Highland Hope 3 - Eine Destillerie für Kirkby - Charlotte McGregor - E-Book

Highland Hope 3 - Eine Destillerie für Kirkby E-Book

Charlotte McGregor

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Beschreibung

Shona liebt ihre Whisky-Brennerei ebenso wie ihr Alpaka. Als sie den Tierarzt Kendrick trifft, wird die Liebe hochprozentig!

Shona ist das Küken der Familie Fraser. Das einst wilde Party-Girl hat die stillgelegte Destillerie von Kirkby modernisiert und gerade ihren ersten eigenen Whisky abgefüllt. Bei all dem Trubel bemerkt sie nicht, dass ihr Alpaka Nessie zu tief ins Glas schaut und ausgerechnet dem Tierarzt Kendrick McIntosh vors Auto taumelt. Dieser ist empört. Doch nachdem der erste Zorn verraucht ist, stellen die beiden fest, dass sie noch mehr verbindet als die Liebe zu den Tieren und zum Highland Dance. Durch ein tragisches Unglück lernen sie sich auf einmal von einer ganz neuen Seite kennen. Und auch Shonas Whisky erweist sich als wahrer Liebestrank ...

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Seitenzahl: 508

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DAS BUCH

»Ich habe nur darauf hingewiesen, dass Zeit bei der Liebe keine Rolle spielt – und zwar in allen Aspekten. Man kann sich auf den ersten Blick verlieben und wissen, dass es für immer ist. Manchmal dauert es Jahre oder Jahrzehnte, bis aus dem Funken Feuer wird, und manchmal hält die große Liebe nur ein paar wenige Jahre. Doch selbst wenn es dann zur Trennung kommt, weil man sich auseinandergelebt hat oder einer stirbt, bleibt die Essenz der Liebe immer noch erhalten.«

Shona wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Sie hatte mit ihm noch nie über die Liebe geredet. Sie hatte zu dem Thema bislang schlicht nichts beizutragen gehabt.

Shona bekommt in der Regel immer, was sie will. Als jüngstes Mitglied der Fraser-Familie hat sie gleich drei große Geschwister, die ihr stets zur Seite stehen. Und sie hat kein Problem damit, beherzt anzupacken. So zweifelt auch niemand an ihrem Erfolg, als Shona beschließt, die alte Destillerie in Kirkby wiederzubeleben und ihre eigenen Whisky- und Gin-Kreationen auf den Markt zu bringen. Gemeinsam mit ihrem Alpaka Nessie erobert sie mit ihren Spirituosen die schottischen Highlands. Nur einer ist so gar kein Fan von ihr: der attraktive Dorftierarzt Kendrick. Und ausgerechnet seine Unterstützung braucht Shona am meisten …

DIE AUTORIN

Mit Sehnsuchtsorten kennt sich Charlotte McGregor aus. Schon in frühester Kindheit fühlte sie sich zu Städten und Ländern hingezogen, die sie nur aus Büchern oder Filmen kannte. Kein Wunder, dass sie aus ihrem Fernweh einen Beruf gemacht hat. Die Journalistin schrieb jahrelang Reiseberichte für Zeitungen und Magazine, ehe sie ihre Lieblingsorte auch in Romanen verewigte. Derzeit schlägt ihr Herz für Schottland, wo sie regelmäßig mit ihrem Mann durch Städte, Dörfer und die Highlands streift und sich voller Enthusiasmus auf Whisky, Haggis und Kilts stürzt. Mehr über die Autorin erfahren Sie auf www.charlottemcgregor.de.

CHARLOTTE McGREGOR

EINE DESTILLERIE

FÜR KIRKBY

ROMAN

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Originalausgabe 10/2021

Copyright © 2021 by Charlotte McGregor.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die

literarische Agentur Michael Gaeb

Copyright © 2021 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Julia Funcke

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur

unter Verwendung von © FinePic®, München,

Getty Images/fotoVoyager

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-26767-4V002

www.heyne.de

Für Sabine

»Ein Duft von Sommer«

INHALT

Grandioser erster Eindruck

Seltsame Vögel

Junge Pferde, neuer Gin

Little Miss Sunshine

Unklare Bedürfnislage

Tindern ist auch keine Lösung

Jetset-Waffen-Graf

Tief sitzende Verletzungen

Verpasste Gelegenheiten

Heiße Sohlen

Showdown auf dem Tanzboden

Was für ein Zirkus

Auf den Hund gekommen

Falsche Vorstellungen

Schiefer Haussegen

Curry-Erkenntnisse

Erwachsenwerden

Da braut sich was zusammen

Stürmische Nacht

Alpaka-Liebe

Figurenregister

Whisky-Schokoladentorte

Wasser des Lebens

Danke

GRANDIOSER ERSTER EINDRUCK

»GOTTES SEGEN FÜR BRENNMEISTERIN Shona Fraser, ihr Maskottchen und Kirkbys neue Destillerie. Slàinte!«

»Slàinte!« Shona hob ihr Glas und nickte Pfarrer Jack McTavish zu, der auf der anderen Seite des letzten frisch abgefüllten Fasses von ihrem ersten selbst gebrannten Whisky stand. Dann streichelte sie ihrem dunkelgrauen Alpaka Nessie den wolligen Kopf und wandte sich an die zahlreichen Besucher, die vor der improvisierten kleinen Bühne im Brennraum standen: »Vielen Dank, dass ihr alle gekommen seid. Lasst uns auf den ersten Jahrgang des ›Kirkby Alpaca Golden‹ trinken – standesgemäß mit meinem bisherigen Lieblingswhisky von der Gordon Gibbs Distillery! Slàinte!« Sie prostete ihren Gästen zu und nahm einen Schluck. Die goldene Flüssigkeit rann ihre Kehle hinab und entfachte eine Wärme in ihr, wie es nur die besten Tropfen vermochten.

Sie hatte es tatsächlich geschafft! Ihre eigene Destillerie war offiziell eröffnet, die erste Charge abgefüllt – die letzten zehn kleinen Quarter Casks vorhin live vor Publikum. Die würden nachher noch in eine Auktion gehen: Die Käufer durften ihr Fass eindeutig markieren und bestimmen, wie lange ihr persönlicher Single Malt reifen sollte. Heute Vormittag war Shona zusammen mit Pfarrer Jack, ihrem Vater Marlin und ihrem Mentor und Ausbilder Kieran Gibbs durch die Lagerhalle gelaufen. Was war das für ein unglaubliches Gefühl gewesen, die ordentlich in ihren Regalen aufgereihten Fässer zu sehen, an deren Fronten ihr wunderbares Logo prangte! Schade nur, dass es mindestens drei Jahre dauern würde, bis sie den ersten Schluck von ihrem eigenen Tropfen probieren und ihn verkaufen konnte, und noch viel länger, bis ihr Whisky so schmecken würde, wie sie es sich vorstellte. Doch das war der normale Lauf der Dinge – Ungeduld vertrug sich nicht mit der Kunst der Whiskyherstellung. Außerdem hatte sie Zeit. Mit siebenundzwanzig hatte sie hoffentlich viele Jahre und Jahrzehnte vor sich, in denen sie am Geschmack des Kirkby Alpaca Golden arbeiten und sich daran erfreuen konnte.

Ein weiterer Schluck von dem zwanzig Jahre alten Gordon Gibbs betäubte ein wenig die Angst, die ihr diese Riesenverantwortung insgeheim machte. Ja, es war ihr Traum gewesen – war es immer noch! –, als eine der jüngsten Brennmeisterinnen des Landes eine eigene Destillerie zu gründen. Ihr war aber auch klar, dass dieser Traum ganz schnell zu einem Albtraum werden konnte. Heutzutage schlossen die Traditionshäuser reihenweise, weil sich der Aufwand nicht mehr lohnte, oder wurden von internationalen Investoren aufgekauft. Etliche Highland-Destillerien produzierten nur noch für den asiatischen Raum. Doch sie hatte sich in den Kopf gesetzt, einen anderen Weg einzuschlagen. Sie hatte ihren gut bezahlten Job als Whisky-Sommelière und Markenbotschafterin der Gordon Gibbs Distillery in London aufgegeben, um in ihrem kleinen, verschnarchten Heimatdorf Kirkby wieder ganz traditionell Whisky zu brennen.

»Alles klar, Schätzchen?«, fragte Pfarrer Jack leise, als der Applaus des Publikums abebbte.

Shona räusperte sich und versuchte, die Panik, die in ihr aufstieg, zu unterdrücken. Jetzt war definitiv nicht der richtige Zeitpunkt dafür! Das hätte sie sich deutlich früher überlegen müssen. Sie schloss kurz die Augen. Das Gefühl des Überwältigtseins war vermutlich normal und würde abklingen, sobald der Alltag einkehrte. Aber jetzt musste sie sich dringend zusammenreißen und etwas sagen. Ganz bestimmt sogar. »Ist das nicht ein wundervoller Tropfen?«, fragte sie in die Runde und hielt ihr Glas hoch, das immer noch halb gefüllt war. »Wenn mein Alpaca Golden irgendwann auf diesem Niveau ankommt, habe ich alles richtig gemacht.«

»Wenn du dir gut hundertsiebzig Jahre Zeit nimmst, dann klappt das bestimmt«, rief Kieran Gibbs aus der ersten Reihe, und das Publikum lachte.

»Da ich ja den besten Lehrmeister hatte, den man sich vorstellen kann«, nahm sie den Einwurf auf und deutete auf Kieran, »wird es bei mir hoffentlich nicht ganz so lange dauern. Aber um die Zeit zu überbrücken, habe ich zusammen mit meiner Schwester Isla einen Gin kreiert! Er heißt ›Alpaca Thistle‹, und ihr könnt ihn draußen im Hof probieren. Dazu gibt’s ein kleines Barbecue von unserem Dorfpub und ein Fingerfood-Buffet, das Isla mit ihrer Küchencrew gezaubert hat und das die Gin-Aromen auf geniale Weise unterstützt. Guten Appetit!«

Erneut brandete Applaus auf, und der Brennraum, in dem es verdammt warm war, leerte sich zügig. Shona seufzte erleichtert und drückte ihrem Alpaka einen kleinen Kuss auf den Wuschelkopf. »Das hätten wir schon mal geschafft«, murmelte sie.

»Nichts bringt eine Party so schnell zum Brodeln wie die Aussicht auf Freigetränke und Essen«, bemerkte Jack amüsiert, als er sah, wie sich die Besucher durch die Tür ins Freie drängelten.

»Saunatemperaturen in geschlossenen Räumen helfen auch«, entgegnete Shona mit einem leichten Lächeln.

»Du hast dich wacker geschlagen, Kleine«, sagte der alte Mann und klopfte ihr väterlich auf die Schulter. »Stimmt’s, Marlin?«

»Ich bin wahnsinnig stolz auf dich, Prinzessin.« Marlin stand mit ausgebreiteten Armen an der Seite der kleinen Bühne und strahlte seine Tochter an. »Du hast das toll gemacht, und jetzt komm her und lass dich von deinem alten Herrn in die Arme nehmen, ehe du dich wieder der Meute stellst.«

»Danke, Daddy.« Shona lief die wenigen Schritte zu ihrem Vater und genoss es, sich in seinen Armen für einen Augenblick sicher und geborgen zu fühlen. Er war schon immer ihr Anker gewesen, die einzige Konstante in ihrem Leben – und wenn er jetzt an sie glaubte, dann würde es auch gut werden. »Danke für alles«, sagte sie noch mal.

»Immer, meine Kleine. Aber du hast das alles gut im Griff. Ich weiß zwar nicht, warum du so viele Leute eingeladen hast – noch dazu so viel Presse und diese … wie heißen sie … Social-Media-Jünger?«

»Das sind Influencer und Blogger, Daddy. Und die sind wichtig. Ich bin jung und will meine Generation ansprechen. Jugend und Tradition, das ist eine tolle Kombination – das sieht man an meinem Instagram-Account für die Destillerie. Da habe ich schon mehr als zehntausend Follower, obwohl ich den Kanal erst vor sechs Wochen aufgemacht habe. Das sind neue Zeiten, Daddy«, fügte sie noch hinzu, als er verständnislos brummte. Sie kannte ihren Vater. Er war ihr Fels in der Brandung, ihr Unterstützer, ihr Held – aber er war auch wahnsinnig ignorant und hasste es, wenn zu viele fremde Menschen nach Kirkby kamen. Ginge es nach Marlin Fraser, bliebe man in Kirkby einfach unter sich. Shona konnte seine Haltung überhaupt nicht nachvollziehen, denn ohne Touristen und Tagesgäste wäre der Ort gar nicht in der Lage zu existieren. Ihr ältester Bruder Alex hatte aus The Cosy Thistle, dem Bed & Breakfast, das die Familie schon seit Jahrzehnten betrieb, ein exklusives Boutique-Hotel gemacht, und ihre Schwester Isla führte das Sternerestaurant The Scottish Thistle. Beide waren vom Tourismus abhängig, aber Marlin gefiel sich in der Rolle des Eigenbrötlers. Shona wusste jedoch, dass die vor allem Show war, und ignorierte seine Vorbehalte.

»Wer auch immer diese Leute sind, du solltest dich besser um sie kümmern. Ich werde mir mit Jack ein ruhiges Eckchen suchen.« Marlin drückte Shona noch einmal an sich, dann scheuchte er sie hinaus.

Als sie den geschmückten Hof betrat, musste sie unwillkürlich lächeln. Es war einfach nur perfekt! Die Augustsonne strahlte, als sei dem schottischen Wettergott klar, dass er an diesem Sonntag für Shona alles geben musste. Alte Fässer dienten als Stehtische, um die jetzt schon zahllose fröhliche Menschen gruppiert waren, die Islas Köstlichkeiten probierten und gut gelaunt plauderten. Vor der Lagerhalle war eine weitere Bühne aufgebaut, auf der sich gerade die Band bereit machte – kein wie auch immer geartetes Ereignis in Kirkby ohne Party mit Musik und Tanz! Zwischendurch würde die Versteigerung der zehn kleinen Fässer stattfinden. Shona war gespannt, wer alles mitmachen würde. Sie tippte auf ihre Familie, auf Bürgermeister Collum McDonald und natürlich auf Jon Grant, den Wirt des Pubs The Wise Pelican. Doch Jon gehörte ja auch fast schon zur Familie: Shona rechnete fest mit einer baldigen Hochzeit von ihm und Isla. Gerade standen die beiden hinter dem Buffet, und Isla winkte sie energisch zu sich.

Es dauerte jedoch ein Weilchen, bis sie sich zwischen den vielen Gratulanten durchgekämpft hatte. Schließlich erreichte sie das Buffet, das schon ziemlich geplündert aussah. »Wow, ich schätze, die Leute hatten Hunger«, sagte sie überrascht.

»Keine Sorge, Nachschub ist unterwegs«, entgegnete Isla. »Wir haben genug vorbereitet. Ich muss mich nur gleich verabschieden, denn mein Abendgeschäft beginnt in zwei Stunden.«

»Aber wir müssen doch noch den Gin präsentieren!«, rief Shona. »Das ist genauso deiner wie meiner, da kannst du dich nicht aus dem Staub machen.« Das stimmte. Ohne Isla hätte sie es niemals geschafft, in der kurzen Zeit zwischen ihrer – im wahrsten Sinne des Wortes – Schnapsidee, zusätzlich zum Whisky auch noch Gin zu brennen, und der heutigen Eröffnung ein fertiges Produkt hinzubekommen. Tatsächlich hatte sie den Alpaca Thistle erst vorgestern in Flaschen abgefüllt. Isla war nicht nur eine Spitzenköchin, sondern auch eine absolute Kräuterhexe, und sie hatte es geschafft, dem Gin ein unverwechselbares Aroma zu verpassen, das an blühende Disteln, Heidekraut und Highland-Nebel erinnerte. So hatte Shona den Geschmack jedenfalls für ihre Follower beschrieben.

»Ich will mich auch nicht aus dem Staub machen, ich wollte nur sagen, dass wir die Gin-Bar jetzt eröffnen sollten.«

»Okay, das kriegen wir hin.« Shona ließ ihren Blick über die Menge schweifen. »Komm mit«, bat sie ihre Schwester und zerrte sie im nächsten Moment schon hinter sich her in Richtung Bühne. Unterwegs schnappte sie sich den Dudelsackbläser, der eigentlich erst später zum Einsatz kommen sollte.

Fünf Minuten später war ihr die volle Aufmerksamkeit der Gästeschar sicher. Der durchdringende Ruf des Dudelsacks hatte jedes Gespräch schlagartig verstummen lassen.

»Beginnt die Versteigerung schon jetzt?«, rief ein Reporter alarmiert und versuchte, seinen vollgepackten Teller irgendwo abzustellen und seine Fotokamera in Position zu bringen.

»Nein, keine Sorge«, sprach Shona ins Mikrofon. »Auktionsbeginn ist erst in zwei Stunden. Aber ein weiteres Highlight muss ich vorziehen, weil meine Schwester Isla sonst nicht mehr dabei sein kann. Ich habe während meiner Ausbildung alles darüber gelernt, wie man tollen Whisky macht, und ich weiß auch, wie man einen ordentlichen Gin herstellt. Aber ›ordentlich‹ reicht mir nicht. Deshalb habe ich Isla um Hilfe gebeten, die nicht nur eine grandiose Köchin ist, sondern mehr Ahnung von natürlichen Aromen hat als alle anderen Menschen. Und dank ihr ist unser Alpaca Thistle nun kein ordentlicher, sondern ein phänomenaler und außergewöhnlicher Gin geworden.«

»Vielen Dank«, übernahm Isla, als der Applaus und das vereinzelte Gelächter abgeklungen waren. »Es ist gerade ein paar Wochen her, dass mir meine kleine Schwester ihre Idee von einem Distel-Gin ins Ohr gesetzt hat. Die Distel ist ja nicht nur die Wappenblume Schottlands, sondern kommt auch im Namen meines Restaurants und in dem vom Bed & Breakfast unseres Bruders vor. Shona sagte wörtlich: ›Ich will einen Gin, der eher an die Schönheit von Disteln erinnert als an ihren Geschmack.‹ Und ja, ich habe genauso irritiert geschaut wie ihr, denn wie um alles in der Welt schmecken Disteln? Ich habe übrigens schon etliche probiert, aber das ist nichts, was man zwingend in seinem Drink haben muss. Um es abzukürzen: Ich habe experimentiert und getestet, und irgendwann hatte ich das Rezept. Shona findet, dass unser Gin nun nach Disteln, Heide und Highland-Nebel duftet. Wie er schmeckt …« Sie zögerte und sah Shona an.

»Wie er schmeckt, könnt ihr jetzt selbst ausprobieren. Die Gin-Bar ist eröffnet!«, rief Shona, umarmte ihre ältere Schwester und posierte lächelnd mit ihr vor den Kameras, ehe sich die Meute geschlossen in Richtung Barwagen verzog.

»Ich schätze mal, der Tag ist ein voller Erfolg«, stellte Isla mit einem Grinsen fest und deutete kopfschüttelnd in Richtung des mobilen Tresens, hinter dem drei von Jons hübschen Pubjungs standen und Gin Tonics an die Gäste verteilten. »In zwei Stunden sind die hier alle volltrunken.«

»Na, so schlimm wird’s nicht werden, aber die Stimmung sollte für die Versteigerung schon gut werden. Ich bin gespannt, wie viel die Leute bieten.«

»Für die Charity-Fässer bestimmt eine Menge«, mutmaßte Isla und sah wieder auf die Uhr. »Süße, ich muss wirklich los. Ich kann Tom und Grace nicht alles allein vorbereiten lassen. Erst recht nicht, nachdem ich sie beim Mittagessen schon vor dem Dessert ihrem Schicksal überlassen habe.«

»Ach, die beiden schaffen das. Aber ich versteh schon, dass du in dein Restaurant musst. Danke, dass du dir überhaupt die Zeit genommen hast.« Shona drückte ihrer Schwester einen Kuss auf die Wange.

»Für meine Lieblingsschwester immer«, entgegnete Isla und sprang von der Bühne. »Viel Spaß noch!«

• • •

Was für ein fantastischer Sommertag, dachte Kendrick McIntosh und bedauerte, dass er mit einem Transporter unterwegs war und nicht mit einem Cabrio. Das würde jetzt noch mehr Spaß machen. Mit einem kleinen alten, offenen MG durch die Highlands zu cruisen … Er lachte laut bei diesem Gedanken. Wie oft war das Wetter in Schottland schon schön genug, dass sich ein Cabrio, noch dazu ein Oldtimer, lohnen würde? Außerdem würden ihn die Bauern der Region kein bisschen ernst nehmen, wenn er damit auf ihren Höfen aufkreuzte. Nein, so ein Spaßmobil war leider keine Option. Seinen Sprinter hatte er als Jahreswagen kaufen können und ihn zu einer mobilen Tierarztpraxis umbauen lassen. So hatte er alles nötige Material dabei, um auch vor Ort Eingriffe vorzunehmen, sodass die Besitzer nicht gezwungen waren, immer gleich zur Tierklinik zu fahren.

Kendrick freute sich auf die neue Herausforderung – und auf sein eigenes Haus in Kirkby. Er kannte das Highland-Dorf schon lange, schließlich betreute er seit fast fünf Jahren die Region am Westufer des Loch Ness. Bisher hatte er immer von Inverness aus zu seinen Hausbesuchen aufbrechen müssen, was gerade im Frühjahr, in der Lämmer-, Kälber- und Fohlenzeit, oft zu endlosen Touren mitten in der Nacht geführt hatte. Und manchmal war er auch zu spät gekommen. Wie oft hatten er und seine Schwestern schon gehört, dass es doch viel besser wäre, einen Tierarzt in der Nähe zu haben?

In seinem Fall war es einmal zu oft gewesen. Ja, er hatte die Arbeit in der Tierklinik genossen, die er mit seinen drei Schwestern und seinen Eltern in Inverness betrieb. Sie hatten viel investiert und waren fast so gut ausgestattet wie die Uniklinik in Edinburgh. Seine Schwester Finola hatte sich auf Augenheilkunde spezialisiert und galt als die Topexpertin im Land. Er selbst war eher ein Generalist und behandelte alle Tiere und Krankheiten gleichermaßen gern, hatte seinen Schwerpunkt in den letzten Jahren aber vor allem auf Pferde und Farmtiere gelegt – einfach weil die Mädels weniger Lust verspürten, nachts zu einsamen Highland-Bauernhöfen zu fahren. So hatte sich die Aufteilung ergeben, und er wollte sich nicht beklagen. Er arbeitete gerne allein und genoss die Ruhe auf dem Land. Und als ihm vor ein paar Wochen Collum McDonald, der Bürgermeister von Kirkby, ein schönes Cottage am Ortsrand angeboten hatte, war die Entscheidung für einen Umzug nur noch Formsache gewesen.

Das Cottage hatte einem älteren Ehepaar gehört, das zu Sohn und Enkelkindern nach Südengland ziehen wollte und dankbar gewesen war, einen Käufer zu finden. Das Haus war tadellos in Schuss, hatte einen wunderschönen Garten und einen großen Anbau, in dem der Vorbesitzer seine drei Oldtimer untergebracht hatte. Kendrick wollte da eine Kleintierpraxis einrichten, falls er im Winter dazu kam – und wieder genügend Geld in der Kasse hatte. Sein Budget war nach dem Hauskauf und dem Umbau des Transporters erst einmal ausgeschöpft. Doch das würde sich sicher alles finden.

Nur noch fünf Meilen bis zu seinem neuen Zuhause. Vorfreude und auch eine Spur von Nervosität machten sich in ihm breit. Wie würde es sein, zum ersten Mal allein zu leben? Er verdrehte die Augen. Wie lächerlich klang das bitte schön? Er war zweiunddreißig, da sollte ein Mann doch Erfahrung mit dem Alleinsein haben, oder? Aber tatsächlich hatte er immer mit irgendwelchen Familienmitgliedern zusammengewohnt. Meist mit mehreren. Selbst zu Unizeiten hatte er sich eine Wohnung mit drei Kommilitonen geteilt – eine davon war seine Zwillingsschwester Kyleen gewesen. Die McIntosh-Tierklinik am östlichen Stadtrand von Inverness lag direkt neben seinem Elternhaus, und in den letzten Jahren hatte er in einer Wohnung über den OP-Räumen gewohnt. Zusammen mit seiner Freundin Glenna, die natürlich ebenfalls Tierärztin war und die Chirurgie leitete.

Ex-Freundin, korrigierte er sich in Gedanken. Glenna und er waren seit dem ersten Semester ein Paar gewesen, und er liebte sie immer noch – aber schon lange nicht mehr wie eine Partnerin, sondern wie seine Schwestern. Ihr ging es genauso, und dieser Transformationsprozess hatte wohl schon vor Jahren angefangen. Schmerzhaft war nur der Moment gewesen, als sie sich hatten eingestehen müssen, dass sie zwar immer noch gute Kollegen und Freunde waren, aber längst kein Liebespaar mehr. Und der Moment vor drei Monaten, als Glenna ihm mitgeteilt hatte, dass sie sich in Davina verliebt hatte, die hauseigene Kardiologin – und seine ältere Schwester. Das nagte nach wie vor an ihm. Hätte er in zehn Jahren Beziehung nicht merken müssen, dass seine Freundin in Wahrheit auf Frauen stand? Hätte Glenna selbst das nicht merken müssen? Und was sagte das alles über ihn als Mann aus?

Nein, so richtig große Lust darüber nachzudenken, hatte er nicht mehr. Er würde jetzt ein neues Leben beginnen – weit genug entfernt von dem Hühnerhaufen, zu dem die Tierklinik inzwischen mutiert war. Mit einer Frauenquote von fünfundachtzig Prozent konnten sonst nur Kindergärten und Grundschulen aufwarten. Er hatte ganz bestimmt nichts gegen Frauen, aber ein Leben als einsamer Wolf in der Wildnis klang verdammt verlockend. Vielleicht würde er sich einen Hund zulegen, der ihm Gesellschaft leistete. Schweigende Gesellschaft. Ja, das hörte sich nach einem ziemlich guten Plan an.

Er lächelte zufrieden und fuhr in gemächlichem Tempo auf Kirkby zu. Rechts der Straße erstreckten sich die Koppeln von Rupert Frasers Stall, und Kendrick sah einige der prächtigen Clydesdales zufrieden grasen. Kurz danach passierte er die Zufahrtsstraße zum Bed & Breakfast und zu Isla Frasers Restaurant. Einige Schafe standen wie malerisch hingetupft auf den Wiesen herum. Alles Patienten von ihm, aber anscheinend alle in guter Verfassung.

Der Dorfplatz wirkte wie ausgestorben, was ihn an einem Sonntagnachmittag nicht weiter verwunderte, aber selbst beim Pub war nichts los. Durch das geöffnete Autofenster hörte er jedoch Musik, die ihm direkt in die Beine fuhr. Eine seiner größten Leidenschaften neben dem Job, vielleicht sogar seine einzige, war das Tanzen. Was er vermutlich auch seinen Schwestern zu verdanken hatte, die ihn schon als Kind zu ihrem Highland-Dance-Training mitgeschleppt hatten. Ob er anhalten sollte? Dunkel erinnerte er sich daran, dass Collum erwähnt hatte, die Destillerie würde ihre Neueröffnung feiern, aber das Datum hatte er sich nicht gemerkt. Und er wusste auch nicht genau, wo die Destillerie lag. Irgendwo in der Nähe der alten Schule wahrscheinlich, denn der Dudelsacksound wurde immer lauter. Kendrick drehte sich zur Seite, um einen Blick zu erhaschen, als er im Augenwinkel einen dunklen Schatten wahrnahm, der direkt auf ihn zusteuerte. Reflexartig trat er auf die Bremse, konnte jedoch nicht verhindern, dass etwas dumpf gegen seinen linken Kotflügel prallte.

Im nächsten Moment sprang er aus dem Wagen. Daneben lag ein dunkles Alpaka auf der Straße und bewegte sich nicht mehr.

»Fuck!«, fluchte er herzhaft und hastete zu dem reglosen Wesen. Das konnte ja wohl nicht wahr sein, dass er als erste Amtshandlung in seinem neuen Heimatort ein Tier tötete.

Nein, tot war es glücklicherweise nicht, und zu bluten schien es auch nicht – was aber nichts heißen musste, denn es konnte innere Verletzungen haben … Kendrick tastete nach dem Puls, der stark und gleichmäßig war.

»Was machen Sie da?«, unterbrach eine Stimme schräg hinter ihm seine ersten Untersuchungen.

Was für eine blöde Frage. Wonach sah es denn bitte schön aus? Er antwortete nicht, sondern prüfte vorsichtig alle Gliedmaßen des Tiers auf Brüche.

»Das ist doch Nessie!«, rief die Stimme und klang schockiert. Diesmal drehte er sich um und fand sich einer rothaarigen Frau gegenüber, die ihm bekannt vorkam.

»Ist das Ihr Alpaka?«, fragte er.

»Nein. Es gehört meiner Schwester. Ich fass es nicht, dass Sie Nessie überfahren haben.«

»Ich habe niemanden überfahren. Das Alpaka ist mir vor den Kotflügel gesprungen«, erklärte er so ruhig wie möglich und ahnte, dass es sich wie eine lahme Ausrede anhörte. »Vielleicht hätte Ihre Schwester besser auf ihr Tier aufpassen sollen?«, konterte er genervt. Langsam sickerte eine unangenehme Erkenntnis bei ihm durch. Er kannte dieses Tier, und er wusste, wer die rothaarige Frau war. Vor ein paar Wochen hatte er die junge Alpakastute zum ersten Mal untersucht. Da war sie gerade vor dem Ertrinken im Loch Ness gerettet worden – von just jener Rothaarigen, die, wie ihm nun ebenfalls einfiel, Isla Fraser war. Tochter von Marlin Fraser, um dessen Schafe er sich kümmerte, Nichte von Rupert Fraser, dessen Pferde er behandelte, und Lebensgefährtin des Pubbesitzers Jon Grant, dessen Hund er auch schon zweimal untersucht und geimpft hatte. Spitzenklasse! »Sorry, das kam jetzt blöder rüber, als ich es gemeint habe«, ruderte er zerknirscht zurück. »Ich bin einfach sehr erschrocken, als mir Nessie vors Auto gelaufen ist. Glücklicherweise war ich sehr langsam. Ich glaube nicht, dass sie schwer verletzt ist.«

»Hm«, brummte Isla nur und zückte ihr Handy. »Egal, was du gerade machst, komm sofort zur Dorfstraße, Höhe alte Schule!«, rief sie ins Telefon. »Nessie ist verletzt!« Und dann fügte sie auch noch hinzu: »Der Tierarzt ist bereits da. Der hat sie nämlich überfahren!«

Okay, offenbar wusste sie auch, wer er war. »Ich hab sie nicht überfahren«, beharrte er. »Und mein Name ist übrigens Kendrick McIntosh«, stellte er sich vor.

»Was du nicht sagst.« Sie funkelte ihn mit einem rätselhaften Blick an. Feindselig? Amüsiert? Genervt? »Wir sind uns schon begegnet. Außerdem kann ich lesen.« Sie deutete auf seinen Transporter, an dessen Seite der Schriftzug »Mobile Vet – Kendrick McIntosh« prangte.

»Kannst du bitte aufpassen, dass sie nicht wegläuft?«, bat er, statt auf ihre Worte zu reagieren. »Dann hole ich meine Notfalltasche. Ich habe auch ein mobiles Röntgengerät und Ultraschall, falls wir das brauchen.«

Sie nickte und kniete sich neben das Tier, während er rasch seine Tasche aus dem Wagen holte. Herz und Lunge hörten sich gut an, auch die Bauchgeräusche klangen unauffällig. Das war schon mal positiv. Er glaubte nicht, dass das Alpaka eine Thoraxverletzung oder innere Blutungen hatte. Doch warum war es dann immer noch bewusstlos? Alpakas waren Fluchttiere, und die mobilisierten in der Regel auch dann noch letzte Kräfte, um vor ihren Angreifern zu fliehen, wenn sie schon halb tot waren. Vielleicht hatte es eine Gehirnerschütterung?

»Wir müssen sie auf die andere Seite legen«, bestimmte er und bedeutete Isla, die Hinterbeine zu nehmen, während er sich um den vorderen Bereich kümmerte. Es war fast keine Körperspannung in dem Tier, was wirklich verdammt ungewöhnlich war. Vorsichtig betteten sie Nessie um, und er betastete nun ihre linke Seite. An der Schulter konnte er eine leichte Schwellung fühlen. Das war wohl die Stelle, an der sie gegen seinen Kotflügel geknallt war. Er hoffte, dass es nur eine Prellung und kein Bruch war, aber das ließ sich nur durch ein Röntgenbild feststellen, oder wenn er sie laufen sah. Während er noch überlegte, was er als Nächstes tun sollte, kam ein Pulk von Menschen angerannt – angeführt von einer schwarzhaarigen Furie.

»Nessie?!«, schrie die junge Frau. »Ist sie tot?«

Okay, »Pulk« war vielleicht etwas übertrieben. Außer der Schwarzhaarigen – offenbar die Besitzerin des Tiers – waren nur noch Marlin Fraser und Bürgermeister Collum McDonald mit von der Partie.

»Sie ist nicht tot«, beteuerte Kendrick mit ruhiger Stimme. »Aber ich weiß im Moment auch nicht, warum sie immer noch bewusstlos ist.«

Isla stand auf und überließ den Platz neben Nessie ihrer Schwester, die sich mit Tränen in den Augen über das Tier beugte und ihm alberne Koseworte ins Ohr säuselte.

»Grandioser Einstieg für unseren neuen Tierarzt«, kommentierte Collum und schien mit sich zu ringen, ob er amüsiert oder empört sein sollte.

»Ich glaube nicht, dass er es absichtlich gemacht hat«, knurrte Marlin in Richtung Collum, und Kendrick wunderte sich, dass ihm der alte Fraser beisprang. Er kam gut mit ihm aus, das schon, aber er hatte nun mal zweifellos das Alpaka seiner Tochter angefahren – ob absichtlich oder nicht. Insofern hatte Collum schon recht mit seiner Aussage.

»Ein Tierarzt, der Tiere umfährt, sollte seine Zulassung verlieren, und seinen Führerschein am besten gleich dazu!«, kreischte die Schwarzhaarige, an deren Namen er sich nicht erinnern konnte. Erstaunlicherweise sorgte der Klang ihrer Stimme dafür, dass sich in dem Alpaka die Lebensgeister regten. Nessie hob den Kopf und klappte ihre großen dunklen Augen auf. »Du lebst!« Das aufgebrachte Kreischen wich einem Jubeln, das sich in Kendricks Ohren aber kaum weniger unangenehm anhörte. Überhaupt kamen ihm die Reaktionen der Leute etwas seltsam vor, so als wären sie …

Er betastete Nessies Kopf, schaute ihr in die Augen und schnupperte an ihrem Maul. Das konnte ja wohl nicht wahr sein. »Das Tier ist betrunken!«, rief er.

»Was? Das kann nicht sein«, behauptete die Besitzerin.

»Ich schätze schon, Shona«, mischte sich der Bürgermeister ein und fing haltlos zu kichern an. Ganz nüchtern war er wohl auch nicht mehr. »Ich hab gesehen, wie sie die Reste aus einigen Gläsern geleckt hat.«

»Aus den Gin- oder den Whisky-Gläsern?«, erkundigte sich Isla – als ob das einen Unterschied machte.

»Beides. Aber ich glaube, die Gin-Gläser fand sie interessanter. Da war ja noch Grünzeug drin.« Der Bürgermeister fand das offenbar wahnsinnig komisch. Kendrick nicht.

»Ich müsste euch alle wegen Tierquälerei anzeigen!«, brauste er auf. »Ein Tier betrunken zu machen ist wirklich das Letzte!«

»Ich glaube nicht, dass jemand das Alpaka absichtlich betrunken gemacht hat«, versuchte Marlin die Wogen zu glätten, doch auch in seinen Mundwinkeln zuckte es verdächtig. »Genauso wenig, wie ich glaube, dass du es absichtlich angefahren hast. Nessie scheint einfach einen guten Geschmack zu haben und hat sich von der Partystimmung anstecken lassen.«

Kendrick schüttelte den Kopf. Inzwischen waren noch mehr Leute gekommen, die das Geschehen interessiert beobachteten, kommentierten und mit ihren Handys Fotos knipsten. Das konnte er ja prima gebrauchen … »Es ist und bleibt verantwortungslos. Als Halter hat man eine Aufsichtspflicht und muss sich so um sein Tier kümmern, dass ihm kein Schaden zugefügt werden kann«, sagte er ernst zu Shona.

»Hört euch diesen Klugscheißer an«, blaffte sie. »Das war ein Versehen. Ich konnte doch nicht ahnen, dass Nessie eine kleine Schnapsdrossel ist! Wenn du sie nicht umgemäht hättest, wäre ihr nichts passiert.«

»Dann hätte sie vielleicht jemand anders erwischt, der nicht im Schneckentempo durch den Ort gefahren wäre. Und dann wäre sie jetzt tot.«

Für Nessies Ohren war das offensichtlich eine Todesankündigung zu viel. Sie sprang auf und stand taumelnd zwar, aber eindeutig auf allen vier Beinen.

»Vielleicht sollten wir uns jetzt alle mal wieder beruhigen«, schlug Isla vor. »Lassen wir den Doktor Nessie fertig untersuchen, und dann geht jeder seiner Wege. Ja?« Sie schaute auf die Uhr. »So gern ich weiter Schiedsrichter spielen würde, ich muss mich verabschieden.« Sie hob die Hand zum Gruß und lief rasch die Straße hinunter. Kendrick beneidete sie. Er hatte leider keine Fluchtoption.

»Ihr habt unsere Küchenfee gehört«, rief Collum in Richtung der neugierigen Meute. »Ab zurück zur Party, und feiert weiter. Hier gibt’s nichts mehr zu sehen.«

»Das gilt auch für dich«, sagte Marlin zum Bürgermeister, als sich der Trupp langsam verzog. »Und du kannst dich auch wieder um deine Gäste kümmern«, wandte er sich an seine Tochter. »Ich nehme Nessie mit nach Hause und sorge dafür, dass sie ausnüchtert.«

»Aber …«, protestierte Shona, doch Marlin ging wieder dazwischen.

»Glaub mir, Schatz, das wird am besten sein. Und du hast ja noch einiges vor heute. Das ist wichtig.«

Shona warf ihrem Vater einen skeptischen und Kendrick einen feindseligen Blick zu, dann klopfte sie den Staub aus ihrem hübschen weißen Sommerkleid und der Tartanschärpe, die sie darüber trug, und drückte dem Alpaka einen Kuss auf den Kopf. »Gute Besserung, mein armer Schatz«, raunte sie ihm ins Ohr, leider nicht leise genug, sodass Kendrick auch die nächsten Sätze verstehen konnte. »Mama hat dich lieb und holt dich morgen früh wieder ab. Lass dir von dem bösen Mann bloß nicht mehr wehtun.« Dann riss sie sich los und hakte sich bei Collum unter, der ritterlich auf sie gewartet hatte.

»Mama hat dich lieb«, äffte Kendrick sie nach, als sie außer Hörweite war, und verdrehte die Augen. »Ehrlich, Marlin, ich will dir wirklich nicht zu nahe treten, aber das …« Er beendete den Satz nicht, sondern schüttelte den Kopf.

»Tu nicht so, als wäre sie die erste Tierbesitzerin, die so redet«, entgegnete Marlin mit einem gutmütigen Lächeln. »Shona ist vernarrt in das Biest und kümmert sich wirklich gut um Nessie. Aber heute ist die Eröffnung ihrer Destillerie, da hat sie sie einfach nicht die ganze Zeit im Auge behalten können.«

»Warum nimmt sie ein Alpaka überhaupt zu so einer Geschichte mit?«

»Weil es ihr Haustier ist. Nessie folgt ihr überallhin, wie ein Hund.«

Kendrick atmete einmal tief durch. Ihm würden zahllose Kommentare dazu einfallen, doch er sparte sie sich. Stattdessen tastete er noch einmal Nessies Gliedmaßen ab und führte das Alpaka ein paar Schritte auf und ab, um zu sehen, ob es auch den linken Vorderlauf belastete. »Okay, es ist definitiv nichts gebrochen«, befand er. »Auch die Schulter nicht. Da hat sie wohl eine dicke Prellung. Aber sie ist sternhagelvoll und sollte wirklich unter Beobachtung bleiben. Ich habe keine Ahnung, wie der Organismus von Kleinkamelen auf Alkohol reagiert. Wenn sie seltsam reagiert, ruf mich bitte sofort an«, bat er Marlin.

»Mach ich«, versprach der. »Willkommen in Kirkby.«

»Danke.« Kendrick musste lachen, er konnte nicht anders. »So habe ich mir meinen ersten Tag nicht vorgestellt.«

»Immerhin hast du für einen bemerkenswerten Auftritt gesorgt.« Marlin klopfte ihm auf die Schulter. »Das wird in den Kanon der Dorflegenden aufgenommen.«

»Juhu«, entgegnete er schwach, dann straffte er die Schultern. Ändern konnte er an der Sache nun auch nichts mehr. »Soll ich euch nach Hause fahren?«

»Nein, danke. Die paar Schritte schaffen wir schon. Dann können wir beide unsere benebelten Köpfe auslüften.« Marlin grinste und verstrubbelte Nessies wolligen Schopf. »Kann man dir was helfen?«

Kendrick schüttelte den Kopf. »Alles gut. Meine Sachen kommen morgen mit der Spedition, und die paar neuen Möbel, die ich gekauft habe, wurden schon letzte Woche geliefert. Ich bin also versorgt. Und ab übermorgen offiziell im Dienst. Aber wenn vorher was ist, nicht nur mit dem Alpaka, dann kannst du mich jederzeit anrufen.«

SELTSAME VÖGEL

ALS SHONA AM NÄCHSTEN Morgen aufwachte, war es erstaunlich still. Kein Mucks war zu hören – weder im Haus noch auf der Straße. War die Welt untergegangen, während sie geträumt hatte? Es dauerte einen Moment, bis ihr einfiel, dass sie gar nicht mehr im pulsierenden London lebte, sondern im beschaulichen Kirkby, wo selbst die Rushhour am Montagmorgen nicht das eifrige Gezwitscher der Vögel übertönen konnte.

Puh, da hatte sie gestern wohl ein paar Schlucke Gin und Whisky zu viel erwischt, wenn sie so einen Aussetzer hatte, dass sie sich in ihre Londoner Zeit zurückversetzt fühlte. Das war ihr seit Monaten nicht mehr passiert.

Sie streckte sich und gähnte kräftig, und langsam kehrten die Erinnerungen an den gestrigen Tag zurück. Die Golden Alpaca Distillery war nun offiziell eröffnet! Ihr Lebenswerk, wie Pfarrer Jack McTavish in seiner kleinen Rede ebenso treffend wie schockierend festgestellt hatte. Ein Lebenswerk mit deutlich unter dreißig! Bei dem Gedanken überlief sie wieder eine Gänsehaut. Das war eine verdammt endgültige Festlegung auf ihren weiteren Lebensweg. Vor einem Jahr hatte sich bei ihr alles um eine bunte Reihe von Tinder-Dates und einen hippen Job als Whisky-Sommelière gedreht. Die verbindlichste Verpflichtung in ihrem Leben hatte darin bestanden, pünktlich zur Arbeit zu kommen. War das so schlecht gewesen?

Welcher Teufel hatte sie bloß geritten, ihr fröhliches, unkompliziertes Leben in einer Millionenmetropole gegen diese neue, furchtbar anstrengende Existenz in der schottischen Einöde einzutauschen? Hier gab es plötzlich Mitarbeiter, die von ihr abhängig waren, Erwartungen, die sie erfüllen musste, und verdammt wenig Privatleben. Das war keine gesunde Kombination. Oder?

Wenn sie ehrlich war, kannte sie ihre Beweggründe sehr wohl. Vor allem war es Sehnsucht gewesen – Sehnsucht, Heimweh und der unwiderstehliche Drang, etwas Bleibendes zu schaffen. Offiziell würde sie das natürlich nicht zugeben, denn es war fürchterlich uncool, und in ihrer Londoner Clique hatte man auch nur verständnislos den Kopf geschüttelt, als sie letztes Jahr vor Weihnachten ihre Sachen gepackt und ihren Job gekündigt hatte, um wieder nach Hause zu ziehen. Damals hatte sie noch nicht einmal geahnt, dass es mit einer eigenen Destillerie wirklich klappen könnte. Doch dann war sie an dem alten, seit Jahrzehnten verrammelten Gebäude in Kirkby vorbeigelaufen und hatte dieses Gefühl bekommen. Dieses Gefühl, dass das Gemäuer nur auf sie gewartet hatte, wie die verwunschene Prinzessin im Märchen, die von einem Prinzen erlöst werden musste. Nur dass in diesem Fall Shona selbst der Prinz war.

Sie hatte mit ihren Cousinen darüber gesprochen, die hatten es Collum gesteckt, und der Bürgermeister war sofort Feuer und Flamme gewesen und hatte ihr jede Form von Hilfestellung zugesagt, die er auftreiben konnte. Und Collum war sehr findig! Erstaunlicherweise war auch ihr Vater von der Idee begeistert gewesen und unterstützte sein jüngstes Kind nach Kräften. Und so war sie in die ganze Sache irgendwie hineingestolpert. Nein, das war zu kurz gedacht. Vermutlich war ein gar nicht so unerheblicher Teil von ihr schon immer so zielstrebig gewesen. Der Teil, der bereits während der Schulzeit ein Praktikum in einer Destillerie in der Nähe gemacht hatte. Der Teil, der nach dem Schulabschluss die Ausbildung bei Gordon Gibbs auf der Isle of Skye durchgezogen hatte. Der Teil, der die jüngste Brennmeisterin Schottlands aller Zeiten war. Der Teil, der im Grunde ein lupenreiner Nerd war und den sie deshalb sorgfältig hinter der schillernden Kulisse des immer gut gelaunten Partymädchens versteckt hielt. Kein Wunder, dass sie so überwältigt war und sich im Moment auch ziemlich überfordert fühlte.

Lebenswerk! Warum hatte Jack dieses schreckliche Wort so oft benutzen müssen? Sie war viel zu jung für ein Lebenswerk, maximal hatte sie ein Fundament dafür gelegt. Aber selbst ein Fundament war eine verdammt verbindliche Angelegenheit. Nach Lage der Dinge würde sie nie wieder dauerhaft aus Kirkby weggehen.

Sie schluckte und sah auf die Uhr. Es war kurz nach sieben. Schnell unter die Dusche und dann rasch zu ihrem Dad und Nessie abholen. Sie war so froh, dass dem Alpaka anscheinend nichts Schlimmeres passiert war. Eine Prellung – und ein Schwips. Das hätte auch ganz anders ausgehen können. Sie schämte sich ein bisschen dafür, dass sie Nessie gestern nicht besser im Auge gehabt hatte, aber es war so viel los gewesen – und wer hatte schon ahnen können, dass Alpakas auf Gin standen? Dass sich dieser Tierarzt derart aufgeplustert hatte, nachdem er ihren armen Schatz über den Haufen gefahren hatte, war auch ein starkes Stück. Shona hatte große Lust, sich diesen unverschämten Typen bei Gelegenheit ordentlich vorzuknöpfen. Sie als unverantwortliche Tierhalterin zu bezeichnen – der hatte sie wohl nicht alle! Doch während ihr das heiße Wasser auf Kopf und Schultern prasselte, ebbte der Ärger etwas ab, und sie entspannte sich. Sollte dieser Ken-Typ doch denken, was er wollte.

»Na, Prinzessin, hast du einen Kater?«, wollte ihr älterer Bruder Alex wissen, als sie um kurz vor acht Harriswood House betrat. Ihr Elternhaus, in dem ihr Dad mit ihrem Bruder, dessen Sohn Aidan und seiner Verlobten Colleen zusammenwohnte, beherbergte außerdem die Rezeption, den Frühstücksraum und die Bibliothek des Bed & Breakfast. Alex stand gerade am Empfang und tippte etwas in den Computer.

»Ich, einen Kater? Wovon träumst du nachts?«, fragte sie und zwinkerte ihm verschmitzt zu. »Du etwa?« Alex sah tatsächlich etwas zerknittert aus. Er hatte gestern Abend erstaunlich viel Sitzfleisch bewiesen – auch weil er sein ersteigertes Fass hatte feiern müssen.

»Hmpf«, brummte er nur. »Magst du Frühstück? Dann schau in der Küche vorbei.«

»Nein, keine Zeit. Ich wollte nur Nessie abholen. Ich hoffe, ihr geht’s wieder gut.«

»Sie ist mit Dad im Garten, und ich schätze, sie hat ihr gestriges Abenteuer gut überstanden.«

»Besser als du deins, wie mir scheint.« Sie konnte es nicht lassen, ihren großen Bruder zu ärgern. »Ich versteh einfach nicht, warum du dich immer von Collum herausfordern lässt«, kicherte sie. »Es gibt niemanden hier in Kirkby, der so trinkfest ist wie unser Bürgermeister.«

»Und du steckst mit Colleen unter einer Decke.«

»Tu ich nicht. Aber wenn sie das auch festgestellt hat, dann zeugt das nur von ihrer guten Beobachtungsgabe. Wobei, so viel Talent braucht man dafür nicht. Es ist ziemlich offensichtlich. Aber gräm dich nicht, ich bin dir jedenfalls sehr dankbar, dass du das Charity-Fass zugunsten unserer Gemeinde ersteigert hast. Das war sehr nobel von dir.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und drückte ihrem Bruder einen kleinen Kuss auf die Wange. Dann ging sie in die Küche, wo ihre Tante Alice und ihre Cousine Hailey herumwirbelten. Das Frühstück der Hotelgäste war noch voll im Gange.

»Frühstück, Schätzchen?«, fragte Alice.

»Nein danke. Ich will nur Nessie abholen.« Shona schnupperte. Die Duftmischung aus frisch gebackenen Muffins und kross gebratenem Speck war unwiderstehlich, doch sie hatte wirklich keine Zeit. Sie würde sich gleich ein süßes Teilchen aus der Old Bakery holen, der alten Bäckerei, die ihre Cousine Kristie vor ein paar Wochen eröffnet hatte, und dann musste sie in die Destillerie.

Sie schlüpfte durch die Hintertür hinaus auf eine kleine, geschützte Terrasse, die nur von der Familie, nicht von den Hotelgästen benutzt wurde, und trat gleich darauf in den verwilderten Garten. In früheren Zeiten musste er wunderschön und gepflegt gewesen sein, das wusste sie aus Erzählungen. Ihre Mutter hatte angeblich einen grünen Daumen gehabt und ein wahres Paradies angelegt. Shona hatte ihre Mum nie kennengelernt, denn sie war zwei Monate nach ihrer Geburt an Krebs gestorben. Der Garten hieß trotzdem immer noch »Bonnies Garden«, auch wenn Isla gelegentlich sarkastisch bemerkte, dass Bonnie wohl ziemlich entsetzt wäre, wenn sie sehen könnte, was aus ihrem Lieblingsort geworden war. Shona liebte die grüne Hölle gerade wegen ihrer Wildheit. Da war nichts Akkurates und Gepflegtes mehr, sondern ungezähmt blühende Natur – und ihr Vater, der Zeitung lesend in einem verwitterten Gartensessel saß, mit Aidans Jack Russell Terrier Tito zu seinen Füßen und Nessie, die zufrieden am Klee naschte, in seiner Nähe.

»Guten Morgen, Daddy«, begrüßte sie Marlin, der gleich seine Zeitung zusammenfaltete und sein jüngstes Kind anstrahlte. »Geht’s euch gut?«

»Blendend«, bestätigte ihr Vater. »Was man von deinem Bruder nicht gerade behaupten kann.«

»Ich weiß, ich hab ihn eben schon gesehen«, entgegnete Shona kichernd. »Außerdem war ich gestern dabei, als Collum ihn zu einer Art Wetttrinken provoziert hat. Aus lauter Dankbarkeit, weil Alex das Fass zugunsten von Kirkby ersteigert hat. Das muss ein Männerding sein, ich meine, ein ›Danke‹ hätte doch auch gereicht, oder?« Sie schüttelte den Kopf.

»Hey, ruinier nicht dein Geschäftsmodell. Du bist doch abhängig davon, dass deine Kunden gerne trinken.«

»Whisky ist ein Genussmittel!«, betonte sie. »Sonst kann man ja gleich Wodka trinken.«

»Wenn du das sagst …« Marlin schmunzelte in seinen Bart. »Ich bin jedenfalls froh, dass Nessie mir gestern die perfekte Ausrede dafür geliefert hat, deine Party zu verlassen. Deshalb geht’s mir heute blendend. Der Kleinen übrigens auch. Sie hat die Nacht mit meinen Schafen verbracht.«

»Nessie war draußen?«, rief Shona schockiert. »Aber du solltest sie doch im Auge behalten!«

»Hab ich ja. Ehe ich ins Bett gegangen bin, habe ich mich noch einmal davon überzeugt, dass bei ihr alles okay war, und heute früh ist sie fröhlich angetrabt, als ich zur Weide gekommen bin.«

»Aber sie ist es doch gar nicht gewohnt, draußen zu schlafen!« Shona konnte es nicht fassen, dass ihr Vater so gedankenlos sein konnte.

»Hätte ich etwa draußen kampieren sollen?«

»Nein, du hättest sie ins Haus bringen müssen!«

»Vielleicht als Bettvorleger in meinem Schlafzimmer?« Marlin hob eine Braue und lachte.

»Natürlich!«, beharrte Shona störrisch. »Nessie ist ein Haustier. Das kann man nicht einfach zu den Schafen auf die Weide stellen. Was, wenn ein Wolf gekommen wäre?«

»Schätzchen, hier gibt es keine Wölfe. Und selbst wenn, hätte Nessie sicher weniger zu fürchten gehabt als meine Schafe. Du weißt doch, dass Alpakas sehr wehrhaft sind und in anderen Ländern sogar zur Wolfsabwehr bei Schafherden eingesetzt werden.«

Shona funkelte ihren Vater wütend an. Sie brauchte keinen Vortrag, sondern Verständnis. »Noch einmal: Nessie ist ein Haustier! Du würdest Tito doch auch nicht draußen in der Wildnis schlafen lassen.« Sie kraulte den kleinen Hund, der sie freundlich begrüßt hatte.

»Ich schätze, wir haben ein grundlegend unterschiedliches Verständnis davon, was Haus- und was Nutztiere sind, aber ich bin mir sicher, dass Nessie ihr gestriges Abenteuer gut überstanden hat. Sowohl ihren Rausch als auch ihre Nacht in der Wildnis.« Marlin lachte gutmütig.

»Du nimmst mich einfach nicht ernst«, knurrte sie verärgert. Sie hasste es, wenn ihr Vater so gönnerhaft mit ihr umging. Ihre Geschwister behaupteten zwar ständig, dass sie sein absoluter Liebling sei und er ihr keinen Wunsch abschlagen könne, und ja, das stimmte auch, aber andererseits behandelte er sie oft genug auch wie ein naives kleines Mädchen. Das sie nicht war! »Komm, Nessie, wir gehen zur Arbeit!« Sie drehte sich auf dem Absatz um, lief in Richtung Gartentor und stellte zufrieden fest, dass ihr das Alpaka tatsächlich wie ein Hund folgte. Von wegen Nutztier und kein Haustier!

Einträchtig wanderten sie die Straße in Richtung Dorfmitte entlang, und Shona genoss den milden Sommermorgen. Das Wetter war auch heute noch schön. Seit fast einer Woche hatten sie eine stabile Sonnenphase, die sie ungeheuer genoss, auch wenn einige vermuteten, dass es sich um eine Folge des Klimawandels handelte. So wunderschön es in den Highlands war, das Wetter empfand Shona oft genug als herausfordernd. Auch wenn sie es offiziell niemals zugeben würde – denn das würde in den Augen ihrer schottischen Mitbürger schon fast an Hochverrat grenzen –, war sie ein Sonnenkind und blühte bei blauem Himmel und Wärme auf. Klar, der Klimawandel war scheiße, aber diese spezielle Nebenwirkung konnte sie genauso gut mitnehmen. Und so betrat sie wenige Minuten später gut gelaunt die Old Bakery, in der das Morgengeschäft nur so brummte.

»Guten Morgen«, rief sie fröhlich in den Raum. Hinter der gläsernen Verkaufstheke sauste ihre Cousine Kristie mit geröteten Wangen herum und versorgte die Laufkundschaft mit ihren Köstlichkeiten sowie Kaffee und Tee zum Mitnehmen. Auch die fünf kleinen Tischchen im Café-Bereich waren besetzt und wurden von einer neuen Aushilfe versorgt, die Shona noch nicht kannte. Ganz hinten in der Ecke saß Anna und winkte ihr zu. Die junge Landärztin wohnte direkt nebenan und frühstückte seit Eröffnung der Bäckerei jeden Tag bei Kristie. Und zwar immer in Begleitung ihres gigantischen Maine-Coon-Katers Elvis, der auch heute neben ihr auf einem Sessel thronte und das Geschehen mit seinen bernsteingelben Augen verfolgte.

»Also das geht jetzt wirklich zu weit!«, erklang die aufgeregte Stimme einer Frau, die mit ihrem Mann am Tisch neben Anna saß und an ihrem Reiseführer klar als Touristin zu erkennen war. »Miss! Miss!!« Sie winkte die Kellnerin energisch zu sich.

»Ma’am?«, fragte das Mädchen nervös.

»In diesem kleinen Laden befinden sich gerade zwei Hunde, eine Katze und jetzt auch noch ein Lama!«, rief die Touristin empört. »Das ist eklig und unhygienisch. Sorgen Sie dafür, dass dieses Biest sofort wieder geht!«

»Aber …« Die Kellnerin war eindeutig überfordert mit der Situation.

»Es ist ein Alpaka und kein Lama«, sagte Shona kühl zu der Frau, die sich Beifall heischend umgesehen, aber nur Stirnrunzeln von den anderen Gästen und Kunden geerntet hatte.

»Was spielt das für eine Rolle?«, blaffte die Frau. »Ich fühle mich belästigt.«

»Wir sind ein tierfreundliches Café«, piepste die Kellnerin, die sich offenbar an das Schild erinnerte, das im Schaufenster hing.

»Und eine tierfreundliche Gemeinde«, sprang ihr Collum bei, der gerade die Bäckerei betreten und den letzten Satz gehört hatte. »Gibt es ein Problem?«

»Hunde sind ja eine Sache, aber dass auch Katzen und dieses … ähm … Alpaka hier rumlaufen, geht eindeutig zu weit!« Die Frau plusterte sich immer mehr auf. Ihrem Ehemann war das offensichtlich unangenehm, denn er legte beruhigend eine Hand auf ihren Arm, doch das schien sie eher noch zu befeuern. Sie schlug seine Hand weg und stand so vehement auf, dass ihr Stuhl polternd umfiel.

»Ich werde mich beschweren. Bei der Polizei oder im Rathaus oder beim örtlichen Gesundheitsamt!«

»Wussten Sie, dass Alpakas spucken, wenn sie sich bedroht fühlen?«, fragte Shona und konnte nur mit größter Mühe einen Lachflash zurückhalten. Erstens würde Nessie das niemals tun, und zweitens freute sie sich schon auf das, was zweifellos gleich kommen würde.

»Gemeingefährlich!«, schrie die Frau. »Ich gehe auf der Stelle ins Rathaus. Dieser Laden muss geschlossen werden.«

»Den Weg können Sie sich sparen«, entgegnete Collum mit freundlichem Lächeln, und Shona wunderte sich insgeheim, dass er so frisch aussah – nach dem anstrengenden Whisky-Gelage gestern Abend. »Ich bin der Bürgermeister von Kirkby, und ich kann Ihnen versichern, dass hier alles ordnungsgemäß abläuft. Von den Tieren in unserem Ort geht keine Gefahr aus.«

»Aber … das können Sie doch gar nicht sagen. Die Gesundheitsbehörde sieht das sicher anders.

»Ich bin zwar nicht das Gesundheitsamt«, mischte sich nun Anna in die Diskussion ein. »Aber als Ärztin von Kirkby kann auch ich Ihnen versichern, dass Sie sich wirklich keine Sorgen machen müssen.«

»Sie sind Ärztin?«

»Bin ich. Im Übrigen kann jeder Gastronomiebetreiber selbst bestimmen, ob er Tiere in seinem Gastraum zulässt oder nicht – solange die Speisen in hygienisch einwandfreier Umgebung zubereitet werden.« Die blond gelockte Anna lächelte engelsgleich.

»Das wäre bei uns in den Staaten nicht erlaubt«, begehrte die Frau erneut auf.

»Da mein Café aber in den schottischen Highlands liegt, darf ich das entscheiden«, sagte nun Kristie, die in den Gastraum gekommen war. »Wir Schotten lieben unsere Tiere, sie sind Teil unseres Lebens – und daher sind sie mir ebenso willkommen wie meine menschlichen Gäste. Es tut mir leid, wenn Sie sich nicht wohlfühlen, aber Sie verstehen sicher auch, dass ich wegen Tagesgästen nicht meine Regeln ändern werde. Trinken Sie in Ruhe Ihren Kaffee aus, danach wünsche ich Ihnen weiterhin einen schönen Urlaub. Ihre Bestellung geht aufs Haus.« Sie nickte der Querulantin kurz zu und kehrte dann hinter ihren Verkaufstresen zurück.

Shona war beeindruckt. So selbstbewusst hatte sie ihre schüchterne Cousine noch nie erlebt. Einige Kunden, die die absurde Szene mit wachsender Verwunderung beobachtet hatten, spendeten spontan Applaus, was dazu führte, dass die aufgebrachte Frau aus der Bäckerei stürmte und ihrem Mann herrisch bedeutete, ihr zu folgen. Der murmelte verlegen eine Entschuldigung und lief seiner Frau hinterher.

»Puh«, entfuhr es Shona, als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel. »Polizei und Gesundheitsamt? Manche Menschen haben doch wirklich ein Schräubchen locker.«

»Die werden garantiert eine miese Bewertung auf sämtlichen Internetportalen hinterlassen«, sagte Kristie und wirkte mit einem Mal reichlich niedergeschlagen.

»Und selbst wenn, ein Kommentar à la ›Katzen und Kamele zum Kaffee‹ wird viele andere Leute erst zu dir in den Laden locken«, tröstete Shona.

»Deine Stammkunden sind dir ohnehin sicher«, behauptete Anna, die sich mit einem bedauernden Lächeln erhob. »Ich muss leider gehen und meine Praxis aufsperren. Sehen wir uns heute Abend beim Singen?«

Kristie nickte, und ihr Lächeln kehrte zurück.

»Wir sind auch Touristen und finden Ihre Bäckerei ganz zauberhaft«, schaltete sich eine ältere Dame ein, die geduldig in der Schlange stand und darauf wartete, an die Reihe zu kommen. »Von uns kriegen Sie eine tolle Bewertung! Aber sagen Sie, Miss, gibt es in Kirkby auch eine Destillerie?«

»Das ist sehr nett von Ihnen, vielen Dank«, freute sich Kristie. »Und ja, es gibt eine Destillerie. Sie wurde gestern eröffnet. Ob man sie heute besichtigen kann, weiß ich nicht.« Kristie zwinkerte Shona zu.

»So nette Besucher wie Sie dürfen das natürlich!« Sie ging auf die Frau zu und reichte ihr die Hand. »Ich bin Shona Fraser von der Golden Alpaca Distillery – und wenn Sie Lust haben, freue ich mich nachher auf Ihren Besuch.«

• • •

Kendrick saß ein wenig ratlos auf der Holzbank vor seinem Cottage und genoss die warme Spätnachmittagssonne. Bis vor einer halben Stunde war er gut beschäftigt gewesen: Bereits um acht Uhr morgens war der Speditions-Lkw angekommen, und die Möbelpacker-Jungs hatten innerhalb von nur einer Stunde sein ganzes Hab und Gut in sein neues Häuschen getragen. Er hatte Kisten ausgepackt und Lampen montiert, bis er gegen zwei Uhr mit allem fertig gewesen war – so üppig war sein Hausstand nicht. Das meiste war bei Glenna geblieben. Danach war er mit dem Auto nach Inverness gefahren, um in einem großen Supermarkt Lebensmittel für die Woche zu kaufen.

Dort war er prompt seiner Zwillingsschwester Kyleen in die Arme gelaufen, die sich amüsiert erkundigt hatte, ob er denn schon nach einem Tag auf der Flucht sei. Grinsend hatte sie ihm ihr Handy unter die Nase gehalten, auf dessen Display der neueste Beitrag irgendeines Highland-Blogs zu lesen war. Es ging um die Eröffnung der Destillerie in Kirkby und den »heimtückischen Mordanschlag« auf deren Maskottchen. Ernsthaft! So hatte dieser Hobbyreporter das geschrieben. Garniert mit einem wenig schmeichelhaften Foto, auf dem Kendrick und sein neuer Transporter eindeutig zu erkennen waren. Ganz wunderbar.

Kendrick wusste nicht, was ihn mehr nervte: dass er damit mal wieder im Fokus des Spotts seiner Familie stand oder dass er gestern ja tatsächlich einen etwas unglücklichen Einstand gehabt hatte. Vermutlich war es eine Mischung aus beidem. Er rechnete zwar nicht damit, dass ihm die Tierbesitzer aus der Region ernsthaft einen Strick aus der Aktion drehen würden, schließlich kannten ihn die meisten schon seit Jahren, doch richtig cool war es nicht. Und leider war er zurzeit längst nicht so tiefenentspannt, wie es seinem Naturell eigentlich entsprach. Genau genommen war er sogar ausgesprochen dünnhäutig.

Seine Gedanken schweiften wieder zu Glenna und seiner Schwester Davina ab – und er musste sich mit aller Macht von diesem dunklen Ort losreißen. Dahin wollte er sich gerade überhaupt nicht begeben. Schließlich war er vor allem deshalb nach Kirkby gezogen – um Abstand zu gewinnen, auch wenn er offiziell immer die bessere lokale tierärztliche Versorgung als Grund angab. An manchen Tagen glaubte er das sogar selbst, an anderen, an den meisten … eher nicht. Verdammter Mist!

Und jetzt saß er hier, mutterseelenallein, und hatte nicht mal was zu tun. Grandios. Heute früh hatte er sich gleich bei Marlin erkundigt, wie es dem Alpaka ging. Offensichtlich hatte Nessie den Zusammenstoß weitgehend unbeschadet überstanden, was ein großes Glück war. Kendrick mochte sich gar nicht ausmalen, was hier los wäre, hätte das Tier den Crash nicht überlebt. Wahrscheinlich sollte er demnächst auch persönlich bei Shona Fraser vorbeischauen und sich bei ihr entschuldigen. Besonders charmant war er gestern nicht zu ihr gewesen, auch wenn er seine Kritik in der Sache immer noch berechtigt fand. Sie hätte auf ihr Tier aufpassen müssen oder, besser noch, es gar nicht erst zu dieser Veranstaltung mitnehmen sollen.

»Jemand zu Hause?«, hörte er plötzlich eine Stimme, die aus der Richtung seines Gartentors kam. Noch ehe er aufstehen oder sonst wie reagieren konnte, flitzte ein hübscher junger Neufundländer auf ihn zu und begrüßte ihn stürmisch.

Einen Augenblick später folgten die dazugehörigen Menschen, der Pubwirt Jon Grant und Isla Fraser. »Stören wir?«, wollte Jon wissen.

»Nein, überhaupt nicht. Herzlich willkommen.« Kendrick lachte, als Polly – so hieß die Hündin – versuchte, ihre Schnauze in seine Hosentasche zu bohren.

»Polly, lass das!«, schimpfte Jon halbherzig, doch Kendrick winkte ab.

»Lass sie«, sagte er. »Ich freu mich immer, wenn meine Patienten mich noch mögen, auch wenn ich ihnen schon mal wehtun musste. Kann ich euch etwas anbieten? Kaffee? Wasser? Bier?«

»Das ist normalerweise mein Sprüchlein«, entgegnete Jon lachend. »Wir wollten nur mal schauen, wie es dir geht. Ob du dich schon gut eingelebt hast und ob du Hilfe brauchst.«

»Und ob du dich von dem Zusammenstoß gestern erholt hast«, fügte Isla mit einem frechen Augenzwinkern hinzu.

»Der Umzug ist geschafft«, erwiderte er und zögerte dann. »Was alles andere betrifft …«

»Hast du für reichlich Wirbel gesorgt«, ergänzte Jon grinsend. »›Der Kamel-Killer von Kirkby‹ ist mein Lieblingsslogan zum gestrigen Event. Du hast in den sozialen Medien mehr Aufmerksamkeit bekommen als die Destillerie.«

Kendrick verzog das Gesicht. Er hatte es bislang vermieden, im Internet zu surfen. Der Blogpost, den Kyleen ihm vorhin gezeigt hatte, war schon grässlich genug gewesen.

»Ach komm schon, es gibt keine schlechte Werbung«, tröstete Jon und schien sich über all das unfassbar zu amüsieren.

»In diesem Punkt kannst du ihm vertrauen«, pflichtete ihm Isla bei. »Jon war schließlich mal ein berühmter Werber, ehe er in die Niederungen der Gastronomie hinabgestiegen ist.«

»Vielleicht kommt der Moment, in dem ich drüber lachen kann«, seufzte Kendrick düster. »Im Augenblick ist es noch nicht so weit.«

»Es kann sich nur um Tage handeln, bis in Kirkby die nächste Sau durchs Dorf getrieben wird, dann bist du völlig uninteressant. Es sei denn, du rettest der Sau das Leben. Dann bist du ein Held.« Isla schien ihren flachen Witz ziemlich originell zu finden.

»Dann weiß ich ja, worauf ich mich freuen kann.« Der spontane Besuch hatte Kendrick wirklich aufgemuntert, doch nun fragte er sich, wie lange seine Gäste noch bleiben wollten. Gleichzeitig ärgerte er sich über sich selbst und sein humorloses Verhalten. Das war untypisch für ihn, denn normalerweise konnte er sehr gut über sich und seine Missgeschicke lachen. Selbstironie war in seiner Familie so etwas wie eine überlebensnotwendige Fähigkeit. Jedenfalls, wenn man ein Mann war. Er rieb sich mit dem Handrücken über den Dreitagebart. »Sorry, ich benehme mich wie der letzte Idiot.«

»Tust du nicht«, beteuerte Isla. Der Schalk war aus ihren Augen gewichen, stattdessen taxierte sie ihn mit einem Blick, in dem sich Mitgefühl und Bedauern spiegelten. Was die Sache für Kendrick nicht unbedingt besser machte. »Wir müssen uns entschuldigen. Das gestern muss wirklich blöd für dich gewesen sein, und unsere Sprüche waren alles andere als hilfreich. Wir wollten dich auch eigentlich fragen, ob du gerne singst.«

»Ob ich gerne singe?«, gab er verblüfft zurück.

»Ja, am Montag probt immer der Kirchenchor – und keine Sorge, das ist längst nicht so dröge und feierlich, wie es sich anhört.«

»Wenn du das sagst …« Er und singen? Nicht in diesem Leben! Er liebte Musik und Tanz, aber die Töne, die seiner Kehle bei Gesangsversuchen entwichen … »Laut meinen Schwestern sollte meine Singstimme unter die Genfer Waffenkonvention fallen. Ich muss also passen.«

Jon lachte laut los. »Willkommen im Club! Isla versucht mich schon seit Wochen vergeblich zum Singen zu bewegen. Ihrer Meinung nach kann jeder Mensch singen.«

»Oh, ich kann singen. Es will nur keiner hören.« Kendrick grinste.

»Männer!«, murmelte Isla und verdrehte die Augen. »Okay, dann Plan B. Wenn ihr schon nicht singen wollt, wie wäre es dann mit einem gemeinsamen Abendessen? Wir könnten rausfahren. Vielleicht irgendwohin, wo man draußen sitzen kann.«

»Oder wir grillen bei mir«, schlug Kendrick zu seiner eigenen Überraschung vor. »Ich war vorhin im Supermarkt und habe viel zu viel für mich allein eingekauft.«

Isla und Jon warfen sich einen kurzen Blick zu, der eine ganze Konversation enthielt. Kendrick war gleichermaßen fasziniert und abgestoßen von dieser Form der Vertrautheit, die bei manchen Paaren herrschte. Er und Glenna hatten das auch gehabt – doch vor dem größten Missverständnis in ihrem Leben hatte es sie nicht geschützt. Von seinen Schwestern kannte er dieses Phänomen ebenfalls, vor allem mit Kyleen verstand er sich fast wortlos. Doch wie würde das »Gespräch« zwischen seinen beiden Gästen ausgehen?

Er rechnete schon mit einer höflichen Absage, da überraschte ihn Isla mit einem fröhlichen »Sehr gern!« und fing prompt an, Gläser und Plastikboxen aus ihrem Rucksack zu ziehen. »Da trifft es sich ja gut, dass wir auf dem Weg hierher Blaubeeren, ein paar Pilze und Kräuter gesammelt haben. Die können wir gleich verarbeiten.«

Kendrick starrte sie sprachlos an – zu verblüfft, um etwas zu sagen. Hatten sie sich am Ende schon auf ein Essen bei ihm vorbereitet?

»Ich weiß, wie es aussehen muss«, erklärte Jon, »aber Isla bricht zu jedem Spaziergang mit einer mittleren Expeditionsausrüstung auf und sammelt Essbares. Meistens ist es auch lecker«, fügte er hinzu und kassierte von seiner Freundin einen Stoß mit dem Ellbogen in die Seite.

»Na dann …« Kendrick lächelte schwach und stand auf.

Als Isla, Jon und Polly gegen zehn Uhr abends wieder gingen, fühlte sich Kendrick deutlich besser. Es war ein wirklich schöner Abend gewesen, mit einem sagenhaften Essen. Er hatte keine Ahnung gehabt, dass gegrillte Steaks und in der Glut gegarte Kartoffeln so köstlich sein konnten. Dabei hatte sich Isla beim Grillen selbst gar nicht eingemischt, sondern nur einen Salat gemacht, gebratene Pilze darübergestreut und einen leckeren Dip aus ihren Wildkräutern gemixt. Aber vermutlich war es nicht das leckere Essen gewesen, das seine Stimmung so verbessert hatte, sondern die Gesellschaft. Sie hatten sich gut unterhalten – über Gott und die Welt und Kirkby. Jon hatte von seiner ersten Zeit hier erzählt. Er war auch erst seit März hier, schien sich aber schon völlig heimisch zu fühlen und schwärmte von den Menschen und dem Zusammenhalt im Ort.