Hermeneutik des Alten Testaments -  - E-Book

Hermeneutik des Alten Testaments E-Book

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Beschreibung

Die Frage, wie das Alte Testament literarisch, historisch und theologisch angemessen zu verstehen sei, gehört zu den Grundfragen christlicher Theologie. Angesichts sich stetig wandelnder Verstehensbedingungen ist sie jeder Generation neu aufgegeben. Als eine die Kirche und die Theologie insgesamt betreffende Frage lassen sich Antworten nur in einem Zusammenspiel von Bibelwissenschaften und Systematischer Theologie, von Historischer und Praktischer Theologie/Religionspädagogik finden. Dabei sind sowohl im Alten und Neuen Testament selbst angelegte Verstehensweisen als auch nachbiblische Hermeneutiken ganz unterschiedlicher philosophischer und konfessioneller Herkunft zu berücksichtigen. Die in diesem Band gesammelten Beiträge bieten beides: eine Nachzeichnung der innerbiblischen Debatte und eine interdisziplinäre Bestimmung der Bedeutung des Alten Testaments in Theologie und Kirche. Mit Beiträgen von Alexander Deeg (Leipzig), Volker Drecoll (Tübingen), Michael Fricke (Regensburg), Jörg Lauster (München), Manfred Oeming (Heidelberg), Ludger Schwienhorst-Schönberger (Wien), Notger Slenczka (Berlin), Thomas Söding (Bochum), Oda Wischmeyer (Erlangen) und Markus Wriedt (Frankfurt am Main). Die Herausgeber des Bandes, Markus Witte (Berlin) und Jan Christian Gertz (Heidelberg), sind zurzeit Sprecher der Fachgruppe Altes Testament in der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie e. V. [Hermeneutics of the Old Testament] The question how we can understand adequately the Old Testament in literary, historical and theological respect, is essential for christian Theology. The volume presents an overview of different innerbiblical ways to understand the Old Testament and a discussion of elected hermeneutics of the Old Testament from the perspective of the various theological disciplines (exegesis, church history, systematic theology and practical theology).

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VERÖFFENTLICHUNGEN DERWISSENSCHAFTLICHENGESELLSCHAFT FÜRTHEOLOGIE (VWGTH)

Band47

HERMENEUTIKDES ALTENTESTAMENTS

Herausgegeben von Markus Witte und Jan C. Gertz

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2017 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Cover: Kai-Michael Gustmann, Leipzig

Satz: Matthias Müller, Berlin

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017

ISBN 978-3-374-05094-9

www.eva-leipzig.de

VORWORT 

Die Frage, wie das Alte Testament literarisch, historisch und theologisch angemessen zu verstehen ist, gehört zu den Grundfragen christlicher Theologie. Mit einer gewissen Regelmäßigkeit rückt diese Frage, die in ihrem Kern das Verhältnis christlichen Glaubens und christlicher Theologie zur Geschichte und zur Geltung der Schrift betrifft, besonders in den Vordergrund. Angesichts sich stetig wandelnder Verstehensbedingungen ist diese Frage aber jeder Generation neu aufgegeben, sei es, dass sie von außen an die christliche Theologie herangetragen wird, sei es, dass sie aus dieser selbst kommt. Als das Christentum, seine verschiedenen Kirchentümer und die christliche Theologie insgesamt betreffende Frage lassen sich Antworten nur in einem Zusammenspiel von Bibelwissenschaften und Systematischer Theologie, von Historischer und Praktischer Theologie/Religionspädagogik finden. Dabei sind sowohl im Alten und Neuen Testament selbst angelegte Verstehensweisen zu berücksichtigen als auch nachbiblische Hermeneutiken ganz unterschiedlicher philosophischer und konfessioneller Herkunft. Die in diesem Band gesammelten Beiträge bieten beides: eine Nachzeichnung der innerbiblischen Debatte und eine interdisziplinäre Bestimmung der Bedeutung des Alten Testaments in und für Theologie und Kirche.

Die Beiträge gehen auf eine Tagung der Fachgruppe Altes Testament in der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie e.V. zurück, die diese im Februar 2016 an der Humboldt-Universität zu Berlin veranstaltet hat. Ein wesentlicher Referenzpunkt dieser Tagung war die in jüngerer Zeit von dem Systematischen Theologen Notger Slenczka vorgetragene Problematisierung der theologischen Bedeutung des Alten Testaments für den christlichen Glauben. Neben der von Slenczka erhobenen Infragestellung der kanonischen Bedeutung des Alten Testaments waren es noch weitere Aspekte, welche die Fachgruppe Altes Testament veranlassten, ihre Jahrestagung 2016 gezielt der Hermeneutik des Alten Testaments zu widmen: Die auch gegenwärtig in öffentlichen Diskursen immer wieder anzutreffende Behauptung, das Alte Testament sei das Dokument einer gewalttätigen und rachsüchtigen Religion, die seitens des christlich-jüdischen Dialogs erhobene Mahnung, das Alte Testament in Gestalt der Hebräischen Bibel als eine sich in erster Linie an Israel richtende Urkunde wahrzunehmen, und schließlich die im Rahmen der neueren Alttestamentlichen Exegese, vor allem mitteleuropäischer Prägung, bisweilen anzutreffende Reduktion der Auslegung auf philologisch-historische Themen.

Die genannten Aspekte werden in den einzelnen Beiträgen mit unterschiedlichen Schwerpunkten thematisiert. Einleitend stellt der evangelische Alttestamentler Manfred Oeming (Heidelberg) unterschiedliche Hermeneutiken innerhalb des Alten Testaments vor. Er illustriert die Vielfalt alttestamentlicher Gottesbilder, unterstreicht den theologischen Eigenwert einzelner im Alten Testament vertretener Theologien und betont die bleibende Bedeutung der um eine existentiale Interpretation erweiterten historisch-kritischen Methode. Ludger Schwienhorst-Schönberger, römisch-katholischer Alttestamentler in Wien, bringt dazu vertiefend altkirchliche Auslegungsmethoden, für welche die Einheit der Schrift und die Polyphonie der Schrift konstitutiv sind, mit neuzeitlichen Hermeneutiken ins Gespräch und zeigt, welche Potentiale in einer Wiederentdeckung patristischer Exegese stecken. Angesichts der Tatsache, dass die Mehrzahl patristischer Kommentare zu Büchern des Alten Testaments bis heute nicht in kritischen Editionen und Übersetzungen in moderne Sprachen vorliegt, besteht hier ein besonderer Forschungsbedarf, um den Schatz der griechischen und lateinischen Bibelauslegung aus der Zeit zwischen dem 3. und dem 7. Jahrhundert n. Chr. zu heben.

Dem Neuen Testament, das traditionsgeschichtlich und theologisch ohne die im Alten Testament gesammelten Schriften nicht denkbar ist, sind zwei Aufsätze gewidmet. Zunächst skizziert der römisch-katholische Neutestamentler Thomas Söding (Bochum) den Gebrauch der heiligen Schriften des antiken Judentums, die später im Raum der Kirche zum Alten Testament wurden, im Markusevangelium. Für die Zeichnung der literarischen »Biographie« Jesu als Hörer der Schrift, als Exeget der Schrift und als mittels der Schrift Gedeuteter sowie für die Theologie des Markusevangeliums sind die Schriften des alten Israel, zumal die Tora, einzelne prophetische Texte und die Psalmen, basal. Dabei unterscheidet sich die literarische Verwendung »alttestamentlicher« Texte durch den Evangelisten Markus nicht grundsätzlich von zeitgenössischen jüdischen Lektüreweisen. Diesen Gesichtspunkt verdeutlicht auch der Beitrag der emeritierten evangelischen Neutestamentlerin Oda Wischmeyer (Erlangen), in dem der Bedeutungsgehalt von heiliger Schrift (γραφή) und Gesetz (νόμος) für Paulus und dessen bewusst selektiver Gebrauch »alttestamentlicher« Texte herausgearbeitet wird. Nach Wischmeyer greift Paulus keineswegs in allen seinen Briefen für die Begründung seiner Theologie auf die »Schrift Israels«, das spätere Alte Testament, zurück: Für Paulus, der im Bewusstsein des »neuen Bundes« lebe, sei nicht das Gegenüber von Altem und Neuem Testament entscheidend, sondern das von Schrift und Glaube.

Wesentlich für die Verhältnisbestimmung von Altem und Neuem Testament ist die Klärung, welches Textcorpus eigentlich die Schrift der frühen Christen war. Volker Henning Drecoll, evangelischer Patristiker in Tübingen, stellt klar heraus, dass dies die griechische Bibel, die Septuaginta, war. Dabei zeichnet er nicht nur Differenzierungs- und Identitätsbildungsprozesse in den verschiedenen Judentümern und Christentümern der hellenistischen und römischen Zeit nach, sondern beschreibt auch die Bedeutung des (werdenden) Alten Testaments für die Ausbildung der altkirchlichen Christologie und für die Liturgie. Als eine zweite, für die protestantische Theologie unverzichtbare Stimme der Bibelauslegung stellt der Frankfurter evangelische Kirchenhistoriker Markus Wriedt die Beschäftigung Martin Luthers mit dem Alten Testament vor. Dabei kommen sowohl Luthers Vorlesungen über alttestamentliche Texte als auch seine Vorreden auf das Alte Testament und seine Überlegungen zur Hermeneutik exemplarisch zur Sprache. In Auseinandersetzung mit Luthers Schrift gegen die Türken (1529) weist Wriedt auf die interreligiöse Bedeutung des Alten Testaments und die Wege seines Verstehens hin.

Die von Wriedt vorgestellte, stark auf die Existenz und den Glauben des Einzelnen zielende Hermeneutik Luthers spielt dann auch eine zentrale Rolle in den Reflexionen des Berliner evangelischen Systematikers Notger Slenczka, der seine bisher vorgetragenen Thesen zum Alten Testament hinsichtlich der Intertextualität religiöser Texte und ihres Beitrags zur Selbstdeutung menschlichen Lebens vertieft. So fragt Slenczka nun, was die alttestamentlichen Schriften unter den Bedingungen eines historischen Verstehens, hinter das es kein Zurück gebe, für das Verstehen der Biographie Jesu und über diese für das Verstehen der je eigenen Existenz leisteten. Dabei kontrastiert Slenczka einerseits methodisch scharf Intertextualität und Kanonizität und bestimmt andererseits als wesentliches Kriterium für die theologische Bedeutung biblischer Texte die Vergegenwärtigung der Deutungskraft des Lebensvollzuges Jesu. Slenczkas Aufsatz wird flankiert von einem kulturtheologischen Beitrag des in Venedig und München tätigen evangelischen Systematikers Jörg Lauster. Im Zentrum seines mit der Theologiegeschichte des 18. Jahrhunderts einsetzenden und einen weiten Bogen vom englischen Deismus bis zu Jan Assmann spannenden Aufsatzes steht die Beschreibung von grundsätzlichen theologischen Kontinuitäten und Diskontinuitäten zwischen Altem und Neuem Testament, die Bestimmung von Wesen und Funktion schriftbasierter Religionen sowie die Bedeutung von Erfahrung für die Interpretation heiliger Schriften.

Der Band wird mit zwei Beiträgen aus der Praktischen Theologie und Religionspädagogik beschlossen. Michael Fricke (Regensburg) gibt einen Überblick über die Verwendung des Alten Testaments im (evangelischen) Religionsunterricht. Dabei kommen generelle Thematisierungen des Alten Testaments in religionspädagogischen Entwürfen in der jüngeren Vergangenheit und in der Gegenwart ebenso zur Sprache wie konkrete Unterrichtsentwürfe. Ihnen zur Seite stehen Überlegungen des stark im christlich-jüdischen Gespräch engagierten evangelischen praktischen Theologen Alexander Deeg (Leipzig) zum Gebrauch des Alten Testaments in der christlichen Predigt.

Entsprechend der von Deeg mit Nachdruck eingeforderten dialogischen Gemeinschaft von Juden und Christen, die sich in und mit der Bibel auf dem Weg durch das Leben befinden, sollte dem Band auch ein Beitrag eines jüdischen Bibelwissenschaftlers beigegeben sein. Leider konnte der an der Hebrew University in Jerusalem tätige Shimon Gesundheit, der auf der Berliner Tagung 2016 die rabbinische Hermeneutik als Fortsetzung der innerbiblischen Schriftauslegung vorführte, seinen Vortrag aus Krankheitsgründen nicht für den Druck vorbereiten. Gesundheit zeigte seinerzeit an ausgewählten Texten der Hebräischen Bibel, dass sich bereits in dieser selbst Formen der Auslegung finden, wie sie für die Exegese im Talmud und im Midrasch typisch sind. Dabei arbeitete er strukturelle Konvergenzen zwischen rabbinischer Exegese und patristischer Auslegung, wie sie in den Beiträgen von Schwienhorst-Schönberger und Drecoll deutlich werden, heraus. Vor diesem Hintergrund signalisierte die Tagung zur Hermeneutik des Alten Testaments weiteren Forschungsbedarf zu den Berührungen zwischen jüdischer und christlicher Bibelauslegung in der Spätantike und im frühen Mittelalter. Zudem zeigte der Vortrag von Gesundheit die Problematik einer Hermeneutik, der ein fest umrissener Kanon an heiligen Schriften zugrunde liegt, wie dies Gesundheit – bei allen Unterschieden im Einzelnen – als ein typisches Merkmal christlicher Hermeneutik ansprach.

Der Autorin und den Autoren des Bandes danken wir herzlich, dass sie ihre Vorträge für die Veröffentlichung zur Verfügung gestellt haben. Der Wissenschaftlichen Gesellschaft und der Deutschen Forschungsgemeinschaft sind wir sehr dankbar für die finanzielle Förderung der Tagung im Februar 2016. Herrn Dipl.-Theol. Matthias Müller danken wir herzlich für das sorgfältige Lektorat und die Erstellung der Druckvorlage. Frau Johanna Kappelt hat dankenswerter Weise die Register erstellt. Schließlich danken wir Frau Dr.Annette Weidhas und ihren Mitarbeiterinnen bei der Evangelischen Verlagsanstalt für die verlegerische Betreuung des Bandes.

Berlin und Heidelberg, im Juni 2017

Markus Witte und Jan Christian Gertz

INHALT

COVER

TITEL

IMPRESSUM

VORWORT

DERKAMPF UM DAS ALTETESTAMENT

Ein Plädoyer für das Alte Testament als notwendigen Bestandteil des christlichen Kanons

Manfred Oeming

EINLEUCHTEND

Führt das christlich-religiöse Bewusstsein zur Herabstufung des Alten Testaments?

Ludger Schwienhorst-Schönberger

IMKLANG DESWORTESGOTTES

Gesetz, Psalmen und Propheten im Markusevangelium

Thomas Söding

PAULUS ALSHERMENEUT DER ΓΡΑΦΗ

Oda Wischmeyer

DAS ALTETESTAMENT IN DER ALTENKIRCHE

Volker Henning Drecoll

NISI SCRIPTURAE DEDERIMUS PRINCIPEM LOCUM

Zur Hermeneutik des Alten Testaments bei Martin Luther und im Zeitalter der Reformation

Markus Wriedt

HÄNDELSAUFERSTEHUNG

Die affirmative Genealogie des Christentums und das Alte Testament

Jörg Lauster

REZEPTIONSHERMENEUTIK UNDSCHRIFTPRINZIP

Bemerkungen zu einem ambivalenten Verhältnis

Notger Slenczka

»AUCH FÜR DICH« UND DAS MESSIANISCHE »HEUTE«

Überlegungen zur Hermeneutik des Alten Testaments aus homiletischer Perspektive

Alexander Deeg

BEDEUTUNG UNDUMGANG MIT DEM ALTENTESTAMENT IN DERRELIGIONSPÄDAGOGIK

Michael Fricke

REGISTER

AUTORENVERZEICHNIS

WEITEREBÜCHER

ANMERKUNGEN

DERKAMPF UM DAS ALTETESTAMENT

Ein Plädoyer für das Alte Testament als notwendigen Bestandteil des christlichen Kanons

Manfred Oeming

1. DASPROBLEM

Eine durchdachte Hermeneutik des Alten Testaments ist eine Grundaufgabe christlicher Theologie. Auf die Frage, welche Bedeutung das Alte angesichts des Neuen Testaments für den Glauben noch hat, muss sie klare Antworten geben können – verliert doch in der Sphäre des Rechts ein altes Testament seine Gültigkeit, wenn ein neues geschrieben wird. Auf der Grundlage einer soliden Kenntnis der Geschichte des Problems1 muss moderne Theologie logisch nachvollziehbare Argumente für – oder gegen – die Kanonizität des Alten Testaments entwickeln. Dies ist kein akademisches Glasperlenspiel und somit ein Randproblem, sondern eine existentielle Grundfrage der Kirche. »Dabei geht es um nicht weniger als um den Kern aller christlichen Theologie; denn das Verstehen des Redens von Gott und das Verständlichmachen dieses Redens für andere ist die Aufgabe der Theologie.«2 Was verdanken wir theologisch dem Alten Testament? Was sollen wir als Christen übernehmen und was dürfen wir nach einem »Kanon im Kanon« eventuell auf keinen Fall übernehmen? Im Kern ist es die Frage nach dem Wesen des Christentums.3 Konrad Schmid hat zu Recht gefordert, ein ergebnisoffenes Gedankenexperiment durchzuführen: »Weshalb und Wozu eigentlich haben wir das Alte Testament?«4 Allein daraus kann sich dann der Wert oder die partielle oder gänzliche Wertlosigkeit der Schriften des Alten Testaments erhellen.

Das Problem, welchen Geltungsanspruch diese Sammlung normativer Schriften Israels im Lichte des Lebens, der Lehren und der Auferstehung Jesu in den Deutungen der Evangelien und Briefe noch haben kann und wie man sie christlich interpretieren und im Alltag anwenden soll, war daher von Anfang des Christentums an heftig umstritten und ist bis heute umkämpft. Im Laufe der zweitausendjährigen Kirchengeschichte halten sich gewisse Grundfragen konstant durch, andere verändern sich.

(1) Im Anfang stand das Alte Testament vollständig in Geltung; die ersten Christen verstanden sich selbst als gute Juden. Matthäus lässt seinen Jesus sagen:

Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen. Denn wahrlich, ich sage euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird nicht vergehen der kleinste Buchstabe noch ein Tüpfelchen vom Gesetz, bis es alles geschieht. (Mt 5,17f.)

(2) So wurde das Alte Testament primär als Weissagung auf Christus, den Messias, gedeutet und in Missionspredigten unter Juden verwendet. Man durchforschte die Heiligen Schriften auf Fingerzeige, die auf das Leiden, das Sterben und die Auferstehung Christi hindeuten, aber erst durch ihn ihre wahre Bedeutung erkennen lassen. Wenn zum Beispiel Jona drei Tage im Bauch des Fisches war, bevor er an Land ausgespuckt wurde, dann sah man darin eine klare Ankündigung der Zeit von Karfreitag bis Ostern (Mt 12,39–41//Lk 11,29–32). Der Durchzug durchs Meer und die Lebenserhaltung in der Wüste durch Manna und Wachteln sowie durch Wasser aus dem Felsen, der nach jüdischer Tradition als mitziehender Fels gedacht wurde, werden auf Christus und die Sakramente von Taufe und Abendmahl (um)gedeutet (Ex 17,1–6; Num 20,7–11; 21,16). Dieser hermeneutische Zugang hat Probleme: Was schon im Lichte der Erfüllung als (eher bloß dekoratives) Vorspiel erschien, erscheint angesichts historisch-kritischer Bibelexegese als glatte Missdeutung, die keine existentielle Bedeutung und intellektuelle Geltung mehr haben kann. Historisch-kritisch hat die Erzählung vom Durchzug durchs Schilfmeer nichts mit Taufe zu tun, und die wunderhafte Speisung in der Wüste hat mit dem Leib und Blut Christi ebenso nichts zu tun.

(3) Oder ist das Christentum als ein verbessertes Judentum zu verstehen? »Mit alledem steht Jesus im Rahmen des echten Judentums, und seine Eigenart besteht nicht darin, daß er besonders originelle Gedanken über Gott und die Welt vorgetragen hätte, sondern darin, daß er den Gottesgedanken des Judentums in seiner Reinheit und Konsequenz erfaßt hat.«5 Besonders ist, dass die Zahl an Geboten und Verboten deutlich reduziert ist, aber dafür ist es offen für alle Menschen und für alle verbindlich. »In der Tat hat Gott im AT gesagt, was er will. Wer nach Gottes Willen fragt, wird auf die sittlichen Forderungen des AT verwiesen«.6 Das Neue Testament stellte sich dann als ein theologisches Konzentrat des Alten Testaments dar.

(4) Oder richtet sich Jesus gegen das Judentum, was aber erst allmählich Zug um Zug so verstanden wurde? Das Alte Testament bliebe danach nur in der Funktion einer dunklen Folie und eines abschreckenden Beispiels für ein theologisches Scheitern von Bedeutung.

War die Bewertung des Alten Testaments schon im Neuen Testament umstritten, so zog sich dieses Problem durch die gesamte Kirchengeschichte hindurch. Phasen der Befürwortung wechseln sich immer wieder mit Phasen der scharfen Ablehnung und Bekämpfung ab. Durch sich wandelnde Auslegungsmethoden, besonders mit dem Aufkommen des echt ungeschichtlichen Denkens in der Aufklärung und dann des echt geschichtlichen Denkens im 19. Jahrhundert, veränderten sich auch die Auslegungen der alttestamentlichen Texte, und mit sich wandelnden Moralvorstellungen verschoben sich auch die Bewertungen des Alten Testaments. Das berühmte Votum von Adolf von Harnack bringt das auf die griffige Formulierung: »das Alte Testament im 2. Jahrhundert zu verwerfen, war ein Fehler, den die große Kirche mit Recht abgelehnt hat; es im 16. Jahrhundert beizubehalten, war ein Schicksal, dem sich die Reformation noch nicht zu entziehen vermochte; es aber seit dem 19. Jahrhundert als kanonische Urkunde im Protestantismus noch zu conservieren, ist die Folge einer religiösen und kirchlichen Lähmung.«7

Mit dieser Aufforderung zur Abschaffung des Alten Testaments als kanonischer Urkunde ist vor fast 100 Jahren der Kampfplatz deutlich markiert: Ob und wie das Alte Testament als Ganzes oder in Teilen für den christlichen Glauben noch kanonische Geltung haben kann oder haben muss, darum geht es.

Ein knapper historischer Rückblick soll im Folgenden einige der Verschiebungen ganz knapp vor Augen führen und einige immer wiederkehrende hermeneutische Grundkategorien namhaft machen (2.). Danach wird der gegenwärtige Kampf um das Alte Testament beleuchtet, sowohl was die Angreifer (3.) und ihre Argumente betrifft als auch was die Verteidiger und ihre Argumente betrifft (4.). Abschließend werde ich meine eigene Begründungsstrategie kurz skizzieren (5.). Mein Beitrag versteht sich im gegenwärtigen Konflikt als ein engagiertes Plädoyer für die Notwendigkeit des Alten Testaments.

2. DERKAMPF UM DAS ALTETESTAMENT – HISTORISCHEORIENTIERUNGEN

Für Jesus, Paulus und die übrigen Autoren, die jetzt im Neuen Testament versammelt sind, waren die autoritativen Schriften Israels (αἱ γραφαί, Mt 26,56)8 die einzige religiöse Bezugsgröße. Das Wissen von Gott und seinem Willen ergab sich ihnen nur aus der Bibel Israels. Um es mit der Botschaft Jesu und der Predigt über Jesus zu verbinden, bedurfte es aber hermeneutischer Kunstgriffe, die schon in den ältesten prä-neutestamentlichen Schriften umstritten sind. Wie soll man das Alte Testament auslegen? Der Ton im Streit mit den jüdischen Gesprächspartnern war zu Jesus Lebzeiten bereits kämpferisch, wie die Streitgespräche belegen. Die Legitimität der Berufung auf das Alte Testament wurde vom jüdischen Mainstream angezweifelt und das Recht einer messianischen Deutung Jesu massiv bestritten und mit der Todesstrafe geahndet:

Und der Hohepriester sagte zu ihm: Ich beschwöre dich bei dem lebendigen Gott, uns zu sagen, ob du der Messias bist, der Sohn Gottes. Da sagt Jesus zu ihm: Du sagst es. […] Da zerriss der Hohepriester seine Kleider und sagte: Er hat gelästert. Was brauchen wir noch Zeugen? Jetzt habt ihr die Lästerung gehört! Was meint ihr? Sie antworteten: Er ist des Todes schuldig! (Mt 26,63–66)

Das Alte Testament geriet weiter in Legitimationszwänge, als sich das Christentum über die Grenzen Judäas hinaus ausbreitete. Jesus und seine Jünger lebten als Juden unter Juden, Paulus aber ging hinüber nach Europa und predigte dort ein gesetzesfreies Evangelium. Er arbeitete dabei mit schroffen Gegensätzen wie zum Beispiel Freiheit und Sklaverei, Geist und Buchstaben oder Geist und Fleisch: »Ihr unverständigen Galater, wer hat euch behext?« (Gal 3,1), so beschimpft er diejenigen, die sich wieder unter das »Joch des Gesetzes« (Gal 5,1) beugen wollen. Er selbst sagt sich von seiner jüdischen Identität schroff los:

Ich hätte doch Grund, auch auf das Fleisch zu vertrauen. Wenn irgendein anderer sich berechtigt fühlen könnte, auf das Fleisch zu vertrauen, dann ich erst recht: Ich wurde am achten Tag beschnitten, bin ein Angehöriger des Volkes Israel, aus dem Stamm Benjamin, ein Hebräer von Hebräern – was das Gesetz angeht: ein Pharisäer, was den Eifer angeht: ein Verfolger der Gemeinde, was die Gerechtigkeit angeht, die im Gesetz gilt: einer ohne Fehl und Tadel. Aber alles, was mir Gewinn war, habe ich dann um Christi willen als Verlust betrachtet. Ja mehr noch, ich halte alles für Verlust um der überragenden Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn, willen, um dessentwillen ich aller Dinge verlustig ging und es als Unrat9 betrachte. (Phil 3,4–8)

Paulus grenzt sich teilweise extrem polemisch gegen ein bestimmtes Verständnis des Alten Testaments ab, hat es damit aber schwer, sich Anerkennung zu verschaffen. Petrus und Paulus stehen emblematisch für eine Grundspannung zwischen »Judenchristen« und sogenannten »Heidenchristen«. Zwischen Menschen, die als Juden zum Christentum kamen, und solchen, die eben nicht jüdisch erzogen und sozialisiert waren, sondern von anderen Religionen wie etwa der griechisch-römischen her mit dem Christentum in Berührung kamen, bestanden große Unterschiede. Kultische Fragen wie die nach der Notwendigkeit der Beschneidung,10 nach der Sabbat- (oder Sonntags-)Observanz und der Einhaltung der Kaschrut, ethische Fragen wie die nach der Akzeptanz von Alkohol oder dem Verzehr von »Götzenopferfleisch« oder der Möglichkeit einer Scheidung waren bald umstritten. Πάντα μοι ἔξεστιν (»alles ist mir erlaubt«, 1 Kor 6,12) war vielen Juden-Christen zu liberal. Eine schöne Beispielerzählung ist Apg 11,5–9, als Petrus sich voller Ekel weigert, Gemeines und Unreines (κοινὸν ἢ ἀκάθαρτον, 11,8) zu essen. Aber auch gleichsam »metaphysische« Fragen nach der »Natur Jesu« oder nach der Trinität führten auf den alttestamentlichen Hintergründen des strengen Monotheismus zum Streit. Die frühe »hohe Christologie« unterschied sich massiv von einem »Nazarenertum«, das Jesus als reinen Menschen betrachtete. Unterschiedliche Rezeptionsweisen des Alten Testaments führten so zu verschiedenen »Konfessionen« innerhalb des Christentums.

Es lässt sich zwischen Juden einerseits und Christen andererseits, aber auch innerhalb der christlichen Strömungen unschwer ein Streit um die hermeneutische Deutungshoheit erkennen. Wenn man das Neue Testament als Buch von vorne her liest, wird man im Matthäusevangelium sehr stark betont auf die enge Verbindung zum Alten Testament verwiesen. Der Stammbaum Jesu in Mt 1 macht eine ungebrochene Kontinuität von Abraham zu Jesus geltend. Jesus erscheint als »Sohn Davids«, als wahrer Moses, als wiedergekommener Elias, als einer, der das gewaltsame Geschick der Propheten teilt. In den zahlreichen Erfüllungszitaten wird vermittelt, dass sich in Jesus der Sinn der alttestamentlichen Texte enthüllt und erfüllt. Die Geschichte Israels mündet gleichsam in die Geschichte Jesu Christi. Erkennbar fordert Matthäus eine »bessere Gerechtigkeit« als die der Pharisäer. Die Christengemeinde steht in einem Wettstreit mit der jüdischen Gemeinde darüber, welche Gruppe die Tora, d.h. den Willen Gottes, besser erkennt und umfassender realisiert. Im hermeneutischen Streit um die richtige Deutung und ethische Umsetzung steht das matthäische Wort Jesu »Ich aber sage euch …« als Kampfansage da; nur Jesus weiß, was Gottes eigentliche Intentionen bei der Tora-Erteilung waren, und er will sie klar und deutlich neu zur Geltung bringen. »Die mt Jesusgeschichte erklingt im Resonanzraum der Schrift, und sie gewinnt an Klangfarbe, wenn man sie in diesem Resonanzraum hört. […] Über die dichten Rekurse auf die Schrift sollen die Adressaten vergewissert werden, dass die christusgläubige Gemeinde die wahre Sachwalterin der theologischen Traditionen Israels ist.«11 Aber schon bei Markus tritt die Bedeutung des Alten Testaments unverkennbar zurück;12 während das lukanische Doppelwerk das jüdische Erbe im Leben Jesu und im Leben der ersten Christen wiederum stark hervorhebt, allerdings mit dem Ziel, eine Ablösung Israels durch die Christengemeinde zu konstruieren.13 Der Christus, der den Emmaus-Jüngern erscheint, filtert die entscheidend wichtigen Aussagen der Schriften Israels heraus und zeigt auf, inwiefern sie sich in ihm allein erfüllt haben:

Das sind die Worte, die ich [Jesus] zu euch gesagt habe, als ich noch bei euch war: Alles muss in Erfüllung gehen, was im Gesetz des Mose, bei den Propheten und in den Psalmen über mich gesagt ist. Darauf öffnete er ihnen die Augen für das Verständnis der Schrift. (Lk 24,44f.)

Zum Teil erschreckend polemisch grenzt sich das Johannesevangelium gegen eine jüdische Inanspruchnahme des Alten Testaments ab, indem es die Juden zu Repräsentanten der ungläubigen Welt, ja als Kinder des Teufels brandmarkt (Joh 8,44) und zugleich »die Schrift« als Zeugnis von Christus vereinnahmt.

Suchet (oder: Ihr sucht) in den Schriften; weil ihr (doch) meint, ihr hättet das ewige Leben in ihnen; aber14 jene sind es, die von mir zeugen. (Joh 5,39)

Nach dem Bericht in Apg 15 über das sogenannte Apostelkonzil (zwischen 44 und 49n.Chr.) genügte es, den Geist Gottes zu haben, d.h. getauft zu sein, um auch als Heide als Christ zu gelten.15 Das Notwendige (ἐπάναγκες) aus dem Judentum reduzierte sich auf drei Elemente »dass ihr euch enthaltet vom Götzenopfer und vom Blut und vom Erstickten und von Unzucht. Wenn ihr euch davor bewahrt, tut ihr recht« (Apg 15,29).

Zusammen mit den Johannesbriefen kann man auf eine dramatische Kontroverse zwischen der entstehenden Kirche mit der Synagoge schließen, was (womöglich auf das Gebiet der Gaulanitis begrenzt?) zu Verfolgung und »Synagogenbann« (ἀποσυνάγωγος, Joh 9,22; 12,42; 16,2; 18,20) führt.

Sie werden euch aus der Synagoge ausstoßen, ja es kommt die Stunde, in der jeder, der euch tötet, meint, Gott einen heiligen Dienst zu leisten. (Joh 16,2)

Die Wertungen des Alten Testaments bei Paulus sind nicht einlinig und keineswegs eindeutig. Er argumentiert zwar dauernd mit Exegesen und Rekursen auf alttestamentliche Texte, aber häufig auch in scharfer Abgrenzung. Das Gesetz gilt ihm als ein effektiver Weg zum Heil, aber man muss es ganz halten. Bricht man eines der Gesetze, dann wird der Fluch von Dtn 27 wirksam.16 Von diesem extremen »Leistungsdruck« hat Christus befreit (so besonders im Galaterbrief). Die ganze Ambivalenz lässt sich in der Auslegung von Röm 10,4 ablesen:

τέλος γὰρ νόμου Χριστὸς εἰς δικαιοσύνην παντὶ τῷ πιστεύοντι.

»Ziel des Gesetzes nämlich ist Christus zur Gerechtigkeit für jeden, der glaubt«, oder aber

»Ende des Gesetzes nämlich ist Christus zur Gerechtigkeit für jeden, der glaubt.«17

Ähnlich ambivalent erklärt der Hebräerbrief in seiner platonisierenden christologischen Konzeption mit permanenter Hilfe alttestamentlicher Theologumena das Opfer Jesu am Kreuz als ein für alle Mal gültiges, wahres, himmlisches Opfer, um dadurch diese alten jüdischen Konzeptionen für überholt und abgetan zu erklären (vor allem Hebr 8 in der Auslegung von Lev 16 und Jer 31,31–34). In den Pastoralbriefen wie in den katholischen Briefen wechseln Ja und Nein, wobei aber die Anerkennung der Inspiriertheit überwiegt.

Denn alle Schrift, von Gott eingegeben, ist nütze zur Lehre, zur Strafe, zur Besserung, zur Züchtigung in der Gerechtigkeit. (2 Tim 3,16)

Der Jakobusbrief könnte ohne Probleme auch im Alten Testament stehen.

Die Hermeneutik des Alten Testaments führt direkt und unmittelbar in eine Hermeneutik des Neuen Testaments. Wie verhalten sich die unterschiedlichen Stimmen zueinander? Welche der unterschiedlichen Christologien ist maßgeblich? War Jesus ein wundertätiger Prophet, der wie seine Vorgänger ein gewaltsames Geschick erlitten hat, und ein charismatischer Lehrer, ein Rabbi, der als Mensch auf Erden eindrucksvoll wirkte, oder aber war er das göttliche Wort, das von Anfang an bei Gott und mit Gott identisch war?18 Muss man als Christ das Gesetz Gottes, die Tora, beachten und wenn ja, in welchem Umfang? War dieser Anspruch mit dem Judentum unvereinbar?

In der Mitte des 2. Jahrhunderts geriet die kanonische Geltung des Alten Testaments durch das energische Wirken einer Person in eine massive Krise. Die Quellenlage über Markion ist leider schlecht und nicht eindeutig. Adolf von Harnack hat sich das knappe Material so zurechtgelegt: »Der christliche Gottesbegriff muß […] ausschließlich und völlig restlos nach der Erlösung durch Christus festgestellt werden. Also kann und darf Gott nichts anderes sein als das Gute im Sinne der barmherzigen und erlösenden Liebe. Alles Übrige ist streng auszuscheiden: Gott ist nicht der Schöpfer, nicht der Gesetzgeber, nicht der Richter, er zürnt und straft auch nicht, sondern er ist ausschließlich die verkörperte, erlösende und beseligende Liebe.«19 Nach Winrich Löhr20 ging es Markion nicht primär um eine Ablehnung des Alten Testaments, sondern eher um eine Ablehnung dieser Welt voller Leiden, Krieg und Gewalt als guter Schöpfung. Markion sah das Alte Testament ganz überwiegend mit dieser Erde als dem fehlerbeladenen Produkt eines schwachen Demiurgen befasst; er aber sehnte sich nach einer besseren Welt ohne Leiden und ohne Tod. Dafür hätte er sich auch auf das Alte Testament berufen können, etwa auf Jes 25 oder Jes 66, aber er verwarf das jetzt Seiende als missglückten Versuch und zugleich damit Jhwh »den Schöpfer des Himmels und der Erde« als gescheiterten Halbgott. Jesus habe einen neuen, bis dahin unbekannten Gott der Liebe geoffenbart. Die Reaktion der Großkirche auf die gnostische Weltverachtung war jedoch eine starke Gegenbewegung gegen Markion und die nachdrückliche Anerkennung der guten Schöpfung Gottes in Gestalt der Kanonisierung des gesamten Bestandes autoritativer Schriften des Judentums, freilich nach dem Umfang und der Ordnung der Septuaginta.

Mit dem Siegeszug der Lehre vom vierfachen Schriftsinn etablierte sich die Allegorie als hermeneutischer Schlüssel zum Alten Testament, und in der Alten Kirche beruhigten sich damit alle Widerstände gegen das Alte Testament. Von der Spätantike durch das gesamte Mittelalter hindurch lag das Alte Testament in völliger christologischer Umdeutung bzw. in typologischer Entsprechung niemandem wirklich mehr quer und seine Zugehörigkeit zum Kanon war daher unangefochten. Allerdings konnte das Alte Testament nicht sein eigenes Wort sagen, sondern bekam großflächig die christliche Dogmatik untergeschoben bzw. übergestülpt.

Die Probleme brachen erst wieder im 16. Jahrhundert mit der Reformation auf, welche neben vielem anderen auch eine ganz neue Wissenschaftstheorie und Hermeneutik mit sich brachte. Als humanistisch gebildete Gelehrte wollten die Reformatoren zurück zum Literalsinn (jedenfalls zu dem, was sie dafür hielten) und entdeckten so die Distanz zwischen den Testamenten; sie gaben eine großflächige und damit oberflächliche Betrachtung des Alten Testaments wie auch des Neuen Testaments auf und stellten auch die Unterschiede der jeweiligen Textcorpora heraus, aber auch die unterschiedlichen theologischen Höhenlagen innerhalb der beiden Testamente! Luther konnte sich auf dieser Basis ebenso heftig von der Tora als »der Juden Sachsenspiegel« distanzieren wie auch vom Jakobusbrief als einer »strohernen Epistel« oder von der Apokalypse des Johannes: »Mein Geist kann sich in dies Buch nicht schicken.«21 Calvin schätzte das Alte Testament höher und predigte es entsprechend umfassend, weil es ihm zufolge viel mehr in den Alltag der Welt eingreift und somit entscheidende Impulse zur Heiligung des Lebens gibt. Insgesamt hat die Reformation mit der Hochschätzung der Schrift als norma normans und der verbindlichen Einführung von Hebräisch als Teil der Theologenausbildung sehr viel und nachhaltig positiv Wirksames für das Alte Testament getan. An eine Degradierung des gesamten Alten Testaments auf das Niveau der Apokryphen hat niemand gedacht.

Eine neue Krise brach im 18. Jahrhundert mit der Aufklärung herein. Die Aufklärung betrachtete die Religion unter dem alleinigen Aspekt der Moral. Als pars pro toto sei hier an Hermann Samuel Reimarus erinnert. Mit seiner »Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes«, die Lessing ab 1774 stückweise anonym als »Fragmente eines Ungenannten«22 herausgab, schüttete er Hohn und Spott über das Alte Testament. Gemessen an seinen rationalen Kriterien war diese jüdische Schrift für Reimarus moralisch minderwertig; sie enthielt nach seiner Auffassung keine ewigen Vernunftwahrheiten, sondern nur zufällige Geschichtswahrheiten von eher abstoßendem Charakter. Ganz ähnlich votierte die Gallionsfigur der Aufklärung, Immanuel Kant. Berühmt ist sein vernichtendes Urteil über die Aqeda: »Dass ich meinen guten Sohn nicht töten solle, ist ganz gewiss; dass aber du, der du mir erscheinst, Gott seist, davon bin ich nicht gewiss und kann es auch nicht werden, wenn sie die Stimme auch vom (sichtbaren) Himmel herabschallete.«23 Dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs kommt in diesem gedanklichen Kontext keine andere Funktion zu als diejenige des schwarzen Hintergrunds für Kants eigenen Gott, das moralische Gesetz. Vom Ungeist barbarischer Stammesbräuche aus dem Alten Testament wie Beschneidung und Heiliger Krieg sei das Judentum bis heute bestimmt. Das erkläre seine Schädlichkeit für die zivilisierte Gesellschaft. Erst wenn der Geist des Alten Testaments im Wesen des Judentums abgestorben wäre, könnten Juden Bürger einer moralisch geleiteten Gesellschaft werden.24 (Als einen solchen Bürger achtete Kant wohl Moses Mendelssohn.) Allerdings haben diese moralistischen Attacken wiederum Gegenbewegungen erzeugt, die zum einen aufzeigen wollten, wie sehr auch im Alten Testament eine Religion der Vernunft beinhaltet sei, die zum andern aber argumentierten, dass sich in der hochnäsigen Kritik letztlich nur das lebensferne ethische Empfinden von Königsberger und Hamburger Groß- und Spießbürgern spiegelte. Das geschichtsvergessene, und daher sündenvergessene Elend der Transzendentalphilosophie sowie des Idealismus trat alsbald zutage und brachte Gegenbewegungen hervor, zum einen in der Romantik, zum anderen in der Existenzphilosophie: Dort wurde das Alte Testament wegen seiner unverbildeten Urtümlichkeit geliebt, hier wurde das Alte Testament wegen seines Realismus hoch verehrt und geliebt. Ich zitiere exemplarisch Sören Kierkegaard:

Darum kehrt meine Seele stets zurück zum Alten Testament und zu Shakespeare. Da fühlt man doch, daß es Menschen sind, die da sprechen; da hasst man, da liebt man, mordet seinen Feind, verflucht seine Nachkommenschaft durch alle Geschlechter, da sündigt man.25

Emotionalität, archaische Leidenschaftlichkeit und existentielle Abgründe, d.h. die »radikale Geschichtlichkeit menschlicher Existenz« begegnen im Alten Testament – wahres Leben statt dürrer Konstrukte von angeblich ewigen Wahrheiten – und das faszinierte.

Dennoch kam es mit der liberalen Theologie eines Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher zu einer erneuten tiefen Krise. Schleiermacher kam (wie Markion) stark von Platon her und fand daher keinen Zugang zur Welt des Alten Testaments, obgleich Werke wie Hiob oder Kohelet in seinem Gemüte doch eigentlich eine eigene Provinz hätten finden müssen. Aber für ihn war das gegenwärtige Selbstbewusstsein (letztlich also sein eigenes Ich) das Kriterium der Geltung, keineswegs ein Schriftprinzip.

Die zweifelsohne schroffste Krise aber brach auf, als sich die Frage nach der kanonischen Geltung des Alten Testaments im 20. Jahrhundert mit dem rassisch begründeten Antisemitismus verband. Namentlich in Deutschland unter der Herrschaft der Nationalsozialisten und der sogenannten Deutschen Christen sollte das Alte Testament in einem vielgestaltigen Prozess aus der universitären Ausbildung von Theologen verbannt werden, das Hebräische als Sprache nicht mehr nur »nicht verpflichtend«, sondern vielmehr »verboten« sein. Am 6. Mai 1939 wurde das »Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben« auf der Wartburg mit einer Feier eröffnet, mit Sitz in Eisenach.26 In den sechs Jahren seines Bestehens verfolgte das von protestantischen Theologen gegründete Institut sowohl politische als auch theologische Ziele. Orientiert an der antisemitisch-rassistischen Politik des NS-Regimes beabsichtigte das Institut die »Entjudung« der Kirche und entwickelte eine neue Interpretation der Bibel und der Liturgie. Ein Neues Testament, aus dem systematisch alle Bezüge zum Alten Testament und Judentum ausgemerzt waren, wurde unter dem Namen »Die Botschaft Gottes« auf den Markt gedrückt. Wissenschaftlicher Leiter des Instituts war Walter Grundmann (1906–1976), »Professor für Neues Testament und völkische Theologie« an der Universität Jena. In der Zeit dieses Versuches, das Alte Testament im wahrsten Sinne wegzumorden und zu verbrennen, erschien Benno Jakobs Genesis-Kommentar gerade rechtzeitig, um bei den ersten Bücherverbrennungen der Nazis ins Feuer geworfen zu werden. Für einige Jahre sah es so aus, als wäre das verbrecherische Unternehmen erfolgreich, aber es scheiterte und erzeugte nach dem Ende der Terrorherrschaft wiederum eine starke Gegenbewegung.

Der spätere Marburger Alttestamentler Ernst Würthwein hat in seinem 1934 veröffentlichten kurzen Aufsatz »Zum Kampf um das Alte Testament«27 eine scharfsinnige Analyse der theologischen Diskussion um das Alte Testament vorgetragen, die ich auch für unsere Gegenwart sehr bedeutsam halte. Für die damals abstruse Diskussion um das Alte Testament findet Würthwein drei Gründe: Erstens kritisiert er die fehlende »objektive Bekanntschaft« mit den Inhalten des Alten Testaments in seiner ganzen Breite und Fülle. Diese Unkenntnis erklärt zweitens »eine falsche Einstellung zum Alten Testament«, die sich vor allem darin äußert, dass einzelne Aspekte oder einzelne Texte zu Unrecht eine allzu große Rolle in der Diskussion spielen. Drittens wirft er denen, die das Alte Testament verteidigen wollen, vor, sie hätten »keine klare Vorstellung über die positive Bedeutung« des Alten Testaments. Um diesen Missständen zu begegnen, unterbreitet Würthwein drei Lösungsvorschläge: Dem Alten Testament muss erstens zu einer »objektiven Bekanntschaft« in seiner ganzen Bandbreite verholfen werden. Falsche oder zu Unrecht angeführte Argumente sollen zweitens korrigiert werden, und drittens und vor allem muss man sich über die wirkliche Relevanz des Alten Testaments für das Christentum im Klaren sein. Würthwein wehrt sich vehement gegen den Versuch, das Alte Testament zu verwerfen, das Neue Testament jedoch beizubehalten, weil seiner Meinung nach beide Testamente »in organischer Verbindung miteinander« stehen. Andererseits weist er auch die christologische Exegese als »unheilvolle Verzerrung« zurück. Das Kernproblem sieht er darin, dass die positive Bedeutung des Alten Testaments für den christlichen Glauben in der aktuellen Diskussion kaum behandelt wird. In einem anderen Aufsatz aus dem Jahr 1935 in der Festschrift für Georg Beer weist Würthwein erneut darauf hin, dass sich die Alttestamentliche Wissenschaft in einer Krise befindet, weil die Grundfragen ihrer eigenen Disziplin, und damit vor allem die Frage nach der Hermeneutik, lange sträflich vernachlässigt wurden.28 Die wissenschaftliche Zunft hat das Alte Testament immer nur als rein historisches Dokument betrachtet, das keine gegenwärtige Bedeutung hat. Würthwein fordert nun, dass man sich neu auf das Ziel alttestamentlicher Textarbeit besinnen muss. Mit Hilfe der historisch-kritischen Exegese soll die Botschaft der Texte des Alten Testaments richtig herausgearbeitet werden. Es sei ein Problem, dass man oft mit falschen Fragestellungen an die Texte herangegangen sei. Das Alte Testament muss für den Hörer und Leser eine aktuelle Bedeutung haben, ihn persönlich ansprechen und »vor die Existenzfrage« stellen. Würthwein erachtet das Alte Testament als notwendig, um das Christusgeschehen zu begreifen, warnt aber davor, das Alte Testament vom Neuen Testament her auszulegen, weil historisch gesehen dieses nur auf jenes hinweisen kann, nicht umgekehrt. Ziel der Alttestamentlichen Wissenschaft muss also nach Würthwein sein, das Alte Testament nicht nur als historisches Dokument zu betrachten, sondern es als uns heute angehendes Zeugnis auszulegen, »das Gehör und Gehorsam fordernd an uns herantritt«.

Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte die Bewertung des Alten Testaments einen heftigen Umschwung und die Alttestamentliche Wissenschaft auch im Zuge der in der Geschichte oft zu beobachtenden Märtyrer-Dynamik einen rasanten Aufstieg. Verfolgte und Geschundene werden häufig nachträglich mit gesteigerter Aufmerksamkeit und Ehrungen »entschädigt«. So stand für einige Jahre das Alte Testament als theologische Leitdisziplin da. Der jüdisch-christliche Dialog brachte ab den 1970er Jahren einen weiteren neuen Respekt vor Israel und seiner Tradition in die Kirchen und die Fakultäten hinein – zumindest theoretisch. Man konnte für einige Jahrzehnte glauben, dass die innere Abwehr und die Polemiken gegen das Alte Testament endgültig überwunden seien. Als ein Zeichen dafür kann auch die Revision der Perikopenordnung gelten, die ganz bewusst dem Alten Testament einen größeren Raum in den Gemeinden verschaffen soll.

Zieht man ein erstes Fazit, so zeigt sich, dass es in den 2.000 Jahren Christentumsgeschichte regelmäßig Bewegung und Gegenbewegung für und gegen das Alte Testament gab. Wenn man es etwas grob zuspitzt, dann ergibt sich diese Bewegung aus den jeweils vorherrschenden Definitionen von »Evangelium«. Auch wenn der exegetische Befund zeigt, dass die Trennungslinien nicht zwischen den Testamenten verlaufen, sondern innerhalb beider Testamente, manchmal sogar innerhalb eines Buches, finden sich doch immer wieder glatte Gegenüberstellungen, wobei jedes der beiden Testamente Opfer von Projektionen der jeweiligen Autoren wurde und wird. Es ist zu bedauern, dass immer und immer wieder formelhafte und pauschale und damit falsche Gleichsetzungen vorgenommen wurden und werden, wie die nachfolgende Tabelle veranschaulichen möchte:

Diese Gegenübersetzungen beruhen bei Licht besehen auf schematischem Schubladendenken und auf unzutreffenden »Idealisierungen«, die sowohl das Alte Testament ideologisch verkennen als aber auch (und in noch viel größerem Maße) die Botschaften des Neuen Testaments verzerren und weichzeichnen.

3. DER GEGENWÄRTIGEKAMPF UM DAS ALTETESTAMENT – DIEANGREIFER

Von vielen Seiten erfolgen in jüngster Zeit die aggressiven Abwertungen des Alten Testaments; aus den Bereichen Philosophie, Pädagogik, Psychologie, Biologie, Jurisprudenz, Soziologie, Politologie, Kulturanthropologie oder auch der Religionswissenschaft.29 Die Hauptvorwürfe gegen das Alte Testament lauteten immer wieder: Partikularismus, Gesetzlichkeit, Diesseitigkeit, Patriarchalismus, Gewaltverherrlichung, ein menschlich-allzumenschliches Gottesbild. Viele fordern die Abwertung und Abschaffung des Alten Testaments als kanonischer Urkunde des Christentums. Wenn man die Stimmen in diesem Chor der Kritiker – notgedrungen etwas grob – ordnet und strukturiert, ergeben sich für mich sechs verschiedene Klangfarben:30

(1) Die eine Stimme ist die der säkularen Aufklärung bzw. atheistischen Religionskritik. Religion erscheint grundsätzlich als Produkt der Unvernunft und des Aberglaubens. Das ist aber in dem Augenblick nicht mehr als »Privatsache« billigend hinzunehmen, wenn Religion Gewalt befördert. Genau in diesem Ruf steht aber das Alte Testament. Besonders nachhaltig hat der Vorwurf gewirkt, dass das Alte Testament die mosaische Unterscheidung von wahrer und falscher Religion begründet habe und damit die Verfolgung und Ausrottung von Anhängern der falschen Religion legitimiere (z.B. die Tötung der Stierverehrer in Ex 32,25–28, die Ermordung von Missionaren anderer Götter nach Dtn 13, die Abschlachtung der Baal-Propheten am Bach Kischon durch Elija, 1 Kön 18,40, oder Jehus Massenmord an Baal-Priestern in Samaria, 2 Kön 10,17–28). Die Absolutsetzung der eigenen monotheistischen Religion verhindere eine für den Frieden notwendige Selbstrelativierung und untergrabe jedwede Toleranz.31 Wo keine vernünftigen Grenzen gesetzt werden, da blühe der Fundamentalismus und Irrationalismus, und Religion wird zum Motor von Diktatur und Terror. Durch viele spektakuläre Ereignisse in der jüngsten Vergangenheit wird dieser Vorwurf zum gesellschaftlichen common sense. Nur zwei radikale Kritiker seien zitiert, die aber schlagartig deutlich machen, wie das Alte Testament im öffentlichen Diskurs diffamiert wird. Raymund Schwager (1935–2004) argumentiert:

In den alttestamentlichen Büchern finden sich über sechshundert Stellen, die ausdrücklich davon sprechen, dass Völker, Könige oder einzelne über andere hergefallen sind, sie vernichtet und getötet haben. […] An ungefähr tausend Stellen ist davon die Rede, dass der Zorn Jahwes entbrennt, dass er mit Tod und Untergang bestraft, wie ein fressendes Feuer Gericht hält, Rache nimmt und Vernichtung androht. […] Kein anderes Thema taucht so oft auf wie die Rede vom blutigen Wirken Gottes. […] Neben den vielen Texten, gemäß denen der Herr die Übeltäter dem Schwert der Bestrafer ausliefert, gibt es über hundert Stellen, in denen Jahwe ausdrücklich befiehlt, Menschen zu töten. […] er [ist] es, der befiehlt, menschliches Leben zu vernichten, der sein Volk wie Schlachtvieh preisgibt und die Menschen gegeneinander aufhetzt.32

Richard Dawkins (*1941) ereifert sich regelrecht und trägt alle negativen Seiten Jhwhs zu einem vernichtenden »Portrait« zusammen:

Der Gott des Alten Testaments ist die unangenehmste Gestalt der gesamten Dichtung: eifersüchtig und auch noch stolz drauf; ein kleinlicher, ungerechter, nachtragender Kontroll-Freak; ein rachsüchtiger, blutrünstiger ethnischer Säuberer; ein frauenfeindlicher, homophober, rassistischer, kinds- und völkermörderischer, ekliger, größenwahnsinniger, sadomasochistischer, launisch-boshafter Tyrann.33

Dawkins setzt alle Autoren des Alten Testaments auf eine Stufe und hält sie für naive Kreationisten und gefährliche Fundamentalisten. Dabei hat er keinen Sinn für innere Spannungen im Gottesbild; von historischen Wandlungen und situativen Verortungen von Aussagen weiß er nichts. Unter dem grellen Anstrich seiner »Wissenschaftlichkeit« schimmert so immer wieder seine schiere Ahnungslosigkeit durch.

Auch innerhalb der Theologie wird die historisch-kritische Exegese zum aufgeklärten Argument gegen das Alte Testament. Sehr zupackend geht Gerd Lüdemann (*1946) gegen jeden Geltungsanspruch des Alten Testaments vor. Seine Beweisführung ist rein geschichtswissenschaftlich. In »Altes Testament und christliche Kirche«34 wendet er die historisch-kritische Forschung radikal auf das Alte Testament an. Zunächst untersucht er als Neutestamentler den Gebrauch des Alten Testaments im Neuen Testament, der die gesamte Kirchengeschichte bis zur Aufklärung geprägt hat. Dann prüft er den »historischen Wert« des Alten Testaments. Diese Prüfung fällt sehr negativ aus, weil kein Buch Mose von Mose stammt, weil kein Psalm Davids von David, weil die allermeisten Prophetenworte nicht von den Propheten stammen, weil es keinen Exodus Israels aus Ägypten gegeben hat. Diese Ergebnisse (die allerdings Alttestamentlern nicht neu sind und die in dieser apodiktischen Gewissheit nicht seriös sind), erschüttern nach Meinung Lüdemanns die Grundfesten der durch Schrift und Bekenntnis definierten christlichen Kirchen, die sich auf ihren einmaligen historischen Ursprung berufen. Ein theologisch-normativer Gebrauch des Alten Testaments in der Kirche und der akademischen Theologie der Gegenwart beruht auf einem intellektuellen Salto mortale, was Lüdemann an Christoph Levin, Reinhard Kratz und Manfred Oeming illustriert. Gegen die historische Einsicht in die Fiktionalität von zahlreichen alttestamentlichen Überlieferungen könne man einfach keine Normativität behaupten.

Der Freiburger Psychologie-Professor Franz Buggle (1933–2011) hat sich ausführlich der Lektüre der Bibel gewidmet und kommt zu dem Resultat, dass sie »in zentralen Teilen ein gewalttätig-inhumanes Buch [und] als Grundlage einer heute verantwortbaren Ethik ungeeignet« sei.35 Sein moralisches Argument gegen die ganze Bibel ergibt sich daraus, dass es in beiden Testamenten etliche Stellen gibt, die den Genozid bejahen, abscheulichsten Strafphantasien huldigen, zum Schlachtfest an Ketzern, Andersgläubigen, sexuell Abweichenden, Geisteskranken, ja sogar an unbotmäßigen Söhnen und Töchtern aufrufen. Hervorzuheben ist, dass Buggle »die beliebte Unterscheidung zwischen dem Alten und dem Neuen Testament nicht gelten lässt, die fortschrittliche Theologen so feinsinnig zu machen pflegen, wenn sie argumentativ in die Bredouille kommen«.36 Die Blutspur, die das Christentum durch die Geschichte gezogen hat, ist nach Buggle keine Kette von Unfällen oder Verdrehungen, sondern gehe kausal genau aus der Moral hervor, welche die Bibel – auch das Neue Testament – in die Welt setze. Buggle stellt fest, »dass das Ausmaß der archaisch-sadistischen Grausamkeit im NT keinesfalls geringer ist und teilweise, etwa in der Lehre von den ewigen Höllenstrafen, das Alte Testament diesbezüglich noch übertrifft. Frauendiskriminierung, Verfolgung von Geisteskranken, Häretikern, Atheisten, Juden, Sklavenhaltung, Teufels- und Dämonenglauben werden gerade im NT massenhaft propagiert«.37 Dabei kann er ethisch positive Züge in diesem Teil der »Heiligen Schrift« durchaus würdigen.

(2) Laut klingt ferner die Kritik am Staat Israel. In früheren Jahrzehnten hatte Israel als eine Art gesellschaftliches Experiment, besonders in der Kibbuz-Bewegung, eine sehr viel bessere Akzeptanz in Deutschland, heute ist Israel geradezu zum »Buhmann« geworden. Das Alte Testament erscheint dabei als finsterer Faktor, der den Siedlern für ihre rechtswidrige Enteignungspolitik ein religiöses Fundament gebe (vgl. die Landbeschreibungen in Gen 15,18–21). Weil das Alte Testament und die biblische Archäologie politisch instrumentalisiert und für eine »Archäologie der Enteignung«38 in Anspruch genommen werde, trage es zur Verunmöglichung einer friedlichen Lösung des Nahost-Konfliktes zwischen Israelis und Palästinensern unrühmlich bei. Daher erhebt sich vielerorts auch Widerstand gegen Ausgrabungen in Israel und von Israelis: Wo immer jüdische Relikte ausgegraben werden, werde das als politische Legitimation für eine Beschlagnahmung von palästinensischem Land missbraucht. Auch die Vergeltungspolitik des Staates Israel, der auf Terrorattacken mit Gegenattacken antwortet, wird mit dem alttestamentlichen Grundsatz »Auge um Auge, Zahn um Zahn« zusammengefasst. Es wird so dargestellt, als verhindere das Alte Testament den Frieden im Nahen Osten. Nach dem »Kairos-Palästina-Dokument« von 2009, das nach seiner Veröffentlichung vom Ökumenischen Rat der Kirchen in verschiedene Sprachen übersetzt und verbreitet wurde, heißt es mit deutlichem Blick auf das Alte Testament, die Kirche müsse die Kraft der Liebe anstatt der Rache, die Kultur des Lebens statt des Todes bezeugen und dürfe kein ungerechtes politisches System unterstützen. Gegen die israelische Besetzung müsse Widerstand geleistet werden, aber mit Mitteln, die die Menschlichkeit der Feinde ansprechen und »im Antlitz des Feindes die Würde Gottes […] sehen«. Dem Bösen dürfe nicht mit Bösem widerstanden werden. Als Mittel des friedlichen Widerstandes werden wirtschaftliche Boykottmaßnahmen gegen alle »von der Besatzung hergestellten Güter« genannt.39

(3) Die Stimme der Feministischen Theologie ist zwar leiser geworden, sie ist aber immer noch sehr gut hörbar. »Die spezifischen Vater-Sohn-Erfahrungen, auf die die Begrifflichkeiten vieler Gleichnisse, Psalmen, Bekenntnisse und Gebete aufbauen, sind für Frauen zunächst einmal nicht erschließbar. Aus diesem Grunde fordern feministische Theologen und Theologinnen heutzutage die Wiederbelebung auch weiblicher und anderer, personaler und nicht personaler Gottesbilder.«40 Die krank machende Vorstellung von Gott als Mann führe unter anderem dazu, dass das Priesteramt im Alten Testament nur Männern vorbehalten sei.41

(4) Die feministische verbindet sich mit der psychologischen Kritik. Hanna Wolff (1910–2001)42 hat in einem rasanten, bewusst polemischen und von schroffen Urteilen geprägten Buch die psychischen Auswirkungen beleuchtet, welche die Zusammenstellung von Altem Testament und Neuem Testament gehabt hat. Ihre Hauptthese lautet, dass die christliche Selbstidentität durch die Einbeziehung des jüdischen, nichtchristlichen, ja widerchristlichen Alten Testaments verhindert werde. Neben anderen wird als Paradebeispiel für solchen christlichen Selbstverlust der Synodalbeschluss der Rheinischen Landeskirche zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden mit größter Schärfe angeprangert (vgl. 11–13 und 25f.): Christliche Theologie stehe hier wie sonst unter einem »Holocaust-Komplex« (vgl. 19ff.), unter neurotischem »Zwangsdenken« (12), versuche, sich »wie ein Schmarotzergewächs an das Judentum und seine religiösen Güter anzuranken« (23), und werde dadurch »eine zum Stöhnen elende Theologie« (26). Durch die Anerkennung des Alten Testaments als Teil des christlichen Kanons, durch die weithin alttestamentlich geprägte Sprache der neutestamentlichen Autoren sei von allem Anfang an der neue Wein Jesu in die alten Schläuche des Judentums gegossen worden und habe dadurch seinen spezifischen Eigengeschmack rasch verloren. Nur durch eine ausschließliche Orientierung am historischen Jesus könne das Christentum endlich zu sich selbst finden. Bisher sei das Neue, das Proprium Jesu selbst, in der neutestamentlichen Forschung unter massiver Rejudaisierung verschüttet, ja zum Teil in sein genaues Gegenteil verkehrt worden: Jesus, der allen Richtgeist ablehnte, sei zum patriarchalischen Weltenrichter verdreht worden (43–65). Jesu Glaube, der das Wort »Gnade« nicht einmal gekannt habe, sei zu einer patriarchalischen Gnaden- und Opferreligion umstilisiert worden (65–90), die ihren Gipfel in der intellektualistisch-unverständlichen paulinischen Rechtfertigungslehre finde (vgl. 84); Jesu dualistische Weltsicht, welche das Böse nicht von Gott ableitet, sondern von einer widergöttlichen Macht, sei wieder zurückgezwungen worden in den alttestamentlich-jüdischen Monismus, der mit einem patriarchalischen Gott rechnet, von dem Gutes und Böses kommt (90–117); obwohl Jesus am kollektiven Bundesgedanken völlig desinteressiert gewesen sei und mit seiner Betonung des Individuums gegen diesen geradezu protestiert habe, sei er zum Begründer des neuen Bundes umgedeutet worden (118–144); Jesu präsentische Zusage »Jetzt ist die Zeit erfüllt« sei zeitlich und räumlich abgedrängt und vom jüdischen Bild des fernen Patriarchengottes übertüncht worden (144–161); das krank machende patriarchalische Gottesbild, das Gut und Böse, Gerechtigkeit und Liebe in verwirrender Weise harmonisiere, sei ins Christentum übernommen worden, obgleich es mit jesuanischen Grundpositionen unvereinbar sei (162–192). Diese Erkenntnisse lassen nach Wolff nur eine Schlussfolgerung zu: Markion (»ein genialer Christ«) und Harnack (vgl. 189) hatten recht! »Es ist für Christen absolut unmöglich, das Alte Testament weiterhin als ihre heilige Schrift und Grundlage ihres Glaubens anzuerkennen« (189). Das Alte Testament sei wie die Apokryphen gut und nützlich zu lesen, der Heiligen Schrift aber nicht gleichzuachten. Christliche Theologie müsse sich vielmehr auf das echt Jesuanische besinnen und konzentrieren, das durch eine Exegese des Gleichnisses vom verlorenen Sohn (193–223) exemplifiziert wird, um endlich zu wahrer Selbstidentität zu finden. Wolff konstruiert zu diesem Zweck – wie manche Theologen vor ihr – einen angeblich »historischen Jesus«, der sich vom krank machenden Gott Israels völlig getrennt habe. Jesu Religiosität sei völlig anders gewesen als die seiner jüdischen Umwelt. Er habe keinen Gerichtsgedanken gekannt, habe den Begriff der Gnade völlig überwunden, habe einen deutlichen Dualismus gelehrt und gerade nicht geglaubt, dass das Gute und das Böse aus der Hand des einen Gottes kämen, er habe das Individuum gesehen und kein Bundeskollektiv, er habe einen nahen, sanften, gütigen, vergebenden und empathischen Gott gelehrt. Um ihre eigene Identität zu gewinnen, betreibt Frau Wolff eine Verzerrung und Pathologisierung des Anderen, des »jüdischen« Gegners sowie auch der geschichtlichen Fakten. Wie es in der Jesus-Forschung in aller Regel der Fall ist, ist der angeblich »historische« Jesus ein reines Wunschprodukt der Projektion. Dieser Wolffs-Mann ist gewiss nicht der historische Jesus, sondern wieder einmal ein selbst erschaffener Wunsch-Jesus, der nichts anderes belegen soll als das, was schon immer der Lieblingsgedanke seiner Erfinderin war. Das Alte Testament wird als Projektionsfläche missbraucht.

(5) Auch aus der Riege der Systematischen Theologen erheben sich warnende Stimmen: Klaus-Peter Jörns (*1939) ist in mehreren Schriften ganz durchdrungen von der Verteidigung der Liebe Gottes. Er ist überzeugt, dass die Liebe Gottes, wie sie Jesus verkündet und gelebt hat, ganz aus Gott selbst kommt. Sie ist Ausdruck der höchsten Freiheit Gottes und sie bedarf keiner Vorleistung. Ja, würde sich Gottes Liebe auf irgendeine Vorleistung wie ein stellvertretend gebrachtes Opfer, gar ein Menschenopfer, berufen, wäre sie keine un-bedingte Liebe, sondern wieder eine bedingte, abhängige, und das heißt in religionsgeschichtlicher Perspektive: eine gewöhnliche Liebe. Darum ist das Alte Testament eine Störung und im Grunde eine Beleidigung der Liebe Gottes und muss notwendigerweise verabschiedet werden.43

Falk Wagner (1939–1998) vertritt die These, dass in der Moderne das reformatorische Schriftprinzip völlig unhaltbar geworden sei und folgert daraus, dass man die Bibel ganz aus der (heute verbindlichen) Theologie verabschieden sollte. Dazu wird zunächst die Kanonizität des Alten Testaments infrage gestellt. Denn indem »die christliche Theologie den ›Vater‹ Jesu Christi immer wieder auf Jahwe, den Gott des Alten Testaments, beziehen will«, wird im Grunde der »mit der Trinität und der Christologie zum Ausdruck gebrachten Revolutionierung des Gottesgedankens die Spitze abgebrochen«.44 Dieser Distanzierung des Christentums vom Alten Testament folgt konsequenterweise die Reduktion der Bedeutung des Neuen Testaments auf die rein historische Dimension: »Die Behauptung, die historischen Anfänge des Christentums verbürgten zugleich seinen normativen Ursprung und seine die Zeiten überdauernde Geltung, lässt sich argumentativ nicht rechtfertigen«.45 Durch eine an Hegel erinnernde bewusstseinsphilosophische Neuformulierung des christologischen Dogmas will Wagner die Quelle der Autorität und Klarheit der Theologie nicht mehr aus der Schrift erheben, sondern im rationalen und autonomen Glauben des Individuums verankern.

Sebastian Moll (*1980)46 sieht als Kirchenhistoriker eine Linie von Ignatius von Antiochien über den Barnabasbrief hin zu Markion, Justin dem Märtyrer, Ptolemäus und Irenäus von Lyon. Zunächst wurde versucht, die Gegensätze zwischen dem Alten Testament und dem sich allmählich formierenden Christentum abzudämpfen, indem zum Beispiel aus dem Verbot, Schweinefleisch zu essen, ethisierend-allegorisierend das Verbot gemacht wurde, sich so zu benehmen wie ein Schwein. Markion aber habe die Antinomien nicht mehr kaschieren wollen, sondern habe sie in seinen »Antithesen« klar formuliert. Nach Moll erweist sich Markion als ein (nahezu pathologischer) Fanatiker, der von großem Hass gegen die Schöpfung getrieben war. Ihn musste man stoppen. Aber von Harnacks Form der Geltungsreflexion über das Alte Testament und seine Forderung nach Abschaffung seiner kanonischen Geltung sei die einzige heute vertretbare Hermeneutik des Alten Testaments.

(6) Wenn es um die Relativierung der Bedeutung des Alten Testaments geht, darf die Stimme mancher Kirchenleitungen nicht vergessen werden. Ich selbst habe öfters schwierige Predigten von Kirche Leitenden anhören müssen, die das Alte Testament als dunkle Folie nutzten, von der sich das Neue Testament lichtvoll absetze. So zum Beispiel die Predigt von Landesbischof Ulrich Fischer zum 450. Jubiläum des Heidelberger Katechismus, der den Gedanken des Sündenbocks von Lev 16 schroff zurückweist: »Opfertiere, Sündenböcke haben wir nicht mehr – wie im alten Israel –, auf die wir unsere Unreinheit und Schuld übertragen könnten! Wie gut tut es dann zu wissen: Im Leiden Christi leidet Gott selbst mit uns. […] Gott hat am Kreuz von Golgatha auch unsere Sünden weggenommen. Befreit von der Macht der Sünde können wir leben.«47 Dabei bemerkt er nicht, dass er genau den Gedanken, den er zuvor brüsk abweist, sogleich wieder hineinnimmt und beim Abendmahl zum Abendmahlsbecher das traditionelle Spendewort sagt: »Christi Blut, für dich vergossen«. Oder auf der Homepage der Badischen Kirche wurde zum Boykott von Waren aus den besetzten Gebieten aufgerufen. Da aber Waren aus Israel diese Unterscheidung gar nicht aufweisen, führte dies de facto zu einem Kauf-Boykott gegen Israel. Oder ich musste erleben, dass ein Synodal-Protokoll gefälscht wurde: Ein Vortrag, den ich anlässlich der »Dekade zur Überwindung von Gewalt« vor der Landessynode im Oktober 2006 in Bad Herrenalb gehalten habe, der davor warnte, diese Dekade nicht zu einer »Dekade zur Überwindung des Alten Testaments« zu machen, sondern auch die Sinnhaftigkeit der dunklen Seiten Gottes zu sehen und im Begriff der »Gewalt« auch positive Aspekte anzuerkennen, wurde samt Diskussion darum im Protokoll der Herbstsynode nicht abgedruckt. Oder im Berliner Dom habe ich 19. Februar 2012 eine Predigt von Mitri Raheb gehört, die verkündet, dass Jesus heute gegen Israel aufstehen würde. Heute wäre Jesus ein Palästinenser.48 Der Pfarrer aus Betlehem wird in der Kirche hoch geehrt. Oder es ist mir auch schon mehrfach passiert, dass Predigende die vorgesehene Perikope aus dem Alten Testament einfach nicht genommen haben, sondern über einen Text des Neuen Testaments gepredigt haben. Als Erläuterung auf meine Nachfrage bekam ich zu hören: »Ich habe aus dem jüdisch-christlichen Dialog gelernt, dass das Alte Testament den Juden allein gehört.«

(7) Nachdem also viele Male und auf vielerlei Weise die Forderung nach einer Abwertung des Alten Testaments erhoben wurde, hat nun auch Notger Slenczka (*1960) zu uns gesprochen. Er hat 2013 einen Aufsatz publiziert,49 der ein erstaunliches Echo gefunden hat. In umfänglichen Referaten von Schleiermacher, Harnack und Bultmann50 macht er wie die anderen Kritiker folgenden Vorschlag: »Das Alte Testament ist ein vorchristliches Buch, Zeugnis der Religion, von der die ersten Christen herkommen, in der sie aufgewachsen sind, bis sie Jesus Christus, bzw. der Verkündigung von Jesus Christus begegneten. Das Alte Testament ist also nicht Zeugnis von Christus oder vom Dreieinigen Gott. Diese vorchristliche Gotteserfahrung wird dann in den Texten des Neuen Testaments nicht einfach aufgenommen und bestätigt, sondern wie eben beschrieben umgebrochen und neu gedeutet. Für die Christen heute ist das Alte Testament damit nicht Christuszeugnis oder Zeugnis vom Dreieinigen Gott, sondern Zeugnis der vorchristlichen Gotteserfahrung, die aber nicht nur dort formuliert ist, sondern die auch in philosophischen oder sonstigen gegenwärtigen Weltdeutungen zur Sprache kommt.«51 Daraus sei zu folgern, »dass das AT […] eine kanonische Geltung in der Kirche nicht haben sollte«52 und auch faktisch nicht hat bzw. »dass die Texte des AT zwar selektiv Wertschätzung und auch religiösen Gebrauch, nicht aber kanonischen Rang verdienen«.53 Das Alte Testament sei im Christentum nicht von gleichem Rang wie das Neue Testament, sondern es solle vielmehr denselben Status wie die sogenannten Apokryphen erhalten, die – mit Martin Luther gesprochen – »gut und nützlich zu lesen, aber der heiligen Schrift nicht gleich zu achten« seien. De facto hatte Luthers freihändige Kanonreform ja dazu geführt, dass die Apokryphen im Protestantismus weithin unbekannt wurden. Das Alte Testament sei deshalb dem Judentum zurückzugeben. Slenczka betonte dabei explizit, dass er dies im Unterschied zu anderen Christen nicht fordere, weil er das Alte Testament ablehne, sondern weil er es respektiere und es dem rechtmäßigen Eigentümer überlassen wolle.

Der Präsident des Koordinierungsrates der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit, Pfarrer Friedhelm Pieper, hat den Aufsatz von Slenczka in einem Rundschreiben des Verbandes zu einem »handfesten theologischen Skandal im gegenwärtigen deutschen Protestantismus« erklärt und entrüstet angeprangert. Daran schlossen sich breite öffentliche Diskussionen und fakultätsinterne Kämpfe an, die Slenczka einschließlich aller Attacken seiner Fakultätskollegen auf seiner Dienst-Homepage umfangreich dokumentiert.54 Die FAZ betitelte ihren Bericht über diese Vorgänge angesichts der tiefen Zerwürfnisse in der Berliner Fakultät wohl nicht unzutreffend: »Der Gott des Gemetzels«.55

Wenn man die Argumente von Slenczka auf dem Hintergrund der langen Geschichte der Diskussion der kanonischen Geltung betrachtet, dann ist zunächst festzustellen, wie »unoriginell die These ist, indem sie mit nur geringen Neujustierungen Argumente wiederholt, die sich bereits bei Friedrich Schleiermacher, Adolf von Harnack, Emanuel Hirsch, Rudolf Bultmann, Wolfgang Trillhaas, Falk Wagner und anderen finden«.56 Ich erkenne nur vier halbwegs neue Elemente:

(a) Die starke Betonung ausschließlich des Ursprungssinns. Die historischkritische Wissenschaft habe erwiesen, dass das Alte Testament vorchristlich sei, und diese Einsicht führe notwendig zur Erkenntnis seiner geschichtlichen Abständigkeit.

(b) Der christlich-jüdische Dialog habe die Einsicht hervorgetrieben, dass die christliche Vereinnahmung des Alten Testaments unangemessen sei und es dem Judentum zurückgegeben werden müsse. Weil Slenczka für Israel denkt, deswegen ist er gegen