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HERINGSKUSS: Früh übt sich, was ein Heftchen werden will. / Zeitig waren wir gestartet, im Frühjahr, Anfang März. / Seither sind etliche Wochen vergangen. / Etliche Wochen voller Zeilen, etliche Wochen voller Miniaturen, eine pro Tag, Minimum. / Miniaturen: Beschreibungen dessen, was ist. Und leider nicht hat sein sollen. / Etliche Wochen Nada, Gaga, Dada. / Zwanzig Wochen werden in Stadt und Land gezogen sein, wenn du als Elektrobuch erscheinst. / Mollig bist du geworden, zweihundertzwölf Seiten stark. / Es war einiges los, es gab sehr viel zu berichten. / Stimmen erklangen, die normalerweise schweigen. Aus Ecken, die sonst still sind, dunkel, eher trist. / Wir haben sie zu Wort kommen lassen, forsch, gallig, giftig. / Wir haben ihnen Zungen verliehen, wütend, böse, ironisch. / Wenn auch nicht nur. / Wir waren romantisch bisweilen, verliebt. / Gesellig, überdreht, melancholisch zuweilen; hungrig. / Unstet, unentwegt. / Wir waren oft müde. / Aber selten schlecht gelaunt, das nicht. / Denn Humor ist, wenn es trotzdem kracht, nicht wahr, mein kleiner HERINGSKUSS? / Nicht wahr. / Draußen lärmen die Heckensägen, werden Türen zugeschlagen, draußen läuten die Glocken. / Zeit, sich zu verabschieden. / Wir sehen uns wieder, sei nicht traurig. / Ich bin es doch auch. / Schrägstriche wie Handkantenschläge. /
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Stephen Urbanski
HERINGSKUSS
Elektrobuch
Redaktion: Uwe-Thilo Schwein
Titelfoto, Coverdesign: Tom Möller
Support: Jason B. Saiks
Best Girl: Melanie Keanu Curry
© Urbi et Urbanski Hamburg 2017
Elektrobücher /
TODE$$CHLAGER – Die Charts der Neuen Armut:
TAUBENHHEIM – Erstes Buch Armut
HHAU – Zweites Buch Armut
HHÄRTZCHEN IN DER GRUBE – Drittes Buch Armut
ABSCHAUMDÖRFER – Viertes Buch Armut
DER GESTANK DER GROSSEN WIESE – Letztes Buch Armut
ZWEIEINHALB FIBELN ANMUT – Hamburger Realgrotesken:
GRUHHL (Private Poverty)
HHOOLAHOP (Momentum)
HHUG (Van Hool)
HASPDEHHXXX – Ein Facialbook in Echtzeit
NUUL – Poetry
MAN HUMAN HERE – Ein elftes Hamburger Elektrobuch
PRO MONO – Ein zwölftes Hamburger Elektrobuch
KNSTNGGR – Neue Dramen Hamburg-Nord
OINOWSKI – Elektrobuch
BAAL III – Elektrobuch
FUSSBALL UND TOD – Elektrobuch
ELISABETH WELTKRIEG - Elektrobuch
facebook.com/stephen.urbanski.75; urbi-et-urbanski.tumblr.com;
@urbieturbanski
Bezirksbefruchter Detlef Denndann sagt: Frau dich des Lebens.
„Ganz in Weiß mit einem Blumenstrauß, so siehst du in meinen schönsten Träumen aus.“ Tim Elend sagt: Roy Black, 1965. Tim Elend sagt: Schönste Zeile aller Zeiten.
Lust auf Leistung.
Kannst du bluten? Denn das wirst du.
Kapitel 1: Clown Fisch.
Kapitel 2: Clown Fake.
Kapitel 3: Clown Fuck.
Kapitel 4: HAL-AL 2525, deutsches Kennzeichen.
Kapitel 5: Clown Pack.
Kapitel 6: Clown Zack.
Nachschub: Pizza hart.
Urbanski versus Baktat.
Urbanski versus Unbuch.
Urbanski versus Kitschfotze.
(Gästeliste: Hat hier jemand Talent?)
Soundtrack: Klingende Post.
EL-M 22303, deutsches Kennzeichen.
Sieg-Sieg-Sputnik.
Und Eurosport (Schöne Ehe noch).
Lidl, du geile Sau.
Ich kann nichts.
Und Diskussionsabende.
Und Vlogs.
Appretur.
Anderer Betrag.
Und Schlägeraugen.
Pflichtjahr.
Yolocaust (Handwerk, Reparatur und Service).
Maximalkunde.
Eurobulk.
Milchschokoladentropfen.
Vernichtung durch Zahlen (Vernichtung durch Zeilen).
Totenmilde.
Gelesen: Tuntenmilde.
Lagerstraße (Tag der Poesie).
Helme und Rouladen.
HH-SF 6040, deutsches Kennzeichen.
Liebe deinen Gelbklinker wie dich selbst.
Sehr gut (1).
Sehr gut (2).
Sehr gut (3).
„A Nightmare on Elm Street“, das ist mit dem Kennzeichen gemeint, ich sage es besser gleich, man muss sich auch mal erklären lassen sollen momentan. „A Nightmare on Elm Street“, daran wurde ich erinnert, als ich jenes Nummernschild entdeckte irgendwo dort draußen in diesem Horrorkabinett namens Hamburg. Horrorkabinett: kein Scherz. Horrorkabinett, kleiner Scherz; in Wahrheit ist hier alles beim Alten, ist alles in bester Butter. Wir schreiben den sechsten Tag des dritten Monats im neuen Jahr, der Montag macht gute Geschäfte bei sechs Grad plus, was auch sonst? Gleichwohl der Winter in seinen letzten Zügen liegt, der Halbfrühling sich schon zeigt in Gestalt von Schneeglöckchen und wie all diese kleinen Blümchen auch immer heißen mögen, diese floralen Frühaufsteher, deren Namen ich nicht kenne. ELISABETH WELTKRIEG steckt noch in der Pipeline, liegt in Berlin vor zur Korrektur, kommt im Laufe dieser Woche nach Hause, wird ein letztes Mal editiert und am 10. März erscheinen, dann doch. Ursprünglich war der 20. März vorgesehen, aber ich konnte ihn nicht abwarten, ich konnte es nicht erwarten, das Büchlein endlich freizulassen. Es ist sehr hübsch geworden, wenn auch vier Seiten im Umfang weniger als gedacht. „EL-M 22303, deutsches Kennzeichen“, „Sieg-Sieg-Sputnik“, „Und Eurosport (Schöne Ehe noch)“ sind Headlines aus dem Überhang, sind Überschriften, die ich hinübergerettet habe in HERINGSKUSS; „Briefings bei Budni“ habe ich gleich ganz gecancelt, „Lidl, du geile Sau“ erschien mir stimmungsvoller, ungleich stimmiger. Apropos stimmiger, gestern mal „Schöne Ehe noch“ auf Facebook gepostet, einfach so, aus Spaß an der Freude. Einer antwortete prompt und schrieb: „Ehemann sich´s versieht.“ So sind sie, meine Jungs und Deerns, für sie mache ich, was ich tue, Albtraum hin, Hamburg-Winterhude her, denn ja, 22303 ist meine Postleitzahl. Schreib mir mal, schick mir was Schönes, schick mir Geld, viel Geld, schick mir Glück, viel Glück, schick es an „Aldi, du geile Sau“, 22303 Hamburg. Kommt an, kommt gut, versprochen. Ich verspreche es, ich verspreche, sämtliche Headlines sofort zu erklären, erst gar keine Rätselhaftigkeiten aufkommen zu lassen. HERINGSKUSS wird ein Manifest über dechiffriertes Leben; Punkt, Punkt, Komma.
Strich.
Ich stand vorm Spiegel im Bad, der mir einen dicken Weißkopfpickel auf meiner linken Schulter zeigte. Ich drückte beherzt zu und heraus spritzte ein nicht enden wollender Strahl von körnig gelblicher Konsistenz, einer Endlosnudel nicht unähnlich. Vermengt mit Blut und Sekreten lag alsbald ein Dutt aus bissfestem Schleimeiter auf den Bodenfliesen, so, als hätte ein todkranker Köter um sich geschissen. Und, ach ja, Teile der Lunge und ein, zwei Magenwände lagen dort auch noch umher. Ich wischte alles weg, versuchte es zunächst mit Papier von der Küchenrolle, griff dann zu Feudel und Wasser.
„Sieg-Sieg-Sputnik“ ist dem Bandnamen einer englischen Punk-Trash-Formation aus den Achtzigern entlehnt, und ja, irgendwann müssen wir in diesem Büchlein auch mal über Frisuren reden, wir werden sie noch brauchen, die Schnitte, die Piercings und Tattoos. HERINGSKUSS, welch ein selten schöner Titel. Dessen Entstehungsgeschichte wir auch noch erzählen werden. Aber nicht heute, heute wollen wir uns zurückziehen und über Rhetorik nachdenken, über den semantischen Unterschied zwischen Sigue Sigue Sputnik und Sick Sick Sputnik. Wir melden uns bald wieder zurück, versprochen.
Das Berliner Augenpaar hat vier Fehler im Manuskript von ELISABETH WELTKRIEG gefunden, ich habe diese korrigiert in der Word-Datei und der E-Book-Maske, bin hingegangen und habe den Preis von 9,99 Euren festgesetzt, hab schlussendlich den Knopf gedrückt und das Buch in den Verkauf gegeben. Den Klappentext, den sogenannten Blurb dazu finde ich gelungen, weil witzig, weil lebensnah: Hamburg, Winterhuder Weg, vor uns ein 7,5-Tonner von Europcar, schneckt vor sich hin, biegt ab beziehungsweise will rechts abbiegen auf die Aral-Tankstelle, schneckt vor sich hin. „Alter!“, brülle ich außer Rand und Band, „bieg! Endlich! Ab!“ „Der Typ da ist voll unsicher“, meint Urnchen, „der Typ da hat so´n Teil noch nie gefahren vorher.“ „Na und!?“, kreische ich, „dann miete ihn doch nicht!“ Urnchen grinst. „Wie war ich?“, grinse ich zurück. Das Beste, was ich seit Wochen von dir gehört habe, meint Urnchen.
In den Verkauf gegeben am heutigen 08. März, nicht am 10., wie hier noch vor zwei Seiten vermeldet, nicht am 20., wie in ELISABETH WELTKRIEG angekündigt, nein, am heutigen Weltfrauentag, denn was fertig ist, kann raus, kann weg. Und eigentlich hatte ich mir nach Abschluss des Ganzen eine strenge Bildschirmpause verordnet, doch stattdessen sitze ich hier und arbeite bereits am Nachfolger, an HERINGSKUSS. Ich hatte mir vorgenommen, einige Dinge zu erledigen, die während des Schreibens in den vergangenen Monaten liegen geblieben waren: Ein Königreich für einen Fensterputzer, sage ich nur. Ein Imperium für eine Putzkolonne, sage ich nur. Nun, mach’s dir selbst, sonst macht’s dir keiner, heißt es ja, und so wird mir nichts anderes übrig bleiben, als am besagten 20. März, dem Tage des Frühlingsanfangs, selbst Hand anzulegen. Denn Datum bleibt Datum, Symbol wird zur Handlung. Was ich jedoch am 10. März tun werde, steht in den Sternen. Und was diese Notizen mit der obigen Headline zu schaffen haben, ebenso. Ich weiß es nicht, wie auch, bin ich Eheberater? Bin ich ein Medienpartner von irgendwem? Nichts dergleichen, ich bin ein Steak, und zwar gut durch, und zwar so was von gut durch.
Story: Nachbar staubsaugt, und wenn ich sage, Nachbar staubsaugt, dann meine ich, Nachbar staubsaugt; das kann dauern. Das Geräusch raubt mir den letzten Nerv. Ich flüchte in die Küche. Draußen Kita-Tanten, die kleine Overalls bespaßen, sie klatschen in die Hände, hüpfen auf einem Bein und singen irgendwas mit „Klapp, klapp, klapp“. Ich flüchte, verlasse das Haus, begebe mich eilig zu meinem schönen schwarzen Mond einige Straßen weiter. Story: Mond hat Fisch gekauft. Fisch liegt auf einem Teller, starrt mich aus einem toten Auge heraus an. Fisch macht mir Angst. Fische machen mir generell Angst, ich mag keine Fische, ich hasse sie so sehr. Weil sie mir Angst machen und Gräten haben. Weil sie mir Angst machen, Gräten und Schuppen haben. Ich mag keine Schuppen, weder bei Fischen noch auf Kragen. Ich mag nichts Ungepflegtes. Story: Ich flüchte zu Lidl, kaufe Bratheringe in Konserve, kaufe Kartoffeln, Zwiebeln und Knoblauch. Zurück bei meinem schönen schwarzen Mond bereite ich das Zeugs zu. Ich esse es. Mein Mond ekelt sich davor. Mein Mond greift zum Telefon, telefoniert. Und wenn ich sage, mein Mond telefoniert, dann meine ich, mein Mond telefoniert; das kann dauern. Story: Das dauert. Ich rauche eine. Mein Mond telefoniert mit einer Freundin in Frankfurt, hat auf laut gestellt. Vokale branden heran. Wenn Frauen was können, dann telefonieren. Sabbeltanten. Flinke rosa Zungen, die Telefonapparaten alles abverlangen. Weinchen dazu. Zigarettchen dazu. Ich höre, wie mein Mond von den Bratheringen aus der Dose erzählt. Ich höre, wie es sie schüttelt bei dem bloßen Gedanken daran, sie und ihre Freundin. Ich verabschiede mich, drücke meinem Mond einen Kuss auf. Sie schüttelt sich. Freundin kriegt das mit, sagt: Und, hat er dir einen Heringskuss gegeben? Story: So ist dieser Titel entstanden im August vergangenen Jahres. Story: Ich rief Tom Möller an, meinen Freund und Art Director, sagte, Tom, wir brauchen ein Bild, ein dreckiges, eines, das so wirkt, als würde ein Nichtraucher von einem Aschenbecher geküsst. Tom meinte, kein Thema. So ist das Cover entstanden. Ende dieser Story über Zigarettenkippen mit Spuren von Lippenstift. Ende dieser Story über Telefone, Kunst und schmutzige Titelbilder.
„Lidl, du geile Sau“; hübsche Headline, oder? Zieht rein in die Geschichte, oder? Ende aller Geschichten über Headlines.
Die nächste Überschrift lautet „Ich kann nichts“.
Stapelware. Palettismus. Holzpaletten gegen Stromkästen gelehnt. Ordnung im Raum. Sehnsucht nach den Bürgerkindern. Sie sitzen am Tisch und reden über Verpackungslos-Läden. Sie sitzen am Tisch und reden über Adventskalender, drei Jahre gültig. Nicht ein Jahr, nicht zwei, nicht deren vier. Sie sitzen am Tisch und reden über Gefahren des Fahrradfahrens ohne Helm. Fährst du Rad? Nein, Maserati, sage ich. Zaghaftes Gelächter. Wer Diesel baut, stellt auch Fahrräder her, sage ich. Stapelware, sage ich, Palettismus, Holzpaletten gegen Stromkästen gelehnt. Ordnung im Raum, sage ich. Sehnsucht nach den Bürgerkindern, denke ich. Sechs Menschen, drei Paare, sie sind um die dreißig und alle schon verheiratet. „Meine Frau hat mir einen Adventskalender geschenkt. Der ist drei Jahre gültig.“ „Ja-haha, damit bin ich die nächsten drei Jahre raus.“ Drei Stunden, das geht über vier Stunden so. Niemand steht auf in der Zwischenzeit. Niemand raucht. Niemand muss aufs Klo. Befremdlich. Die neuen Bürgerkinder, sie kennen keine Sehnsüchte. Ordnung im Raum. Ich öffne die Balkontür.
Draußen eine Holzpalette, sie lehnt an einem Stromkasten.
Hamburgs neue Bürgerkinder, hergestellt mit Liebe. Schuhe aus, um das Parkett zu schonen. Ethno-Strick poliert Lasur. Merkels Kinder, wohlerzogen. Wer Diesel baut, kocht auch Vier-Gänge-Menüs. Erster Gang: Hallo. Zweiter Gang: Allergisch gegen dies, allergisch gegen das. Dritter Gang: Guten Appetit. Vierter Gang: Gespräch. Ägypten vielleicht, Marokko auf keinen Fall. Gefahr durch Islamisten. Gefahr für Frauen. Gefahr durch Ehrenmordshunger. Ich öffne die Balkontür und lasse frische Luft hinein. Gefahr durch Frauen, eine hat ihr Täschchen neben ihren Stuhl gestellt. Henkel bilden Stolperfallen. Ich verlasse das Haus. Ich gehe. 00:26 Uhr, irgendetwas sitzt noch in den Bäumen und singt für mich. Ein Liedchen, ein Traum.
Das Zeitalter der Aufgeräumten, immer gut gelaunt, ansprechbar, alert. Was zu sagen, was zu melden, was zu meinen. Ständig auf Empfang. Alle Kanäle voll. Einer lässt das Stichwort Arbeit fallen. Ein anderer kehrt Urlaub. Kriegen den Kanal nicht voll. Und ich frage mich, wieso sind die so jung?
Die jung. Ich nicht. Und die waren es nie.
Der Winter hat noch einmal sämtliche Katzen und Hunde geschickt. Es verging kaum ein Tag in der zehnten Kalenderwoche des neuen Jahres, an dem ich nicht bis auf die Haut durchnässt wurde. Was an meiner North Face lag, der Jacke eines Toten. Sie hat im Laufe der Jahre ihre Appretur verloren. Sie müsste neu imprägniert werden. Doch ich will es nicht, ich möchte kein Funktionsjackenträger mehr sein. Ich habe den Wunsch nach einer frischen Jacke fürs Leben hinreichend thematisiert in ELISABETH WELTKRIEG. Ein Grund, warum ich einige Tage früher als geplant aus dem Prozess aussteigen musste, denn ich wurde gegen Ende von einer nie gekannten Schwermut befallen. Die sich speiste aus der Erkenntnis, dass eine neue Jacke fürs Leben in unerreichbarer Ferne liegt. Etwas, das mit fehlendem Geld zusammenhängt. Fehlendes Geld kann einen gestandenen Mann zu Fall bringen. Was mich an diese neuen Bürgerkinder erinnert und deren Gespräche über Adventskalender. Gespräche über Adventskalender, die drei Jahre gültig sind. Also bis zum Jahre 2020, wenn ich mich nicht irre. Allein die Aussicht auf drei weitere Jahre ohne wirkliches Geld zur Verfügung wird einen gestandenen Mann wie mich zu Fall bringen. So gehen Erkenntnisse. So geht die Schwermut, wenn ich mich nicht irre.
Gespräche über Adventskalender im Monat März des neuen Jahres 2017. Alain erzählte mir dazu eine Geschichte über ihn und seine Tochter. Er hätte sein Töchterchen im Oktober irgendeines Jahres gefragt, ob es sich einen Adventskalender wünsche. Und Töchterchen hätte geantwortet, wenn er denn unbedingt einen Adventskalender wolle, dann solle er sich doch einen kaufen. So geht Oktober. So gehen Antworten. So gehen Töchter. Was mich an diese neuen Hamburger Bürger erinnert, die jetzt schon abends vor irgendwelchen Szenetreffs sitzen, an Tischen vor Lokalen mit Namen wie „Rehbar“. Eingemummelt in Decken. So geht März. Im März des neuen Jahres in Decken vor irgendwelchen Rehbars zu sitzen ist wie die Antwort auf die Frage nach Adventskalendern im Oktober: opportun, am Platz, sei es auch nur aus purem Trotz. Und ja, es wird die Zeit kommen, wo wir dieses Gespräch fortsetzen müssen, nochmals werden reden müssen über die Appretur einer Totenjacke im Starkregen, hier in diesem Büchlein. Doch nicht heute, heute lehnen wir uns zurück und genießen die Aussicht auf Rehbraten.
Rotkohl und Kartoffeln dazu? Unbedingt.
„Die wollen das Bargeld abschaffen“, meint Alain, „die Fünfhunderter sind zuerst dran.“ „Blödsinn“, sage ich, „Fünfhunderter gibt es gar nicht, Zweihunderter sind das höchste der Gefühle.“ „Blödsinn“, meint Alain, „komm mal mit.“ Wir steigen in seinen Maserati, denn wer Diesel baut, kann auch Fahrrad fahren. Wir halten an einer Freien Tankstelle in Hamburg-Bahrenfeld. Alain zeigt auf eine Tanksäule mit dem aufgebrachten Symbol eines durchgestrichenen Fünfhunderters. „Werden hier nicht angenommen“, meint Alain. „Heul“, sage ich, „ich bin seit Jahrhunderten dermaßen pleite, dass ich nicht einmal von der Existenz dieser Scheine wusste. Geschweige denn von Tanksäulen“, heule ich. „Du willst mich vorführen“, heule ich, „du willst mich mit aller Macht kleinhalten“, heule ich. „Du dumme Sau“, heule ich und balle die Fäuste. „Ich muss doch sehr bitten“, meint Alain und grinst maliziös. „Ich muss darauf bestehen“, grinse ich ebenfalls. „Anderes Thema“, grinse ich, „du hast doch dieser Tage Geburtstag, wie alt wirst du denn?“ „Fünfhundert“, meint Alain und steigt aus, geht wie diese Geschichte seinem wohlverdienten Ende entgegen.
Das Schlimmste an der Armut ist die Einsamkeit, denke ich. Nein, denke ich, das Schlimmste an der Armut im Kapitalismus ist die Einsamkeit. Nein, das Schlimmste an der Armut im Kapitalismus ist der Kapitalismus, denke ich und finde einen Fünfzig-Euro-Schein auf dem Bürgersteig. Auf Höhe eines italienischen Restaurants namens „San Michele“ Ecke Arndtstraße, Kanalstraße. Auf der Uhlenhorst nachts um halb eins. Der Klassiker, denke ich, einen schönen Abend gehabt mit anderen Sonnenkindern bei selbstgebackenem Brot, Meersalz und Olivenölen, bei feinsten Rotweinen und guten Gesprächen, Tschüs gesagt unter Umarmungen draußen vor der Tür, zum geparkten Maserati gegangen, in die Hosentasche gefasst, um den Autoschlüssel zu zücken. Dabei ist er dann rausgefallen, der Schein, denke ich, ein Klassiker. Deshalb plädiere ich ja immer für Levis 501, so blau wie eine Nacht bei vollem Mond im Frühjahr, Jeans mit einer kleinen Extratasche hinter der rechten vorderen Hosentasche, eine, in die man Scheine stecken kann, gefaltete Papiere von Wert. Jeans, die schon für zwei Fünfziger zu haben sind, denke ich und frage mich, ob Kapitalisten wohl einsam sind. Derweil noch irgendetwas in den Bäumen sitzt und für mich singt, ein Liedchen, ein Traum.
Dieses Jahr muss es passieren, ich muss STEPHEN URBANSKI UNBUCH schreiben. Liegt schon etliche Monate vor dieser Monolith, seit November 2015, um genau zu sein. Dieses Ding. Dieser schwarze Stein. OINOWSKI war wichtiger. BAAL III war wichtiger. FUSSBALL UND TOD war wichtiger. ELISABETH WELTKRIEG war wichtiger. Und HERINGSKUSS soll ein Buch der leisen Töne werden, zärtlich, romantisch, gefühlsecht. Aber dann. Wird’s dunkel, extrem dunkel. Aber dann. Wird depressiv, extrem depressiv. Du musst mir dabei helfen, sage ich zu Jason. Wir werden einmal die Woche mindestens telefonieren, unsere Gespräche müssen verlaufen wie Ginster, wie Efeu, wie Moos, wie sehr, sehr altes Moos auf Grabsteinen getöteter Kinder von Zwangsarbeiterinnen im Zweiten Weltkrieg. Kinder, die nur drei Tage alt wurden. Kinder, die nur drei Tage alt werden durften.
So soll sich STEPHEN URBANSKI UNBUCH anfühlen, sage ich, versprich mir das, Jason B. Saiks. Du bist ein Loch, sage ich, ein Loch, welches das Licht verschluckt. Du bist ein Unloch, sage ich, ein Heidenloch, das lichte Energien frisst. Bleib so, sage ich, halte durch bis September, dann beginnt die Arbeit. Halte durch bis Ende Dezember, dann wird STEPHEN URBANSKI UNBUCH fertig sein. Zieh dein Nikolauskostüm an danach und springe, springe vom Dach eines Hochhauses deiner Wahl, sage ich. Triff Menschen unten auf der Straße, triff sie und erlöse sie, befreie sie vom Joch und mach sie glücklich. Tue Gutes ein letztes Mal, ich werde im Anschluss darüber sprechen. In KITSCHFOTZE davon berichten, dem Nachfolger von STEPHEN URBANSKI UNBUCH. Vielleicht wird’s auch INSTANT TAMA; mal schauen, welchen der beiden Titel ich nehme. Im Moment ist mir nach KITSCHFOTZE; welch ein geiles Wortbild, es tropft, es schmiert, es läuft mir warm den Ginsterrücken hinunter.
Und was dich betrifft, mein HERINGSKUSS, mit dir bin ich schon durch, dich schreibe ich einfach nur noch runter, zärtlich, romantisch, gefühlsecht, versprochen. Aber nicht heute, heute lehne ich mich zurück und labe mich am Leid der Flechten.
Der Monolith. Das Loch. Das Ding. Der Stein.
Begraben liegen trifft nur bei Leuten in Särgen zu, meinte Frederik neulich, Urnen stehen für gewöhnlich. So, wie man auf Frauen steht, sagte ich. Richtig, meinte Frederik, so, wie man auf dem Schlauch steht, wenn das mit den Frauen kein gutes Ende genommen hat. Apropos Frauen, sagte ich, ich kenne da welche, so doofe junge Dinger mit Titten, die sich in Berlin vors Holocaust-Mahnmal stellen und Selfies schießen, die Bilder dann auf Instagram veröffentlichen unter dem Vermerk „Yolocaust“; Yolo für „You only live once“. Ordnung im Raum, sagte ich, Sehnsucht nach Handwerk, Reparatur und Service, sagte ich. Richtig, meinte Frederik, da liegt der Hund begraben. Richtig, sagte ich, da liegt der Hase im Pfeffer. Stehst du doch drauf, meinte Frederik und legte auf. Unsere einzig verbliebene Waffe gegen die Dummheiten dieser Welt, dachte ich anschließend, zum Hörer greifen, die Nummer irgendeines Teilnehmers wählen, irgendetwas stammeln von Sehnsüchten und Ordnung im Raum und gleich wieder auflegen.
Das Gespräch dann ins Netz stellen, dachte ich und –
„Ich hatte einen Platten“, höre ich eine Frau schimpfen unten auf der Straße, vernehme ihre Stimme durch das auf Kipp stehende Fenster meines Badezimmers, wo ich auf Klo sitze und kacke. Und eine andere weibliche Person antwortet irgendetwas, das ich ausblende, denn in Gedanken bin ich ganz woanders. Ich denke an Termine, die es vorerst nicht gibt. Es gibt keinerlei Termine bis auf jene, die ich mir selbst setze, Notdurft erledigen am 15. März beispielsweise, an einem lichtdurchfluteten Tage bei neun Grad plus und die Vögel singen, was das Zeug hält. Oder Frühjahrsputz am 20. März beispielsweise. Oder Ostern. Oder Pfingsten. Ansonsten liegt nichts an bis zum Sommer, es sei denn, irgendjemand kommt noch auf Ideen, Vermieter beispielsweise mit einer Mieterhöhung.
Dann muss ich halt zum Amt und die einreichen, denke ich.
Dann ist das eben so, denke ich, so wie Gigs halt Auftritte sind, wo man Stücke spielt, so mit Setlist und Stagehands und Doors open und Curfew. Hängt allerdings auch von der Venue ab, denke ich. Manche ziehen deswegen extra nach P.A., denke ich. „Halts Maul, du Mixer!“ soll ja in den USA durchaus zum guten Ton, zum branchenüblichen Umgangston gehören, denke ich. Daraus sollte man allerdings kein unnötiges Drummer machen, denke ich. Bei Ferngesprächen wiederum ist Epiphone dann sicherlich in aller Munde, denke ich, und dass Sänger allzu oft und viel zu schnell das Handtuch werfen, um mal im Bilde zu bleiben. Während Bassisten sich durch einen gewissen Tiefgang ihrer Gedanken auszeichnen, heißt es ja immer und überall nirgends. Denke ich und nein, es liegen keinerlei Termine an. Gut, nachher noch zu Rewe und Crowd kaufen. Und ein Mandelhörnchen von Dat Backstage. Danach eventuell zurück nach Haus, denke ich und erfreue mich an der Doppeldeutigkeit des schönen Wörtchens „eventuell“. Singe, wem Gesang gegeben, denke ich und wische mich ab. „Beiß nicht gleich in jeden Apfel, er könnte sauer sein“, singe ich und denke über mikrobakterielle Verunreinigungen nach. Frage mich, ob da Land mitgekommen war eventuell, frage ich mich und prüfe schnell noch meine Unterhosen. Dann ist das eben so, denke ich und drücke die Toilettenspülung, das Wasser rauscht sekundenlang in Bächen. Draußen quietschen Bremsen, Spuren werden hinterlassen. Sie hatte einen Platten, denke ich und –
Detlef Denndann sagt: Gelinge dir selbst. Tim Elend sagt: „Ganz verliebt schaust du mich strahlend an, es gibt nichts mehr, was uns beide trennen kann.“ Roy Black, 1965. Schönste Zeile aller Zeiten. Uwe-Thilo Schwein sagt: Palettismus ist gefühltes Kollektiv und Gemeinwesen, es gibt keinen Grund, andere Paletten, welche nicht der Norm entsprechen, auszuschließen oder gar auszugrenzen. Melanie Keanu Curry sagt: Elsa, kommst du bitte? Stephen Urbanski sagt: Also ich verstehe diese neuen Friseure nicht. Diese neuen Friseure arbeiten montags, das gab es früher nicht. Montags hatten Friseure zu, denn Montage waren Angehörigen der Arbeiterklasse vorbehalten, die montags zur Arbeit gingen, verstanden? Detlef Denndann sagt: Genüge dir selbst. Tim Elend sagt: „Ganz in Weiß, so gehst du neben mir, und die Liebe lacht aus jedem Blick von dir.“ Roy Black, 1965. Schönste Zeile aller Zeiten. Uwe-Thilo Schwein sagt: Palettismus ist gefühltes Kollektiv und Gemeinwesen, es gibt keinen Grund, andere Paletten, welche nicht der Norm entsprechen, auszuschließen oder gar auszugrenzen. Melanie Keanu Curry sagt: Elsa, kommst du bitte? Stephen Urbanski sagt: Stattdessen haben diese neuen Friseure mittwochs zu, das gab es früher nicht. Der Mittwoch war immer ein Ärzte-Sonntag, verstanden? Verstehe einer diese neuen Friseure. Ich verstehe sie nicht. Detlef Denndann sagt: Gereiche dir selbst zur Ehre. Tim Elend sagt: „Ja, dann reichst du mir die Hand, und du siehst so glücklich aus, ganz in Weiß mit einem Blumenstrauß.“ Roy Black, 1965. Schönste Zeile aller Zeiten. Uwe-Thilo Schwein sagt: Palettismus ist gefühltes Kollektiv und Gemeinwesen, es gibt keinen Grund, andere Paletten, welche nicht der Norm entsprechen, auszuschließen oder gar auszugrenzen. Melanie Keanu Curry sagt: Elsa, kommst du bitte? Stephen Urbanski sagt: Verstehst du sie, Melanie Keanu Curry, diese neuen Friseure? Du kommst doch rum, du kennst dich doch aus, du bist doch eine Frau. Und wer ist diese Elsa, zum Teufel? Eins eurer doofen Kinder mit diesen dämlichen Vornamen aus der Kaiserzeit, verstanden? Melanie Keanu Curry sagt: Detlef Denndann ist Bezirksbefruchter Hamburg-Nord, und zwar von Amts wegen, verstanden? „Frau dich des Lebens“ ist von ihm, steht deinem neuen Buch voran, und zwar bis immer, verstanden? Stephen Urbanski sagt: Verstanden. Und Elternabende. Melanie Keanu Curry sagt: Richtig. Tim Elend wiederum ist ein Kumpel von mir aus dem „Hamburg Journal“ auf N3. Tim Elend reinigt Alsterfleete und denkt dabei über die wirklich großen Fragen des Lebens nach, verstanden? Stephen Urbanski sagt: Verstanden. Und Elternabende. Melanie Keanu Curry sagt: Uwe-Thilo Schwein hingegen ist mein vorgesetzter Redakteur in diesem Buch, Uwe-Thilo Schwein sagt: „Palettismus ist gefühltes Kollektiv und Gemeinwesen, es gibt keinen Grund, andere Paletten, welche nicht der Norm entsprechen, auszuschließen oder gar auszugrenzen.“ Und Elternabende, verstanden? Stephen Urbanski sagt: Ich dachte, „und Elternabende“ sei von mir, aber gut, dann eben nicht. Außerdem ergibt dieser Stuhlkreis absolut keinen Sinn, warum? Weil alle in verschiedenen Zungen aneinander vorbeireden. Ich darf daran erinnern, dass wir hier in Hamburg sind und nicht in Babylon. Stelle somit anheim, diese Sitzung vorerst aufzulösen, möge ein Jeder mal in sich gehen und nachdenken über dieses geile Hamburger Himmelslicht, dieses geile graue Hamburger Licht, welches aus sich selbst heraus glüht, welches sich selbst genug ist, welches maßgeblich zum Gelingen dieses Buches beitragen wird, verstanden? Elsa, kommst du bitte? Elsa?