8,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 8,99 €
Ein Klassiker von Terry Pratchett in neuer Übersetzung und Gestaltung
Die Stadtwache von Ankh-Morpork wird aufgestockt. Damit die »angemessene Repräsentation einzelner Volksgruppen oder so« gewährleistet ist, erhält die Truppe einige ungewöhnliche Rekruten, darunter einen Zwerg, einen Troll und einen Werwolf. Dass Ärger vorprogrammiert ist, liegt auf der Hand. Doch die Wache hat nicht nur mit internen Problemen zu kämpfen: Eine gefährliche Waffe wird der Assassinen-Gilde gestohlen, seltsame Morde geschehen, und dann versuchen einflussreiche Kräfte auch noch zu verhindern, dass die Wache ihre Ermittlungen fortsetzt. Zum Glück sind Hauptmann Mumm und seine Männer nicht so einfach aufzuhalten …
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 549
Buch
Unruhe bei der Stadtwache von Ankh-Morpork: Hauptmann Samuel Mumm will anlässlich seiner Hochzeit mit Lady Sybil seinen Abschied nehmen. Und das gerade jetzt, wo seine Mannen eine feste Hand bräuchten. Denn die Wache hat neue Rekruten bekommen, und im Zuge der »angemessene Repräsentation einzelner Volksgruppen oder so« sind da einige ziemlich ungewöhnliche Spezies reingerutscht – unter anderem ein Troll, ein Zwerg und eine Werwölfin.
Doch die Wache hat nicht nur mit internen Problemen zu kämpfen: Ein fehlgeleiteter Assassine verübt mit einer gestohlenen Wunderwaffe eine mysteriöse Mordserie – oder die Waffe mit ihm? Jedenfalls gäbe es allerhand zu ermitteln. Ausgerechnet das versuchen einflussreiche Kräfte um jeden Preis zu verhindern. Zum Glück sind Hauptmann Mumm, Korporal Karotte und ihre Leute nicht so einfach aufzuhalten …
Autor
Terry Pratchett, geboren 1948, gilt als einer der erfolgreichsten Autoren der Gegenwart. Von seinen mit zahlreichen Preisen ausgezeichneten Romanen wurden weltweit bisher über 80 Millionen Exemplare verkauft, seine Werke sind in 38 Sprachen übersetzt. Für seine Verdienste um die englische Literatur wurde ihm sogar die Ritterwürde verliehen. Terry Pratchett starb im März 2015.
Terry Pratchetts Fanclub in Deutschland: www.pratchett-fanclub.de.
Mehr Informationen zum Autor und seinen Büchern sowie eine Gesamtübersicht über seine bei Goldmann und Manhattan lieferbaren Titel erhalten Sie unter www.pratchett-buecher.de.
Terry Pratchett
Helle Barden
Ein Scheibenwelt-Roman
Aus dem Englischen neu übersetzt von Gerald Jung
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Men at Arms« bei Victor Gollancz Ltd., London. Die vorliegende Ausgabe ist eine Neuübersetzung des erstmals 1996 im Wilhelm Goldmann Verlag auf Deutsch erschienenen Romans.
Manhattan Bücher erscheinen im Wilhelm Goldmann Verlag, München, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH.
1. Auflage
Copyright © der Originalausgabe 1993
by Terry & Lyn Pratchett
First published by Victor Gollancz Ltd., London
Discworld ® is a trademark registered by
Terry Pratchett
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1996
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Neuveröffentlichung 2014
Die Nutzung des Labels Manhattan erfolgt mit freundlicher Genehmigung
des Hans-im-Glück-Verlags, München
Umschlaggestaltung: buxdesign, München
Umschlagmotiv: © Sebastian Wunnicke
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
Redaktion: Uta Rupprecht
ISBN: 978-3-641-13632-1www.manhattan-verlag.de
Korporal Karotte von der Stadtwache Ankh-Morpork (Nachtwache) setzte sich im Nachthemd an den Tisch, kaute nachdenklich auf dem Stift herum und schrieb dann:
Liebste Muther und Pappa,
Also ich hab gleich eine neue Überraschung für Euch denn Ich bin, nämlich zum Korporal befördert worden!! Dass heist, noch mal fünf Dollar im Monat obendrauf, außerdem hab ich einen neuen Wams gekriegt mit zwei Striefen drauf. Und eine neue Polizeimarke! Das bedeutet Viel Verantwortung für mich!! Und dass kommt von daher weil wir neue Rekruten gekreigt haben, weil der Patrizier, also der Herrscher, über die Stadt wie ich schon mal erwähnt hab, der Mienung ist, das die Wache die ethnische Vielfarbigkiet der Stadt Widerspeigeln sollte …
Karotte zögerte einen Augenblick und blickte durch das kleine, staubige Schlafzimmerfenster in die einsetzende Abenddämmerung, die sich über den Fluss heranstahl. Dann beugte er sich wieder über das Blatt.
… was ich nicht so gantz verstehe aber, es hat irgendwie mit derKosmetikfabrik des Zwergs Schnapptopf Donnerstoß zu tun.Außerdem verlässt Hauptmann Mumm, von dem hab ich euch schon oft geschrieben die Wache, weil er sich verhieratet und ein Feiner Herr wird, und dazu wünschen wir Alle ihm natürlich Alles Gute, denn er hat mir Alles beigebracht was ich weiß bis, auf dass was ich mir selbst beigebracht habe. Wir legen alle zusammen, um ihm was zu Schenken, eine Überraschung, und ich hab mir überlegt, vielleicht eine von diesen neuen Uhren die ohne Dämonen funktioneiren, und da könnten wir ja auf der Rückseite, was eingravieren lassen vielleicht ›Dem Glücklichen schlägt, Kiene Stunde‹, das ist nämlich ein Wortspiel. Wir wissen nicht, wer der neue Hauptmann wird, Feldw. Colon hat gesagt das er sofort Kündigt wenn, er es wird und Korpl. Nobbs …
Karotte schaute wieder aus dem Fenster. Seine große, ehrliche Stirn legte sich vor Anstrengung in Falten, denn er suchte verzweifelt nach etwas Positivem, das sich über Korporal Nobbs sagen ließ.
… ist in siener derzeitigen Posizion besser aufgehoben und Ich selbst, bin noch nicht lange genug, bei der Wache. Also müssen wir eben Abwarten …
Wie so vieles hatte alles mit einem Todesfall angefangen. Und mit einer Beerdigung an einem Frühlingsmorgen, an dem der Nebel so bleiern auf dem Boden lag, dass er sich ins Grab ergoss und der Sarg in eine Wolke hinabgelassen wurde.
Ein kleiner grauer Straßenköter, der so vielen Hundekrankheiten Asyl gewährte, dass sie ihn wie eine Staubwolke einhüllten, hockte auf dem Erdhügel und schaute dem Geschehen unbeeindruckt zu.
Mehrere ältere Familienmitglieder weiblichen Geschlechts weinten. Edward d’Eath weinte nicht, und das aus dreierlei Gründen: Er war der älteste Sohn, der 37. Lord d’Eath, und für einen d’Eath gehörte es sich nicht zu weinen. Außerdem war er ein Assassine, und zwar ein so frischgebackener, dass sein Diplom in der Tasche noch knisterte. Assassinen weinten nun mal nicht bei Todesfällen, sonst kämen sie aus dem Weinen nicht mehr heraus. Außerdem war er sauer. Eigentlich war er richtig wütend.
Er war wütend, weil er sich sogar für dieses ärmliche Begräbnis Geld leihen musste. Er war wütend auf das Wetter, auf diesen gewöhnlichen Friedhof und darauf, dass sich das Hintergrundgeräusch der Stadt kein bisschen veränderte, nicht einmal bei einem Anlass wie diesem. Er war wütend auf den Lauf der Geschichte. So war das alles nicht gedacht gewesen.
Die Geschichte hätte einfach nicht so verlaufen dürfen.
Sein Blick wanderte über den Fluss, wo der düstere Koloss des Palastes wuchtig aus dem Nebel ragte. Die Wut schob sich vor seinen Blick und wurde zu einem Objektiv.
Edward war in die Obhut der Assassinengilde gegeben worden, weil dort diejenigen, deren Intelligenz nicht ganz an ihren gesellschaftlichen Rang heranreichte, die beste Ausbildung erhielten. Wäre er als Narr ausgebildet worden, hätte er die Satire erfunden und gefährliche Witze über den Patrizier gerissen. Wäre er als Dieb1 ausgebildet worden, wäre er in den Palast eingebrochen und hätte dem Patrizier etwas sehr Wertvolles gestohlen.
Aber man hatte ihn zu den Assassinen geschickt …
Noch am selben Nachmittag verkaufte er das, was vom Besitz der d’Eath übrig war, und schrieb sich erneut bei der Gildenschule ein.
Für das Aufbaustudium. Er schnitt als Erster in der Geschichte der Gilde mit Bestnoten in allen Fächern ab. Seine Vorgesetzten beschrieben ihn als jemanden, den man im Auge behalten sollte – und da er etwas an sich hatte, bei dem selbst Assassinen ein leichtes Unbehagen befiel, vorzugsweise aus sicherer Entfernung.
Auf dem Friedhof schaufelte der einsame Totengräber das Loch zu, die letzte Ruhestätte von d’Eath senior.
Waren das seine eigenen Gedanken, die sich da mit einem Mal in seinem Kopf tummelten? Es hörte sich ungefähr so an:
Haste vielleicht ’n Knochen für mich? Ach, hoppla, das war jetzt echt daneben, ’tschuldigung, ich hab nix gesagt. Aber in deinem Dingsbums da, dieser Brotdose, da sind doch Wurstbrote drin. Willste dem kleinen Hundchen dort drüben nicht eins davon abgeben?
Der graue Köter musterte ihn aufmerksam.
Dann sagte er: »Wuff?«
Es dauerte fünf Monate, bis Edward d’Eath fand, wonach er gesucht hatte. Seine Suche wurde dadurch behindert, dass er nicht wusste, wonach er eigentlich suchte, nur dass er es erkennen würde, sobald er es gefunden hatte. Edward glaubte fest an Bestimmung. So etwas kommt bei solchen Leuten öfter vor.
Die Bibliothek der Gilde gehörte zu den größten der Stadt. Was gewisse Spezialgebiete anging, war sie sogar unschlagbar. In diesen Abteilungen ging es hauptsächlich um die bedauernswerte Kürze des menschlichen Lebens sowie um die Mittel und Wege, diese herbeizuführen.
Dort verbrachte Edward viel Zeit, oft hoch oben auf einer Leiter, oft von Staub umgeben.
Er las jedes bekannte Werk über Waffen. Er wusste nicht, wonach er suchte, und fand es in einer Randnotiz einer ansonsten sehr langweiligen und ungenauen Abhandlung über die Ballistik von Armbrüsten. Den Wortlaut der Randnotiz schrieb er sich fein säuberlich ab.
Edward verbrachte auch viel Zeit über den Geschichtsbüchern. Die Assassinengilde war eine Vereinigung von Herren mit gutem Stammbaum, also Leute von dem Schlag, der die gesamte schriftlich festgehaltene Geschichte als eine Art Zuchtbuch betrachtete. In der Gildenbibliothek gab es sehr viele Bücher über Könige und Königinnen und sogar eine ausgewachsene Porträtgalerie mit Herrscherbildern2, und schon bald waren Edward d’Eath ihre aristokratischen Gesichter besser vertraut als sein eigenes. Er verbrachte sogar seine Mittagspausen in der Galerie.
Später wurde gesagt, er sei in dieser Phase seines Lebens schlechten Einflüssen ausgesetzt gewesen, aber das Geheimnis der Geschichte von Edward d’Eath bestand darin, dass überhaupt keine Einflüsse von außerhalb zu ihm vorgedrungen waren, es sei denn, man zählte die vielen toten Könige mit. Edward geriet einfach unter seinen eigenen schlechten Einfluss.
An diesem Punkt bringen die Leute gerne etwas durcheinander. Individuen sind nun mal nicht von Natur aus vollwertige Mitglieder der menschlichen Gesellschaft, außer rein biologisch gesehen. Sie müssen von der Brown’schen Bewegung der Gesellschaft hin und her geschubst werden, einem Mechanismus, mithilfe dessen sich menschliche Wesen ständig gegenseitig daran erinnern, dass sie … eben menschliche Wesen sind. D’Eath befand sich sozusagen auf einer abschüssigen Spirale nach innen, was bei solchen Fällen nicht ungewöhnlich ist.
Er hatte keinen Plan verfolgt. Er hatte sich einfach nur auf eine besser zu verteidigende Position zurückgezogen, so wie es alle Menschen tun, die sich angegriffen fühlen. In seinem Falle war es die Vergangenheit. Dann geschah etwas, was auf Edward die gleiche Wirkung hatte, als fände ein Forscher mit dem Spezialgebiet prähistorische Reptilien einen Plesiosaurus in seinem Goldfischteich.
Eines sehr warmen Nachmittags trat er, nachdem er den ganzen Tag in der Gesellschaft dahingeschiedener Pracht und Herrlichkeit verbracht hatte, blinzelnd hinaus ins Sonnenlicht und sah das Gesicht der Vergangenheit vorüberschlendern und allen Leuten freundlich zunicken.
Edward gelang es nicht, sich zu beherrschen, laut rief er: »He, Sie! Wer sind S-Sie?«
Die Vergangenheit antwortete ihm: »Korporal Karotte von der Nachtwache. Herr d’Eath, wenn ich mich nicht irre? Kann ich Ihnen behilflich sein?«
»Was? Nein! Nein. Kümmern Sie sich um Ihre eigenen A-Angelegenheiten!«
Die Vergangenheit nickte, schenkte ihm ein Lächeln und schlenderte weiter, in die Zukunft.
Karotte hörte auf, an die Wand zu starren.
Ich habe Drei Dollar ausgegeben für eine Ikonografen-Schachtel dass ist so ein Ding mit, einem Wichtel drin der Bilder von allem Malt dass ist momentan, hier der letzte Schrie. Anbei schicke ich ein Paar bilder von meinem zimmer und meinen Freunden von der Wache, Nobby ist der wo die Lustige Geste macht aber er ist ein Ungeschliffener diamant und teif Drinnen, ist er ein herzensguter Kumpel.
Er zögerte abermals. Karotte schrieb mindestens einmal pro Woche nach Hause. Das machten alle Zwerge so. Karotte war zwei Meter groß, aber als Zwerg aufgezogen worden. Erst nachdem er zu einem Zwerg herangewachsen war, wurde er noch weiter aufgezogen, bis zum Menschen. Literarischer Ehrgeiz lag ihm fern, aber er schlug sich tapfer.
»Das Wetter«, schrieb er sehr langsam und vorsichtig, »ist Wieterhin sehr Heiß …«
Edward konnte es kaum glauben. Er überprüfte Akten und Dokumente. Er überprüfte alles noch einmal. Er stellte Fragen, und weil seine Fragen ziemlich harmlos waren, gaben ihm die Leute Antworten. Schließlich machte er Urlaub in den Spitzhornbergen, wo ihn seine vorsichtigen Erkundigungen zu den Zwergenminen rings um den Kupferkopf führten und weiter auf eine ansonsten unbedeutende Lichtung in einem Buchenwäldchen. Dort förderte er nach ein paar Minuten geduldigen Grabens – wie konnte es auch anders sein? – einige Holzkohlereste zutage.
Er verbrachte den ganzen Tag dort. Als er fertig war und bei Sonnenuntergang das alte Laub wieder sorgfältig über die Fundstelle streute, war er sich ganz sicher.
Ankh-Morpork hatte wieder einen König.
Und das war nicht mehr als recht. Das Schicksal selbst hatte Edward diese Erkenntnis beschert, und zwar genau zu dem Zeitpunkt, als er sich seinen Plan ausgedacht hatte. Und es war richtig, dass das Schicksal es so gefügt hatte, denn die Stadt würde durch ihre ruhmreiche Vergangenheit aus ihrer unwürdigen Gegenwart erlöst werden. Er besaß die Mittel, und er hatte auch einen Zweck. Und so weiter … Edwards Gedanken verliefen oft in solchen Bahnen.
Er konnte kursiv denken. Solche Leute muss man stets im Auge behalten.
Vorzugsweise aus sicherer Entfernung.
Was mich an Euerm Breif besonders Interessiert hat ist, die Stelle wo ihr schreibt das Leute, gekommen sind und sich nach mir Erkundigt haben, dass ist ja Komisch, kaum bin ich Fünf Minuten hier schon bin ich Berühmt.
Das der Schacht Nummer 7, aufgemacht wurde hat mich sehr gefreut. Ich sag euch auch frei heraus das mir die schönen Zieten, bei Euch manchmal fehlen obwohl ich hier, sehr Glücklich bin. Manchmal gehe ich an meinem, frieen Tag in den Keller und haue mir mit dem Axtstiel gegen den Kopf aber es ist Nicht dasselbe.
Ich hoffe Ihr sied alle gesund, und Munter,
Hochachtungsvoll,
Euer euch Liebender Adoptivsohn,
Karotte.
Er faltete den Brief, legte die Ikonografien hinein, versiegelte ihn mit einem Tropfen Kerzenwachs, den er mit dem Daumen an der richtigen Stelle festdrückte, und schob ihn in die Hosentasche. Die Zwergenpost in die Spitzhornberge war ziemlich zuverlässig. Immer mehr Zwerge kamen in die Stadt, um hier zu arbeiten, und weil Zwerge sehr pflichtbewusst sind, schickten viele von ihnen Geld nach Hause. Deshalb war die Zwergenpost so gut wie bombensicher, denn sie wurde streng bewacht. Zwerge haben eine Vorliebe für Gold. Jeder Straßenräuber, der sich ihnen mit dem Spruch »Geld oder Leben« in den Weg stellte, tat gut daran, einen Klappstuhl, ordentlich Proviant und ein gutes Buch mitzubringen, denn die folgende Debatte konnte sich hinziehen.
Dann wusch sich Karotte das Gesicht, zog sein Lederwams und die Hosen sowie das Kettenhemd an, schnallte den Brustharnisch fest, klemmte den Helm unter den Arm und stiefelte froh gelaunt nach draußen, bereit, sich allem zu stellen, was die Zukunft bringen würde.
In einem anderen Zimmer, ganz woanders.
Es war ein winziger Raum, in dem der Putz von den Wänden bröckelte und die Decke durchhing wie die Unterseite der Matratze eines sehr dicken Mannes. Die vielen Möbel machten ihn auch nicht gerade größer.
Es waren gute, alte Möbel, aber hier gehörten sie nicht hin. Sie gehörten in weitläufige Hallen mit hohen Decken. Hier wirkte alles nur vollgestopft. Da standen dunkle Eichenstühle und lange Büfetts, sogar eine Ritterrüstung war dabei. Es war kaum Platz für die Handvoll Leute, die um den gewaltigen Tisch saßen. Es war schon kaum Platz für den Tisch.
In einer dunklen Ecke tickte eine Uhr.
Die schweren Samtvorhänge waren zugezogen, obwohl der Himmel noch genügend Tageslicht geboten hätte. Die Luft war stickig, sowohl von der Hitze des Tages als auch von den Kerzen in der magischen Laterne.
Die einzige Beleuchtung kam von der Leinwand, auf der gerade ein sehr gutes Profilporträt von Korporal Karotte Eisengießersohn zu sehen war.
Das kleine, handverlesene Publikum betrachtete es mit den betont ausdruckslosen Mienen von Leuten, die eigentlich davon überzeugt sind, dass ihr Gastgeber nicht mehr alle Tassen im Schrank hat, vorerst jedoch darüber hinwegsehen, weil sie soeben eine Mahlzeit verspeist haben und es unhöflich wäre, sich so früh wieder zu verabschieden.
»Und jetzt?«, sagte einer von ihnen. »Ich glaube, ich habe ihn schon in der Stadt herumlaufen sehen. Na und? Er ist doch bloß einer von der Wache, Edward.«
»Selbstverständlich. Das ist doch unabdinglich. Ein bescheidener gesellschaftlicher Rang. Passt genau ins k-klassische M-Muster.« Edward d’Eath gab ein Zeichen. Mit einem Klicken wurde das nächste Glasscheibchen in den Schlitz geschoben. »Das hier ist nicht nach dem L-Leben gemalt. König P-Paragore. Nach einem alten Gemälde. Das hier« – Klick! – »ist König Veltrick III. Auch nach einem P-Porträtbild. Das hier ist Königin Alguinna IV. Fällt Euch das typische Kinn auf? Das hier« – Klick! – »ist eine Sieben-Penny-Münze aus der Regierungszeit von Wubbeldorn dem Bewusstlosen, auch hier bitte genau auf das Kinn und die allgemeine Knochenstruktur achten, und hier haben wir« – Klick! – »… das Bild einer Blumenvase, die auf dem Kopf steht. Rittersporn, glaube ich. Wo kommt das her?«
»Ähm, tut mir leid, Herr Edward, ich hatte ein paar Glasscheibchen übrig, und die Dämonen waren noch nicht müde, und da …«
»Nächste Scheibe bitte. Dann kannst du uns allein lassen, Bl-enkin.«
»Sehr wohl, Herr Edward.«
»Melde dich beim d-diensthabenden Folterknecht.«
»Sehr wohl, Herr Edward.«
Klick!
»Und das ist ein ziemlich gutes – sehr schön, Bl-enkin – Brustbild von Königin Coanna.«
»Danke, Herr Edward.«
»Würde man mehr von ihrem Gesicht sehen, wäre die Ähnlichkeit noch auffälliger. Aber es reicht auch so, glaube ich. Du kannst gehen, Bl-enkin.«
»Sehr wohl, Herr Edward.«
»Ein bisschen was von den Ohren weg, würde ich s-sagen.«
Der Diener schloss respektvoll die Tür hinter sich und ging dann in die Küche, wobei er traurig den Kopf schüttelte. Die d’Eaths konnten sich schon seit Jahren keinen Familienfolterknecht mehr leisten. Dem jungen Herrn zuliebe würde er sich mit einem Küchenmesser alle Mühe geben.
Die Besucher warteten, bis der Gastgeber das Wort ergriff, was er jedoch offenbar nicht zu tun gedachte, obwohl man das bei Edward manchmal nur schwer sagen konnte. Wenn er aufgeregt war, litt er weniger an einer Sprachstörung als an falsch gesetzten Pausen, so als würde sein Gehirn den Mund ab und zu in eine Warteschleife schicken.
Schließlich sagte einer der Zuschauer: »Schön und gut, aber was wollt Ihr damit sagen?«
»Ihr habt die Ähnlichkeit doch gesehen. Ist es nicht offen-sichtlich?«
»Aber, ich bitte Euch …«
Edward d’Eath zog eine Ledermappe heran und fing an, die Riemen zu lösen.
»Der Junge i-ist doch von Scheibenweltzwergen adoptiert worden. Sie haben ihn als Neugeborenen in den Spitzhornbergen im Wald gefunden, zwischen b-rennenden Wagen, Leichen und so weiter. Allem Anschein nach ein B-anditenüberfall. Die Zwerge fanden ein Schwert in den Trümmern. Er hat es immer noch. Ein sehr altes Schwert. Es ist immer scharf.«
»Na und? Es gibt jede Menge alter Schwerter auf der Welt. Und Schleifsteine.«
»Das hier ist aber sehr gut versteckt gewesen, in einem der kaputten Karren. Eigenartig. Man hätte doch erwartet, dass es irgendwo griffbereit liegt, oder nicht? Damit man es jederzeit benutzen kann? Mitten im B-anditenland? Später dann wächst der Junge auf und … und … Das Schicksal … sorgt dafür, dass er und sein Schwert nach Ankh-Morpork kommen, wo er derzeit als Wächter bei der Nachtwache dient. Ich konnte es kaum glauben!«
»Das ist alles noch kein …«
Edward zog ein Päckchen aus der Mappe.
»Ich habe genaue Nachfor-schungen angestellt und war deshalb in der Lage, den Ort dieses Überfalls ausfindig zu machen. Eine peinlich genaue Untersuchung des Bodens vor Ort förderte alte Karrennä-gel zutage, ein paar Kupfermünzen und – in einem Haufen alter Holzkohle – das hier.«
Alle reckten die Hälse.
»Sieht aus wie ein Ring.«
»Genau. Er ist … er ist … er ist natürlich oberflächlich verfärbt, sonst hätte ihn schon längst je-mand entdeckt. Wahrscheinlich war er irgendwo auf einem Wagen versteckt. Ich habe ihn teilwei-se säubern lassen. Jetzt kann man die Inschrift ziemlich gut lesen. Hier wiederum habe ich eine mit Abbildungen versehene Bestandsliste des Geschmeides der Könige von Ankh-Morpork, angefertigt im Jahre AM 907, zur Regierungszeit von König Tyrril. Wenn ich bitte … wenn ich Eure Auf-merksamkeit bitte auf den kleinen Hochzeitsring auf der linken unteren Ecke der Seite lenken dürfte? Ihr werdet erkennen, dass der Künstler dankenswerterweise die Inschrift notiert hat.«
Es dauerte mehrere Minuten, bis alle genau hingeschaut hatten. Sie waren von Natur aus misstrauische Leute. Sie waren alle Nachkommen von Leuten, für die Misstrauen und Paranoia seit jeher wesentliche Überlebensmerkmale waren.
Weil sie nämlich alle Aristokraten waren. Es gab niemanden unter ihnen, der nicht den Namen seines oder ihres Ur-Ur-Ur-Großvaters aufsagen und die peinliche Krankheit nennen konnte, an der er gestorben war.
Sie hatten gerade ein nicht sehr gutes Essen zu sich genommen, zu dem es immerhin einige alte Weine gegeben hatte, die den ganzen Aufwand wert gewesen waren. Sie hatten sich die ganze Geschichte angehört, weil sie alle Edwards Vater gekannt hatten und weil die d’Eaths eine vornehme alte Familie waren, wenn auch momentan in stark eingeschränkten Verhältnissen.
»Wie Ihr seht«, verkündete Edward stolz, »sind die Beweise erdrückend. Wir haben einen König!«
Die Anwesenden versuchten, einander nicht ins Gesicht zu sehen.
»Ich dachte, das würde Euch freu-en«, sagte Edward.
Schließlich brachte Lord Rust den unausgesprochenen Konsens zum Ausdruck. In diesen erzkonservativen blauen Augen war kein Platz für Mitleid, schließlich handelte es sich bei Mitleid nicht um ein Überlebensmerkmal. Aber manchmal konnte man trotzdem einen Anflug von Freundlichkeit riskieren.
»Edward«, sagte er, »der letzte König von Ankh-Morpork ist vor mehreren Hundert Jahren gestorben.«
»Von Verrätern hin-gerichtet!«
»Selbst wenn sich heute noch ein Nachfahre auffinden ließe, wäre das königliche Blut inzwischen doch ziemlich verwässert, meint Ihr nicht?«
»Das königliche B-lut kann nicht verwä-ssert werden!«
Aha, dachte Lord Rust. So einer ist das also. Unser junger Edward glaubt, ein König könnte allein durch Handauflegen Skrofulose heilen, als wäre blaues Blut ungefähr dasselbe wie Schwefelsalbe. Unser junger Edward ist der Meinung, kein See aus Blut sei groß genug, als dass er bei dem Bestreben, einen rechtmäßigen König auf den Thron zu setzen, nicht durchwatet werden müsste, keine Tat zu niederträchtig, wenn damit eine Krone verteidigt wird. Ein waschechter Romantiker also.
Lord Rust war kein Romantiker. Die Rusts hatten sich sehr gut an die postmonarchischen Jahrhunderte in Ankh-Morpork angepasst, indem sie gekauft und verkauft und verliehen und Kontakte gepflegt und all das getan hatten, was Aristokraten seit jeher taten, nämlich ihr Mäntelchen nach dem Winde hängen und überleben.
»Das mag wohl sein«, lenkte er mit der bedachten Stimme desjenigen ein, der versuchte, einen anderen davon abzuhalten, in den Abgrund zu springen, »aber wir müssen uns doch fragen: Braucht Ankh-Morpork hier und heute überhaupt einen König?«
Edward sah ihn an, als hielte er ihn für übergeschnappt.
»Brauchen? Brauchen? Wo unsere herrliche Stadt unter der Knute des Ty-rannen schmachtet?«
»Ach. Ihr meint Vetinari.«
»Versteht Ihr denn nicht, was er dieser Stadt angetan hat?«
»Er ist in der Tat ein sehr unangenehmer kleiner Parvenü«, mischte sich Lady Selachii ein, »aber ich würde nicht behaupten, dass er uns über Gebühr drangsaliert. Eigentlich nicht.«
»Man muss ihm zugestehen«, sagte Viscount Skater, »dass die Stadt funktioniert. Mehr oder weniger. Das Gesindel und alle anderen tun das, was sie so zu tun haben.«
»Die Straßen sind jedenfalls sicherer als damals unter dem Verrückten Lord Schnappüber«, sagte Lady Selachii.
»Si-cherer? Vetinari hat die Diebesgilde ins Leben gerufen!«, rief Edward entrüstet.
»Ja, schon, das ist gewiss sehr verwerflich. Andererseits zahlt man einmal im Jahr ein bescheidenes Sümmchen und bleibt ansonsten unbehelligt …«
»Seiner Meinung nach«, meldete sich Lord Rust wieder zu Wort, »kann das Verbrechen, wenn man schon nicht ohne auskommt, ebenso gut organisiert sein.«
»Mir kommt es so vor«, ergänzte Viscount Skater, »als hätten sich diese Burschen von der Gilde mit ihm arrangiert, weil jeder andere entschieden rigoroser mit ihnen umspringen würde. Stimmt doch, oder? Wir hatten tatsächlich schon ein paar recht … schwierige Kandidaten. Erinnert sich noch jemand an den Mörderischen Lord Winder?«
»Oder an den Wahnsinnigen Lord Harmoni«, warf Lord Mohnflatter ein.
»An den Lachenden Lord Skapula«, sagte Lady Selachii. »Ein Mann mit einem sehr schneidenden Humor.«
»Wohlgemerkt, Vetinari hat … ich meine, er hat diese Angewohnheit, dass …«, setzte Lord Rust an.
»Ich weiß, was Ihr meint«, fiel ihm Viscount Skater ins Wort. »Ich kann’s auch nicht leiden, dass er immer schon weiß, was man denkt, noch ehe man es gedacht hat.«
»Jeder weiß, dass die Assassinen seinen Preis auf eine Million Dollar festgesetzt haben«, sagte Lady Selachii. »So viel würde es kosten, ihn umbringen zu lassen.«
»Wobei einen das eigenartige Gefühl beschleicht«, meinte Lord Rust, »dass es sehr viel mehr kosten würde, dafür zu sorgen, dass er auch tot bleibt.«
»Bei den Göttern! Wo ist unser Stolz geblieben? Wo unsere Ehre?«
Sie zuckten merklich zusammen, als Lord d’Eath von seinem Stuhl aufsprang.
»Ihr solltet Euch selbst hören! Ich bitte Euch! Seht Euch um. Wer unter Euch hat nicht mit ansehen müssen, wie der Name seiner Familie seit den Tagen der Könige entehrt wurde? Wisst Ihr denn nicht mehr, was für Männer Eure Vorväter waren?« Er ging mit raschen Schritten um den Tisch, sodass sie sich umdrehen mussten, um ihn im Auge zu behalten. Dann zeigte er wütend mit dem Finger auf Lord Rust.
»Ihr, Lord Rust! Euer Vorfahre wurde zum Baron er-hoben, nachdem er eigenhändig siebenunddreißig Klatschianer niedergemacht hatte, obwohl er nur mit einer Stecknadel bewaffnet war! Oder etwa nicht?«
»Ja, schon …«
»Und Ihr … Lord Mohnflatter! Der erste Herzog führte in der Schlacht von Quirm sechshundert Mann zu einer ruhmreichen und wahrlich epischen Nie-derlage! Hat das n-nichts zu bedeuten? Und Ihr, Lord Venturi, und Ihr, Sir George … Ihr sitzt in Euren alten Häusern in Ankh auf Euren alten Namen und Eurem alten Geld, während die Gilden – Gilden nennt sich dieses Lumpenpack sogenannter Händler und Kaufleute! – die Gilden, sage ich, bei den Regierungsgeschäften der Stadt mitreden dürfen!«
Mit zwei Schritten war er an einem Bücherregal, zog ein dickes Buch mit Ledereinband heraus und schleuderte es auf den Tisch, wo es Lord Rusts Glas umwarf.
»Tröttels A-delskalender«, stieß er hervor. »Da sind wir alle seitenweise drin verzeichnet! Das Buch gehört uns sozusagen! Aber dieser Mann hat Euch völlig in seinen Bann gezogen! Ich versichere Euch, dass er aus Fleisch und Blut ist, ein ganz normaler Sterblicher! Niemand wagt es, ihn zu beseitigen, weil alle gl-auben, dadurch könnte es ihnen noch ein bisschen schlechter gehen! Bei den G-öttern!«
Sein Publikum schaute bedrückt aus der Wäsche. Das stimmte natürlich alles … wenn man es unbedingtsoausdrücken wollte. Und es hörte sich auch nicht viel besser an, wenn es von einem wichtigtuerischen jungen Mann mit irrem Blick formuliert wurde.
»Ach ja, die guten alten Zeiten. Hohe Zinnen, flatternde Wimpel, Ritterlichkeit und das alles«, sagte Viscount Skater. »Edelfräuleins mit spitzen Hüten. Junge Burschen in schimmernden Rüstungen, die aufeinander eindreschen und dergleichen mehr. Aber wir müssen schließlich mit der Zeit gehen …«
»Es war ein goldenes Zeitalter«, sagte Edward.
Ihr Götter!, dachte Lord Rust. Der Kerl glaubt tatsächlich daran.
»Mein guter Junge«, meldete sich Lady Selachii zu Wort, »ein paar Ähnlichkeiten hier und da und ein Stück Schmuck … damit ist doch noch lange nichts bewiesen, versteht Ihr?«
»Meine Amme hat mir erzählt«, sagte Viscount Skater, »dass ein wahrer König ein Schwert aus einem Stein herausziehen kann.«
»Ha, genau! Und Schuppen heilen!«, pflichtete ihm Lord Rust bei. »Das sind doch bloß Legenden, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun haben. Jedenfalls hat mich diese Geschichte immer ein bisschen verwirrt. Was soll denn so schwer daran sein, ein Schwert aus einem Stein zu ziehen? Da ist die eigentliche Arbeit doch schon längst erledigt. Sollte man nicht viel eher nach dem Mann suchen, der das Schwert in den Stein hineingekriegt hat?«
Erleichtertes Lachen machte sich breit. Daran erinnerte sich Edward nur zu gut. Alles endete immer in Gelächter. Man lachte nicht unbedingt über ihn, aber er gehörte zu den Menschen, die Gelächter stets persönlich nahmen.
Zehn Minuten später war Edward d’Eath allein.
Sie gehen so gesittet damit um. Mit der Zeit gehen! Er hatte wirklich mehr von ihnen erwartet. Viel mehr. Eigentlich hatte er gehofft, ja zu hoffen gewagt, sie mit seinem Vorstoß aus der Reserve zu locken. Er hatte sich schon selbst an der Spitze einer Armee gesehen …
Blenkin trat respektvoll schlurfend ein.
»Ich hab sie alle hinauskomplimentiert, Herr Edward«, sagte er.
»Danke, Blenkin. Du kannst den Tisch abräumen.«
»Sehr wohl, Herr Edward.«
»Was ist nur aus der guten alten Ehre geworden, Blenkin?«
»Keine Ahnung. Ich hab sie nicht weggenommen.«
»Sie wollten einfach nicht zuhören.«
»Nein, gnädiger Herr.«
»Sie wollten nicht z-uhören.«
Edward setzte sich vor das ersterbende Feuer, eine aufgeschlagene eselsohrige Ausgabe von Schenkelbeißers Die Thronfolge von Ankh-Morpork auf dem Schoß. Tote Könige und Königinnen blickten ihn vorwurfsvoll an.
An dieser Stelle hätte die Geschichte zu Ende sein können. In Millionen von Universen endete sie auch so. Edward d’Eath wurde älter, seine Obsession verwandelte sich in eine Art Bücherwahn von der Sorte Handschuhe-mit-abgeschnittenen-Fingerkuppen-und-Filzpantoffeln, und er wurde zum Fachmann in Sachen Königshäuser, auch wenn das niemand wusste, weil er seine Wohnung nur selten verließ. Korporal Karotte wurde Feldwebel Karotte, und als seine Zeit gekommen war, starb er mit siebzig Jahren in Ausübung seines Dienstes bei einem äußerst unwahrscheinlichen Unfall in Zusammenhang mit einem Ameisenbär.
In einer Million Universen fielen die Obergefreiten Knuddel und Detritus nicht durch das Loch. In einer Million Universen fand Mumm die Röhrchen nicht. (In einem merkwürdigen, aber theoretisch möglichen Universum wurde das Wachhaus von einem irren Wirbelsturm mit Pastellfarben angemalt, der gleiche Wind reparierte auch den Türriegel und behob bei dieser Gelegenheit gleich noch ein paar andere Mängel.) In einer Million Universen versagte die Stadtwache.
In einer Million Universen war das hier ein sehr kurzes Buch.
Edward schlummerte mit dem Buch auf den Knien ein und hatte einen Traum. Er träumte von glorreichen Taten. Auch glorreich war ein sehr wichtiges Wort in seinem persönlichen Wortschatz, ebenso wie Ehre.
Wenn Verräter und unehrenhafte Männer die Wahrheit nicht erkennen wollten, dann würde er, Edward d’Eath, eben der Finger der Vorsehung sein.
Das Problem mit der Vorsehung besteht natürlich darin, dass sie nicht immer so genau darauf achtet, wohin ihr Finger zeigt.
Hauptmann Sam Mumm von der Stadtwache Ankh-Morpork (Nachtwache) saß im zugigen Vorzimmer des Audienzsaals des Patrizierpalastes. Er hatte seinen besten Mantel übergeworfen, sein Brustharnisch funkelte, der Helm ruhte auf seinen Knien.
Mumms hölzerner Blick war starr auf die Wand gerichtet.
Eigentlich müsste er glücklich sein, sagte er sich. Und das war er ja auch. In gewisser Hinsicht. Durchaus. Rundum glücklich.
In ein paar Tagen würde er heiraten.
Dann gehörte er nicht mehr zur Wache.
Dann war er nur noch Gentleman und Privatier.
Er nahm seine kupferne Dienstmarke ab und wischte sie geistesabwesend am Mantelsaum blank. Dann hielt er sie so ins Licht, dass es sich in der leicht verfärbten Oberfläche fing. AMSW Nr. 177. Manchmal fragte er sich, wie viele Wächter dieses Abzeichen schon vor ihm getragen hatten.
Jedenfalls würde es jetzt schon bald sein Nachfolger tragen.
Wir sind in Ankh-Morpork, Städte der Thausend Überraschungen (wie es in der Broschüre der Kaufmannsgilde heißt). Was also ließe sich darüber hinaus noch sagen? Eine Stadt, die wächst und wuchert, Heimat von einer Million Einwohnern, die größte Stadt der Scheibenwelt, zu beiden Seiten des Flusses Ankh gelegen, dessen schlammige Fluten den Eindruck erwecken, als würde das Flussbett oben fließen.
Viele Besucher fragen: Wie kann eine so große Stadt überhaupt existieren? Was hält sie am Laufen? Und da man ihren Fluss kauen kann: Wo bekommt sie ihr Trinkwasser her? Worin besteht letztendlich die Grundlage ihrer urbanen Wirtschaft? Wie ist es möglich, dass die Stadt entgegen aller Wahrscheinlichkeit funktioniert?
Eigentlich fragen das nicht besonders viele Besucher. Normalerweise fragen sie eher Sachen wie: »Können Sie mir vielleicht sagen, wie ich … Sie wissen schon … zu den … äh … na ja, zu den jungen Damen komme, hm?«
Aber wenn sie gelegentlich mit dem Gehirn denken würden, käme ihnen bestimmt die eine oder andere oben gestellte Frage in den Sinn.
Der Patrizier von Ankh-Morpork lehnte sich in seinem schmucklosen Stuhl zurück und setzte das strahlende Lächeln eines vielbeschäftigten Mannes am Ende eines arbeitsreichen Tages auf, der in seinem Terminkalender plötzlich folgenden Vermerk findet: 19.00 – 19.05, sei gut gelaunt, entspannt und vor allem mal so richtig gesellig.
»Selbstverständlich hat mich Ihr Brief sehr betrübt, Herr Hauptmann …«
»Euer Lordschaft«, sagte Mumm, immer noch so hölzern wie ein ganzes Möbellager.
»Bitte setzen Sie sich doch, Herr Hauptmann.«
»Sehr wohl, Euer Lordschaft.« Mumm blieb stehen. Es war eine Frage des Stolzes.
»Natürlich kann ich Sie sehr gut verstehen. Die Käsedicks besitzen, soweit ich weiß, überaus weitläufige Ländereien. Ich zweifle nicht daran, dass Lady Käsedick Ihre starke rechte Hand mehr als zu schätzen weiß.«
»Euer Gnaden?« Wie immer in Gegenwart des Regenten hielt Mumm den Blick auf einen Punkt ungefähr einen Fuß über und sechs Zoll links vom Kopf des Mannes gerichtet.
»Außerdem werden Sie dabei zu einem ziemlich wohlhabenden Mann, Herr Hauptmann.«
»Jawohl, Euer Lordschaft.«
Dem Patrizier dämmerte allmählich, dass er beide Seiten dieser Unterhaltung bestritt. Er blätterte in den Dokumenten auf seinem Schreibtisch.
»Selbstverständlich muss ich einen Ihrer Leute zum neuen Befehlshaber der Nachtwache ernennen«, sagte der Patrizier. »Irgendwelche Vorschläge, Hauptmann Mumm?«
Mumm schien von der Wolke herunterzukommen, auf der er seinen Verstand gerade spazieren geführt hatte. Jetzt ging es um Angelegenheiten der Wache.
»Jedenfalls nicht Fred Colon … Der ist von Natur aus Feldwebel, durch und durch.«
Feldwebel Colon von der Stadtwache Ankh-Morpork (Nachtwache) ließ den Blick über die strahlenden Mienen der neuen Rekruten schweifen.
Mit einem wehmütigen Seufzer erinnerte er sich an seinen ersten Tag. An den alten Feldwebel Knüppler. Was für ein Schinder! Ein Mundwerk wie eine Peitsche! Schade, dass der alte Knabe das hier nicht mehr miterleben durfte …
Wie hieß das gleich noch mal? Ach ja. Anwerbungsprozedur mittels positiver Diskriminierung oder irgendwie so. Die Liga gegen die Diffamierung von Siliziumleben hatte so lange beim Patrizier herumgenölt, bis jetzt auf einmal …
»Versuch’s noch mal, Obergefreiter Detritus«, sagte er. »Der Trick besteht darin, mit der Hand kurz über dem Ohr anzuhalten. Jetzt steh wieder auf und versuch das noch mal mit dem Salutieren. Na also. Obergefreiter Knuddel?«
»Hier!«
»Wo?«
»Direkt vor Ihnen, Feldwebel.«
Colon senkte den Blick und machte einen Schritt zurück. Die imposante Wölbung seines mehr als angemessenen Bauches bewegte sich zur Seite und rückte das nach oben gerichtete Gesicht des Obergefreiten Knuddel mitsamt seiner hilfsbereiten und intelligenten Miene und dem einen Glasauge in Colons Blickfeld.
»Ach so. Stimmt.«
»Ich bin größer, als ich aussehe.«
Bei den Göttern, dachte Feldwebel Colon matt. Wenn man sie zusammenpackt und durch zwei teilt, kriegt man zwei normale Männer raus. Aber normale Männer wollen nicht zur Stadtwache. Ein Troll und ein Zwerg. Und das sind nicht mal die Schlimmsten …
Mumm trommelte mit den Fingern auf den Schreibtisch.
»Also Colon schon mal nicht«, sagte er. »Der ist auch nicht mehr der Jüngste. Höchste Zeit, dass er auf der Wache bleibt und sich um den Papierkram kümmert. Außerdem hat er schon genug am Hals.«
»Feldwebel Colon hat überall mehr als genug, nicht nur am Hals, würde ich sagen«, erwiderte der Patrizier.
»Mit den neuen Rekruten, meine ich«, sagte Mumm bedeutsam. »Ihr wisst doch, Euer Lordschaft?«
Die Leute, die ich auf Euren Befehl hin unbedingt einstellen musste, fügte er im Stillen hinzu. Die kommen natürlich nicht zur Tagwache. Und diese Drecksäcke von der Palastwache wollten sie auch nicht haben, die schon gar nicht. Steckt sie in die Nachtwache, das Ganze ist sowieso nur ein Witz, und dort sieht sie wenigstens niemand. Jedenfalls niemand Wichtiges.
Mumm hatte nur deshalb nachgegeben, weil er wusste, dass er sich nicht lange mit diesem Problem herumschlagen musste.
Es lag nicht daran, dass er etwa Speziesist gewesen wäre, sagte er sich. Aber die Wache war nun mal ein Beruf für richtige … Leute.
»Wie wäre es mit Korporal Nobbs?«, erkundigte sich der Patrizier.
»Nobby?«
Beide riefen sich Korporal Nobbs vor ihr jeweiliges geistiges Auge.
»Nein.«
»Nein.«
»Dann hätten wir natürlich noch«, der Patrizier lächelte, »Korporal Karotte. Ein prächtiger junger Mann, der, wie mir zu Ohren gekommen ist, bereits dabei ist, sich einen Namen zu machen.«
»Das … stimmt«, erwiderte Mumm.
»Vielleicht eine gute Gelegenheit zu einer weiteren Beförderung? Ihr Rat ist mir hier natürlich sehr wichtig.«
Mumm rief sich Korporal Karotte vor sein geistiges Auge …
»Das hier«, sagte Korporal Karotte, »ist das Nabenwärtige Tor. Zur ganzen Stadt. Und das bewachen wir.«
»Gegen wen oder was?«, wollte Obergefreite Angua wissen, die letzte der neuen Rekruten.
»Ach, du weißt schon. Barbarenhorden, kriegerische Stämme, Armeen von Banditen … so was alles.«
»Was? Wir allein?«
»Wir? Aber nein!« Karotte lachte. »Das wäre ja lächerlich. Nein, wenn du etwas dergleichen siehst, klingelst du einfach, so fest du kannst, mit dieser Glocke.«
»Was passiert dann?«
»Dann kommen Feldwebel Colon und Nobby und die anderen so schnell wie möglich angerannt.«
Obergefreite Angua betrachtete aufmerksam den diesigen Horizont.
Sie lächelte.
Karotte errötete.
Angua hatte das Salutieren gleich beim ersten Mal gemeistert. Bis jetzt hatte sie noch keine vollständige Uniform, denn dazu müsste erst jemand einen, na ja, sagen wir’s, wie es ist, einenBrustharnischzu Remitt, dem alten Waffenschmied, bringen und ihm sagen, dass er ihn hier und auch da ordentlich ausbeulen solle; außerdem gab es auf der ganzen Welt keinen Helm, der diese aschblonde Haarmähne bändigen konnte. Aber Karotte hatte den Eindruck, als bräuchte Angua das alles letztendlich überhaupt nicht. Die Leute würden auch so Schlange stehen, um von ihr festgenommen zu werden.
»Was machen wir jetzt?«, fragte sie.
»Wir schreiten voran, zurück zum Wachhaus, denke ich«, antwortete Karotte. »Dort liest uns Feldwebel Colon das Abendprotokoll vor.«
Das »Voranschreiten« hatte Angua auch sofort hinbekommen. Dabei handelte es sich um einen ganz speziellen Schritt, wie er von Streifenpolizisten im ganzen Multiversum gepflegt wird – ein sanftes Anheben des Spanns, das in ein ganz besonderes Beinschlenkern übergeht, eine Gangart, in der man stundenlang durch die Straßen patrouillieren konnte. Obergefreiter Detritus würde noch eine Weile brauchen, bis er das »Voranschreiten« beherrschte, zumindest so lange, bis er gelernt hatte, sich beim Salutieren nicht jedes Mal bewusstlos zu schlagen.
»Feldwebel Colon«, sagte Angua. »Das war der Dicke, stimmt’s?«
»Stimmt.«
»Warum hat er immer sein kleines Äffchen dabei?«
»Äffchen?«, fragte Karotte. »Damit meinst du wohl Feldwebel Nobbs.«
»Ach, das ist ein Mensch? Er hat ein Gesicht wie eine Malvorlage – Malen-nach-Zahlen!«
»Ja, der arme Kerl besitzt eine ansehnliche Sammlung von Furunkeln. Er kann sogar Kunststückchen mit ihnen vollführen. Man sollte nur nie zwischen ihn und einen Spiegel geraten.«
Es waren kaum Leute unterwegs. Dazu war es viel zu heiß, sogar für Ankh-Morpork im Sommer. Jede einzelne Oberfläche strahlte Hitze aus. Der Fluss hatte sich missmutig ganz tief in sein Bett zurückgezogen, so wie ein Student gegen elf Uhr vormittags. Alle, die draußen nichts Dringendes zu erledigen hatten, hielten sich in ihren Kellern auf und kamen erst am Abend aus den Häusern.
Karotte ging mit besitzergreifenden Schritten durch die brütenden Straßen, auf seiner Stirn glänzte ein dünner Film ehrlichen Schweißes. Ab und zu erwiderte er einen Gruß. Karotte war stadtbekannt. Er war nicht zu übersehen. Außer ihm war niemand zwei Meter groß und hatte flammend rote Haare. Außerdem marschierte er durch die Stadt, als gehörte sie ihm.
»Wer war der Mann mit dem Granitgesicht, den ich im Wachhaus gesehen habe?«, fragte Angua, als sie den Breiten Weg entlanggingen.
»Das war Detritus, der Troll«, antwortete Karotte. »Er ist früher mal kurzzeitig auf die schiefe Bahn geraten, aber jetzt macht er Rubin den Hof, und die findet, dass er …«
»Nein, ich meine diesen Mann«, sagte Angua, die wie die meisten Leute erst lernen musste, dass Karotte mit Metaphern so seine Probleme hatte, »der so eine richtig grimmige Fre … ich meine, der ein Gesicht gezogen hat, als wäre ihm eine riesengroße Laus über die Leber gelaufen.«
»Ach der. Das war Hauptmann Mumm. Dem ist aber noch nie eine Laus über die Leber gelaufen, glaube ich. Er heiratet Ende der Woche und geht in den Ruhestand.«
»Sieht nicht so aus, als wäre er besonders glücklich darüber«, sagte Angua.
»Kann sein.«
»Ich glaube, er mag die neuen Rekruten nicht.«
Korporal Karotte hatte noch etwas Ungewöhnliches an sich: Er konnte nicht lügen.
»Na ja, Trolle mag er nicht besonders«, erwiderte er. »Als er erfuhr, dass wir ein Inserat aufsetzen und einen Troll rekrutieren sollen, haben wir den ganzen Tag kein einziges Wort aus ihm herausgekriegt. Anschließend mussten wir noch einen Zwerg anwerben, sonst hätten wir Ärger bekommen. Ich bin auch ein Zwerg, aber das wollen mir die Zwerge hier nicht glauben.«
ENDE DER LESEPROBE