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John Mapother, Sohn der mächtigsten Familie im Provinznest Bashford, will nach diversen privaten Fehltritten in den amerikanischen Kongress. Er hat nur keine Ahnung von der Welt seiner Wähler. Die aber hat sein jüngerer Bruder Blue Gene, das schwarze Schaf der Familie, der auch weiß, dass die einfachen Leute gar nicht so einfach sind, angefangen bei der rebellischen Punkrockerin, in die er sich verliebt. Ein großer amerikanischer Familienroman, hochintelligent, voller Melancholie – und überraschend aktuell.
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Seitenzahl: 811
Joey Goebel
Heartland
Roman
Aus dem Amerikanischen vonHans M. Herzog
Titel der 2008 bei MacAdam/Cage,
San Francisco, erschienenen Originalausgabe:
›Commonwealth‹
Copyright © 2008 by Joey Goebel
Die deutsche Erstausgabe
erschien 2009 im Diogenes Verlag
Umschlagillustration
von Tomi Ungerer
Alle Rechte vorbehalten
Copyright © 2013
Diogenes Verlag AG Zürich
www.diogenes.ch
ISBN Buchausgabe 978 3 24037 5 (1.Auflage)
ISBN E-Book 978 3 257 60372 9
Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.
[5] Meiner geliebten Micah, deren Grübchen ich gerade sah, als wir aneinander vorbeifuhren, ich unterwegs von der Arbeit, sie unterwegs zur Arbeit. Ich war wegen eines Vorfalls auf der Arbeit aufgebracht, doch Micahs Lächeln löschte das aus. Ich wünschte, jeder könnte diesen einen Menschen finden, der alle anderen wettmacht.Mittwoch, 6.
[7] Irgendwo mitten in Amerika…
[9] Solange er zurückdenken konnte, hatte sich Blue Gene Mapother nicht wohl gefühlt. Auf seinem schier endlosen Leidensweg musste er immer wieder an den Rat denken, den ihm das Familienoberhaupt erteilt hatte: »Warum tust du nicht einfach so, als wärst du glücklich?« Doch Blue Gene konnte weder heucheln noch lügen … ihm fehlten diese lebenswichtigen Fähigkeiten, die ein Mensch – anscheinend – haben musste, um nicht als Abfall der Gesellschaft zu enden. Falls ihn jemand gefragt hätte, was denn mit ihm los sei, hätte er darauf keine Antwort gewusst, weil er sich selbst nicht kannte. Er wusste nur, dass er sich ständig außerordentlich müde fühlte und dass noch so viel Schlaf das Loch nicht stopfen konnte, das diese Müdigkeit in sein Hirn gegraben hatte.
Tagaus, tagein umgab ihn eine Wolke der Unzufriedenheit, ähnlich dem Gefühl, das man verspürt, wenn man aus dem Dunkel eines Kinos in das ernüchternde Tageslicht tritt, wo alles noch genauso ist wie vor dem Kinobesuch. Nur dass Blue Gene Mapother dieses Gefühl nie abschütteln konnte. Und obwohl er seinen schlechten Gesundheitszustand schon längst akzeptiert hatte, überkam ihn immer noch eine leichte Verdrossenheit, wenn er merkte, dass sich alle Menschen um ihn herum offenbar recht wohl fühlten. Alle [10] wollten immer irgendwas unternehmen oder irgendwohin fahren. Blue Gene wollte einfach nur dasitzen.
Irgendwann waren seine Freunde es leid, dass er ihre Einladungen, sie zu Wrestling-Veranstaltungen oder zum Bowlen zu begleiten, ausschlug, obwohl er, wie sie wussten, beides sehr gern mochte. Im Laufe der Jahre klingelte das Telefon in Blue Genes Wohnwagen immer seltener, bis es schließlich völlig verstummte. Das gefiel ihm, weil er nie gern telefoniert hatte – ein unmännlicher Zeitvertreib, wie er fand. Doch gelegentlich, an jenen Samstagabenden, wenn nichts Gutes im Fernsehen lief, fühlte er sich vergessen. Er tröstete sich mit dem Gedanken, er und seine Freunde kämen allmählich in das Alter, wo alle zu beschäftigt seien, um sich noch über Post zu freuen, und sie nur noch als Belastung empfanden.
Doch obwohl sich seine alten Freunde tatsächlich mit schlechtbezahlten Jobs und kostspieligen Kleinkindern herumplagten, hatte keiner von ihnen Blue Gene vergessen. Ob auf den Wrestling-Veranstaltungen im alten Zeughaus der Nationalgarde, in den Kassenschlangen bei Wal-Mart oder auf der gelegentlichen Grillparty mit Fassbier auf dem Lande – es gab kaum ein Treffen junger, Jeans tragender Lohnempfänger, bei dem nicht sein Name fiel.
»In letzter Zeit mal mit Blue Gene gesprochen?«
»Nee. Hat nie zurückgerufen. Kannste vergessen.«
»Wo hat er sich denn verkrochen?«
»Immer noch in Bashford, soweit ich weiß. Zuletzt hab ich gehört, dass er Zeugs auf dem Flohmarkt verkauft, aber das ist schon ’ne ganze Weile her.«
»Wir sollten ihn mal anrufen.«
[11] »Spar dir die Mühe. Der sagt eh nur, er hat gerade keine Lust.«
Für die Leute, die sich nach Blue Genes Verbleib erkundigten, gab es zwei mögliche Antworten: Entweder hatte er sich in seinem Wohnwagen vergraben, wo er mit nacktem Oberkörper zwischen seinen Schusswaffen und Jogginghosen rumhing und verfolgte, wie eine TV-Staffel die nächste ablöste, während sich chinesisches Take-away-Essen und Mountain-Dew-Limonade in seinem Bauch mischten, oder er wartete das Ende des Arbeitstages ab, leckte sich Kaffeetropfen vom Schnauzbart, gierte nach einer Zigarette und suchte die geeignete Mischung von Gedanken, die kurzzeitig für ein wenig Glück sorgen mochten. Eins von beidem musste es sein.
Bis zu einem ganz bestimmten Tag, dem ersten Freitag im Juni von Blue Genes 27. Lebensjahr, einem Wahljahr…
[13] Erster Teil
[15] 1
Auf dem Parkplatz des Flohmarkts stand zwischen all den Pick-ups, Thunderbirds, Camaros und El Caminos ein nagelneuer Lexus LS. Eine elegante Dame, die wie Danielle Steele, die Autorin von Liebesromanen, aussah, entstieg dem grauen Geländewagen, schloss die Tür und drückte auf eine Taste, worauf das Auto brav piepste. Sie sah sich um und vergewisserte sich, dass niemand sie überfallen wollte, schließlich war der Story Boulevard, wo zahlreiche Drogendealer und Prostituierte ihren Geschäften nachgingen, nur einen Steinwurf entfernt.
Ihre hohen Absätze klapperten zielstrebig auf das Gebäude zu. Als sie näher kam, roch sie in der schwülen Juniluft den Duft von Gegrilltem, den sie köstlich fand, bis sie sah, wer sich über den Grill beugte und das Fleisch mit einer Gabel wendete.
Es war ein untersetztes, androgynes Wesen mit dem Tattoo eines Zwergspitzes auf einem schlabberigen Arm, der zum Rhythmus eines Songs wackelte, in dem es immer wieder hieß, jemand wolle es irgendwem »besorgen«. Während die gutgekleidete Dame durch ihre Cartier-Sonnenbrille hindurch das verschwitzte Gesicht und die unanständig knappen, in die Pofalte hochgerutschten Shorts des korpulenten Kochs betrachtete, stellte sie sich vor, der Grillmief sei dessen [16] natürlicher Körpergeruch. Einen Sekundenbruchteil lang kam es ihr so vor, als würde Satans grellrotes Gesicht sie über den Grill hinweg angrinsen.
Elizabeth – so hieß die 61-jährige Frau – schritt durch die Automatiktür und musterte den riesigen Raum der Länge nach, seine fünfzehn Reihen mit Verkaufsständen, jeder ein langer, rechteckiger Tisch, bedeckt mit, wie es aussah, Müll. Einige Stände waren aufwendig gestaltet, beispielsweise mit hohen Trennwänden voller T-Shirts, die mit Sprüchen wie WANTED: REDNECKS MIT BECK’S UND PICK-UP-TRUCKS bedruckt waren. Andere Stände hatten nur Tische, an denen Flohmarktverkäufer versuchten, Konföderiertenfahnen, Camel-Zigaretten-Produkte und Sport-Fanartikel an den Mann zu bringen.
In der Hoffnung, eine Art Infostand zu finden, sah Elizabeth sich um. Dabei entdeckte sie eine verstörend große Menge Flip-Flops, jeder einzelne grellbunt und mit Rüschen und Tüll besetzt. Auf einem Pappschild stand: PHANTASIE-FLIP-FLOPS – AB 8 $. Verblüfft bemerkte sie, dass ein kleiner Junge das feminine Schuhwerk anprobierte.
Lange Reihen Leuchtstoffröhren erhellten die gesamte Szenerie. Die Wände waren in einem faden Beigeton gehalten, stark beschmutzt und schmucklos. Von der hohen Decke hingen Ketten, an manchen waren Schilder befestigt, die meisten baumelten einfach nur herab. Der gewaltige Raum war zwar kalt und nichtssagend, kam ihr aber irgendwie bekannt vor.
Nach einem weiteren prüfenden Blick in den Raum fand sich Elizabeth damit ab, das Gebäude zu Fuß abklappern zu müssen. Sie hielt sich ganz rechts, ging vorbei an einem [17] Mann mit schadhaften Zähnen, der alle Frauen schamlos von Kopf bis Fuß musterte und ihnen seine Erdnüsse anbot, vorbei an einem Nigerianer, der Holzarbeiten verkaufte und gerade zu jemandem »Ich gebe Ihnen mal meine Karte« sagte. Sie war peinlich darauf bedacht, vollkommen desinteressiert zu wirken, aus Sorge, von den Verkäufern an ihre Stände gelockt zu werden. Den Blick hielt sie auf den schmutzigen, ehemals weißen Fußboden mit seinen quadratischen Fliesen gesenkt, und wenn sie doch einmal aufblickte, sah sie schlaffe Orangenhaut und Pferdeschwanzfrisuren mit zur Seite gekämmten Fransen.
Bald war sie mittendrin im Flohmarktland, hatte Körperkontakt mit gemischtrassigen Paaren und vierzigjährigen Großmüttern, mit langhaarigen Männern und Leuten, auf deren T-Shirts und Basecaps die Namen von College-Sportteams standen – obwohl Elizabeth sehr wohl wusste, dass die wenigsten von ihnen jemals studiert hatten. Außerdem sah sie einige überdrehte Mexikaner, die mit einem ferngesteuerten Auto spielten, eine üppige Schwarze in einem Tube-Top, das mit ihrem überquellenden Fleisch verschweißt zu sein schien, sowie einen Mann, der als Zwillingsbruder des Weihnachtsmanns hätte durchgehen können.
Als sie endlich am Ende der ersten Reihe angekommen war, wurde ihr klar, warum ihr die Halle so bekannt vorkam. Sie hatte es nur vergessen, weil sie erst ein Mal hier gewesen war. In einer anderen Epoche hatte dieses Gebäude – nur einen Steinwurf vom ehemals soliden Story Boulevard entfernt – Bashfords profitablen allerersten Wal-Mart beherbergt. Er war vor über zwanzig Jahren geschlossen worden, für einen zweiten, größeren Wal-Mart, den wiederum man [18] letzten Winter aufgegeben hatte, als ein nagelneues Wal-Mart-Supercenter seine pompöse Eröffnung feierte.
Blue Genes Tisch stand in der hintersten Ecke, zwischen einem Samuraischwerter verkaufenden Mittfünfziger und einem älteren Paar, das Weißkopfseeadlerfiguren und religiösen Glasfaserkrimskrams im Angebot hatte. Tag für Tag hockte Blue Gene auf einem metallenen Klappstuhl – einem von der Sorte, mit dem sich Profi-Wrestler gegenseitig vermöbeln – an seinem Tisch, zwirbelte häufig seinen Kung-Fu-Schnauzbart und horchte manchmal in sich hinein, um herauszufinden, ob seine Tabletten halfen, was er für unwahrscheinlich hielt, da jedes Antidepressivum, das er bisher probiert hatte, auf der Liste seiner Nebenwirkungen »Depressionen« führte.
Nach längeren Versuchen mit Prozac, Celexa und Paxil war Blue Gene schließlich bei Zoloft gelandet, das er mittlerweile seit zwei Jahren regelmäßig nahm. Was außer seinem Arzt und den Mädels in Ralphs Apotheke niemand wusste. Er hütete dieses Geheimnis sorgfältig, da er um nichts in der Welt wollte, dass ein anderer Mann ihm ein bestimmtes obszönes Wort an den Kopf warf, ein Wort, mit dem man ihn beherrschte, da er es zugleich scheute und herbeisehnte. Eine ähnliche Beziehung hatte er zu dem Wort Weichei.
Blue Gene hielt sich für schwach, weil er Medikamente nahm, doch wenn er versuchte, sie abzusetzen, wurde er so launisch, dass er die Flohmarktkunden völlig grundlos anraunzte. Er wusste nicht, ob die Tabletten wirklich halfen. Er fühlte sich immer noch müde, immer noch bedrückt, andererseits fragte er sich, in welchem Zustand er sonst wäre.
[19] Jackie Stepchild sollte Blue Gene gegenüber später die Theorie vertreten, er und alle anderen in seiner Situation fühlten sich indisponiert, weil sie an Brucellose erkrankt seien, die durch ein im Labor hergestelltes Virus übertragen werde, das seinen menschlichen Wirt völlig gleichgültig werden lasse und ihm jede Lebensfreude austreibe. Sie ging sogar so weit, zu behaupten, das Virus werde von in Labors gezüchteten Stechmücken verbreitet, die die Regierung im Dunkel der frühen Morgenstunden überall im Land zigmillionenfach aussetze, eine Armee blutsaugender Soldaten. Blue Gene verwarf Jackies Theorie und fasste seine Müdigkeit mit den Worten eines ehemaligen Kollegen bei Wal-Mart zusammen: »Der Draufgänger in mir ist draufgegangen.« Der Kollege war damals Mitte siebzig gewesen.
Doch Blue Gene glaubte, dass das Leben genau das bewirkte, vor allem wenn man seine besten Jahre mit Arbeiten verbrachte: Es machte einen jungen Mann alt.
Sein Arbeitstag hatte wie immer begonnen: Blue Gene trank aus einem Styroporbecher Kaffee und sah zu, wie die anderen Händler eintrudelten und die alten Bettlaken von ihren Waren nahmen. Um zwei Minuten vor neun machte der Besitzer des Commonwealth-County-Flohmarkts seine morgendliche Lautsprecherdurchsage, erhob seine Stimme über die Apollo-13-Gläser und Spielzeugfiguren aus Cornflakes-Packungen, den Modeschmuck und die NSYNC-Figuren, die Vom-Winde-verweht-Teller und Plüschtiere, die Wackeldackel und Legosteine. Sein sanfter Bariton klang wie der von Johnny Cash, nur optimistischer.
»Guten Morgen, liebe Flohmarkthändler. Wie immer gilt: Wer etwas Illegales hat, packt es unter den Tisch. Wir [20] werden uns bemühen, im Laufe des nächsten Monats die Klimaanlage für Sie in Gang zu bringen, was heißt, dass wir auch im nächsten Monat hier sein werden. Ganz egal, was Curran Boggs sagt. Wir werden auch im nächsten Monat noch hier sein und im übernächsten und überübernächsten und bis in alle Ewigkeit, Amen. Ich weiß, die Geschäfte laufen schleppend, aber diesen Sommer wird es besser werden. Und nun wünsche ich uns allen einen erfolgreichen Tag. Ach ja – fast hätte ich es vergessen. Wussten Sie, dass es Zeit wird, die Bettwäsche zu wechseln, wenn man anfängt, in seinem Bett Staub zu saugen? Na, dann wollen wir mal loslegen. Macht die Tore auf, und lasst sie rein.«
Jeden Morgen hörte sich Blue Gene die Ansage des Besitzers aufmerksam an – hauptsächlich weil er die Witze mochte. Es waren immer knackige, bodenständige Witze wie: »Unterhalten sich zwei Farmer: ›Hast du gehört, was man in der Stadt über uns erzählt?‹ – ›Nein, was denn?‹ – ›Man sagt, wir treiben es mit Schafen… und Ziegen… und Hühnern… und Schlangen…‹ Darauf der andere: ›Mit Schlangen?‹« Mehr als den Humor an sich wusste Blue Gene zu schätzen, dass der Besitzer sich die Mühe machte, jeden Tag einen neuen Witz zu erzählen.
Wie immer verbrachte Blue Gene die Stunden nach der morgendlichen Durchsage damit, vorbeischlendernde Kunden zu beobachten, denen er allerdings höchstens kurz zunickte. Er sprach grundsätzlich keine Kunden an, wenn sie ihn nicht von sich aus ansprachen, denn er wollte auf keinen Fall für einen professionellen Händler gehalten werden. Das war einer seiner strikten Grundsätze, die er sich für den Flohmarkt verordnet hatte. Beispielsweise hatte er sich [21] regelmäßige Anwesenheitszeiten auferlegt, obwohl er keine Stechuhr hatte und überhaupt nicht kommen musste, wenn ihm nicht danach war. Er hatte ein schlechtes Gewissen, weil hier zu sitzen so viel leichter war als sein letzter Job als Lagerarbeiter bei Wal-Mart. Zum Ausgleich saß er nun eisern zwischen neun und siebzehn Uhr an seinem Stand, mittwochs bis sonntags; in seinen neun Monaten als Händler hatte er nicht einen Tag blaugemacht.
Für die anderen Flohmarkthändler, die sich in diesen neun Monaten die Zeit genommen hatten, Blue Gene näher kennenzulernen, war er ein griesgrämiger Typ, der mühelos andere griesgrämige Typen zum Lachen bringen konnte, und er war die Sorte Mann, »der sagt, was Sache ist«, der einen »Kumpel« nannte, ohne dass es herablassend wirkte, weil es sich anhörte, als sei es ihm ernst. Für die Händler, die ihn nur vom Sehen kannten, war Blue Gene ein langhaariger Typ mit Schnauzbart, der nie lächelte und leicht hinkte, was bestimmt der Grund dafür war, dass er stundenlang an seinem Tisch sitzen blieb.
Für viele Händler war das laute Schnauben aus den Nasennebenhöhlen, das aus Blue Genes Verkaufsstand drang, das Einzige, was sie von dem derben Burschen mitbekamen, und wenn sie daraufhin die Köpfe in seine Richtung drehten, blickten ihnen aus dem Halbschatten einer Basecap ein Paar dunkle, tief in ihren Höhlen liegende ungesunde Augen mit grau-lila Ringen entgegen. Wegen seiner missmutigen Art und seiner unglaublichen Arbeitsmoral – anscheinend war er morgens immer als Erster da und ging abends als Letzter – behandelten ihn die Kollegen der Nachbarstände wie ein Kuriosum. Sie tratschten über seine [22] Vergangenheit, angefangen bei den seltsamen Methoden, mit denen er sich seine Zeit auf Erden vertrieb (es hieß, er habe sich ein halbes Jahr lang immer nur Auf dem Highway ist die Hölle los im Fernsehen angesehen), bis hin zu unglaublichen Gerüchten über seine Jugend.
Während viele Menschen auf dem Flohmarkt ganz teigige Gesichter hatten, wirkte das von Elizabeth makellos, wie aus Elfenbein geschnitzt. Als junge Frau war sie beeindruckend schön gewesen, und viel von dieser Schönheit war auch geblieben, sah man von den Falten am Hals und den ausgeprägten Adern an den Händen ab. Ihr Gesicht mit den markanten Wangenknochen und den makellosen Zähnen erweckte bei Menschen, die sie noch nicht kannten, den Eindruck von Hochnäsigkeit; und ihr steifes Auftreten nahm solche kritischen Fremde ebenfalls nicht für sich ein.
Elizabeth war dezent geschminkt und trug die dunkelbraunen Haare zu einem straffen Pferdeschwanz gebunden. Sie färbte sich die Haare oft und kämmte sie hingebungsvoll, da man ihrer Ansicht nach von den Haaren eines Menschen auf seinen Charakter und seine Gedanken schließen konnte. Diese Auffassung hatte Elizabeth von einem modernen »Propheten«, Edgar Cayce, übernommen, der die Ansicht vertrat, in unseren Träumen symbolisierten Haare Gedanken, weil sie wie Gedanken dem Kopf entsprangen. Elizabeth war auf Cayce gestoßen, als sie über Träume und Prophezeiungen recherchiert hatte – Themen, zu denen sie mehr als zweihundert Bücher gelesen hatte.
Im zweiten Gang wurde sie von einer kleinen Gruppe Kunden aufgehalten, angeführt von einer steinalten Frau, an [23] deren Gehhilfe unten Tennisbälle angebracht waren. Da Elizabeth es leid war, ewig weiter auf das widerliche T-Shirt des Mannes vor ihr starren zu müssen – mit dem Aufdruck GENIESSEN SIE DIE AUSSICHT über der Abbildung eines Bulldoggen-Hinterteils plus fettes Sternchen unter dem Schwanz –, drehte sie sich zu einem der Verkaufsstände um und gestattete sich einen kurzen Augenkontakt mit einer Händlerin. Sie war erleichtert, als die alte Frau nichts sagte. Sie inspizierte die feilgebotene Ware, und zehn Minuten später hatte sie ihre Wahl getroffen, ganz spontan und aus eigenem Antrieb.
»Die sind wirklich hübsch«, sagte Elizabeth, als sie der kleinen alten Frau mit der dicken Rougeschicht im Gesicht und den bis zum Busen hochgezogenen Shorts das Geld reichte. »Gibt es die auch bei anderen Ständen?«
»Ja, aber meine sind die billigsten.« Wie viele Händler war diese Frau auf einen Artikel spezialisiert, in ihrem Fall beleuchtete religiöse Bilder. Elizabeth entschied sich für die am wenigsten kitschige Version des Abendmahls, an dem jeder Zentimeter leuchtete und strahlte. Ein bisschen geschmacklos fand sie es schon, doch gleichzeitig als Tombolapreis bei einem der Bingoabende in ihrer Kirche hervorragend geeignet.
Elizabeth war gar nicht auf die Idee gekommen, dass auf dem Flohmarkt religiöse Artikel verkauft werden könnten. Eigentlich hatte sie überhaupt keine Vorstellung von einem Flohmarkt gehabt; sie hatte nämlich bisher noch nie einen betreten. Als Erbin des Vermögens eines bekannten Financiers namens James Hurstbourne konnte Elizabeth sich hier als Einzige rühmen, schon einmal in einem Privatflugzeug geflogen zu sein.
[24] Da ihre erste Begegnung mit einem Händler so angenehm verlaufen war, wollte sie jetzt noch mehr Preise für die Tombolas ihrer Kirche suchen. Bald entdeckte sie T-Shirts, auf denen Jesu gepeinigter, von blutigen Striemen durchzogener Rücken abgebildet war, und zwischen den Striemen stand: WILLST DU JESU LIEBE VERSTEHEN, LIES ZWISCHEN DEN ZEILEN. Sie kaufte zehn Stück.
Als Elizabeth ihren Rundgang fortsetzte, fiel ihr zum ersten Mal auf, dass sie in ihrem eleganten schwarz-weiß gemusterten seidenen Wickelkleid völlig aus dem Rahmen fiel. Offenbar waren aktuelle Modetrends auf dem Flohmarkt nicht angesagt. Die altmodische Kleidung der anderen wirkte auf sie so, als hätte sie mit einer Zeitmaschine einen Zeitsprung von mehreren Jahrzehnten gemacht. Die achtziger, geschweige denn die neunziger Jahre hatten hier modisch keine Spuren hinterlassen.
Außerdem schien sie anscheinend als Einzige einzukaufen. Die anderen Besucher hoben misstrauisch alles hoch, drehten und wendeten es und suchten nach Mängeln, die es einfach geben musste, und selbst wenn es keine Mängel gab, war der Betrag auf dem gelben Preisschildchen garantiert noch zu hoch. Sie kannte die Sorte Leute: Sie glaubten, man könne gar nicht vorsichtig genug sein, und gingen mit dem diffusen Gefühl durchs Leben, andauernd übers Ohr gehauen zu werden. Unbewusst hielten sie verzweifelt ihre strassbesetzten Hand- und ihre grellrosa Gürteltaschen umklammert.
Auch wenn der eine oder andere Händler durchaus manche Kunden übers Ohr hauen mochte, war der Flohmarkt von Commonwealth County doch kein wirklich [25] gefährlicher Ort. Man konnte höchstens bemängeln, dass es sich dabei um den organisierten Versuch handelte, Dinge zu Geld zu machen, die niemand mehr haben wollte. Der Flohmarkt bot Händlern die Gelegenheit, noch einen letzten müden Dollar aus einer Ware zu quetschen, die den Wirtschaftskreislauf eigentlich schon komplett durchlaufen hatte.
Weil dies einer der größten Flohmärkte im Herzen der USA war, kamen selbst an einem weniger geschäftigen Tag wie heute genügend Menschen, dass ein stetiger Kundenstrom an Blue Genes Stand vorbeifloss. Doch die meisten schoben sich achtlos an den Auslagen Blue Genes und der anderen 152Händler vorbei. Blue Genes erster ernsthafter Interessent des Tages tauchte erst kurz vor halb zwölf in Gestalt eines kleinen Jungen auf, dessen Gesicht von Kratzern übersät war. Der Junge wollte zu einem von Blue Genes Tischen laufen, doch seine Großmutter zog ihn an einer Leine zurück, die mit einer Art Geschirr an seinem Oberkörper befestigt war.
»Keine Hektik«, sagte die Großmutter. »Bin schon unterwegs.« Zuerst hörte Blue Gene nur ein mechanisches Surren. Dann sah er sie in einem roten elektrischen Rollstuhl langsam heranrollen. Sie war korpulent, und da sie keinen BH trug, hingen ihr die Brüste bis zu den Hüften. Brandnarben ringelten sich ihre stämmigen Beine hinauf.
»Wow«, sagte der Junge, als er Blue Genes Auslage von nahem sah. Blue Gene nickte der Großmutter zu, die ihm zulächelte.
»Hi«, sagte sie.
»Hallo.«
[26] »Guck doch mal, was er alles hat, Oma«, sagte das Kind ehrfürchtig.
»Ja, er hat haufenweise von den Dingern, nicht wahr?«
»Wow«, wiederholte der Junge.
Unwillkürlich empfand Blue Gene immer ein wenig Stolz, wenn ein Kunde so auf seine Auslage reagierte. Er musste zugeben, seine Spielsachen sahen wirklich hübsch aus, wie sie da in vielen kaleidoskopartig bunten Farben über den ganzen Tisch verteilt lagen, nur dass Blue Gene das Wort hübsch nie für etwas verwendet hätte, was in irgendeiner Weise mit ihm zu tun hatte.
Seine drei Tische waren mit die buntesten in der ganzen Halle, aber Blue Genes Artikel waren ja auch in einem besonders bunten Jahrzehnt hergestellt worden. Wenn Blue Gene an die Achtziger dachte, sah er vor seinem inneren Auge Bonbonfarben: Neongrün, Neonpink, Lila, Orange und Gelb. Auf seinen Tischen war denn auch das gesamte Farbspektrum vertreten, mit einem leichten Akzent auf Grün. Da lagen Moss Man und Battle Cat, Golobolus und Lady Jaye, Cosmos und Scavenger neben Teela, Dr.Mindbender, Captain America, Bumblebee, Lion-O, Buddy Bell, Bib Fortuna samt all ihren Verbündeten und Feinden.
Blue Gene verkaufte hauptsächlich Actionfiguren, natürlich ohne Verpackung. Er hatte Star Wars, Masters of the Universe, Thundercats, Battle Beasts, Marvel Secret Wars, Captain Powers, C.O.P.S. und Teenage Mutant Ninja Turtles. Doch mehr als von jeder anderen Figur hatte er G.I.-Joes. Er hatte sämtliche zwischen 1982 und 1989 hergestellten G.I.-Joe-Figuren gesammelt. Sie kamen auf dem Flohmarkt besonders gut an.
[27] »Oma, den will ich.« Der Junge hatte eine der größeren Figuren ausgesucht, einen Transformer namens Galvatron, einen Roboter, der sich in ein futuristisches Gewehr verwandeln konnte.
»Gib mal her«, sagte die Frau, nahm den Plastikroboter und sah sich durch ihre Zweistärkenbrille den Preisaufkleber an. »Nö.«
»Bittebitte?!«
»Hier steht drei. Geht auch weniger?«
»Zwei geht auch«, sagte Blue Gene, ohne zu zögern. Gespannt wartete der Junge, wie seine Großmutter entscheiden würde.
»Nö. Wir müssen Opa noch seinen Gürtel besorgen.«
Sie stellte die Figur auf den Tisch zurück. »Lass uns weitergehen«, sagte die alte Frau, zerrte mit einer Hand an der Leine und lenkte den Rollstuhl mit der anderen. Blue Gene sah, wie der Junge ein letztes Mal sehnsüchtig auf den Transformer zurückblickte, ehe er sich abwandte.
»Du kannst ihn haben«, sagte Blue Gene unvermittelt.
Der Junge wirbelte herum, und die Frau bremste so scharf, dass ihr Elektrorollstuhl quietschte.
»Wie war das?«, fragte sie.
»Er kann den hier so haben.« Blue Gene nahm den Roboter und gab ihn dem kleinen Jungen. »Na los, nimm ihn schon.«
Der Junge wirkte eingeschüchtert und zögerte.
»Sind Sie sicher?«, fragte die Frau verblüfft.
»Es war ein ruhiger Vormittag«, sagte Blue Gene mit seiner tiefen, schleppenden Stimme, »und ich will das Zeug einfach nur loswerden.«
[28] »Aber eine Kleinigkeit will ich Ihnen geben«, sagte die Frau und griff nach ihrem Portemonnaie.
»Nein, Ma’am. Nehmen Sie ihn einfach.« Er sah den kleinen Jungen an. »Ich schenk ihn dir.«
»Na, was sagt man, Cody?«
»Danke schön!«
»Gern geschehen.«
»Danke schön«, wiederholte die Frau. »Das ist mächtig nett von Ihnen.«
»Is schon okay.«
Der Junge ging lächelnd weiter, und bei jedem Schritt blinkten fröhlich die roten Lämpchen in seinen Schuhsohlen. Dieser Anblick machte Blue Gene kurzfristig glücklich, gerade so lange, wie der Song dauerte, der über die Flohmarktlautsprecher kam: »This Kiss« von Faith Hill.
Blue Gene hatte nicht zum ersten Mal etwas verschenkt. Gewöhnlich reagierten die Leute verwirrt, und viele dachten, Blue Gene wolle sie mit seinem großzügigen Angebot irgendwie bescheißen, und weigerten sich, von einem Fremden ein Geschenk anzunehmen. Warum sollte man etwas verschenken, woran ein Preisschild klebte? Manche Kunden schienen von so einem nie da gewesenen, großzügigen Angebot regelrecht gekränkt zu sein. Andere jedoch lächelten und bedankten sich drei-, vier-, gelegentlich sogar fünfmal, und er dankte ihnen, dass sie ihm diesen Gegenstand abgenommen hatten.
Bald nachdem der kleine Junge und seine Großmutter gegangen waren, machte Bob, ein braungebrannter Mittsiebziger mit einer Dose RC Cola in der Hand, vor Blue Genes Stand halt. Bob und seine Frau verkauften an dem Stand [29] rechts von Blue Gene patriotische Skulpturen und christliche Devotionalien. In seinen Wrangler-Jeans und den schwarzen Stiefeln umgab Bob die Aura eines weisen, arbeitsmüden Cowboys, dabei hatte ihn das Leben im Osten hart gemacht, nicht der Wilde Westen. Wie viele der älteren Männer auf dem Flohmarkt war Bob Kriegsveteran, wie die Basecap behauptete, die er immer trug, und auf der stand: EINMAL EIN MARINE, IMMER EIN MARINE. Er hatte im Koreakrieg gedient, der bei ihm zwei markante Merkmale hinterlassen hatte: eine verblichene, tätowierte US-Flagge auf einem Arm und einen schiefen Stumpf statt des anderen. Bob erzählte gern, er habe seit 52Jahren keinen rechten Arm mehr.
»Wie geht’s dir so, Blue Gene?«
»Kann nicht klagen.«
»War ein ruhiger Vormittag, stimmt’s?«
»Und ob. Ich dachte, vielleicht kommen ja ’n paar mehr Kunden vorbei, wo wir jetzt langsam Sommer kriegen.«
»Ja, sollte man meinen, aber inzwischen ist sogar im Sommer nichts mehr los.«
»Ist auch egal«, sagte Blue Gene.
»Stimmt. He, ich soll dir von Connie ausrichten, dass gestern Nachmittag jemand angerufen hat und dich sprechen wollte.«
»Wieso erfahr ich das jetzt erst?«
»Och, du weißt doch, wie die dahinten drauf sind.«
»Wer wollte mich sprechen?«
»Das hab ich auch gefragt. Wer ruft schon den Penner an?«
»Nun mach mal halblang. Wer war’s denn?«
[30] »Sie sagte, irgendeine Frau. Ihren Namen hat sie nicht verraten.«
Blue Genes graue Lider hoben sich. »Danke für die Info.«
»Keine Ursache. Bis später.«
Dank Bobs Nachricht gab es in Blue Genes Tag plötzlich einen Hoffnungsschimmer am Horizont. Er dachte nur noch daran, dass möglicherweise eine Frau versuchte, ihn zu finden. Vielleicht war es eine seiner Kundinnen. Es gab eine gefärbte Blondine mit der Figur einer Stripperin, die mehrmals mit ihrem Kind an seinen Stand gekommen war und sich offenbar wirklich gern über Spielsachen unterhielt. Oder vielleicht war sie ja eine der jungen Frauen, mit denen er früher gejoggt hatte, als ihm noch nach Laufen zumute gewesen war. Einige von ihnen hatte er damals attraktiv gefunden, zum Beispiel diese eine Tänzerin, die sich Missus Sizzle nannte. Das Hin und Her in der Beziehung zu seiner ersten und letzten Liebe, Cheyenne Staggs, verhinderte, dass er eine der Frauen näher kennengelernt hatte. Als er und Cheyenne sich zum dritten Mal trennten – das einzige Mal, dass ihre Trennung wirklich Bestand hatte –, hinderte ihn nur seine Antriebslosigkeit daran, sich um eine neue Freundin zu bemühen.
Doch hier gab es eine Frau, die die Initiative ergriffen hatte, die sich anscheinend für ihn interessierte. Er brauchte sich nur noch mit ihr zu verabreden.
Auf einmal fiel Blue Gene ein, dass gleich am nächsten Tag die perfekte Veranstaltung für ein erstes Date stattfand: die Thunder-Nationals-Monstertruck-Show im Bashford Civic Center. Im Fernsehen war ein Werbespot dafür gelaufen. Jahrelang war er nicht mehr da gewesen, seit damals, als [31] Cheyenne und er sich das gemeinsam angesehen hatten. Jemand, der ihn suchte, würde bestimmt auch gern mit ihm dorthin gehen.
Gegen Viertel vor zwölf schwitzte Elizabeth unter ihrer Schminke, während sie drei prallvolle Tüten mit Einkäufen durch das stickige Gebäude schleppte. Zu ihren Erwerbungen gehörten ein Dutzend Kaffeebecher mit der Aufschrift: JESUS GEFÄLLIG? und ein paar bunte Jungfrau-Maria-Wandteppiche, die sie ein paar netten Latinos abgekauft hatte. Shoppen war Elizabeths einziges Laster, doch die meisten ihrer Erwerbungen waren für ihre Kirche bestimmt. Für sich selbst hatte sie nur eine Statuette von Sankt Kolumban gekauft, dem Schutzheiligen der Motorradfahrer, wie sie bei ihren zwanghaften Nachforschungen über Heilige herausgefunden hatte.
Unterwegs grüßte sie jeden einzelnen Verkäufer, die alle lächelten und den Gruß erwiderten. Bisher waren alle so nett und anscheinend dankbar gewesen, dass sie etwas kaufte, und die Frauen machten ihr artig Komplimente über ihr Outfit. Nur einmal hatte sie sich fehl am Platz gefühlt: Ein Mann hatte sie so seltsam angesehen, als sie mit ihrer Visa-Karte bezahlen wollte. Doch dann hatte er einen Scheck genommen.
Elizabeth fand nicht nur die unverhohlene Frömmigkeit der einfachen Leute bezaubernd, sondern auch ihren ansteckenden Patriotismus. Wohin sie auch sah, überall entdeckte sie Rot, Weiß, Blau und Tarnfarben. Sie sah Bürger, die auf ihre Überzeugungen stolz waren, und was diesen Leuten an Grammatik, körperlicher Fitness und Zahnpflege abging, machten sie mit inneren Werten wett. Sie gehörten [32] zweifellos zum sprichwörtlichen Salz der Erde, und Elizabeth ging davon aus, dass sie eines Tages viel Zeit mit ihnen verbringen würde.
Elizabeth sah immer noch mehr, was sie kaufen wollte, machte sich aber klar, dass sie mit einem Auftrag hierhergeschickt worden war, und beschloss, nichts mehr zu erstehen. Sie steckte hinter einem buckligen Alten in einem Blaumann fest, an dem sie nicht vorbeikam, weil ein Trio lahmer Jugendlicher ihr den Weg versperrten. Als der alte Mann langsam um die Ecke bog und den nächsten Gang betrat, sah Elizabeth endlich den hinteren Teil der Halle. In der entlegensten Ecke entdeckte sie den Grund ihres Besuchs; er strich sich über den Schnauzbart und aß gerade einen Hamburger. Die gute Laune, in die die Flohmarkthändler sie versetzt hatten, löste sich umgehend in Luft auf. Er sah verwahrlost, ungepflegt und schmutzig aus und schien unter Drogen zu stehen – kurz: schlimmer als je zuvor. Es war erstaunlich, wie viel Schaden vier Jahre anrichten konnten.
Je näher sie kam, desto klarer wurde das Bild: blaugrüne Tusche auf einer bleichen, für Sonnenbrand und Mückenstiche anfälligen Leinwand, die straff über ein großes Gerüst gespannt war, das allmählich Speck ansetzte. Da er mager war, mit spindeldürren Armen und Beinen, ließ ihn sein einer Bowlingkugel ähnelnder Bauch schwanger wirken, und er tätschelte ihn, als enthalte er einen kostbaren Schatz.
Seine fettigen Haare waren länger als je zuvor und hingen an den Seiten asymmetrisch herunter. Sein Schnauzbart war dichter gewachsen und noch ekliger als früher, wie eine wuschelige, braune Raupe, die seine gerunzelte Stirn nachahmte. Der arme Kerl sah furchtbar aus.
[33] Doch dann rief sie sich in Erinnerung, dass der arme Kerl ganz und gar nicht arm war. Da saß er nun… zerrupft, halb Tier, halb Kind, mit dem Gesicht eines Schwerverbrechers wie von einem Fahndungsfoto, und ruinierte den guten Ruf seiner Familie. Er hatte es sichtlich darauf angelegt, so peinlich wie möglich auszusehen, führte sich auf wie ein Waldmensch und verströmte den geistigen Glanz eines Lastwagenfahrers – und roch auch so.
Doch dieses heruntergekommene Geschöpf gehörte zu ihr. Blue Gene war zwar ein Schandfleck der Familie Mapother – einer von mehreren Schandflecken, die im Lauf der Jahre aufgetaucht waren –, aber dennoch war er ein Mapother.
Sie setzte ein Lächeln für ihn auf.
Statt eine zu rauchen, nahm Blue Gene seine unter der Woche übliche Mahlzeit ein, bestehend aus zwei einfachen Cheeseburgern, Grippo’s Kartoffelchips mit Barbecuegeschmack und einer Dose Limonade. Allerdings konnte er sein Mittagessen nicht genießen, weil zwei Händler weiter vorn im Gang über ihn lachten. Er warf ihnen einen Blick zu, kalt wie die Eiszeit, bis sie sich abwandten.
Solche Zwischenfälle gab es immer mal wieder, und weil Blue Gene mit ihnen rechnete, war er ständig auf der Hut (und bildete sich manchmal auch nur ein, beleidigt worden zu sein). Er ging davon aus, dass sie lachten, weil er als erwachsener Mann Spielsachen verkaufte.
Wenn jemand Blue Gene, vermeintlich, schief ansah, geschah das jedoch eigentlich meist wegen seines Äußeren, auf das er kaum einen Gedanken verschwendete.
[34] Er dachte sich nichts dabei, Tag für Tag dieselben schwarzen Billig-Flip-Flops zu tragen, mit weißen Söckchen, wenn es draußen kalt war. Er dachte sich auch nichts dabei, in einer kurzen Hose herumzulaufen – einst Jeans der Marke Faded Glory –, aus der ihm weiße Fransen über die Knie hingen, weil er die Hosenbeine bloß abgeschnitten hatte. Und er dachte sich gar nichts dabei, fleckige T-Shirts mit Slogans zu tragen, beispielsweise das mit der Aufschrift OPERATION DESERT STORM, eingerahmt von amerikanischen und irakischen Fahnen, zwischen denen Spiderman schaukelte, oder das von heute, auf dem der Wrestler-Name ›STONE COLD‹ steve austin stand.
Doch er hatte sich etwas dabei gedacht, als er die Ärmel von all seinen T-Shirts abschnitt. Erstens war es bequem, und zweitens konnte er so seine Tätowierungen zur Schau stellen: Cheyenne in kursiver Schnurschrift über einem indianischen Kopfschmuck auf seinem linken Bizeps und einen zornigen Adlerkopf auf dem rechten.
Wenn es einen Aspekt seines Äußeren gab, über den Blue Gene gründlich nachdachte, so waren es die Haare. Sein strähniger, dunkelbrauner Vokuhila fiel hinten bis zur Mitte der Schulterblätter, während die Haare vorn und seitlich kurz geschnitten waren. Doch die Vorderpartie und die Seiten sah kaum jemand, weil Blue Gene in der Öffentlichkeit nie ohne seine Baseballmütze auftauchte, meist eine grüne mit Tarnmuster.
Während im Radio Alan Jackson und dann Tim McGraw sangen, verschlang Blue Gene sein Mittagessen. Er ärgerte sich immer noch über die Händler, die ihn ausgelacht hatten, und ließ die beiden nicht aus den Augen – einer älter, mit [35] nach hinten gegelten Haaren, der andere jünger und feist –, obwohl sie ihn nicht mehr beachteten. Dann fiel ihm auf, dass der junge Mann, der gegenüber am Stand seiner Mutter saß, eingeschlafen war. Außer den Seidenblumen seiner Mutter versuchte der Mann für fünfzig Cent pro Seite Computerausdrucke seiner Gedichte zu verkaufen. Blue Gene missfiel, dass der Mann nicht nur knappe Jeans trug, um seine muskulösen Beine zu zeigen, sondern dass er außerdem immer den Kopf neigte, wenn Kunden vorbeigingen.
Blue Gene hielt nach der Mutter des Mannes Ausschau, weil er wissen wollte, ob jemand den Stand bewachte, während ihr Sohn schlief, doch sie war nicht in der Nähe.
»Ey, Chris«, sagte er zu dem Waffenhändler links von ihm, worauf dieser das Schwert hinlegte, mit dem er gerade herumhantiert hatte, und zu Blue Gene herüberkam. Neben seiner riesigen Sammlung Samuraischwerter verkaufte der Mann Messer, Armbrüste, Blasrohre und »Militaria«.
»Guck dir den mal an«, sagte Blue Gene. Der Blumenmann hatte die Augen geschlossen, und sein Mund stand offen. »So was nennt man eine schlechte Geschäftsidee.« Chris lachte. »Wir sollten ihm was rüberwerfen.«
»Mach ich, wenn du ’n Cent für mich hast«, sagte Chris.
Blue Gene stellte sich vor, wie er den Blumenmann mit aller Macht auf den Solarplexus boxte – eine seiner Lieblingsphantasien –, als ihm wieder einfiel, dass eine Frau sich nach ihm erkundigt hatte. Daraufhin glitt er in einen Tagtraum hinüber, in dem er sich in einem Gartenpavillon der Liebe hingab.
Der Tagtraum platzte, als Elizabeth in sein Blickfeld trat. Zuerst erkannte er sie nicht, weil er es nicht für möglich [36] hielt, dass sie an diesem Ort auftauchte. Er konnte nicht glauben, dass sie von der Existenz des Flohmarkts wusste, geschweige denn hierherkam und ihn aufspürte.
»Hallo, Gene«, sagte Elizabeth ruhig.
»Hey, Mom.«
»Komm, lass dich umarmen.«
Blue Gene legte seinen Cheeseburger beiseite und stand auf, doch sein Verkaufstisch trennte ihn von Elizabeth. Sie beugte sich über den Tisch und schlang die Arme um ihn. Er erwiderte die Umarmung nur matt.
»Deine Haut riecht nach Rauch. Wie ist es dir denn ergangen?«
»Kann nicht klagen. Und dir?«
»Gut, danke. Du hast uns gefehlt.«
»Hm.« Blue Gene verschränkte die Arme. »Wie geht’s den andern?«
»Gut. Arthur würdest du nicht wiedererkennen, so groß ist er geworden. Warte mal –« Sie griff über den Tisch an sein Gesicht. »Du hast ganz trockene Haut, die schuppt sich ja.« Blue Gene trat einen Schritt zurück.
»Das ist Absicht.«
»Ach, Gene«, sagte sie mit einem milden Lächeln.
»Was machst du auf dem Flohmarkt?«
»Ich wollte dich sehen. Es ist schon viel zu lange her. Wusstest du, dass ich bisher noch nie auf so was war? Ich bin froh, hier zu sein. Sieh mal, was ich alles gefunden habe.« Sie kramte in ihren Tüten und zog den religiösen Krimskrams heraus. Blue Gene reagierte kaum. Er war zu sehr mit der Überlegung beschäftigt, was er davon halten sollte, dass sie einfach so hereinplatzte, und, was noch wichtiger war, ob sie [37] ihn daran hindern würde, die unbekannte Frau zu treffen, die für ihn angerufen hatte. »Na, eigentlich bin ich hier, weil wir gern wüssten, ob du nicht heute zum Abendessen vorbeikommen möchtest.«
»Weshalb?«
»Weil ich, Gene, in letzter Zeit viel darüber nachgedacht habe, warum wir uns so… wie sage ich das am besten? Uns so auseinandergelebt haben. Was nicht sehr christlich von uns ist. So können wir nicht weitermachen. Es geschehen zurzeit so viele schreckliche Dinge, als hätte der Herr uns endgültig verlassen, und wir wollen uns nicht von dieser unguten Atmosphäre anstecken lassen. Willst du das? Die Gefahr ist groß. Also, erst heute Morgen habe ich eine ganz grässliche Geschichte in der Zeitung gelesen. Hast du von der Mutter gelesen, die – ich mag das nicht mal aussprechen –, es gibt da eine Mutter, die ihrem eigenen Kind die Arme abgeschnitten hat.«
»Ich habe keine Zeitung abonniert.«
»Das solltest du aber. Warum nicht?«
»Ich mag nicht drin lesen.«
»Das solltest du aber. Gehst du denn in die Kirche?«
»Das letzte Mal war ich dort wohl bei einer Beerdigung. Vor über einem Jahr.«
»Betest du denn noch?«
»Ja. Wenn ich daran denke. Ich bete jedes Mal, wenn ich Krankenwagen- oder Feuerwehrsirenen höre.«
»Das ist doch eine nette Geste.« Elizabeth lächelte entschuldigend. »Ich habe übrigens Blumen geschickt. Hast du sie gesehen?«
»Wovon redest du eigentlich?«
[38] »Zu der Beerdigung, die du vermutlich gemeint hast. Ich habe Blumen geschickt. Hast du sie gesehen?«
»Ja.«
»Waren sie hübsch?«
»Weiß ich nicht mehr. Bestimmt waren sie’s.«
»Das war schrecklich. Was da geschehen ist, tut mir leid.«
»Danke dir.« Blue Gene fand diesen Ernst unerträglich. Ein heißer Ring schnürte sich fester um seinen Kopf. »Ist da was dran, dass John für ein politisches Amt kandidiert?«, fragte er und rückte seine Basecap zurecht.
»Oh. Du hast davon gehört? Tja, die Vorwahlen hat er gewonnen. Ich bin so stolz auf ihn. Und jetzt müssen wir bis November warten. Er kommt heute Abend auch. Ich weiß, wie gern er dich sehen würde. Kommst du?«
»Ich weiß nicht.«
»Bitte.«
»Wer ist sonst noch da?«
»Dein Vater und ich natürlich. Und John, Abby und Arthur. Mehr nicht.«
»Ich weiß nicht.«
Elizabeth sah sich die Spielsachen an. »Was heißt das, du weißt es nicht? – Gene, brauchst du Geld?«
»Nein.«
»Weil du offenbar all deine Schätze aus der Kindheit verkaufst, wie mir gerade auffällt.«
»Und?«
»Die hast du doch so gemocht. Erinnerst du dich noch… wobei, wahrscheinlich erinnerst du dich nicht, du warst ja erst vier. Egal, jedenfalls hast du damals gesehen, wie ich mein Porzellan in antiken Vitrinen aufbewahrte, und [39] wolltest dann auch so eine für deine Spielsachen. Und da haben wir dir eine besorgt. Und jetzt verkaufst du das alles?« Elizabeth hob einige Figuren hoch. »Du verlangst nicht viel dafür, oder?«
»Warn eh bloß Staubfänger.«
»Das waren doch nur Staubfänger. Sprich in ganzen Sätzen, Gene!«
Blue Gene seufzte und setzte sich wieder. Er sah den Gang entlang, ob vielleicht eine junge Frau in seine Richtung kam.
»Hast du dich mal über die Preise informiert? Herrje, ist das nicht einer aus Star Wars? Ich habe gelesen, dass sie sehr viel wert sind. Und du willst nur zwei Dollar dafür haben?«
»Ich würde sie auch für ’nen Vierteldollar hergeben, hab aber rausgefunden, wenn man Sachen zu billig anbietet, glauben die Leute, es wär irgendwas nicht in Ordnung damit.«
Elizabeth schüttelte den Kopf und setzte ihre Inspektion fort. »Muss ich dich wirklich daran erinnern, dass du nichts davon selbst gekauft hast? Dein Vater und ich haben ein Vermögen dafür bezahlt, und nun sitzt du da und verschenkst sie sozusagen.«
»Ich hab mir schließlich die Mühe gemacht, diesen Stand aufzubauen, um sie wieder loszuwerden. Aber wenn sie dir so viel bedeuten, darfst du sie gerne nehmen.«
»Was sollte ich damit anfangen?«
Blue Gene seufzte wieder.
»Na schön. Es ist ja wohl dein Spielzeug. Du kannst damit machen, was du willst.« Sie rang sich ein Lächeln ab.
»Falls es dich tröstet: Ich behalte alle meine Wrestler.«
»Die hättest du ruhig wegwerfen können.«
[40] Wieder seufzte Blue Gene.
»Geht’s dir gut?«
»Weshalb fragst du?«
»Du ächzt und stöhnst immerzu, als hättest du Sorgen.«
»Das mach ich dauernd. Ich mache immer lange Atemzüge.«
»Hast du Schwierigkeiten beim Atmen?«
»Nein. Vielleicht. Weiß nicht. Manchmal bin ich ein wenig kurzatmig.«
»Dann solltest du zum Arzt gehen. Du rauchst noch, stimmt’s? Du stinkst danach.«
»Ja.«
»Tja, da hast du den Grund. Du musst Doktor Wharton aufsuchen. Bist du noch sein Patient?«
»Nein.«
»Ich werde einen Termin für dich vereinbaren.«
»Nein, lass es. Ich schätze, wenn ich schwer atme, liegt das nicht an gesundheitlichen Problemen. Das mache ich nur, wenn ich frustriert bin.«
»Du bist frustriert?«
»Ja.«
»Weswegen?«
»Weiß auch nicht. Wegen allem – meine Güte, Mom, du bist noch keine fünf Minuten hier, und schon bringst du mich auf die Palme.«
»Entschuldige.« Blue Gene seufzte. »Verdienst du damit jetzt deinen Lebensunterhalt?«
»Ja.«
»Man hat mir gesagt, bei Wal-Mart hättest du schon vor einer Weile gekündigt. Warum das denn?«
[41] »Wie meinst du das: ›Man hat mir gesagt‹, ich hätte bei Wal-Mart gekündigt?«
»Ich habe dich in deinem Haus – Verzeihung, in deinem Trailer – nicht erreicht, deshalb habe ich gestern versucht, dich bei Wal-Mart anzurufen, wo man mir sagte, dass du wahrscheinlich auf dem Flohmarkt zu finden wärst.«
»Augenblick mal.« Er lief rot an. »Hast du mich gestern hier angerufen?«
»Ja. Ich habe gestern hier angerufen, doch die Frau am Telefon war nicht sehr hilfsbereit. Immerhin habe ich herausgefunden, dass du hier bist, und darum bin ich heute hergekommen.«
Zack! Blue Gene schlug auf den Tisch, so dass ein paar Spielsachen zu Boden fielen. Elizabeth schaute sich um. Niemand sah in ihre Richtung. Die meisten Verkäufer beobachteten einen jungen Schwarzen mit einer Cornrows-Frisur und silbernen Zähnen.
Blue Gene hob seine Spielsachen sofort wieder auf.
»Was ist denn mit dir los?«, fragte Elizabeth.
»Gar nichts.«
»Du stehst gerade unter Drogen, stimmt’s?«
»Lass mich in Ruhe, Mensch.«
»Du bist total zugedröhnt, oder?«
»Ich habe das letzte Mal als Jugendlicher Drogen genommen.«
»Du erwartest doch nicht, dass ich das glaube, während du mit einer Tätowierung deiner Freundin hier sitzt, die – und das weiß ich mit Sicherheit – an einer Überdosis gestorben ist?«
»Nun mach mal halblang. Wir waren seit einem Jahr [42] getrennt, als das passierte. Als sie starb, hatten wir überhaupt nichts mehr miteinander zu tun. Was du hier machst, grenzt ja an Sippenhaft.«
»Gut, nehmen wir an, du stehst nicht unter Psychopharmaka. Warum haust du dann auf den Tisch?«
»Darum! Hör zu, Mom, ich bin gerade sehr beschäftigt.«
»Das stimmt doch gar nicht.« In den letzten zehn Minuten war niemand an Blue Genes Stand stehengeblieben. Die Stimme des Flohmarktchefs kam über die Anlage und unterbrach den Song »Cheap Seats« der Gruppe Alabama.
»Liebe Händler, falls jemand von Ihnen Schmuckhüllen für Bic-Feuerzeuge verkauft, kommen Sie bitte nach hinten.«
»Warum hast du dann auf den Tisch gehauen?«, wiederholte sie. »Macht es dich so wütend, dass ich angerufen habe?«
»Nein. Ich will nur ’ne Zigarette rauchen und hab ’nen Schmachter, und ich hatte einen wichtigen Anruf erwartet und bin nur sauer, dass nicht jemand anders angerufen hat, sondern du. Ich hatte mir schon Hoffnungen gemacht.«
»Oh. Geht es bei dem Anruf, den du erwartet hast, um eine bessere Arbeit?«
»Ja, Mom. Dabei geht es um eine bessere Arbeit.«
Nachdem Blue Gene seinen Wutanfall überwunden hatte, wechselte er das Thema, indem er auf einige bemerkenswerte Gestalten hinwies. Da war der älteste Mann von Commonwealth County, der so dünn war, dass es aussah, als trüge er ein Korsett, aber noch gesund genug, um auf den Beinen zu sein; ein paar furchteinflößende Biker mit [43] Insektentattoos auf den Hälsen, laut Blue Gene Mitglieder einer Bikergang von Vietnamveteranen; und ein Mann mit langem weißem Bart, dem eine der weltgrößten Briefmarkensammlungen gehörte.
»Wie auch immer«, sagte sie, »wir erwarten dich gegen sechs. Es gibt auch dein Lieblingsessen. Schweinekoteletts.«
»Augenblick mal. Ich hab nicht gesagt, dass ich komme. Du tauchst hier aus heiterem Himmel auf, nachdem du dich vier Jahre lang nicht gemeldet hast, und dann erwartest du –«
»Du hast dir auch nie die Mühe gemacht, deinen Vater oder mich zu besuchen. Das beruht also auf Gegenseitigkeit. Und du hast dieses Leben führen wollen. Du weißt, wir waren immer gut zu dir. Wir haben immer für dich gesorgt. Doch offenbar war dir irgendwann nur noch wichtig, das Mädchen mit den größtmöglichen Brüsten zu finden.«
»Ja, verdammt, stimmt, sie hatte zwei mächtige Euter.«
»O Gene. Du bist so… Ach, egal.«
»Was denn?«
»Gar nichts. Vergiss es.«
»Was wolltest du sagen?«
»Nichts. Erzähl mal, mit wem wohnst du jetzt zusammen?«
»Mit niemandem. Also, was wolltest du sagen? Übrigens, was auch immer du sagen wolltest, es hat sich jetzt aufgestaut und kommt darum schlimmer rüber, als wenn du’s gleich gesagt hättest.«
»Na schön, aber du darfst nicht wieder auf den Tisch hauen.«
»Versprochen.«
»Wenn du’s unbedingt wissen willst, ich wollte sagen, du [44] bist so asozial. Obwohl du eigentlich gar nicht asozial bist. Du benimmst dich nur so, siehstso aus, aber in Wirklichkeit bist du nicht asozial.« Blue Gene sah zu den Schwertern am Nebentisch hinüber.
»Siehst du«, sagte Elizabeth, »jetzt bist du wütend. Das wollte ich nämlich gar nicht sagen, aber du musstest ja unbedingt drauf bestehen. Ich weiß, dass du kein Penner bist. Du siehst nur so aus. Dieses Hemd, deine Tätowierungen – das sind alles Äußerlichkeiten.«
»Lass mich in Ruhe, Mensch.«
»Wenn es doch stimmt! Du siehst aus wie alle anderen hier, nur dass du dich bemühst, möglichst schlimm auszusehen, während sie wahrscheinlich versuchen, möglichst gut auszusehen. Das hast du doch gar nicht nötig. Versteh mich jetzt nicht falsch. Es sind bestimmt gute Menschen und in mancher Beziehung wirklich bewundernswert, aber du weißt, was ich sagen will. Du könntest ohne großen Aufwand besser aussehen als sie. Und in diesem Aufzug bekommst du nie eine anständige Frau.«
»Warum machst du mich dauernd fertig?«
»Tu ich gar nicht.«
»Ich rede doch auch nicht darüber, wie du aussiehst.«
»Da gibt es nichts zu reden. Ich bin stolz auf mein Aussehen.«
»Bestimmt hast du dir dieses Botox spritzen lassen.«
»Hab ich nicht.«
»Davon sehen Leute wie Katzen aus.«
»Sehe ich vielleicht wie eine Katze aus?«
»Nein, aber du bist kaum gealtert, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe.«
[45] »Danke. Warum gehst du nicht einfach mal zu meinem Friseur?«
»Ich geh zu keinem Friseur!«
»Viele Männer gehen dahin.«
»Ich lass mir die Haare nicht schneiden. Weißt du was? Neulich abends im History Channel hieß es, früher wurde von Dichtern und Künstlern erwartet, dass sie die Haare lang trugen.«
»Das Problem ist nicht so sehr die Länge. Ich weiß, wie wichtig dir deine langen Haare sind. Sie müssen nur gepflegt sein. So sehen sie schrecklich aus, als hättest du sie selbst geschnitten.«
»Warum müssen wir ständig über Haare reden?«
Er hatte recht. Die Länge von Blue Genes Haaren war schon immer ein Streitpunkt zwischen den beiden gewesen.
Nach einer kurzen Pause platzte es aus Blue Gene heraus: »Haare sind nicht real!«
»Was?«
»Haare fühlen nichts. Sie sind nicht lebendig. Sie sind nicht real. Warum also dieser Aufstand?«
»Ich versteh ja bloß nicht, warum du so herumlaufen willst.«
»Dann mach mal halblang – ich stelle dich ja auch nicht dauernd in Frage, verstehst du. Ich habe nie gesagt, du seist gaga, als du ständig behauptest hast, du hättest einen Engel gesehen. Ich hab’s zwar gedacht, aber gesagt hab ich’s nie.«
Elizabeths zierliche Gestalt erstarrte. Sie beugte sich über den Tisch. Ihre Augenbrauen wurden zu unbeweglichen Warnzeichen. »Versündige dich nicht«, flüsterte sie.
[46] »Nun werd nicht gleich sauer. Du hast schließlich gesagt, ich sei ein Penner. Ich musste mich verteidigen.«
»Du hast dich wie ein Penner aufgeführt. Du hattest die Einstellung eines Penners. Doch ich weiß, dass du kein Penner bist. Sosehr du dich auch bemühst, du wirst es nie sein. Nicht durch und durch.«
»Wieso redest du überhaupt mit mir, wenn ich die Einstellung eines Penners habe? Damit wäre ich ein Sünder wie alle anderen kleinen Leute auch, und dann wäre ich in Schwierigkeiten, laut deinem Traum. Stimmt das nicht?«
»Nicht in der Öffentlichkeit, Gene.«
»Wie nennst du das noch gleich, was mit denen geschieht, die nicht gerettet wurden oder so was?«
»Gene. Das ist nicht der –«
»Wie nennst du das? Neuraler Tod?«
»Sei still!«
Blue Gene verstummte, als Elizabeth einer Kundin zunickte, die gerade näher kam, einer stark tätowierten Schwangeren, die Jon Bon Jovi ähnelte. Sie hielt einen kleinen, roten Soldaten hoch. »Ist das ein G.I.-Joe?«, fragte sie.
»Ja, ein Crimson Guard.«
»Mein Freund steht total auf G.I.-Joes, und den hat er, glaub ich, noch nicht. Krieg ich ihn für ’n Dollar?«
»Klar.«
Elizabeth räusperte sich. Die Frau sah zu ihr herüber, und Elizabeth schaute nach unten.
»Wollen Sie eine Tüte?«, fragte Blue Gene.
»Nein, danke.«
»In Ordnung. Danke.«
»Gene, warum hast du das gemacht?«
[47] »Was gemacht?«
»So billig verkauft. Du hast ihr erstes Angebot akzeptiert.«
»Das mach ich immer so.«
»Das ist nicht gut fürs Geschäft, mein Junge.«
»Von dieser speziellen Figur hab ich vielleicht zwanzig Stück. Ich hab mir von euch etwa zwanzig Crimson Guards kaufen lassen, weil’s in dem Cartoon ’ne ganze Armee davon gab, nicht nur den einen. Ich kann ihn also gut entbehren.«
»Du hättest wenigstens eins fünfzig verlangen können. Hast du hier eigentlich Gewinn gemacht?«
»In drei Monaten schon, aber das ist mir egal.«
»Wie viele Monate bist du jetzt hier?«
»Das verrat ich nicht.«
»Was zahlst du an Standmiete?«
»Fünfundsiebzig im Monat.«
»Meine Güte. Und was kostet dein teuerstes Spielzeug?« Elizabeth durchwühlte seine Sachen. »Fünf Dollar? Und warum verkaufst du das Zeug nicht einfach auf eBay? Das wäre viel einträglicher.«
»Das begreifst du eh nicht. Ich mag die Atmosphäre hier.« Blue Gene zeigte auf zwei schwarzgekleidete männliche Jugendliche mit langen, nassen Haaren und Strumpfhosen über den Armen und eine Blondine mit vorstehenden Zähnen, spindeldürren Beinen und absurd großen Brüsten. »Ich höre den Leuten gern zu. Ein Beispiel: Ist dir schon mal aufgefallen, dass sich alte Männer immer darüber unterhalten, ob Soundso noch Auto fahren kann? Außerdem kann ich nichts auf eBay verkaufen, weil ich keinen Computer habe.«
[48] »Na gut, aber du solltest wirklich nicht das erste Angebot annehmen. Du hättest wenigstens einen Dollar fünfzig verlangen können.«
»Meine Güte, Mom, du bist die reichste Frau im ganzen verdammten Bundesstaat und kriegst wegen einem Dollar die Krise. Hier, den schenk ich dir.«
Blue Gene stand auf und versuchte, Elizabeth den Dollar zu geben, doch sie schob ihn fort.
»Nun mach schon. Nimm ihn.«
»Ich will ihn nicht«, sagte Elizabeth entschieden.
»Nimm ihn.«
»Nein. Setz dich endlich hin.«
Blue Gene riss den Dollarschein entzwei.
»Das war jetzt so was von erwachsen, Gene.«
»Ich hätte ihn gern genommen«, sagte der einarmige Mann vom Nachbarstand. Elizabeth und Blue Gene drehten sich zu ihm um. Elizabeth lachte leise.
»Ich weiß, dass du ihn nehmen würdest«, sagte Blue Gene.
»Ooh… die Figur finde ich toll!«, sagte Elizabeth und zeigte auf eine die Farbe wechselnde Glasfaserstatuette Marias. Der Mann verkaufte außerdem Statuetten von Feuerwehrmännern mit amerikanischen Flaggen in der Hand, von Weißkopfseeadlern und unglücklich aussehenden Indianern.
»Wir machen Ihnen einen guten Preis.«
»Was kostet die?«, fragte Elizabeth.
»Eigentlich wollte ich dreißig haben, aber da Sie anscheinend Blue Gene kennen, geb ich sie Ihnen für fünfundzwanzig.«
»Gekauft.«
[49] Während Bob die Figur einpackte und seine Frau hinter ihrer übergroßen Brille Freundlichkeiten mit Elizabeth austauschte, war Blue Gene wütend und kam sich albern vor, weil er geglaubt hatte, eine junge Frau hätte angerufen. Der Gedanke an Brüste hatte seinen Verstand vernebelt, doch es war nicht so schlimm, weil er ohnehin keine Lust auf die Monstertruck-Show hatte. Es wäre lästig gewesen, auch weil das Parken am Civic Center so nervenaufreibend war. Alles war lästig. In seinem Trailer war er am besten aufgehoben.
Blue Gene schaffte seinen zweiten Cheeseburger nicht. Sein Bedürfnis, zu rauchen, war so stark wie noch nie. Seine Hoffnung, die Enttäuschungen dieses Tages zu lindern, setzte er auf eine Rauchpause. Er beschloss, seine Mom zu bitten, auf den Stand aufzupassen.
»Möge Gott, der Herr, Ihnen wohlgesinnt sein«, sagte Bob, als Elizabeth sich wieder ihm zuwandte.
»Danke sehr«, sagte Elizabeth, um noch eine Tüte reicher. »Gene, deine Nachbarn sind so nett.«
»Ich weiß. Hör mal, würdest du dich hier zu mir setzen? Ich kann noch einen Stuhl holen.«
»Nein danke. Ich muss los.«
»Tut mir leid, dass ich dich vorhin so angefahren habe. Ich kauf dir ’ne Limo… nein, du magst Eistee, nicht wahr?«
»Danke, aber ich muss wirklich weg. Es wird Zeit für meinen Gebetsspaziergang, und danach muss ich noch schnell in den Anbau. Sehen wir dich heute Abend?«
»Ich weiß nicht. Mal abwarten, wie ich mich nach der Arbeit fühle.«
»Bitte, Gene. Der Herr wäre nicht damit einverstanden, wie wir uns auseinandergelebt haben.«
[50] »Na ja, wenn du mich nur einlädst, um dich mit Gott besserzustellen, dann komm ich lieber nicht, denn wie du richtig sagst, bin ich ja nicht mit euch in Kontakt geblieben. Du brauchst also keine Schuldgefühle zu haben.«
»Es geht um mehr als Schuld. Wir wollen dich wieder in unserem Leben haben.«
»Das kommt von dir, nicht von Dad, oder? Weiß er überhaupt von dieser Einladung?«
»Ja. Es war sogar seine Idee.«
»Na klar.«
»Es stimmt. Er war meiner Meinung, dass wir uns entfremdet haben, und hat vorgeschlagen, dich einzuladen.«
»Wieso ist er dann nicht hier?«
»Weil er arbeitet. Du weißt doch, wie vielbeschäftigt dein Vater ist. Was wäre, wenn ich plötzlich sterben würde? Du würdest dich schrecklich fühlen, wenn du mir diese Bitte abgeschlagen hättest und auf einmal wäre ich tot.«
»Musst du diese Karte ausspielen? Das ist unfair.«
»Ich habe in der Zeitung gelesen, dass momentan täglich tausend Menschen meiner Generation sterben. Möglich wäre es also.«
Blue Gene rieb sich den Schnauzbart. »Und John ist auch da, sagst du? Mit seinem Jungen?«
»Ja. Sie würden dich sehr gern sehen.«
Blue Gene kapitulierte. »Tja, vermutlich könnte ich vorbeikommen, Hauptsache, du hast keine Hintergedanken.«
»Wie schön! Sagen wir um sechs. Und sei pünktlich!«
»Okay.«
»Prima. Tja, wir sehen uns dann.«
»Okay.«
[51] Er hatte aus zwei Gründen nachgegeben: Erstens hatte er keine Lust mehr, sich zu streiten, weil er dermaßen nach einer Zigarette gierte, und zweitens hatte er nichts dagegen, John mal wiederzusehen und dessen kleinen Sohn.
Sobald Elizabeth außer Sichtweite war, kehrte sein Blick zu den Spielsachen zurück, die ihm seine Eltern geschenkt hatten; sie verkörperten für ihn gleichsam verschiedene Phasen seines Lebens. Er wusste, dass seine Familie 1985 ihr jetziges Domizil bezogen haben musste, weil er im selben Jahr angefangen hatte, He-Men zu sammeln. Im selben Jahr war es seinem Vater nämlich gelungen, sein Tabakunternehmen mit dem seines größten Konkurrenten zu fusionieren. Daraufhin hatten sich die Mapothers vor der Stadt ein Herrenhaus bauen lassen, wo Blue Gene ein eigenes Zimmer nur für seine Spielsachen bekam.
Seine Mutter hatte recht. Er verdiente hier nicht sein Geld; das Spielzeug war nicht mit seinem Geld gekauft worden. Sie hatte es tatsächlich geschafft, ihm den Tag zu verderben. Und dass er geglaubt hatte… Ein Weilchen hatte sein altes Herz eine Melodie gespielt, zu der er einen Klammerblues aufs Parkett hätte legen können.
Kurz darauf ging der Besitzer des Flohmarkts mit einem weißhaarigen Herrn an Blue Genes Stand vorbei, und wie immer erzählte er einen Witz: »Wussten Sie, dass es Zeit wird, die Bettwäsche zu wechseln, wenn man anfängt, in seinem Bett Staub zu saugen?«
Blue Gene fiel auf, dass der Besitzer erst einmal mit ihm gesprochen hatte, und auch da nur, weil er Blue Genes monatlichen Mietscheck verlegt hatte. Wenn er es recht bedachte, knöpfte der Besitzer den Händlern ohnehin zu hohe [52] Mieten ab und war somit der Einzige, der hier einen Gewinn erzielte.
Blue Gene hatte plötzlich eine Mordswut auf alles und jeden – auf den Flohmarktbesitzer, den zerrissenen Dollarschein auf dem Boden, auf den Wal-Mart-Angestellten, der Elizabeth sein »Versteck« verraten hatte, und auf Kenny Chesneys seichte Countrypop-Akkorde, die gerade durch die Flohmarkthalle waberten. Bizarre Bildfolgen spulten sich in seinem Kopf ab: wie er sich mit einer Pistole den Gaumen kitzelte, wie er sich mit einer Zange Zehennägel herausriss, in einer Drehtür die muskulöse Wade des Blumenmannes einklemmte.
Blue Gene kroch unter seinem Vordertisch hervor und humpelte in Richtung Hinterausgang, mit dem festen Vorsatz, jeden zur Strecke zu bringen und auszupeitschen, der ihn während seiner Zigarettenpause beklaute. Auf dem Weg nach draußen musste er an den Männern vorbei, die über ihn geredet hatten. In der Tür warf er ihnen noch einen letzten bösen Blick zu.
»Ich hab’s dir gesagt, ich hab’s dir gesagt! Wetten, es ist das elft- oder zwölftgrößte Familienvermögen in den ganzen Vereinigten Staaten? Jetzt steht’s in der Zeitung. Wird Zeit, die Schulden zu bezahlen!«
»Ich hätte dir nicht geglaubt, bis sie hier aufgetaucht ist.«
»Aber was ist bloß aus ihm geworden?«
»Keine Ahnung, aber ich schätze, es liegt an seinem Dad. Sein Dad ist ein echter Scheißkerl. Sein Bruder übrigens auch.«
»Der will doch für irgendwas gewählt werden, stimmt’s?«
[53] »Ja.«
»Tja, dann schulde ich dir wohl zwanzig.«
»Ach, die musst du nicht bezahlen.«
»Gut, mehr als fünf hab ich eh nicht.«
[54] 2
Es gab New York und L.A. Dann gab es Chicago, Houston, Philadelphia und so weiter. Dann kamen Nashville, Omaha und St.Paul; dann Greensboro, Dayton und Flint; und ein, zwei Tage weiter unten auf der Liste kam Bashford. Zur Zeit von Blue Gene Mapother und Jackie Stepchild hatte sich Bashford als Städtchen mit etwa fünfzigtausend Einwohnern oder drei McDonald’s etabliert. Es war groß genug für ein Einkaufszentrum, aber zu klein für eine unterklassige Baseballmannschaft. Es wohnten genug Menschen hier, um für sie ein Community College zu errichten, aber nicht genug für einen öffentlichen Flughafen. Es war nicht so groß, dass die Stadtstreicher in der Innenstadt offen bettelten; es gab zwar Obdachlose in Bashford, aber sie fielen weniger auf als in größeren Städten. Wer in Bashford auf der Straße bettelte, musste damit rechnen, jemandem aus der Highschool wiederzubegegnen.
Bashford befriedigte alle Bedürfnisse des modernen Lebens: Geldautomaten waren immer höchstens einen Rülpser entfernt, das Schreibwarengeschäft verkaufte die ausgefallensten Druckertinten, und im vergangenen Jahr hatte ein Starbucks aufgemacht. Doch Bashford war kein Reiseziel. Es gab weder eine Universität noch ein Museum oder einen Meeresstrand. Deine Lieblingsbands traten hier nie auf, und [55] es war noch nie ein Präsident zu Besuch gekommen, sah man von Harry Truman ab, der der Stadt aus dem letzten Wagen eines Zuges zugewinkt hatte. Wegen Bashfords kultureller Defizite und des vorherrschenden Gefühls von Stagnation träumten viele junge Leute davon, ihre Stadt zu verlassen. Die Skyline Bashfords bestand gerade mal aus einer Reihe von Fabrikschloten im Süden der Stadt. Und die Gebäude an der innerstädtischen Einkaufsmeile waren vierstöckige rote Backsteinquader, von Architekten ohne jeden Ehrgeiz erbaut, definitiv nichts Aufregendes, nichts Bestaunenswertes, jedoch solide, stabil und für Bashford völlig ausreichend.
Ein paar Prominente stammten von hier, einige davon wirklich begabt, andere hauptsächlich wegen ihrer Exzesse bekannt, aber sie alle zogen weg und kehrten nie wieder zurück. Der graue und grüne Boden der Gegend war offenbar fruchtbar genug, um Träume hervorzubringen, doch sobald sie herangereift waren, zogen sie in größere Städte und überließen es den jungen Leuten, ob sie ihnen nachjagen wollten.
Blue Gene sah keinen Sinn darin, fortzuziehen, da er seine Ziele im Leben – Flohmarktverkäufer zu sein und mit der richtigen Frau eine Familie zu gründen – auch verwirklichen konnte, ohne seinen Geburtsort zu verlassen. Außerdem liebte er seine Heimatstadt wirklich, was für einen in Bashford lebenden Mittzwanziger sehr ungewöhnlich war. Für ihn war Bashford wie jede andere Stadt und ein guter Ort, um Kinder großzuziehen. Aber Blue Gene hatte auch mehr von der Welt gesehen als die meisten seiner Altersgenossen, da seine Eltern mit ihm und seinem Bruder an der Ost- und Westküste der USA und in ganz Europa gewesen waren. Er [56] hatte Bauwerke gesehen, deren Anblick ihm das Gefühl gab, ein Idiot zu sein, und er war in Städten gewesen, die so schön und sauber waren, dass er dort am liebsten Müll weggeworfen hätte. Mit jeder Reise lernte er seine Heimatstadt mehr schätzen.
Zu den Klängen eines langsamen, düsteren Songs der Band Staind, den Blue Gene nicht besonders mochte, steuerte er seinen roten 1988er Chevy-S-10-Pick-up zu einer tristen Wohnwagensiedlung im Süden der Stadt, unweit des Friedhofs; vorbei an einer langen Reihe identischer grauer Briefkästen, vorbei an den WARNUNG-VOR-DEM-HUNDE!-Schildern, an herumliegendem Plastikspielzeug, an heruntergekommenen 1980er Limousinen und verdreckten 1990er Pick-ups mit UNTERSTÜTZT-UNSERE-TRUPPEN