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Diplomarbeit aus dem Jahr 2008 im Fachbereich Pädagogik - Schulwesen, Bildungs- u. Schulpolitik, Note: Sehr gut, Alpen-Adria-Universität Klagenfurt (Institut für Unterrichts- und Schulentwicklung), Sprache: Deutsch, Abstract: Nach einem Überblick über die schulstufenspezifischen Bildungswege und dem theoretischen Hintergrund zur fortwährenden Chancenungleichheit des Bildungssystems werden zwei Untersuchungen kurz vorgestellt, die der Autor an der HS Gunskirchen durchgeführt hat. Dabei zeigt sich, dass die Schulwahlentscheidung ein komplexer Vorgang ist, auf den die Hauptschule nur einen geringen Einfluss ausübt. Um einen tieferen Einblick zu gewinnen, werden zehn Schulwahlentscheidungen mittels Interviews durchleuchtet. Ausgehend von der Zeitdimension wird eine Taxonomie entworfen, aus der Schlussfolgerungen für einen gerade anlaufenden Schulversuch ermöglicht werden. Ziel ist es, die Schüler/innen bei ihrer Schulwahlentscheidung wirksamer zu unterstützen.
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ABSTRACT
Nach einem Überblick über die schulstufenspezifischen Bildungswege und dem theoretischen Hintergrund zur fortwährenden Chancenungleichheit des Bildungssystems werden zwei Untersuchungen kurz vorgestellt, die der Autor an der HS Gunskirchen durchgeführt hat. Dabei zeigt sich, dass die Schulwahlentscheidung ein komplexer Vorgang ist, auf den die Hauptschule einen geringen Einfluss ausübt. Um einen tieferen Einblick zu gewinnen, werden zehn Schulwahlentscheidungen mittels Interviews durchleuchtet. Ausgehend von der Zeitdimension wird eine Taxonomie entworfen, aus der Schlussfolgerungen für einen gerade anlaufenden Schulversuch ermöglicht werden. Ziel ist es, die Schüler/innen bei ihrer Schulwahlentscheidung wirksamer zu unterstützen.
Als ich vierzehn war, musste ich mich entscheiden. Leider hatte ich nicht den Hauch einer Idee, was ich auf die immer häufiger auftauchende Frage „Was willst du denn einmal werden?“ antworten sollte. Meine Antwort aus Kindertagen - „Astronaut!“war aus zahlreichen Gründen obsolet geworden, wobei meine Mutter als Hauptargument dagegen die eher mäßige Performance im Fach Englisch ins Treffen führte. Aber auch sie wusste keinen anderen Rat als „Bildung ist das einzige, was zählt.“ Na gut, dachte ich, aber welche Art von Bildung? Doch nicht etwa weitere Schulbildung? Andererseits war die Vorstellung der Alternative, nämlich arbeiten zu gehen, mindestens ebenso nebulos, vielleicht noch abschreckender durch die vermutete körperlicher Anstrengung. Ich hatte die Wahl zwischen Pest und Cholera, stand zwischen Skylla und Charybdis.
Und lassen Sie mich hinzufügen: Ich war ein schlechter Schüler. Ich besuchte den A-Zug einer Welser Hauptschule und es war mir gelungen, zum Semester in Mathematik beinahe auf einer Fünf zu stehen. Herausragende schulische Leistungen erbrachte ich an Nebenfronten wie Geschichte oder Physik/Chemie, was bekanntlich nie-mand braucht. Meine Fähigkeiten, die deutsche Sprache zu meistern, wurden von meiner Unfähigkeit, mich der englischen zu bedienen, neutralisiert. Und in Werken verdankte ich es nur dem Glück des Ahnungslosen, nicht schon in frühester Jugend mehrere Finger eingebüsst zu haben. Was also tun mit einem missratenen Kind, das nur eine Mutter lieben kann?
Die Lehrer (damals fast alle noch männlich) wussten keinen Rat. Den wusste dafür ein Freund meines Stiefvaters: „Schickt ihn doch auf die Chemie-HTL. Da kann er zu Fuß hingehen.“So beginnen Karrieren. Mangels eigener Ideen freundete ich mich im Winter 1979 mit dem Gedanken an, zu Fuß in die Schule zu gehen. Ich gehe noch heute zu Fuß in die Schule, allerdings als Lehrer. Von dieser Tatsache abgesehen, war die Entscheidung für die Höhere Technische Bundeslehranstalt für chemische Betriebstechnik in Wels wahrscheinlich die folgenreichste Fehlentscheidung meines Lebens. Worin die Folgen bestanden, habe ich an anderer Stelle aus-
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führlich beschrieben1. Dass aber die Entscheidung mit vierzehn das ganze Leben prägen kann, ersieht man auch aus der Tatsache, dass ich nicht irgendein Lehrer geworden bin, sondern einer für Physik und Chemie - was natürlich auf der damaligen Entscheidung für die HTL basiert. Schule prägt den Menschen, das ist die erste Grundthese meiner Reflexion über Schul- und Unterrichtsentwicklung. Mir geht es nun in dieser Arbeit um das Zustandekommen von Schulwahlentscheidungen. Wenn ich den entsprechenden Ausschnitt meines eigenen Lebensweges anstelle einer vernünftigen Einleitung diesem Text voranstelle, so geschieht das aus der zweiten Grundthese heraus, nämlich dass Reflexion über Schul- und Unterrichtsentwicklung immer beeinflusst wird von der Schablone des eigenen Bildungsweges. Um mein Denken zu verstehen, muss ich mir vergegenwärtigen, wie mein Weltbild gewachsen ist. Und den Grundstock für das persönliche Weltbild legt nun einmal - siehe erste Grundthese - die Schule.
Die Entscheidung darüber, welchen Bildungsweg ein Kind einschlägt, ist im Wesentlichen eine Entscheidung darüber, welchen sozialen und ökonomischen Status es erreichen kann, sofern es den eingeschlagenen Bildungsweg zur Gänze durchlaufen hat. Im österreichischen Schulsystem fallen solche Entscheidungen prinzipiell auf drei Stufen:
A.) Nach der Volksschulzeit - Hauptschule HS oder AHS-Unterstufe?
1Nachzulesen in meinem Buch “Nachprüfung - ein Tagebuch”, Grosser-Verlag, Linz 1997.
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B.) Nach der Pflichtschulzeit - Berufsausbildung (Lehre für Schüler/innen nach dem 9. Schuljahr), Polytechnische Schule PTS, berufsbildende Fachschule BMS / FS, berufsbildende höhere Schule BHS oder AHS-Oberstufe? C.) Nach der Matura - Berufseinstieg, Kurzausbildung (Kolleg), Fachhochschule bzw. sonstige Hochschule oder universitäres Studium? Jede dieser Entscheidungen fällt unter bestimmten Rahmenbedingungen und ge-horcht einer gewissen Logik, die zwar nicht absolut zu setzen ist, deren Folgen aber kummulativ wirksam werden.„Bildungsentscheidungen stehen jedoch relativ selten in den Lebensabschnitten an und beinhalten gleichzeitig große Risiken bei einer Fehlentscheidung. Spätere Korrekturen, insbesondere außerhalb der institutionell vorgesehenen Übergänge, sind mit zusätzlichem Ressourcenaufwand verbunden.“[Schlögl, P., Lachmayr, N., 2004, S. 23]
Im Prinzip wird die erste Entscheidung gegen Ende der Volksschulzeit von den Eltern getroffen. Zwar wird dem Kind heutzutage mehr Mitspracherecht eingeräumt, aber dies ist für die Eltern bestimmt nachrangig gegenüber den Antworten auf drei einfache Fragen:
Lebtdie Familie im ländlichen Raum oder im städtischen Bereich? Gehörtdie Familie zu den bildungsfernen oder den bildungsnahen Schichten der Bevölkerung?
Weistdas Kind insgesamt einen guten schulischen Erfolg auf? Lebt das Kind auf dem Landoderist seine Familie der bildungsfernen Schicht zuzurechnenoderist es in der Volksschule leistungsschwach gewesen, neigt sich die Waagschale bereits zugunsten eines Hauptschulbesuchs. Treffen gar zwei der genannten Faktoren zusammen, ist der Besuch einer AHS-Unterstufe mit hoher Wahrscheinlichkeit auszuschließen.
Weitere Faktoren, die einen Einfluss auf die Entscheidungsfindung haben, sind z.B. das Einkommen der Eltern, ein eventueller Migrationshintergrund oder die Haushalts-form der Familie. Auch die lokale Form der Anbindung an das öffentliche Verkehrsnetz kann eine Rolle spielen (wie mein eigenes Beispiel gezeigt hat). Bereits hier wird deutlich, dass in Österreich von einer schulischen Chancengleichheit nicht die Rede sein kann. Wäre dem so, müsste allein die schulische Leistung des Kindes ausschlaggebend sein. Tatsächlich ist es für ein Bauernkind aus Hirschbach im Mühlviertel bei gleicher Intelligenz und gleicher Anstrengungsbereitschaft sehr viel unwahrscheinlicher, die Matura oder gar ein Studium zu absolvieren, als für ein Akademikerkind aus Wien-Döbling. Schlögl und Lachmayr fassen diese erste Bildungsentscheidung so zusammen:„Die Entscheidung an der ersten Schnittstelle wird vor allem von Bildungshintergrund, Einkommen und Beruf der Eltern geprägt. Zusätzlich zu den unterschiedlichen Ressourcen erweisen sich Nationalität, Schulangebot im Nahbereich des Wohnorts, Wohngebiet, die Bildungsaspiration der Eltern und Ängste vor dem Statusverlust auf Grund einer geringen Bildungsvererbung auf das Kind als beeinflussend. Die bisherigen Schulleistungen des Kindes und die eige-
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nen Ansichten des Kindes bzw. der Peer-group spielen bei dieser Entscheidung eine geringe Bedeutung […]“[Schlögl, P., Lachmayr, N., 2004, S. 59] Das Perfide an dem differenzierten Schulsystem ist einebehaupteteChancengleichheit: Da die AHS-Unterstufe und die 1. Leistungsgruppe in den leistungsdifferenzierten Fächern der HS lehrplan-ident unterrichtet werden, müsste die erste Entscheidungsstufe keine endgültige Wirkung auf den weiteren Bildungsweg haben. Der 2. Konjunktiv „müsste“ ist allerdings angebracht, denn in der schulischen Praxis verhält es sich so, dass Hauptschüler/innen bei schwachen Leistungen in den leistungsdifferenzierten Fächern Deutsch, Englisch und Mathematik abgestuft werden, während schwache Schüler/innen an Gymnasien eher eine Weile „mitgeschleppt“ werden, be-vor man sie negativ beurteilt. Das Abstufen mag für sich genommen pädagogisch sinnvoll sein, im Kontext des differenzierten Schulsystems kommt es jedoch einer Vorentscheidung gleich und ist langfristig gesehen - wie nachfolgend ausgeführtwirkmächtiger als das Wiederholen einer Klasse im Gymnasium.
Im Gegensatz zu der ersten Entscheidung wird die zweite am Ende der Pflichtschulzeit weitaus stärker von den Betroffenen selbst bestimmt. Aber auch sie werden sich kaum von den soziostrukturellen Faktoren, in denen ihre Eltern verortet sind, lösen können. Und auch hier misst das österreichische Schulsystem mit zweierlei Maß. Wer von einer AHS-Unterstufe zum Beispiel in eine berufsbildende höhere Schule (BHS) wechselt, braucht als Aufnahmevoraussetzung seine Unterstufe lediglich positiv abgeschlossen zu haben. Wer dagegen von einer Hauptschule kommt, muss in den drei leistungsdifferenzierten Fächern jeweils die erste Leistungsgruppe besucht haben - oder in der zweiten Leistungsgruppe nicht schlechter als mit „Gut“ beurteilt worden sein. Bei einem „Befriedigend“ kann das Kind von der Notenkonferenz trotzdem für „reif“ erklärt werden; und selbst wenn die HS-Lehrer/innen diese Regelung großzügig handhaben (was nicht immer der Fall sein muss, denn der gesetzliche Text legt keine Großzügigkeit nahe2), bedeutet diese Praxis eine grundsätzliche Benachteiligung der Hauptschüler/innen. Gerade bei berufsbildenden höheren Schulen, die bei den Jugendlichen hoch begehrt sind und die nur ein bestimmtes Kontingent jährlich aufnehmen, starten sie quasi „aus den hinteren Reihen“ ins Rennen. AHS-Schüler/innen sind immer in der „pole position“. Es ist sogar vorgekommen, dass sie gegenüber Erstgruppisten der HS bevorzugt aufgenommen worden sind3.„Nach der AHS-Unterstufe bleiben entsprechend den Übertrittsraten 59 % in der AHS Oberstufe, 32 % wechseln in eine BHS und 2 % in eine BMS. Ehemalige Hauptschüler/innen wechseln hingegen zu einem Drittel in die Polytechnische Schule, zu einem weiteren Drittel in eine BHS, 25 % entscheiden sich für eine BMS und 6 % wechseln in die AHS Oberstufe. 13 % der ehemaligen Hauptschüler/innen abolvieren unmittelbar danach eine Lehre.“[Schlögl, P., Lachmayr, N., 2004, S. 64]
2Die HS-Lehrer/innen sind angehalten, die Zeugnis-Klauseln 9a und 9b nur dann zu gewähren, wenn der/die Schüler/in „den Anforderungen der weiterführenden Schule mit großer Wahrscheinlichkeit“ entsprechen wird. Solche Formulierungen können bei Notenkonferenzen langwierige Diskussionen auslösen.
3Laut Aussage von Dir. Heilinger soll dies lange Zeit an der HBLW in Wels Usus gewesen sein.