugs aufgerüttelt. »Wir fahren wieder!«, sagte ich erleichtert.

»Stimmt!«

Hans nahm meine Hand und küsste sie, er küsste meine Hand oft und gerne. Ich blickte hinaus in die Dunkelheit und genoss es, zu sehen, wie die Lichter der Häuser an uns vorbeihuschten.

(Ich habe im Internet einen alten Fahrplan gefunden. Demnach hielten wir um drei Uhr in Lichtenfels, um kurz vor halb vier waren wir in Bamberg, um kurz vor vier in Erlangen, um viertel nach vier in Fürth, zehn Minuten später in Nürnberg. Zwanzig Minuten später ging es weiter nach Treuchtlingen. Um zehn nach sieben waren wir in Augsburg, und nach zehn Minuten ging es weiter zum Zielbahnhof. Mann, waren das viele Bahnhöfe!)

Wir kamen um zehn nach acht in München an. Von dem einstigen Prachtbau und der großen Bahnsteighalle war nichts mehr übrig. Halle und Gebäude waren ein paar Monate zuvor gesprengt worden. Der Bahnbetrieb ging in einem provisorischen Bahnhof weiter.

Damals konnte man in der Stadt noch überall die Spuren der Verwüstung sehen, die unsere Befreier angerichtet hatten. Die Bevölkerung schuftete im Wiederaufbau. Wenn man heute das Ergebnis sieht, haben sie ganze Arbeit geleistet.

Unser Zug ging erst am Nachmittag. Wir konnten in Ruhe zum Hotel gehen. Eine Droschke brachte uns und unser Gepäck zum Hotel Vier Jahreszeiten, wo wir uns ein paar Stunden erholen wollten. (Man nannte es Haus der Dollar-Gäste. Außer den Besatzungsangehörigen durften dort nur Zivilisten übernachten, die in harter Währung bezahlten. Hans bezahlte in Schweizer Franken, und die sind heute noch ‹hart›.)

Am Hotel angekommen kam ich aus dem Staunen nicht heraus. Das Gebäude war noch nicht fertig, war im Krieg stark zerstört worden. Dennoch war seine Pracht unverkennbar. Es war nur ein Teilbetrieb möglich, aber der fertige Teil war eine reine Augenweide.

Wir meldeten uns an der notdürftigen Rezeption. Eine Dame notierte unsere Daten, ein Page brachte uns zum Zimmer. Es war edel eingerichtet. Natürlich waren die Möbel neu und das Zimmer totalsaniert. Nicht zu glauben, dass dieser Teil im Krieg fast völlig abgebrannt war. Der Page stellte unsere Koffer ins Zimmer, und Hans gab ihm ein Trinkgeld. Ich war sehr erschöpft und musste mich setzen.

Hans dagegen war unruhig und angespannt. Erst zog er seine Jacke aus und hängte sie an die Garderobe, dann ging er zum Fenster und schaute hinaus. Plötzlich lief er wieder zur Garderobe und nahm seine Jacke.

»Liebes, ich gehe kurz hinunter zur Rezeption.«

Ich konnte gar nicht so schnell antworten, wie er weg war. Was hatte er vor? Eine Überraschung? Die bereitete er mir immer sehr gern und sehr oft. Ich wollte mich frisch machen und überlegte, ob ich auch ein frisches Kleid anziehen sollte. Hans’ Vater legte auf so etwas bestimmt großen Wert. Wer solch wichtige Dokumente erwirken konnte, musste sehr vornehm sein.

Ich ging ins Bad und machte mich frisch. Hans kam zurück und setzte sich in den Sessel, der zu einer eleganten Sitzgruppe gehörte.

Als ich aus dem Bad kam, hatte ich ein schwarzes langärmeliges Kleid an. Erst blickte er mich an, dann lächelte er und sagte: »Liebes, ich habe eine Überraschung für dich.«

Ich stand da und wartete, aber er hatte nichts in seiner Hand.

»Liebes, ich dachte mir, dass wir hier im Hotel übernachten und erst morgen nach Basel fahren. Wir könnten uns die Stadt etwas ansehen, es wurde ja bereits so viel wieder aufgebaut.«

Ich schlug die Hände zusammen und freute mich. »Ja geht das denn?«

»Natürlich geht das! Das Hotel hat ohne Probleme verlängert. Ich bezahle immerhin mit Franken und die neue Zugverbindung habe ich auch bereits nachgesehen. Wir müssen nur noch am Bahnhof die Fahrkarten umtauschen.«

»Wie schön!«, rief ich und freute mich darauf, München zu erkunden.

Hans ging ebenfalls ins Bad und machte sich frisch. Später wollten wir erst zum Bahnhof und dann etwas essen gehen. Wir waren total ausgehungert, aber wir konnten uns noch beherrschen. Waren wir doch zivilisierte Juden. (Augenzwinkern.)

Als Hans aus dem Bad kam, konnten wir los. Wir gaben unseren Schlüssel an der Rezeption ab und gingen vor das Hotel. Dort warteten Droschken, und wir entschlossen uns, eine davon zu benutzen. Ein jüngerer Mann bot sich an, uns zu fahren. Hans willigte ein, und schon konnte die Fahrt von der Maximilianstraße über Maximiliansplatz und Karlsplatz beginnen. Nur an den Schuttbergen musste die Droschke Umwege machen. Doch am Ende gelangten wir glücklich zum Bahnhofsplatz. Wir fragten den Kutscher, ob er warten wolle, um uns später München zu zeigen. Er willigte ein; Hans bezahlte im Voraus.

Wir gingen zu dem provisorischen Bahnhofsgebäude und schauten, wo man die Fahrkarten kaufen konnte. Das war gar nicht so leicht, aber eine nette Münchnerin half uns. Auch am Bahnhofsplatz wurde Schutt weggeräumt, und die Dame um die Fünfzig half, wie sie sagte, ihre Stadt wiederaufzubauen. (Später gingen diese Trümmerfrauen in die Geschichte ein.)

Sie ging mit uns um eine Ecke zu einem provisorischen Verkaufsraum. Es herrschte reger Betrieb. Hans ging alleine hinein, und ich sah mich um. Ich war aber vorsichtig, um nicht als Jüdin erkannt zu werden.

(Der evangelische Theologe Johann Jacob Schudt (1644–1722) aus Frankfurt am Main hat unserem Aussehen in seinen Jüdischen Merkwürdigkeiten (1714) ein Kapitel gewidmet. Darin schrieb er: »Daß man unter so viel tausend Menschen sofort einen Juden erkennen kann.« Gott habe die Juden mit einmaligen »Charaktere oder Merkmal« ausgestattet, »daß man sie bald im ersten Anblick für Juden ansieht«. Schudt hebt insbesondere das Gesicht hervor, »daß der Jud gleich hervorguckt ... an der Nase ... Lippen ... Augen auch der Farbe und der ganzen Leibespositur«. Schudt sieht zwar den Körper als Medium von Charakter und Lebensart (wie seine Zeitgenossen), aber die äußere Erscheinung wird durch die soziale Rolle bestimmt (und nicht durch die theologische, wie es seine Zeitgenossen sahen). Nach Schudt stören Juden aufgrund ihres Aussehens die göttliche Ordnung. Was für ein Schwachsinn!).

Ich stand gerade an einer der wenigen übriggebliebenen Laternen und schaute einer Gruppe älterer Männer zu, wie sie einen großen Eisenträger von einem Schuttberg hinunterschleppten.

»Liebes, träumst du?«, hörte ich. Hans stand vor mir und blickte mich lächelnd an.

»Nein, warum sollte ich? Ich schaute nur den Männern bei der Arbeit zu.«

»Ich habe die Fahrkarten umtauschen können. Jetzt fährt unser Zug morgen früh um zehn Uhr und geht über Freiburg bis nach Basel.«

»Schön, dann haben wir ja noch viel Zeit. Lass’ uns zur Droschke gehen, der Kutscher wartet schon so lange.«

Hans nahm mich bei der Hand, und wir liefen gemeinsam den Bahnhofplatz entlang. Bei der Droschke angekommen stiegen wir ein, und der Kutscher machte mit uns eine kleine Stadtrundfahrt.

Schön war sie nicht, denn die meisten Sehenswürdigkeiten, die er uns zeigte, waren beschädigt oder zerstört. Schnell verging mir die Lust, das Trümmerfeld der Stadt zu sehen.

Ich hatte Hunger und Hans sicher auch. Ich bat Hans, irgendwo anzuhalten, um etwas essen zu gehen. Das war schwerer als gedacht, denn so viel gab es nicht, aber der Kutscher wusste etwas Bürgerliches. Er fuhr uns ins Hofbräuhaus. Es war wie fast alle anderen Gebäude im Krieg schwer beschädigt worden. Die Schwemme, die große Bierhalle, war jedoch weitgehend unbeschädigt und konnte weiter genutzt werden. Um diese Uhrzeit war nicht sonderlich viel los, und mein lieber Hans beschloss, unseren Kutscher zum Essen einzuladen. (Hans war immer so großherzig.)

Wir betraten die große Halle, und ich staunte: Was für eine schöne Decke! Die Malereien waren eine Augenweide – Motive aus verschiedenen Lebensbereichen, etwa Ackerbau oder Fischerei, zudem bayerische Flaggen. Ich liebte diese Decke und betrachtete sie immer wieder, auch als wir saßen. Erwähnenswert auch die schmiedeeisernen Leuchter, die von der Decke hingen.

Zu essen gab es nicht viel. Ich war ja schon froh, wenn es Suppe gab. Und ja, es gab Suppe. Genauer gesagt war es eine Kartoffel-Kohlsuppe, und die schmeckte köstlich. Hans und der Kutscher tranken Bier, und ich bekam Zitronenlimonade. Wir haben diese Zeit im Hofbräuhaus sehr genossen.

Hans bezahlte, und der Kutscher fuhr uns zurück zum Hotel. Vorbei ging es an all den Schuttbergen und Menschen, die versuchten, diese Ungetüme fortzuschaffen. Manch eine ältere Frau blickte mir verächtlich ins Gesicht, als wolle sie sagen: »Scher’ dein’ Hintern da runter und pack’ mit an!« Musste ich ein schlechtes Gewissen haben? Sicher nicht, denn waren nicht die, wo jetzt am Boden waren, diejenigen, die es so gewollt hatten? Nur hatten sie eben verloren.

Am Hotel angekommen bezahlte Hans den Kutscher, und wir verabschiedeten uns. Im Hotel holten wir unseren Schlüssel und gingen auf unser Zimmer. Dort machten wir es uns noch gemütlich. Hans ging baden, und ich las in einem Buch, das ich in einem der Regale im Zimmer fand. Wir gingen zeitig schlafen. Hans wollte früh aufstehen.