Herzschmerz mit Betonschuhen - Sandra Busch - E-Book

Herzschmerz mit Betonschuhen E-Book

Sandra Busch

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Beschreibung

Nics Leben ist voller Probleme. Und es wird nicht besser, als er für das Start-up-Unternehmen Herzschmerz an einer Tür klingelt, um dem dortigen Bewohner im Auftrag seines Kunden das Beziehungs-Aus mitzuteilen. Denn ausgerechnet ein Mitglied der Hamburger Mafia öffnet ihm die Tür.

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Seitenzahl: 716

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Herzschmerz mit Betonschuhen

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen 2021

http://www.deadsoft.de

© the author

Cover: Irene Repp

http://www.daylinart.webnode.com

© pio3 – shutterstock.com

© piyawat23 – shutterstock.com

1. Auflage

ISBN 978-3-96089-460-5

ISBN 978-3-96089-461-2 (epub)

Inhalt:

Nics Leben ist voller Probleme. Und es wird nicht besser, als er für das Start-up-Unternehmen Herzschmerz

Kapitel 1

NICOLAS

Die Adresse war recht beeindruckend: Hamburg Harburg, Schlossinsel-Marina, An der Horeburg. Nun stand er vor dem Gebäude, das als Pearl bekannt und einst ein Silo gewesen war. Heute befanden sich hinter der geschlämmten Klinkerfassade exklusive Eigentumswohnungen mit Aussicht auf den Fluss. Es gab sogar eine hauseigene Steganlage zum Überwinterungshafen an der Süderelbe. Nicolas warf einen Blick auf den Zettel, wo er die Anschrift notiert hatte. Doch, er war hier richtig. Dabei war es kaum zu glauben, dass sein Auftrag ihn in einen dermaßen noblen Bezirk führte, in dem er sich völlig deplatziert vorkam. Bestimmt würde er es mit einem Mittvierziger zu tun bekommen. Einem Herrn mit dezenter Brille, Anzug und schütter werdendem Haar, an dessen Handgelenk eine goldene Rolex glänzte.

Leise bewegte er sich auf den Eingang zu, als könnten laute Schritte den Mitarbeiter einer Securityfirma herbeibeamen, der ihn am Kragen packen und ins Hafenbecken befördern würde, wo kleine Fische, wie er einer war, besser aufgehoben waren. Über sich selbst verwundert, schüttelte Nicolas den Kopf. Das fehlte noch, dass er sich von einem Gebäude einschüchtern ließ. Womöglich lag seine merkwürdige Gemütsverfassung am derzeitigen Schlafmangel. Er sollte sich lieber zusammenreißen und seinen Job erledigen, anstatt dem Pearl Löcher in die Fassade zu starren.

Er hatte Glück, denn ein Hausbewohner trat gerade ins Freie, sodass er in das Treppenhaus schlüpfen konnte, bevor die Tür ins Schloss fiel. Natürlich war das Pearl mit einem Fahrstuhl ausgestattet. Der war hell erleuchtet und roch auch nicht nach Pipi, altem Schweiß oder nassem Hund, wie er es bereits in etlichen anderen Aufzügen erlebt hatte. Ohne jegliches Gerüttel fuhr Nicolas in die siebte Etage und suchte kurz, bis er die richtige Wohnung gefunden hatte. Tief atmete er ein und schob seine Umhängetasche aus khakifarbenem Canvas zurecht, bevor er klingelte. An einem Samstagvormittag hoffte er auf gute Chancen, seinen Kunden anzutreffen. Und wirklich dauerte es nicht lange, bis er Schritte hörte, die sich näherten. Gleich darauf wurde die Tür von einer wahren Traumgestalt geöffnet. Der Mann war etwas älter als er selbst mit seinen dreiundzwanzig Jahren. Seine Füße und der Oberkörper mit den definierten Bauchmuskeln waren unbekleidet. Eine blaue Sporthose schmiegte sich regelrecht zärtlich um Hüften und Beine und wirkte edler als Nicolas‘ Jeans. Ein grünes Handtuch hing dem Fremden um den Hals. Seine dunklen Haare waren nass. Wahrscheinlich hatte er eben erst unter der Dusche gestanden. Das Gesicht war markant mit schmalen Lippen, einem leichten Höcker auf der Nase und einer kleinen, kaum sichtbaren Narbe auf der Stirn, die im Haaransatz verschwand.

Donnerwetter!

Der Kerl war hot und hatte definitiv nichts mit dem über Vierzigjährigen gemein, den er sich in seiner Fantasie ausgemalt hatte. Allerdings musste er sich in der Etage geirrt haben, weil ein dermaßen heißer Typ unmöglich sein Auftrag sein konnte. Sicherheitshalber überprüfte Nicolas das Klingelschild: K. Adler. Kein Zweifel, er war hier richtig. Erneut musterte er sprachlos sein Gegenüber.

Boah!

Mit dem machte jemand Schluss? Diejenige konnte echt nicht fit im Kopf sein.

„Ja?“ Der Traummann lehnte sich mit der Schulter gegen den Türrahmen und schaute ihn fragend an.

„Äh … Hallo.“ Nicolas räusperte sich. Nach wie vor war er fassungslos. „Herr Adler?“

„Ja, richtig. Kilian Adler. Und mit wem habe ich es zu tun?“ Die Stimme war wie Schokolade. Fest und glatt und voller Schmelz.

„Ich bin Nic von Herzschmerz.“

„Herzschmerz?“ Es folgte ein amüsiertes Schmunzeln.

„Ähem ... Genau. Ich habe eine Nachricht für Sie.“ Hastig faltete er das Blatt auseinander und drehte es richtig herum, um den Text lesen zu können. Die Botschaft war nicht gerade liebevoll, daher wich er sicherheitshalber einen Schritt zurück. Der Adler … Kilian … wirkte zwar nicht gewalttätig, trotzdem hatte er eine sportliche Figur und wer wusste schon, wie er sich bei einer Abfuhr verhielt. Besonders attraktive Leute reagierten mitunter geradezu hysterisch, wenn sie sich in ihrer Persönlichkeit angegriffen fühlten.

„Okay, schieß los.“

„Ja … Na klar. Mache ich.“ Er musste sich aufs Neue räuspern, bevor er vorlas: „Du bist das Allerletzte und ich hab von dir die Schnauze gestrichen voll. Verpiss dich aus meinem Leben. Deine Chris.“

Das war die ganze Botschaft. Und das Ende einer Liebschaft.

„Dein Chris“, korrigierte sein Auftrag recht gelassen.

„Wie … Wie bitte?“, stotterte Nicolas irritiert.

„Dein Chris. Die Abkürzung von Christian.“

Christian? Nicolas studierte seinen Zettel. Tatsächlich. Da stand Dein. Die Nachricht kam von einem Mann. Das konnte lediglich bedeuten, dass der Adler schwul war. Oder bi. Unwillkürlich sah er auf und direkt in die kühlen, braunen Augen seines Gegenübers. Prompt musste er schlucken.

Kilian musterte ihn belustigt. „Hast du ein Problem mit Homos?“

„Nö. Gar nicht.“ Er konnte ja unmöglich sein eigenes Problem sein, oder?

„Heißt das, dass Chris mit mir Schluss macht?“, erkundigte sich sein Gegenüber.

„Ja, genau. Verpiss dich ist ein ziemlich deutlicher Hinweis, oder?“

Kilian grinste. „Stimmt. Warum sagt er mir das nicht selbst?“

Nicolas zuckte mit den Schultern. „Unsere Kunden scheuen sich, persönlich Schluss zu machen. Dafür gibt es Herzschmerz. Wir übernehmen das stellvertretend.“

„Ich glaube eher, Chris hat einfach nur keine Lust auf eine Auseinandersetzung.“

„Oder das.“ Es war überraschend, wie viele keinen Bock hatten, selbst eine Beziehung zu beenden. Ihm konnte das egal sein. Seine Freundin Wolkje und er verdienten jedenfalls daran und aus ihrer anfänglichen Idee, an ein wenig Geld zu kommen, war ein netter Nebenjob geworden.

„Gibt man jetzt ein Trinkgeld?“, erkundigte sich Kilian. Er wirkte ziemlich ungerührt, dafür, dass er plötzlich ein Ex war.

„In der Regel nicht.“ Nicolas wandte sich zum Gehen, zögerte und sagte dann: „Es tut mir leid, dass es mit Chris nicht geklappt hat.“

Die Antwort bestand in einem gleichmütigen Schulterzucken. „Ich wusste nicht mal, dass wir eine Beziehung geführt haben. Daher danke ich für die aufschlussreiche Information.“

„Gern geschehen. Also … äh … Schönen Tag noch.“

„Dito.“

Die Tür schloss sich und Nicolas blieb nichts anderes übrig, als nach seinem peinlichen Herumgestottere das Haus zu verlassen. Draußen starrte er erneut am Gebäude empor. Die Fenster waren groß und vor den Loggien befanden sich gläserne Geländer, sodass die Räume garantiert sehr hell und luftig ausfielen und eine sensationelle Aussicht boten. Das war bestimmt schön. Wenn er hier wohnen könnte, würde er den lieben langen Tag auf der Loggia sitzen und das Panorama genießen. Er schnaufte belustigt. Eine Wohnung im Pearl war garantiert schweineteuer, selbst wenn man sie lediglich mietete. Unerschwinglich für ihn. Das bedeutete, dass dieser Kilian über ausreichend Kohle verfügen musste. Jemand, der wohlhabend und attraktiv war, hatte sicherlich zehn Kerle an jedem Finger. Kein Wunder, dass es den Typen kalt ließ, wenn ein Chris ihn zum Teufel wünschte. Wahrscheinlich hatte er längst den nächsten am Start.

Ein wenig neidisch drehte sich Nicolas um und machte sich auf den Weg zur S-Bahn. Die würde er nach knapp 20 Minuten Fußmarsch erreichen. Google-Maps hatte ihm zwar verraten, dass er die gesamte Strecke mit dem Rad in nahezu dergleichen Zeit hätte zurücklegen können, aber er hatte nicht völlig durchgeschwitzt bei einer so vornehmen Adresse auftauchen wollen. Für die Anwohner der Schlossinsel-Marina gab es selbstverständlich eine Tiefgarage, in der sie ihre flotten Sportwagen parken konnten. Mit einem Auto konnte Nicolas ebenfalls nicht aufwarten. Den Führerschein hatte er zwar gemacht, als er volljährig wurde, ein eigenes Fahrzeug war finanziell jedoch nicht drin. Ohnehin mussten er und seine Mutter jeden Cent umdrehen. Vielleicht hätte er die Chance ergreifen, sich an den reichen Kilian heranmachen und ihn nach der überbrachten Abfuhr trösten sollen. Allein bei dem Gedanken konnte sich Nicolas ein amüsiertes Auflachen nicht verkneifen. Er war eine blasse Sprotte. Einen wie ihn wollte niemand als Anhängsel haben. Den Kopf in den Nacken gelegt, versuchte er die Wohnung von Kilian Adler auszumachen. Vielleicht stand der inzwischen an einem der Fenster, in der Hand einen Pott Kaffee und schaute voller Melancholie in die Ferne, weil er von dem undankbaren Chris verschmäht wurde.

„Nee, der wirkte nicht, als ob er sich aus seinem Ex etwas machen würde“, murmelte er und trat ein paar Schritte rückwärts, drehte sich um und …

„Vorsicht!“

Zu spät. Er prallte gegen einen Passanten, geriet ins Stolpern und hielt sich instinktiv an den Schultern des Fremden fest. Harte Finger gruben sich in seine Arme, bis er das Gleichgewicht wiedergefunden hatte. Nicolas hob den Blick, um sich zu bedanken, und begegnete dunklen Augen, kalt und starr, wie die eines Hais.

„Ent… Entschuldigung“, stotterte er erschrocken.

Ein Mundwinkel seines Gegenübers zog sich kaum merklich in die Höhe. „Es ist ja nichts passiert.“

Gleich darauf wurde der Griff um Nicolas’ Arme sanfter, bevor er losgelassen wurde. Den Fremden umgab ein leichter Geruch nach Zigarren. Außerdem erinnerte ihn der Mann irgendwie an Lou Bega, da er einen cremefarbenen Hut und eine gleichfarbige Weste zu einem schwarzen Leinenhemd trug. Eine dicke weiße Perle schmückte ein Ohr. Nur das kleine Oberlippenbärtchen fehlte. Und es stand wohl auch nicht zu erwarten, dass er gleich Mambo No. 5 oder Angelina trällerte.

„Brauchst du Hilfe, Wuschel?“

Wuschel? War der bescheuert? Nicolas schluckte seinen Frust runter, ehe es aus ihm herausplatzte, was er von dieser Bezeichnung hielt. Das Lou Bega-Double besaß nämlich eine gewalttätige Ausstrahlung, die im starken Kontrast zu seiner geckenhaften Ausstaffierung stand.

„Nein, vielen Dank. Ich war in Gedanken. Tut mir leid, dass ich in Sie hineingelaufen bin.“

„Wie gesagt, es ist ja nichts passiert.“

Nicolas nickte, wandte sich um und ging eilig weiter.

Was für ein seltsamer Kerl, dachte er und stellte fest, dass er völlig die Zeit vergessen hatte. Verflixt! Er würde sich sputen müssen, um die Bahn zu erwischen, damit er zum nächsten Kunden kam.

KILIAN

Barfüßig lief Kilian ins Schlafzimmer. Er hätte sich über Christian geärgert, wenn es nicht eher zum Lachen gewesen wäre. Wie schnell sich Fickbekanntschaften einbildeten, eine Beziehung zu führen, wenn man sich mehr als dreimal miteinander zum Bumsen traf. Christian hatte keinen Hehl daraus gemacht, dass ihm die feinen Restaurants und noblen Clubs gefielen, in die Kilian ihn ausführte. Und er hatte sich seiner Begleitung gegenüber charmant und freigiebig gezeigt und auf diese Art offenbar suggeriert, an mehr interessiert zu sein. Damit war er selbst schuld, wenn Christian falsche Hoffnungen gehegt hatte und ihm nun mit Hilfe eines Boten zeigte, wie gekränkt er sich fühlte.

„Was juckt es mich“, sagte er mit einem gleichgültigen Achselzucken und öffnete dabei den Kleiderschrank. „Vergangen, vergessen, vorüber.“

Stinksauer musste Christian gewesen sein, dass Kilian keinen Bock mehr auf ihn hatte, jeden Anruf wegdrückte und Nachrichten unbeantwortet ließ. Letztendlich hatte er den Kerl geblockt und dessen Kontaktdaten aus dem Handy gelöscht. Dass Chris deswegen diesen stotternden Heini von Herzschmerz schickte, war nichts weiter als eine Retourkutsche, um quasi das letzte Wort zu behalten und behaupten zu können, er wäre derjenige gewesen, der Schluss gemacht hatte. Kindisches Getue. Kilian stand da drüber. Er hatte Sexpartner und die wechselten, sobald er keine Lust mehr auf den derzeitigen Lakenwärmer hatte. Pech für diejenigen, die nicht damit umgehen konnten.

Nachdem er sich in eine Jeans und ein weißes Hemd gekleidet und sich auf der Couch niedergelassen hatte, schaltete er seinen Laptop ein. Herzschmerz klang schnulzig, tauchte allerdings schnell in der Google-Suche auf. Im Impressum standen eine Wolkje Schober und ein Nicolas Silberbauer.

Sie wollen einen Schlussstrich ziehen? Wir überbringen die Nachricht.

Es war wirklich erstaunlich, womit die Leute heutzutage ihr Geld verdienten und dass eine solche Agentur wie Herzschmerz überhaupt von Kunden angenommen wurde. Er selbst wäre nie auf die Idee gekommen, einen Partner über Fremde abzuservieren. Dazu war er zu sehr ein Mann der Tat. Kilian lächelte müde. Das lag vermutlich an seinem Job.

Genug von Chris, Herzschmerz und einem kleinen, niedlichen Boten, der mit seinen Sommersprossen aussah, als hätte er über seinem Kakao niesen müssen. Kilian begann seine E-Mails abzurufen und Termine zu koordinieren, bis es wieder klingelte.

„Endlich“, stöhnte er und ging zur Tür, um zu öffnen. Gleich darauf spazierte sein kubanischer Freund Anier in die Wohnung, nahm den Hut ab und warf ihn auf die Couch.

„Du bist spät“, beschwerte sich Kilian.

„Der Verkehr.“ Anier ließ sich auf die Couch fallen. Er war wie üblich extravagant gekleidet und erweckte auf den ersten Blick den Eindruck eines albernen Dandys. Natürlich wusste es Kilian besser. An Anier war nichts albern.

„Ich hole meine Jacke und danach können wir von mir aus gleich starten. Schaltest du den Laptop aus?“

Als Anier nickte, suchte sich Kilian im Schlafzimmer ein leichtes Sommerjackett aus dem Schrank. Eigentlich wäre er viel lieber bloß in der schwarzen Jeans und dem schlichten weißen Hemd losgezogen, aber Onkel Georg bestand auf einen gewissen Dresscode. Zumindest was ihn anging. Anier dagegen genoss Narrenfreiheit, was wegen der besonderen Stellung, die er einnahm, kein Wunder war.

Zurück im Arbeitszimmer musste er feststellen, dass sein Freund vor dem Rechner saß. Und grinste. Breit grinste.

„Herzschmerz?“

Kilian zog ungehalten die Brauen zusammen. „Du kontrollierst meinen Browserverlauf?“

„Klar. Ich will schließlich wissen, auf welchen Schmuddelseiten du dich herumtreibst.“

„Holst du dir auf diese Weise Infos, wie man guten Sex hat?“

Anier lachte, ohne wirklich erheitert zu sein. Kilian behielt ihn scharf im Auge, denn ihm war nur zu gut bewusst, dass sich ein anderer mit dieser Bemerkung eine gebrochene Nase eingefangen hätte. Und selbst er durfte bei Anier nicht zu weit gehen. Er schnappte sich den Laptop, schaltete ihn aus und klappte den Deckel zu. Im nächsten Moment erstarrte er, da er den Körper des Freundes dicht hinter seinem fühlte. Warmer Atem traf auf seinen Nacken und unwillkürlich bekam er ein warnendes Ziehen im Bauch.

„Komm schon, Kill“, raunte ihm Anier leise ins Ohr. „Herzschmerz … Raus mit der Sprache.“

Kilian trat einen Schritt vor und entzog sich damit der unmittelbaren Nähe seines Freundes. Er legte den Laptop beiseite, ehe er sich umdrehte.

„Das geht dich nichts an.“

„Wie soll ich dich beschützen, wenn du Geheimnisse vor mir hast?“

„Ich kann auf mich selbst aufpassen.“

Aniers Miene sprach Bände, obwohl er den Mund hielt.

„Können wir endlich gehen? Onkel Georg wird sonst sauer.“

„Georg kennt mich.“

„Das ist mir bewusst. Ich bin es ja auch, der den Ärger einstecken darf. Vor ihm beschützt du mich übrigens nicht.“

„Niemand kann dich vor Georg beschützen.“ Anier hielt ihm die Tür auf und wenig später standen sie sich im Fahrstuhl gegenüber.

„Nun rück mit der Sprache raus“, sagte Anier. „Was ist dieses Herzschmerz?“

„Das ist meine Sache.“

„Ich könnte hinfahren und es direkt vor Ort herausfinden.“ Anier lächelte wie ein Kannibale, kurz bevor er die Zähne in das Fleisch seines Opfers schlagen würde. Sein Vorschlag war keine leere Drohung, wie Kilian wusste. Genervt seufzte er.

„Ich hatte eine Beziehung.“

„Ach was!“

„Und die hat über die Agentur Herzschmerz mit mir Schluss gemacht.“ Jetzt hätte er lautes Gelächter erwartet, doch Anier schüttelte bloß den Kopf.

„Wie armselig.“

„Ganz meine Meinung.“

„Ich meine dich.“

„Mich?“ Er folgte Anier aus dem Fahrstuhl und zu dessen Wagen, einem Ford Mustang. Es handelte sich um ein US-Modell mit einem 5,0-Liter-V8-Motor und sagenhaften 450 PS. Der Auspuffsound war dementsprechend und die knallige orangefarbene Lackierung alles andere als unauffällig.

„Anschnallen“, befahl Anier, als sie im Wagen saßen, und Kilian befolgte das Kommando. Der Mustang wurde auf die Straße gelenkt.

„Du versprichst den Kerlen zu viel.“ Sein Freund setzte das Gespräch nahtlos fort. „Führst sie in teure Restaurants oder Ausstellungen, machst kleine Geschenke … Und mit dem einen hattest du ein verträumtes Picknick, wenn ich mich nicht irre.“

„Was ist falsch daran?“, erkundigte sich Kilian, der eigentlich überhaupt keine Lust auf eine derartige Unterhaltung hatte.

„Es ist ja wohl logisch, dass die nach solchen Aktionen mehr von dir erwarten. Nämlich mindestens eine langfristige Beziehung. Zudem denken sie, dass sie mit dir das große Los gezogen haben. Du definierst von Anfang an nicht klar genug, was du von den Männern willst. Mach es wie ich: Ficken und Tschüss.“

„Entschuldige, dass ich kein so umwerfender Romantiker bin“, sagte Kilian sarkastisch und mit ätzender Stimme.

„Du bist halt unbewusst auf der Suche.“

„Hä?“

„Nach dem Richtigen. Nach jemandem, der die Leere an deiner Seite ausfüllt.“

„Spreche ich inzwischen mit Dr. Freud?“

„Nein, mit Anier Felipe Canosa. Der ist besser als Freud.“

Sie erreichten Winterhude und fuhren an den schicken Villen entlang, die an der Außenalster lagen.

Anier hupte, als ein Anwohner mit seinem Porsche ohne Rücksicht auf Verluste aus seiner Einfahrt schoss. „Wichser!“ Er setzte den Blinker, fuhr auf ein nebenliegendes Grundstück und parkte dort. „Georg wird im Garten sein.“

Sie stiegen aus und gingen an der hellbraunen Marmortreppe zum Haupteingang der strahlend weißen Villa vorbei, die 1890 errichtet worden war. Kilian schaute zu den Fenstern mit den säulenartigen Verzierungen hinauf. Lediglich das Dachgeschoss besaß eine moderne zwölf Meter lange Fensterfront. Sein Onkel hatte die Etage aufwendig ausbauen lassen, um Gäste unterbringen zu können. Kilian übernachtete dort selbst ab und zu.

Neben Anier, der das kleine einstige Kutscherhaus an der Rückfront der Villa bewohnte, schritt er gleich darauf über grünen Rasen, der einen Hauch länger war, als es der durchschnittliche Deutsche bevorzugte. Onkel Georg lief gerne barfuß und mochte das Gefühl frischen Grases unter seinen nackten Sohlen.

Sie fanden das Familienoberhaupt im Gewächshaus, wo es überflüssige Tomatentriebe abknipste und pralle rote Früchte in einen Korb erntete. Georg Adler trug ein weißes T-Shirt und darüber ein grünkariertes Hemd zu knielangen Jeans, die mit trendigen Rissen verziert war. Das jugendliche Outfit stand im Kontrast zu schneeweißen Haaren, einem von der Sonne gebräunten und von den Jahren zerfurchtes Gesicht sowie Augen, die wacher nicht sein konnten.

„Hallo, Onkel Georg.“ Kilian stibitzte sich eine Tomate und biss hinein. Saftig und dermaßen aromatisch, dass er sich gleich eine zweite greifen musste.

Sein Onkel strahlte ihn an und reichte Anier den Weidenkorb zum Halten. „Prima, oder nicht? Eine ziemlich alte Sorte. Ich will diesen genmanipulierten Schnickschnack nicht, der fad und nur nach Wasser schmeckt.“

„Hervorragend“, nuschelte Kilian mit vollem Mund.

„Ich lasse dir von Daniel frisches Gemüse in deine Wohnung bringen. Gurken und Zucchini sind reif. Mach dir einen Salat.“

Manchmal war es geradezu skurril, mit Onkel Georg über solche Dinge zu reden. Er war dann dermaßen … banal.

Da entdeckte er in einer Ecke zwischen Blumentöpfen und Gartenerde einen gefesselten und geknebelten Mann.

„Was ist mit dem?“, fragte Anier, der den Gefangenen ebenfalls musterte.

Georg musterte sein Opfer flüchtig. „Ich überlege noch, ob ich aus dem Kerl Dünger machen soll.“

„Wieso? Willst du Fleischtomaten züchten?“

Der Gefesselte war der Einzige, der nicht über den Witz lachte.

„Du hast mich sprechen wollen“, sagte Kilian.

„Ja.“ Ungerührt schnitt Georg ein weiteres Blatt ab. „Ich war gestern beim Notar und habe meinen Letzten Willen festhalten lassen.“

„Onkel …“

Georg unterbrach ihn. „Komm mir nicht mit Sprüchen, dass ich mindestens hundert Jahre leben werde. Das ist blanker Unfug. Ich will dich über meine Entscheidungen unterrichten, damit du über alles Bescheid weißt.“

Kilians Blick huschte zu Anier, der mit ausdruckslosem Gesicht den Korb für weitere gepflückte Tomaten parat hielt. Grüne mit gelblichen Streifen landeten neben den roten.

„Anier ist schon informiert“, sagte Georg, was Kilian nicht verwunderte. Außer ihm selbst stand Anier dem Onkel am nächsten.

„Du bekommst die Villa, Kilian. Ich weiß, wie sehr du das alte Haus liebst und dass du es nicht gleich unter den Hammer bringen wirst. Anier hat ein lebenslanges Wohnrecht im Kutscherhaus.“

Ihm sollte das großartige Haus gehören? Das war eine Überraschung.

„Und Vater? Ich dachte, die Villa geht in sein Eigentum über.“

Georg winkte ab. „Steffen ist in Belgien besser aufgehoben als in Deutschland. Eine Abschrift des Testaments ist an ihn unterwegs und er hat meine Entscheidung zu respektieren. Basta. Mein restliches Vermögen“, fuhr Georg fort, „wird zu gleichen Teilen zwischen dir, deinem Vater und Anier aufgeteilt. Der Fuhrpark, die Aktien und anderen Wertpapiere, die Ferienhäuser in Portugal, der Schweiz und auf Sylt. Und halt der ganze andere Kram. Das Geschäft übernimmst du, Kilian. Du kannst mit Menschen umgehen. Dein Vater ist zu wenig diplomatisch und meiner Meinung nach kann man nicht sämtliche Probleme mit einer Faust in die Fresse regeln.“ Georg sah ihn scharf an. „Was sagst du?“

Kilian fuhr sich durchs Haar. „Ich bin überwältigt, denke ich. Bist du dir mit den Entscheidungen sicher?“

Georg lächelte schmal. „Glaub mir, ich habe sorgfältig über jeden einzelnen Punkt nachgedacht.“

„Das ist mehr als großzügig.“

„Du wirst ein paar Jahre auf diese Großzügigkeit warten müssen. Ich bin nämlich topfit.“

Sie grinsten sich an.

„Du wirst reich sein“, stellte Anier fest.

Kilian zuckte mit den Schultern. Geld war ihm nicht wichtig. Wahrscheinlich, weil es ihm nie an welchem gemangelt hatte.

„Ihr werdet beide wohlhabende Männer sein.“ Georg tätschelte Aniers Oberarm. „Damit haben wir den familiären Teil erledigt. Kommen wir nun zum geschäftlichen. In der Semperstraße hat ein neuer Imbiss aufgemacht, in den Bordellen muss abkassiert werden und im Darthouse gibt es Ärger mit den Albanern.“ Georg zog ein angewidertes Gesicht. „Ich will, dass ihr das Problem beseitigt. Das ist mein Hamburg. Macht denen das deutlich. Ansonsten geht es diesem Abschaum wie Anatolij.“

Kilian erinnerte sich gut daran, wie die russische Mafia vor rund zehn Jahren den Versuch gestartet hatte, Georg aus dem Geschäft zu drängen. Der Krieg endete in einem Klassiker: Das Oberhaupt der Russen, Anatolij Winogradow landete mit Betonschuhen in der Alster. Direkt hier vor der Villa. Gelegentlich stand Kilians Onkel an der Hinrichtungsstätte und unterhielt sich mit dem Widersacher, wie andere ein Grab besuchten und mit ihren verstorbenen Angehörigen sprachen. Allerdings vermutete Kilian, dass Georg seinem Opfer wenig Schmeichelhaftes zu sagen hatte. Der Krieg zwischen den Mafiosi hatte auf beiden Seiten etliche Tote gefordert. Viele der Leichen waren dermaßen geschickt entsorgt worden, dass sie bis heute nicht gefunden worden waren. Die anderen hatten der Polizei einige Kopfschmerzen bereitet. Georg stand im berechtigten Verdacht, einer der großen Teilnehmer in dem Bandenkonflikt zu sein. Die Kripo war eine Zeit lang Dauergast in seinem Haus und sein Onkel hatte zahlreiche Verhöre auf dem Kommissariat über sich ergehen lassen müssen. Mit Pokermiene und flankiert von seinen beiden Anwälten spazierte er schließlich als freier Mann aus dem Polizeirevier, da man ihm nichts nachweisen konnte. Nachdem wieder Ruhe in Hamburgs Straßen eingekehrt war, verlief die Sache im Sande.

„Was gibt es bei dir Neues, Kilian?“

„Er hatte eine Beziehung“, verriet Anier, bevor Kilian den Mund aufmachen konnte.

„Ach was?“ Georg zog ein überraschtes Gesicht.

„Ich …“

„Aber der Typ hat ihn abserviert“, fuhr Anier gnadenlos fort und unterbrach damit Kilian in seinem Protest.

„Ist nicht wahr!“ Georg unterdrückte ein Schmunzeln.

„Du Arsch!“, zischte Kilian in Aniers Richtung. „Da war nichts mit einer Beziehung.“

„Stell dir vor, Georg, der hat über eine Agentur Schluss gemacht. Herzschmerz …“ Er fasste sich theatralisch an die Brust und Kilian boxte ihm gegen die Schulter. Tomaten flogen aus dem Korb, als Anier lachend zurücktaumelte.

„Kinder, Kinder“, murmelte Georg und bückte sich nach dem Gemüse. „Die bekommen bei eurer Herumalberei Druckstellen. Geht man auf diese Weise mit guter Nahrung um? Eine neue Agentur? Lohnt es sich?“

Kilian winkte ab. „Nicht der Mühe wert. Ein Zwei-Mann-Unternehmen offenbar aus einer Privatwohnung heraus und eher nebenbei als hauptberuflich. Ein Start-up-Unternehmen. Habe ich längst gecheckt.“

Georg hatte die Tomaten aufgesammelt und in den Korb zurückgelegt, den er Anier abnahm. „Du brauchst einen Mann an deiner Seite, Kilian. Ich kenne dich und weiß, dass du kein Typ für One-Night-Stands bist.“

Anier schaute Kilian mit einem Ich-hab’s-dir-ja-gesagt-Blick an. Doch er und Onkel Georg lagen falsch. Er wollte keinen festen Lover. Keine Klette am Hals, die ihm sagte, was er zu tun oder zu lassen hatte. Niemand, auf den er Rücksicht nehmen musste.

„Jetzt zieh nicht eine solche Grimasse, Kilian. Ich habe ohnehin recht, also spare dir deinen unsinnigen Protest. Verschwindet endlich und kümmert euch um eure Aufgaben. Versucht die Sache mit den Albanern möglichst ruhig zu regeln. Ich will keine Polizei.“

„Ist recht“, murmelte Kilian. „Und der da?“ Er deutete auf den Gefangenen, der verzweifelt an den Fesseln zerrte.

„Ist spätestens heute Abend Geschichte. Ich muss mir bloß noch ein passendes Ende ausdenken.“

„Okay. Mach’s gut.“ Er umarmte seinen Onkel, ließ sich gönnerhaft auf den Rücken klopfen und verließ gemeinsam mit Anier das Gewächshaus. Die frische Brise im Garten klärte ihm nach der stickigen Treibhausluft den Kopf. Er sollte Onkel Georg auf den Thron folgen.

Himmel!

Damit hätte er nie gerechnet.

KILIAN

Das neu eröffnete Homeland wirkte dank dunkler Tische in Baumstammoptik, frischen Blumen und farngrünen Wänden gemütlich. Gutbürgerliche kleine Mahlzeiten in Bioqualität sowie Tapas wurden zum Verzehr vor Ort angeboten, allerdings konnte man sich die Speisen auch liefern lassen. Kilian trat an die Theke, hinter der ein älterer Südländer mit weißer Schürze stand, und ihm geschäftstüchtig entgegen lächelte. Anier setze sich nahe der Tür an einen Tisch. An zwei weiteren saßen Gäste vor ihren Tellern und unterhielten sich beim Essen.

„Guten Tag, was kann ich für Sie tun?“, wurde Kilian gefragt.

„Die Frage ist eher, was ich für Sie tun kann“, antwortete er freundlich. „Mein Name ist Kilian Adler.“ Er streckte dem Mann die Hand entgegen, die dieser ein wenig irritiert schüttelte. „Sind Sie der Besitzer?“

„Ja, Pablo Quevedo.“

„Guten Tag, Herr Quevedo. Ich bin von der … Firma Adler und hätte Ihnen ein Sicherheitspaket für Ihren wirklich schönen Laden anzubieten.“

Das Lächeln des Inhabers ließ nach. „Sicherheit?“, fragte er argwöhnisch.

„Genau. Wir sorgen dafür, dass das Homeland nicht plötzlich wegen eines Kabelbrandes in Flammen aufgeht oder Kundschaft wegen dummer Gerüchte ausbleibt. Sollten Sie von Randalierern oder unliebsamen Gästen belästigt werden, bedarf es lediglich eines Anrufs und wir erledigen das Problem für Sie in Windeseile.“

Quevedo runzelte die Stirn. „Sie wollen mich erpressen?“

„Was für ein hässliches Wort“, entgegnete Kilian. „Zudem handelt es sich um keine Erpressung. Wir bieten Ihnen eine exklusive Dienstleistung rund um die Uhr, für lediglich zwanzig Prozent Ihrer Einnahmen. Sie haben Ärger mit irgendjemandem? Rufen Sie uns an und wir lösen das Problem. In Ihrem Laden tauchen Betrunkene auf, die randalieren? Wir sind unverzüglich zur Stelle und werfen die Kerle raus. Sie bekommen Probleme mit der albanischen Mafia? Na, was müssen Sie tun?“

„Sie anrufen?“, fragte Quevedo. Kleine Schweißperlen erschienen auf seiner Stirn, als würde er durch angestrengtes Denken überhitzen.

„Genau.“ Kilian strahlte den Mann an.

„Mafia?“, hakte der ängstlich nach.

„Richtig. Im Moment stellen die Albaner in Hamburg ein größeres Problem dar, dessen wir uns selbstverständlich annehmen. Als besonderen Bonus einer Zusammenarbeit mit dem Unternehmen Adler bieten wir Kredite an. Schnell und unkompliziert zu einem banküblichen Zinssatz, da wir sehr sicher sind, dass Sie den Kredit zurückzahlen werden.“

„Letztendlich läuft Ihr Angebot auf Schutzgelderpressung hinaus“, knurrte Quevedo in einem Anflug von Mut.

Kilian zuckte mit den Schultern. „Die Adler schicken keine Leute, die Ihren Laden mit einem Baseballschläger in der Hand stürmen, alles kurz und klein schlagen und Sie danach zwingen, einen monatlichen Obolus von vierzig bis sechzig Prozent abzudrücken. Für zwanzig Prozent bieten wir Ihnen obendrein einen ernstgemeinten Service an. Stellen Sie sich vor, Ihr Lieferwagen hat einen Unfall und ist danach schrottreif. Sie haben gerade neu eröffnet und in dieses Geschäft investiert. Glauben Sie, dass Sie seitens einer Bank einen weiteren Kredit für ein neues Auto bekommen?“

Quevedo schüttelte langsam den Kopf.

„Bei uns wäre das überhaupt kein Problem. Zudem zwinge ich Sie nicht, mit den Adlern einen Vertrag einzugehen. Die Entscheidung liegt bei Ihnen. Und sie muss nicht einmal gleich erfolgen.“ Kilian zog einen Aufkleber aus der Innentasche seines Sommersakkos. Darauf war ein Adlerschnabel zwischen ausgebreiteten Flügeln abgebildet. „Sprechen Sie heute in Ruhe mit Ihren Nachbarn und informieren sich über deren Erfahrungen mit unserem Unternehmen. Entscheiden Sie sich danach für uns, kleben Sie einfach diesen Sticker bis morgen früh oben rechts an Ihre Ladentür und wir bringen Ihnen die Vertragsunterlagen vorbei. Und zukünftig kostet der Apfelsaft bei Ihnen statt 2,50 € halt 3,00 €. Den Preis können Sie bei Bioprodukten ganz lässig erklären.“

Quevedos Blick huschte zu Anier hinüber, der vorsichtig, ohne sie abzureißen, an den Blütenblättern einer Margerite zupfte, die vor ihm in einer schlanken Vase aus buntem Glas stand.

„Mein Begleiter, Anier Canosa“, stellte Kilian vor. „Die rechte Hand der Familie Adler.“

„Was … Was geschieht, wenn ich nicht zustimme?“

„Warum wollen Sie sich darüber den Kopf zerbrechen? Herr Quevedo, wir sind keine Unmenschen. Reden Sie in aller Ruhe mit Ihren Nachbarn, schlafen eine Nacht darüber und vergessen Sie den Aufkleber nicht.“ Er schob den Sticker über den Tresen. „Herzlichen Glückwunsch zur Neueröffnung. Im Namen meiner Familie wünsche ich Ihnen viel Erfolg.“ Mit diesen Worten verließ er das Homeland, Anier an seiner Seite.

„Es roch sehr lecker aus der Küche. Wir hätten etwas essen können. Mein Magen knurrt nämlich.“ Anier sah auf seine Uhr. „Na bitte. Mittagszeit.“

„Wir essen im Darthouse. Oder hast du etwas gegen Frikadellen und Fritten einzuwenden?“

Anier brummelte Unverständliches und entriegelte den Wagen, damit sie einsteigen konnten. Nachdem sie sich angeschnallt hatten, fragte Kilian: „Was meinst du?“

„Morgen klebt der Adler.“

„Da stimme ich dir zu.“

„Der Mann hatte Angst.“

„Vor mir?“, wollte Kilian belustigt wissen.

„Vor meinem Messer“, antwortete Anier ernst.

Kilian tat entsetzt. „Du hast doch nicht etwa hinter meinem Rücken mit irgendwelchen Klingen herumgespielt?“

„Es ist jedes Mal ziemlich fad, wenn du Geschäftsgespräche führst.“

Sie grinsten sich an.

„Fahr los, Anier. Die Albaner tauchen gerne um diese Zeit bei unseren Kunden auf. Ich will sie möglichst auf frischer Tat ertappen. Dann ist dir zumindest nicht mehr langweilig.“

NICOLAS

„Hallo Nic. Hallo Dirk.“

Nicolas, der sich auf seinen karierten DIN A4-Block konzentriert hatte, hob den Kopf. „Hallo Thea.“

Die Pflegekraft lächelte ihm zu und trat an das Bett, in dem sein Vater lag. Dirk Silberbauer wirkte, als würde er lediglich friedlich schlafen. Und das tat er. Ausgiebig. Seit vier langen Jahren. Er musste künstlich ernährt werden und auf die Toilette konnte er selbstverständlich nicht. Dafür gab es einen Katheter. Atmen konnte er dagegen selbstständig. Nicolas bezweifelte, ob er die ganze Zeit das saugende Geräusch einer Beatmungsmaschine ertragen hätte. Routiniert kontrollierte Thea, ob alles seine Ordnung hatte, und wandte sich danach ihm zu.

„Bist du schon wieder fleißig?“

„Vorarbeiten für die Bachelorarbeit im nächsten Trimester“, gestand er. „Nur ein paar Notizen.“

Thea deutete skeptisch auf den Schreibblock. In seiner ordentlichen Handschrift reihten sich dort wahre Heerscharen von Paragraphen mit Verbindungsnachweisen und Randnummern zugehöriger Kommentierungen aneinander. „Notizen? Ein paar?“ Sie zog sich einen Stuhl heran, nahm die Hand seines Vaters und streichelte sie sanft. Das tat sie oft, wenn sie etwas Zeit entbehren konnte. Thea war Mitte fünfzig, mit grellrot gefärbten Haaren, die sich bis auf Kinnlänge in zahlreichen Löckchen ringelten. Nicolas mochte die Pflegerin sehr, die völlig in ihrem Beruf aufging und jeden Patienten samt dessen Angehörige unter ihre Fittiche nahm.

„Und? Wie kommst du voran?“

„Geht so. Wenn ich ehrlich bin, will ich mich eher ein bisschen auf übermorgen vorbereiten. Die vorlesungsfreie Zeit nutze ich, um ein Praktikum bei Weberlein & Stein zu machen. Das ist eine Kanzlei mit hervorragenden Referenzen. Und da will ich nicht wie der letzte Depp auftauchen.“

Die Krankenschwester zog die Brauen hoch. „Ein Depp bist du bestimmt nicht. Ich frage mich allerdings, wann du ein bisschen ausruhen willst, Nic.“

„Ausruhen kann ich, wenn ich tot bin.“ Unwillkürlich sah er zu seinem reglosen Vater hinüber.

Thea schüttelte lächelnd den Kopf. „Was bin ich froh, dass dieser leidige Ausbildungs- und Prüfungsstress weit, weit hinter mir liegt.“

Da ging es ihm völlig anders. Für ihn war die Hochschule ein Zufluchtsort. Zu Hause hielt er sich nur ungern auf. Darum war er häufig bei seinem Vater im Pflegeheim anzutreffen, der seit einem Unfall auf dem Bau im Koma lag. Fahrlässigkeit war an seinem Zustand schuld. Ein polnischer Gelegenheitsarbeiter hatte beim Aufbau des Gerüstes gepfuscht und Nicolas’ Vater arbeitete gerade auf Höhe des zweiten Stockwerks, als die Konstruktion in ihre Einzelteile zerfiel. Die vielen Knochenbrüche waren mit der Zeit geheilt, aber von der schweren Schädelverletzung hatte sich sein Paps bis heute nicht erholt. Die Firma, für die er gearbeitet hatte, war Pleite gegangen, nachdem der Unfall durch Sachverständige gründlich untersucht worden war. Die halbe Belegschaft hatte schwarzgearbeitet, Steuern und Sozialabgaben mussten nachgezahlt werden und die Gerichtsverhandlung brach dem Firmeninhaber sprichwörtlich das Genick. Etliche Klageverfahren liefen gegen ihn und wahrscheinlich würden sie fruchtlos verlaufen, denn er war in die Insolvenz gegangen. Von all dem wusste Nicolas’ Vater nichts, weil er seit tausendvierhundertneunundsiebzig Tagen schlief.

„Deine Mutter mag immer noch nicht kommen?“, fragte Thea in das entstandene Schweigen hinein.

Nicolas schüttelte den Kopf. Seine Mutter kam mit dem Unfall überhaupt nicht klar. Seitdem das Gerüst zusammengebrochen war, fiel auch ihre Psyche auseinander. Sie konnte nicht mehr arbeiten und somit landete ihre kleine Familie als Sozialfall beim Jobcenter.

„Das neue Gutachten über ihre mögliche Arbeitsfähigkeit kam gestern“, erzählte Nicolas leise. „Mama gilt für zwei weitere Jahre als nicht vermittelbar. Das Schlimme ist, dass sie es nicht begreift. Sie will gerne zurück in einen geregelten Job. Leider packt sie es nicht einmal, einen Einkaufszettel abzuarbeiten. Und jetzt kommt es richtig dicke: Es soll geprüft werden, ob sie einen Anspruch auf eine Erwerbsminderungsrente hat.“

„Wäre das wirklich eine solche Katastrophe?“

Er nickte. „Solange sie sich im Leistungsbezug des Jobcenters befindet, steht sie dem Arbeitsmarkt zumindest theoretisch zur Verfügung. Sie ist nicht vermittelbar, das ist vollkommen klar. Allerdings klammert sie sich an dieser Illusion fest. Sollte ihr die genommen werden, fällt Mama möglicherweise in das nächste Loch. Ich stehe da in regem Kontakt mit unserer Sachbearbeiterin. Der Hund liegt dummerweise darin begraben, dass das Jobcenter die Arbeitslosenstatistik schönen möchte. Jeder, der aus dem ALG-II-Bezug herausfällt, egal aus welchen Gründen, ist ein Gewinn für die Statistik.“ Er knurrte zornig. „Da werden Schicksale zu Zahlen degradiert. Unterm Strich bleibt man arbeitslos.“

Thea seufzte, erhob sich, stellte den Stuhl zurück und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Irgendwann wird sich bestimmt alles zum Guten wenden, Nic. Gib die Hoffnung nicht auf. Du bist viel zu jung, um dermaßen verbittert zu sein.“

Er schaute zu ihr auf. „Es tut mir leid, dass ich dir dauernd die Ohren vollheule. Du hast bereits mit deinen Patienten ein dickes Päckchen zu tragen.“

„Nein, das ist völlig in Ordnung. Einer muss dir ja zuhören. Und ich mache es gern. Ich wünschte bloß, ich könnte die Lösung für all deine Probleme aus meiner Hosentasche ziehen.“

Thea beugte sich vor und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. Das kam dermaßen unerwartet, dass Nicolas plötzlich mit den Tränen zu kämpfen hatte.

„Bleib nicht zu lange, okay? Dein Vater würde nicht wollen, dass du dein junges Leben im Pflegeheim verbringst. Jungs wie du sollten Party an der Alster machen, lachen, ab und an über die Stränge schlagen und sich mit ihrem Schmusi vergnügen.“ Sie zwinkerte ihm zu.

„Heute Abend treffe ich mich mit Folkmar.“

„Wie schön. Bei ihm kommst du gewiss auf andere Gedanken.“

Nicolas lächelte pflichtschuldig und winkte, als Thea an ihre Arbeit zurückkehrte.

„Mann, Papa! Es wäre echt toll, wenn du endlich aufwachen könntest“, sagte er mit einem Seufzen, bevor er sich erneut seinen Paragraphen und Querverweisen widmete. Hier im Pflegeheim war es wenigstens hell und er brauchte nicht zu befürchten, dass ihm etwas auf den Kopf fallen würde. In diesem Zimmer konnte er atmen und kam sich nicht eingeengt vor. Außerdem war er vor Ort, wenn sein Vater die Augen aufschlug und den Dornröschenschlaf von sich abschüttelte. Beinahe hätte Nicolas hysterisch gelacht. Die Chancen auf eine Heilung standen bei Minus zwei.

KILIAN

„Herr Adler! Ich bin froh, dass Sie kommen konnten.“

Kaum dass sie das Darthouse betreten hatten, eilte Paul Lüders, genannt Luder-Paule, auf sie zu. Sein Lokal hatte den Look einer verranzten Bretterkiste, trotzdem war es eine Kult-Kneipe. Hier wurden Dartturniere abgehalten, spielten Newcomer-Bands und trafen sich die Kiez-Nutten auf einen After-Work-Kaffee, den sie aus angeschlagenen Werbebechern schlürften. Das Ambiente war so furchtbar, dass es einen eigenen Charme entwickelte. Kilian fand die Kneipe genial. Hier fühlte er sich seltsamerweise wohl und daher besuchte er sie regelmäßig gemeinsam mit Anier.

„Waren die Albaner heute schon da?“, wollte sein Freund wissen.

Luder-Paule schüttelte den Kopf und schob sich die Brille mit den runden Gläsern höher auf die Nase. Seine Frisur wirkte wie verrutscht: vorne Glatze und hinten lange, graue Zotteln. Heute trug er ein blassblaues Flanellhemd, an dem er die Ärmel abgeschnitten hatte, und eine braune Cordhose, deren Beine ab Kniehöhe ebenfalls der Schere zum Opfer gefallen waren. Große Füße mit gelbhornigen Zehennägeln steckten in ausgetretenen Badelatschen.

„Prima. Wir warten“, teilte Anier ihm mit. „Bring uns Frikadellen und Fritten. Dazu Orangensaft.“

„Für mich ein Alkoholfreies.“ Kilian setzte sich auf einen Barhocker, während sich neben ihm Anier mit dem Rücken gegen den Tresen lehnte.

„Ich habe Kartoffelsalat. Selbstgemacht“, bot Paul beinahe schüchtern an.

„Nehme ich“, sagte Kilian und sofort schlurfte der skurrile Inhaber des Lokals in seine Küche.

„Und?“, fragte Anier. „Wie lange wollen wir warten?“

Kilian zuckte mit den Schultern und zog seine Jacke aus. „Keine Ahnung. Wenn wir Pech haben, tauchen die heute gar nicht auf. Lass uns erst in Ruhe essen.“

Paul kehrte zurück und stellte Anier ein Glas frisch gepressten Orangensaft und jedem ein Schälchen mit Gurkensalat hin.

„Den Gurkensalat gibt’s dazu. Der Rest kommt gleich. Die Pommes brauchen einen Moment.“ Aus einem Kühlschrank holte er ein alkoholfreies Bier, öffnete die Flasche und schob sie Kilian entgegen. „Ein Glas?“

Er schüttelte den Kopf. „Was war los?“

Paul seufzte und zerzauste sich die fettigen Haarsträhnen. „Die kamen gestern her und zerschlugen gleich zur Begrüßung einen der Tische.“ Er deutete auf die Stelle, wo das Möbelstück gestanden hatte. „Fünfundsechzig Prozent der Einnahmen wollen die. Das funktioniert nicht. Dann bin ich bankrott und muss denen mein Darthouse überlassen. Außerdem sehen die doch, dass der Adler an meiner Tür klebt. Was soll das also? Ich kann unmöglich zwei Herren dienen.“

„Wie viele waren es?“, erkundigte sich Anier.

„Drei. Den einen nannten sie Ajet.“

„Ajet.“ Anier nickte. Kilian kannte den Namen auch. Der Albaner war eine bekannte Nummer im Drogengeschäft und im Rotlichtmilieu. Zudem war er der Liebling von Ermal Heta, dem Boss der albanischen Organisation.

„Waffen?“, fragte Kilian.

Paul zuckte mit den Schultern. „Bestimmt. Glauben Sie mir, ich habe nicht nachgefragt. Stattdessen habe ich denen vernünftig zu erklären versucht, dass die Adler ihre Flügel über das Darthouse halten. Daraufhin haben die gelacht und gemeint, dass sich das ändern wird.“

„Gelacht?“ Anier zog eine Grimasse und nahm endlich neben Kilian Platz. „Denen wird das Lachen vergehen, wenn die sich mit uns anlegen wollen.“

„Ich bin echt froh, dass Sie sich nun der Sache annehmen.“ Sichtlich erleichtert kehrte Paul in die Küche zurück, um gleich darauf zwei Teller herbeizutragen. „Guten Hunger.“ Er stellte ihnen ihr Essen auf den Tresen. Das Darthouse mochte wie Luder-Paule selbst ranzig sein, auf die Küche traf dies nicht zu. Insbesondere die Frikadellen waren ein Geheimtipp. Sie schmeckten fantastisch. Kilian liebte sie und selbst Anier aß mit gutem Appetit. Sogar die Fritten waren genau richtig. Heiß, außen knusprig und innen weich, dazu perfekt gewürzt. Kilian stibitzte sich einen Schnitz und widmete sich danach dem Kartoffelsalat, bevor Anier in Versuchung geriet, ihm wegen des Mundraubs die Gabel in den Handrücken zu jagen.

„Weltklasse“, lobte er, woraufhin Pauls Gesicht strahlte.

Sie aßen in Ruhe und in Gedanken versunken, beobachteten ein paar Halbstarke, die leicht angetrunken eine Dartscheibe traktierten, und hörten dabei Musik von Queen, die aus den Lautsprechern dudelte.

„Stört es dich?“, fragte Kilian schließlich und schob den leer gegessenen Teller von sich.

„Was?“

„Dass ich das Anwesen erbe?“

Anier musterte ihn erstaunt. „Nein! Warum?“

„Na, weil du dort wohnst und täglich mit Onkel Georg zusammen bist. Ihr seid einander sehr nah.“

„Das ist richtig.“

„Und du bist wie ein Sohn für ihn.“

„Trotzdem bist du derjenige, der zur Familie gehört“, sagte Anier weiterhin ruhig.

„Von der du ein wichtiger Teil bist.“

Anier legte ihm eine Hand auf den Arm. „Das empfinde ich genauso. Du bist wie ein Bruder für mich, Kill.“

„Warum willst du dann ständig mit mir ins Bett? Ist das irgendein perverser Kink von dir?“

„Mich spricht halt jeder an, der sexy ist.“ Anier grinste dreckig und Kilian schüttelte den Kopf. Sein Kumpel war speziell und würde es bleiben. Das war so sicher wie die Tatsache, dass sich die Erde drehte. Onkel Georg hatte Anier vor zwanzig Jahren aus Kuba mitgebracht. Kilian hatte sich damals extrem anstrengen müssen, um mit dem fünf Jahre älteren Gefährten mitzuhalten, der wissbegierig die neue Heimat erkundete und gnadenlos seine Grenzen auslotete. Georg hatte den jungen Kubaner wie einen eigenen Sohn aufgezogen, eine Ausbildung angedeihen lassen und seine Talente gefördert. In Anier schlummerte nämlich ein Killer. Er genoss daher eine Scharfschützenausbildung und konnte zielgenau Messer werfen, besser als man es in irgendeiner Show erleben konnte. Kilian wusste, dass er Aniers einziger wirklicher Vertrauter und Weggefährte war, nichtsdestotrotz bekam selbst er gelegentlich Angst vor ihm. Dabei konnte er sich sicher sein, dass Anier jederzeit und ohne mit der Wimper zu zucken für ihn in den Tod gehen würde. Ihr Verhältnis zueinander war auf jeden Fall verzwickt zu nennen. Nur was war in ihrer Familie schon simpel?

Die Hand strich lockend an seinem Arm empor und legte sich auf seine Schulter, die sanft gedrückt wurde.

„Wir mögen fühlen wie Brüder, aber wir sind es nicht“, sagte Anier leise. „Was hindert uns also, Spaß miteinander zu haben?“

„Du bist nicht mein Typ“, knurrte Kilian, was eine recht durchschaubare Lüge war, und griff nach seiner Bierflasche, während sein Kamerad laut lachte.

„Du flunkerst!“

Kilian trank einen großen Schluck, bevor er resigniert erklärte: „Ich will mir die Möglichkeit offenhalten, dir weiterhin in die Augen sehen zu können.“

„Was würde dich davon abhalten?“

Kilian wischte die warme Hand von seiner Schulter. „Meine Achtung vor dir.“

Anier nahm den Hut ab und kratzte sich am Kopf. „Kapier ich nicht. Es geht lediglich um einen Schwanz und ein Loch und ein bisschen Vergnügen. Irgendwie verkomplizierst du alles.“

„Ist dir vielleicht mal in den Sinn gekommen, dass ich ein klein wenig anders ticke als du?“

„Du hast Wegwerffreunde, genau wie ich.“

„Und exakt das ist der Punkt. Ich will dich nicht behandeln wie einen Wegwerffreund.“

„Das ist ein Argument“, gab Anier langsam zu. „Dir liegt mehr an mir als bloß der Spaß einer Nacht.“

„Eben.“ Kilian atmete erleichtert auf. Endlich hatte Anier es begriffen.

„Dieses mehr hindert uns nicht …“

„ANIER!“

Der hob Friede heischend die Hände.

„Du bist echt unglaublich. Alles wird von dir gevögelt, was nicht bei drei auf einem Baum hockt.“ Und das stimmte, da Anier keinerlei Unterschied zwischen Männchen und Weibchen machte. Wer ihm gefiel, wurde umgarnt und endete entweder mit runtergelassener Hose oder hochgeschobenem Rock.

„Die Welt ist voller Versuchungen. Erst vorhin, als ich dich abholen wollte, lief mir etwas richtig Niedliches vor die Füße.“

„Ach ja?“

„Klein, blass, Sommersprossen, rotbraune Wuschellocken …“

Kilian horchte überrascht auf. „Den kenne ich.“

„Echt?“

„Das ist der Typ von Herzschmerz.“

„Oh! Der süße Twink hat dir die traurige Botschaft überbracht?“

„Anier, die Nachricht war nicht traurig.“ Allmählich nervte dieses Herumgehacke auf einer angeblichen Beziehung zu Christian, der tatsächlich nichts weiter als ein Wegwerffreund gewesen war.

„Da!“

„Hm?“

Anier deutete mit dem Kinn in Richtung der Tür. Drei Männer betraten gerade das Darthouse. Trotz der sommerlichen Wärme trugen sie schwere Lederjacken zu ihren Sonnenbrillen. Luder-Paule, der während ihres Gesprächs telefoniert und ein Bierfass der Zapfanlage ausgetauscht hatte, wurde blass. Sein Blick huschte Hilfe suchend zu ihnen. Beinahe unmerklich nickte Kilian. Sie würden eingreifen, allerdings wollte er zunächst hören, was die Albaner zu sagen hatten. Die fingen gar nicht erst mit irgendwelchem Vorgeplänkel an, sondern bauten sich unheilvoll vor Paul auf.

„Hast du das Geld?“ Einer der Lederjackenträger trat drohend auf Luder-Paule zu, bis er ihm beinahe auf den ungepflegten Füßen stand.

„N… nein.“ Paul schielte zu Kilian hinüber, was dem sonnengebräunten Kerl mit dem dunklen Bartschatten im Gesicht nicht entging.

„Was sind denn das für Figuren?“ Er stieß Paul grob beiseite und näherte sich ihnen. An der Dartscheibe wurde das Spiel abgebrochen. Die Halbstarken starrten herüber, spürten die Spannung in der Luft und schienen die Situation abzuchecken. Anier gab ihnen einen Wink zu verschwinden, was sie sich nicht zweimal sagen ließen. Hastig machten sie sich davon.

Kilian glitt gemächlich vom Barhocker. „Mit wem habe ich das Vergnügen?“

„Ajet Daci. Und was bist du für ein Held?“

„Kilian Adler.“

Sein Gegenüber erstarrte für den Bruchteil einer Sekunde. Im nächsten Moment breitete sich ein überhebliches Grinsen auf seinem Gesicht aus. „Der Neffe von dem alten Geier?“

„Ich merke, dass dir mein Name ein Begriff ist. Gehe ich recht in der Annahme, dass du dich für dein gestriges Verhalten entschuldigen und für den Schaden aufkommen willst?“

„Hör gut zu, du Küken. Das Darthouse gehört jetzt der Familie Heta. Mach, dass du dich verpisst, und nimm deinen Lakai mit.“ Ajet deutete auf Anier.

Kilian schüttelte in stiller Verzweiflung den Kopf. Lakai … Das war dumm. Ausgesprochen dumm. An seiner Seite hob Anier den Kopf. Es war, als hätte man ein schlafendes Monster geweckt, das sich nun gemächlich rührte.

Langsam rutschte Anier von dem Hocker und reichte Paul seinen Hut. „Halt das.“

Paul nahm die Kopfbedeckung entgegen. Seine Augen waren hinter der Brille riesig geworden.

„Lakai, ja?“, fragte Anier und musterte Ajet auf eine ähnliche Weise, wie man sonst angewidert ein besonders hässliches Insekt anschaute. Wie auf ein geheimes Zeichen hin zückten die Gegner ihre Springmesser und ließen die Klingen hervorschnellen.

Siegessicher grinste Ajet. „Genau. Nichts weiter als ein billiger Lak…“

Er konnte es nicht mehr aussprechen, weil Anier vorschnellte, sein Handgelenk packte und es brutal verdrehte. Es knackte. Das Messer polterte auf die Fliesen und Ajet brüllte auf. Kilian wirbelte auf dem linken Bein herum und trat mit rechts dem nächststehenden die Waffe aus den Fingern. Sein Schwinger folgte und traf den Mann mitten auf die Nase. Der schlug beide Hände schützend davor, krümmte sich und brach im nächsten Moment zusammen, als ihm Kilian die Fäuste in den Nacken hämmerte. In der Zwischenzeit hatte Anier den dritten mit einem geübten Hebelgriff zu Boden gebracht, wo er ihn mit derben Tritten traktierte, bis er den Albaner im Gesicht erwischte und Zähne spucken ließ. Das Ganze dauerte keine Minute, danach war die kurze Schlacht vorbei.

„Luschen“, brummte Kilian und rieb sich die Hand.

„Schlechte Ausbildung“, lautete Aniers Statement. Er packte Ajet an der Lederjacke und begann ihn abzutasten. Der grollte wütend, wehrte sich jedoch nicht. Stattdessen hielt er sein gebrochenes Handgelenk umklammert. Endlich entdeckte Anier eine Brieftasche und holte fünf Hundert-Euro-Scheine hervor. Drei davon reichte er Paul.

„Für einen neuen Tisch, die offene Rechnung der Dartspieler und für unser Essen. Herr Daci ist so freundlich und lädt uns ein.“ Das restliche Geld tat er in den Geldbeutel zurück, den er Ajet zuwarf. Der fing ihn an seiner Brust mit der unversehrten Hand auf.

„Haut ab“, sagte Kilian. „Und bestellt Ermal Heta einen schönen Gruß. Diese Stadt gehört den Adlern.“

Eines musste man Ajet lassen: Feige war er nicht. Er trat nämlich einen Schritt auf ihn zu und zischte: „Das werdet ihr zwei noch bereuen.“ Danach wandte er sich um, gab einem seiner am Boden liegenden Kumpel einen aufmunternden Tritt und scheuchte beide mit wüsten albanischen Flüchen auf die Füße. Stöhnend, wütend und mit weiteren derben Bemerkungen verließen sie das Darthouse. Hinter Kilian stieß jemand laut den Atem aus. Paul schüttelte fassungslos den Kopf, reichte Anier den Hut zurück und starrte auf das Geld in seiner Hand.

„Nicht umkippen, Paule. Ist doch alles easy.“ Er tätschelte dem Wirt die Wange.

„So schnell kommen die nicht wieder“, sagte Kilian. „Zunächst müssen sie ihre Wunden lecken und sich selbst bemitleiden. Trotzdem werden wir für dich einen Mann abstellen, der eine Weile vor Ort bleiben wird.“

Anier telefonierte bereits. Sie waren halt ein gut eingespieltes Team.

„Okay“, entgegnete Paul matt und steckte das Geld ein. „Vielen Dank. Wirklich. Ich weiß das zu schätzen.“

Dessen war sich Kilian gewiss. Dafür zahlte Luder-Paule nämlich zwanzig Prozent seiner Einnahmen an Georg Adler. Und sein Onkel nahm das Schutzgeldgeschäft sehr ernst. Furchtbar ernst.

NICOLAS

„Du?“ Folkmars Begeisterung schien sich in Grenzen zu halten. Immerhin gab er die Tür frei und ließ ihn ein. Zögernd trat Nicolas in die Studentenbude, da er sich wenig eingeladen fühlte.

„Störe ich?“, fragte er zaghaft.

„Ich habe gelernt.“

Sein Freund war ständig am Lernen. Entweder war er ein schrecklicher Streber oder er hatte es echt nötig. Tatsächlich entdeckte Nicolas auf dem Bett ein Buch über Steuerrecht, ein Thema, auf das sich Folkmar spezialisieren wollte.

„Kommst du voran?“, erkundigte sich Nicolas und ging neugierig auf den geöffneten Laptop zu, um einen Blick auf den Bildschirm zu werfen. Bevor er dazu kam, drängte sich sein Freund an ihm vorbei und klappte das Gerät zu. Beinahe hastig räumte er es auf den Schreibtisch und strich sich danach durch das akkurat geschnittene braune Haar.

„Es geht“, sagte er ausweichend.

„Kann ich dir etwas helfen?“ Steuerrecht war zwar nicht unbedingt Nicolas’ Lieblingsfach, aber er war ein guter Student, der Wissen geradezu in sich aufsaugte.

„Bislang packe ich es“, wurde ihm geantwortet. „Ich brauche bloß länger. Wenn ich irgendwo hängen bleibe, komme ich gerne auf dich zurück.“

Sie standen sich gegenüber, Nicolas ein wenig verlegen. Er hatte sich den Besuch bei seinem Freund ein bisschen anders vorgestellt. Zumindest hatte er gehofft, ein paar Stunden bleiben zu dürfen, bevor er nach Hause musste, wo er sich regelrecht eingepfercht vorkam. Täglich suchte er seine Zufluchtsorte auf: Wolkje und das Herzschmerz, den Mühlenteich im Park, das Pflegeheim, die Vorlesungen an der Bucerius Law School, diverse Plätze am Elbekanal, Folkmars Studentenbude auf dem Campus … Nicolas wünschte sich ebenfalls ein Zimmer auf dem Gelände der Hochschule. Wenn er nur nicht jeden Cent dreimal umdrehen müsste … Und jetzt fielen obendrein nach dem Sommertrimester die Vorlesungen weg. Das bedeutete, dass er weitere Stunden totschlagen musste. Oder vermehrt Zeit am Mühlenteich oder in Planten un Blomen verbrachte.

„Hast du morgen etwas Zeit?“, fragte er seinen Freund hoffnungsvoll.

„Morgen? Nee, da habe ich eine Diskussionsrunde mit ein paar anderen und abends findet eine Party statt. Willst du mit?“

Nicolas schüttelte den Kopf. Er mochte diese Art von Partys nicht. Lauter eingebildete Idioten, die sich betranken, nackt auf den Tischen tanzten oder wenig verstohlen in irgendwelchen Ecken kifften. Für gewöhnlich stand er mit einem Glas Wasser irgendwo herum und verfolgte, wie sich die Mitkommilitonen die Kante gaben. Folkmar befand sich meist in einem Pulk seiner Freunde, mit denen er sich lebhaft unterhielt und einen Joint teilte. Zu diesen Leuten fand Nicolas keinen Anschluss. Das lag zum einen daran, dass er weder kiffte noch zum Alkohol griff, und zum anderen, dass er das Kind eines Bauarbeiters war. Folkmars Freunde waren Sprösslinge von selbstständigen Unternehmern und irgendwelchen wichtigen Führungspersonen. Er kam sich in ihrer Gesellschaft unerwünscht vor.

„Mensch, Nicolas! Und dann beschwerst du dich wieder darüber, dass wir keine Zeit miteinander verbringen.“

„Ich kann mich nicht erinnern, dass wir auf den Partys viel gemeinsam machen. Okay, wir fahren zusammen hin und ehe ich piepsen kann, hänge ich in einer fremden Location allein ab, weil du mich für deine Kumpel stehen lässt.“

Folkmar verdrehte die Augen. „Du könntest ja mal den Versuch starten, dich mit ihnen unterhalten.“

„Die halten mich für einen Zweite-Klasse-Menschen. Auf so eine Behandlung kann ich getrost verzichten.“ Das artete gerade in ein Streitgespräch aus, wie ihm bewusst wurde. Bedrückt schob er seine Tasche auf der Schulter zurecht. Unerwartet kam Folkmar näher und umschlang seine Hüfte. Lippen pressten sich auf Nicolas’ und forderten einen Kuss ein.

„Was ist mit mir?“, raunte Folkmar an Nicolas’ Mund. „Willst du auf mich auch verzichten?“

Er schüttelte den Kopf und lächelte schwach. „Wäre ich sonst hier?“

Folkmar schmunzelte. „Ich denke nicht.“

„Tut mir leid, Folkmar. Ich wollte mich nicht mit dir streiten.“

Er wurde nachdenklich gemustert. „Ein paar Minuten für einen Quickie könnte ich opfern.“

Wie nett. Nicolas wusste nicht, was ihn mehr störte: die gönnerhafte Art seines Freundes oder das Wort opfern. Bevor er länger darüber sinnieren konnte, nahm ihm Folkmar zuerst die Tasche ab und zog gleich als Nächstes an seinem Shirt, bis er es sich über den Kopf zerren ließ.

„Was ist los?“, fragte sein Freund, während er sich selbst auszuziehen begann. „Bist du nicht deswegen hier?“

Indirekt ja. Natürlich wollte Nicolas ihm nahe sein. Aber hätten sie zur Abwechslung nicht einfach lediglich kuscheln können? Oder miteinander reden? Einen Film anschauen? Klar, der Sex machte Spaß. Allerdings sollte eine Beziehung seiner Meinung nach nicht ausschließlich aus Körperlichkeiten bestehen. Dabei passten sie prima zusammen. Sie hatten denselben Berufswunsch, studierten an derselben Hochschule, waren beide schwul … Weitere Gemeinsamkeiten fielen ihm auf die Schnelle nicht ein, was ihn etwas irritierte.

Zielstrebig packte ihn Folkmar am Hosenbund, zog ihn an sich und öffnete flink die Jeans.

„Wir sollten uns beeilen“, sagte er, während er Nicolas’ Hose nebst Slip herunterstreifte. „Luca und Mara werden bald auftauchen. Wir haben uns zum Lernen verabredet.“

„Mit denen paukst du, mit mir dagegen nicht“, beschwerte sich Nicolas, als er zum schmalen Bett geschubst wurde.

„Mit dir ist das etwas anderes. Du würdest mich dauernd ablenken.“

Irgendwie stieß ihm das bitter auf. In seiner Vorstellung trafen sich Liebende nicht bloß für kurze Quickies.

„Wollen wir nicht mal zusammen ins Kino oder in ein Café? Freibad? Spazierengehen?“, fragte er. Sein Freund antwortete nicht gleich, weil er damit beschäftigt war, seinen Steifen in Gummi zu verpacken.

„Folkmar?“

Gleitgel wurde in großer Menge auf eine äußerst intime Körperstelle geschmiert. Kein Vorspiel? Oder ein bisschen Schmusen? Bittere Enttäuschung breitete sich in Nicolas aus.

„Du weißt, wie knapp bemessen meine Freizeit ist.“

„Wäre es ein sehr großes Opfer, einen winzigen Teil davon für mich zu reservieren?“ Er zuckte zusammen. Das flüchtige Dehnen fiel ruppig aus und er verzog das Gesicht, als sich Folkmar in ihn schob.

„Mache ich doch gerade.“

Sein Freund lächelte auf ihn herab, bevor er sich ganz aufs Poppen konzentrierte und Nicolas regelrecht in die Matratze stieß.

Zwanzig Minuten später stand er etwas fassungslos auf dem Campusgelände. Sein Arsch brannte, genauso wie sein dummes Herz. Mit freundlichen und zugleich energischen Worten hatte ihn Folkmar nach der kurzen Nummer hinauskomplimentiert. Nicolas hatte nicht einmal einen Höhepunkt erlebt und für eine schnelle Dusche war ebenfalls keine Zeit geblieben. Nur mit einem Kleenex hatte er sich notdürftig säubern können. Resigniert seufzte er, denn offenbar musste er mit seinen Problemen allein fertig werden. Er schaute auf die Uhr. Entweder er trieb sich eine Weile an der Außenalster herum oder er setzte sich für drei Stunden in Planten un Blomen auf eine Bank, bis der Park um 23:00 Uhr schloss. Nach Hause wollte er nicht. Dort warteten Albträume von Lawinen und einstürzenden Bergen, die ihn unter ihrem Gewicht erdrückten. Das war vermutlich kindisch, aber der Grund, weswegen er ständig aus dem Schlaf fuhr. Allerdings würde seine Mutter auf ihn warten und sich mit zunehmender Stunde Sorgen machen. Nicolas holte sein Fahrrad, das er in einem dafür vorgesehenen Ständer angeschlossen hatte, schlug den Weg zu Planten un Blomen ein und zückte dabei sein Smartphone.

»Bin gegen Mitternacht zu Hause. Du kannst ruhig ins Bett gehen, ich passe auf mich auf. Bussi, NicNac.« NicNac war sein Spitzname, den er nach den ummantelten Erdnüssen wegen seiner Haarfarbe erhalten hatte. Einzig und allein die engsten Vertrauten nannten ihn so. Also seine Mutter und Wolkje. Folkmar weigerte sich, ihn derartig anzusprechen, weil er das doof fand. Nicolas schob den Gedanken an seinen Freund beiseite und schickte die Nachricht an seine Mutter ab. Natürlich war er erwachsen und könnte durchaus später nach Hause gehen. Trotzdem galt es zu vermeiden, dass seine Mutter in Panik geriet. Seit dem Unfall seines Vaters war sie ziemlich dünnhäutig geworden und er wollte nicht, dass sie sich unnötig stundenlang wachhielt, weil er keine Lust auf ihre enge Wohnung hatte. Nicolas schwang sich auf sein Rad und radelte bis zum Park. Wenig später schritt er durch das weiße Tor und fand kurz darauf eine freie Bank, auf der er sich niederließ und die Beine von sich strecken konnte. Sein Magen knurrte, was er ignorierte. Einfach nur dasitzen, an nichts denken und die Probleme des Lebens für einige Zeit vergessen. Das wäre wirklich fein.

Kapitel 2

ANIER

Ein Rauchkringel stieg in den Himmel und zerfaserte dort. Gelangweilt sah Anier ihm hinterher. Seit knapp einer Woche war nichts Außergewöhnliches passiert. Pablo Quevedo vom Homeland hatte den Adler-Sticker an seine Tür geklebt und bekam einen Mann mit den Vertragsunterlagen gesandt. Die Albaner hielten sich nach dem gescheiterten Übernahmeversuch des Darthouses bedeckt. Weiteren Ärger hatte es nicht gegeben, die restlichen Wochentage plätscherten friedlich vor sich hin. Sie kassierten fleißig ab, sprachen ein paar Drohungen aus und beauftragten den Mann ihres Vertrauens mit der Wäsche einer größeren Geldsumme.

Georg lag, genau wie Kilian und er, unter einem Schatten spendenden Schirm auf einem Liegestuhl, den Altmänneroberkörper mit den ergrauten dichten Brusthaaren gebräunt, eine Sonnenbrille keck auf der Nase. Er studierte endlose Zahlenkolonnen auf einem Tablet. Anier saugte an seiner Cohiba und stieß neuerliche Kringel aus. Neben ihm wedelte Kilian den Rauch ärgerlich beiseite. Herausfordernd blies Anier ihm nach einem weiteren Zug an dem Stumpen den Zigarrenqualm ins Gesicht. Im nächsten Moment flog er von seiner Liege. Sein Freund war aufgesprungen, hatte das Gartenmöbel gepackt und seitlich hochgerissen. Nun lag er auf dem Rücken und lachte wegen Kilians zorniger Miene.

„Kinder, Kinder“, murmelte Georg, ohne den Blick von seinen Tabellen und Zahlen abzuwenden.

„Du weißt, dass ich das hasse“, knurrte Kilian und checkte die Uhrzeit.

„Was ist los? Hast du ein Date?“ Anier stützte sich auf einen Ellenbogen und paffte mehrere Wölkchen, während er seinen Freund vom Boden aus musterte. Kilian brummte eine Zustimmung. Er schien sich auf die Verabredung nicht besonders zu freuen.

„Wir könnten Billard spielen“, schlug Anier vor.

„Hast du nicht kapiert, dass ich …“ Kilians Augen richteten sich kurz auf Georg. „… mich mit jemandem treffe?“

„Du kannst das Wort Sex in meiner Gegenwart getrost aussprechen. Ich war nämlich auch mal jung.“ Georg grinste verschmitzt.

„Es geht euch beide nichts an.“

Anier horchte auf. „Warum bist du so aggressiv? Ist wohl immer noch nicht Mr. Right?“

„Mann! Hör mit der Leier auf! Ich bin nicht auf der Suche nach einer festen Beziehung.“

Sie lachten ihn aus, was Kilian richtig auf die Palme brachte. Mit einem Fluch marschierte er steifbeinig in die Villa. Anier reckte sich und ließ den Zigarrenstummel in Kilians halb leeres Glas mit Mineralwasser fallen.

„Er fühlt sich verpflichtet, mit einem Typen auszugehen, den er nicht leiden kann. Warum macht er das?“ Er schüttelte den Kopf. „Das ist absolut krank.“

„Wenn er dem Date einen weiteren Abend versprochen hat, hält sich Kilian an sein Wort“, antwortete Georg. „Und wenn der Boden dermaßen bequem ist, sollten wir sämtliche Stühle zum Sperrmüll geben.“

Anier erhob sich und stellte die umgekippte Liege auf. „Was hast du heute Abend vor?“

Georg tippte auf das Tablet. „Diese Prüfung zu Ende zu bringen. Und danach werde ich mir ein Glas Rotwein gönnen und Shostakovichs Second Waltz in Dauerschleife anhören.“

„Der Lieblingswalzer von dir und Kilian.“

Georg nickte zustimmend.

„Hast du eigentlich jemals angenommen, Kill und ich könnten ein Paar werden?“, fragte Anier neugierig.

„Nein“, entgegnete Georg ruhig. „Im Gegensatz zu Kilian bist du kein Mann für eine feste Bindung. Du brauchst einen Freund und Vertrauten. Und den hast du in meinem Neffen gefunden. Allerdings würdest du dein Herz niemandem schenken, weil du der geborene einsame Wolf bist. Wie auf einem schmalen Trampelpfad läufst du neben der mehrspurigen Schnellstraße entlang.“

„Trampelpfad“, wiederholte Anier amüsiert. „Du wirst auf deine alten Tage prosaisch.“

„Wenn nicht jetzt, wann sonst? Ich bin alt, trotzdem weiß ich genau, wie ihr tickt. Ihr zwei seid wie die Zeiger derselben Uhr, doch ihr bewegt euch unterschiedlich schnell über das Ziffernblatt.“

Anier hob lachend die Hände. „Genug der seltsamen Vergleiche.“

Georg nahm seine Sonnenbrille ab. „Hast du dich in Kilian verliebt?“

„Nein.“

„Warum dann diese Frage?“

Er überlegte kurz, bevor er antwortete. „Du magst uns beide. Es hätte sein können, dass du dir deswegen Hoffnungen machst. Ich achte und respektiere Kilian und liebe ihn wie einen Bruder.“

„Und deswegen provozierst du ihn?“ Georg platzierte die Brille zurück auf die Nase.