Highland Hope 4 - Eine Bäckerei für Kirkby - Charlotte McGregor - E-Book
SONDERANGEBOT

Highland Hope 4 - Eine Bäckerei für Kirkby E-Book

Charlotte McGregor

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Annabel bringt das Herz von Lennox zum Klingen ... und gemeinsam verwirklichen sie ihre Träume

Die Landärztin Anna Campbell hätte nie gedacht, dass sie sich so in das malerische Kirkby verlieben würde. Auch ihr Maine-Coon-Kater genießt die täglichen Besuche in der Old Bakery, in der Kristie das beste Shortbread von ganz Schottland backt. Hier trifft die optimistische Anna auch immer wieder auf den rätselhaften Lennox Fraser. Dieser fühlt sich als das schwarze Schaf der Familie. Insbesondere Vater Marlin ist strikt gegen Lennox´ Karriere als Musiker. Als Waise weiß Anna wie es ist, sich alleine durchzukämpfen. Die beiden scheinen perfekt füreinander. Doch ein lang gehütetes Familiengeheimnis kann nicht länger verheimlicht werden und stellt alles auf den Kopf...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 527

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



DASBUCH

Es war ein Fehler gewesen, hierher zu kommen! Lennox spürte, wie sein Herz schlug. In seinen Ohren rauschte es und einen kurzen Moment lang hatte er Angst, ohnmächtig zu werden oder alternativ den Verstand zu verlieren. Annas kurze und ganz zarte Berührung hatte sich wie ein Axthieb angefühlt. Der Schmerz war kein körperlicher, doch das machte ihn nicht weniger schlimm. Es fühlte sich an, als wäre ein Fass an negativen Gefühlen in ihm explodiert. Er kannte sie alle. Es waren nämlich seine eigenen, bei denen er sehr viel Mühe darauf verwandt hatte, sie sorgfältig wegzusperren und zu verdrängen. Doch nun waren sie alle wieder da – roh und zerstörerisch. Anna hatte sie auch gefühlt, da war er sich ganz sicher, denn kurz bevor seine innere Atombombe detoniert war, hatte er ihre vorsichtig forschende, fragende Annäherung gespürt.

Lennox Fraser kehrt nach langer Zeit in seinen Heimatort Kirkby zurück. Er nimmt an einem Yoga-Seminar teil, das die neu zugezogene Ärztin Anna Campbell anbietet. Soweit der äußere Anlass. In Wahrheit aber will sich Lennox seiner Vergangenheit stellen. Als er und Anna sich das erste Mal gegenüberstehen, empfinden sie sofort eine merkwürdige Vertrautheit. Doch sind sie wirklich bereit für die Liebe?

DIE AUTORIN

Mit Sehnsuchtsorten kennt sich Charlotte McGregor aus. Schon in frühester Kindheit fühlte sie sich zu Städten und Ländern hingezogen, die sie nur aus Büchern oder Filmen kannte. Kein Wunder, dass sie aus ihrem Fernweh einen Beruf gemacht hat. Die Journalistin schrieb jahrelang Reiseberichte für Zeitungen und Magazine, ehe sie ihre Lieblingsorte auch in Romanen verewigte. Derzeit schlägt ihr Herz für Schottland, wo sie regelmäßig mit ihrem Mann durch Städte, Dörfer und die Highlands streift und sich voller Enthusiasmus auf Whisky, Haggis und Kilts stürzt.

LIEFERBARE TITEL

Highland Hope 1 – Ein Bed & Breakfast für Kirkby

Highland Hope 2 – Ein Pub für Kirkby

Highland Hope 3 – Eine Destillerie für Kirkby

CHARLOTTE McGREGOR

EINE BÄCKEREI

FÜR KIRKBY

ROMAN

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Originalausgabe 01/2022

Copyright © 2022 by Charlotte McGregor.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die literarische Agentur Michael Gaeb

Copyright © 2022 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Julia Funcke

Umschlaggestaltung: ZeroMedia GmbH, München,

unter Verwendung von © FinePic®, München;

Getty Images/Andy Stark

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-26768-1V001

www.heyne.de

Für Katharina

»Ein Klang von Liebe«

Und für meinen Seelenhund Toni

(2008–2021)

INHALT

Was tu ich hier bloß?

Glück ist eine Entscheidung

Naturgeister

Keks-Kungeleien

Reminiszenzen

Frühstücksphilosophen

Männergespräche

Neben der Spur

Shortbread-Storys

Another World

Offenbarungseid

Hosen runter

Showdown

London calling

Marlin in Not

Sorry seems to be …

… The hardest word

Verzeihung?!

Alpakatherapie

Neuanfänge …

… und Comebacks

Weihnachtswunder

Figurenregister

Granny Fraser’s Famous Shortbread

Cèilidh, Highland Games und Yoga

Danke

Karte Kirkby

WAS TU ICH HIER BLOSS?

»ELVIS, RUNTER VON DER Vitrine!«

Kristies energische Stimme riss Anna Campbell aus ihren Gedanken. Sie stand wie jeden Morgen geduldig in der Schlange in Kristie’s Old Bakery, um sich ihr Frühstück zu besorgen. Nun sah sie erschrocken hoch und erspähte ihren riesigen, grau getigerten Maine-Coon-Kater, der in äußerst lässiger Pose auf der gläsernen Tortenvitrine herumlungerte und gelangweilt auf die Schar der Zweibeiner zu seinen Pfoten blickte. »Elvis, runter!«, rief sie streng, doch er starrte mit seinen Bernsteinaugen knapp an ihr vorbei. Ihre Katze eigensinnig zu nennen wäre die Untertreibung des Jahrhunderts gewesen. Seit drei Jahren teilte sie ihr Leben mit dem stattlichen Tier, und Elvis hatte sie bestens erzogen.

Die Kundin vor ihr war versorgt, und nun stand Anna selbst am Tresen. »Hast du eine Leiter? Dann hol ich ihn runter«, bat sie resigniert. Normalerweise setzte sich der Kater nur aufs Fensterbrett oder auf einen Stuhl im Cafébereich der Bäckerei. Doch offensichtlich war ihm diesmal nach mehr Aufmerksamkeit – vermutlich weil sie seinen Bedürfnissen heute noch nicht angemessen nachgekommen war.

»Nicht nötig«, mischte sich Betty Murray ein, die aus der Backstube kam und das freche Tier leicht am buschigen Schwanz zupfte, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Komm, mein Hübscher, ich hab was für dich!« Sie raschelte verführerisch mit einer Tüte seiner Lieblingsleckerlis, und prompt sprang der Verräter mit einem mächtigen Satz erst auf den Tresen und dann auf den Boden, um seiner Wohltäterin zu folgen.

 »O Mann«, murmelte Anna leicht verlegen.

»Mach dir nichts draus«, tröstete Kristie mit einem breiten Lächeln. »Es gibt solche Tage. Entscheidend ist doch aber, dass heute Nachmittag alles läuft.«

»Das hoffe ich sehr. Wäre ja schlimm, wenn das Benehmen meines dreisten Katers schon ein schlechtes Omen wäre.« Anna schloss kurz die Augen, um diesen negativen Gedanken gleich wieder aus ihrem Bewusstsein zu vertreiben. Sie wollte voller Zuversicht und positiv an ihr neues Projekt herangehen und sich nicht selbst sabotieren.

»Es wird nichts passieren!«, entgegnete Kristie im Brustton der Überzeugung. »Dafür bist du viel zu gut vorbereitet. Echt schade, dass ich nicht mitmachen kann.«

»Finde ich auch. Ich hätte gerne ein bekanntes und mir wohlgesinntes Gesicht dabei.« Sie seufzte. Dieser Workshop war die totale Schnapsidee, und sie hätte sich nie darauf einlassen sollen. Warum nur hatte sie sich dazu beschwatzen lassen? Nicht umsonst gab es doch diesen Spruch: »Schuster, bleib bei deinen Leisten.« In ihrem Fall wäre das zwar eher ein Stethoskop gewesen, aber das Bild passte trotzdem. Seit neun Monaten war sie als neue Ärztin in Kirkby und mit ihrem Praxisalltag eigentlich gut ausgelastet. Im Vergleich zu ihrer früheren Kliniktätigkeit in Edinburgh fühlte sich der Job hier zwar wie ein Wellnessaufenthalt an, aber trotzdem: Hätte sie es nicht einfach bei den beiden Yogakursen bewenden lassen können, die sie seit dem Sommer in der alten Schule anbot? »Was tu ich hier bloß?«, entfuhr es ihr leise.

»So niedergeschlagen kenne ich dich gar nicht. Hast du Lampenfieber?«, unterbrach Kristie ihre Gedanken.

»Wahrscheinlich«, gab Anna zu und zwang sich zu einem Lächeln. Jetzt gab es ohnehin kein Zurück mehr.

»Dazu besteht kein Anlass!«, beharrte die hübsche Bäckerin erneut. »Was magst du zum Frühstück? Normale Croissants? Oder lieber etwas Üppigeres?«

»Definitiv etwas Üppigeres! Einen großen Cappuccino mit einem Espresso-Shot extra und zwei Schokoladen-Croissants, bitte«, bestellte Anna. Sie brauchte heute Morgen einfach jede Form der Stärkung, die sie kriegen konnte. »Sind meine Kekse schon fertig?«

»Natürlich. Ich bring sie dir gleich an den Tisch.« Kristie legte zwei knusprige Gebäckstücke auf einen Teller und schob ihn über den Tresen.

Anna bezahlte und ging mit der süßen Beute zu ihrem Lieblingsplatz in der Ecke, von dem aus sie nicht nur den schnuckeligen kleinen Laden im Blick hatte, sondern auch die Straße, wo der übliche Morgentrubel herrschte. Der Oktobertag hatte sich zu dieser frühen Stunde noch nicht entschieden, welches Wetter er heute bieten wollte, und schickte gerade etwas unentschlossen aussehende graue Wolken über den Himmel. Schüler jeder Altersklasse versammelten sich, mit bunten Regenjacken auf alle Eventualitäten vorbereitet, an der zentralen Haltestelle, wo sie auf ihren Schulbus warteten. Etliche Autos fuhren vorbei – Bewohner von Kirkby, die zu ihrem Arbeitsplatz in Inverness oder an einem noch weiter entfernten Ort unterwegs waren.

Aus dem Dorfpub The Wise Pelican trat gerade Isla Fraser, um mit ihrer Neufundländer-Hündin Polly die übliche Morgenrunde zu drehen, ehe sie zu ihrem Restaurant ging. Anna winkte ihrer Freundin zu, doch Isla wirkte ebenso geistesabwesend, wie sie selbst es vorhin gewesen war. Kein Wunder, denn an diesem Freitag würden die neuen Auszeichnungen des Guide Michelin für Großbritannien bekannt gegeben werden, und Anna wusste, dass Isla heimlich auf einen zweiten Stern hoffte. Das war eine wirklich große Sache und bot deutlich mehr Grund für Grübeleien als Annas kleiner Workshop. Wenn der nämlich nicht lief, würde exakt gar nichts passieren, außer dass ihre Ehre ein wenig angekratzt wäre. Doch damit würde sie leben können.

»Hier kommt dein Cappuccino«, sagte Kristie und servierte ihr die große Tasse. Auf dem perfekten Milchschaum prangte ein vierblättriges Kleeblatt aus gesiebtem Kakao.

»Wie lieb von dir«, freute sich Anna und strahlte Kristie gerührt an.

»Warte erst mal, bis du hier reingeschaut hast.« Kristie stellte eine weiße Keksdose auf den Tisch und sah Anna erwartungsvoll an.

»O mein Gott, sind die zauberhaft!«, rief Anna verblüfft und betrachtete andächtig das bestellte Shortbread, dem Kristie die Form perfekter Glückskleeblätter verliehen hatte.

»Ich dachte, so passen sie besser zum Motto deines Workshops.«

»Du bist unglaublich!« Anna stand auf und umarmte Kristie kurz. »Selbst wenn alle Stricke reißen, diese Kekse werden meine Teilnehmer garantiert glücklich machen. Tausend Dank.«

»Gern geschehen. Aber ich bin mir sicher, dass das Shortbread maximal das Sahnehäubchen sein wird. Zweifellos werden in den nächsten Tagen einige sehr beseelte Menschen durch Kirkby wandeln.« Kristie lächelte ihr aufmunternd zu und verabschiedete sich dann, um wieder an die Arbeit zu gehen.

Anna lehnte sich zurück, trank einen Schluck Kaffee und biss ein Stück vom ersten Croissant ab. Es war perfekt – knusprig, fluffig, schokoladig –, und es gab ihr aus irgendeinem irrationalen Grund das Gefühl, dass alles gut werden würde. Als sei es gar nicht möglich, in Gegenwart dieser Köstlichkeit Pech zu haben.

»Mau«, meldete sich Elvis zu Wort, der seinen Snack offensichtlich verspeist hatte und sich nun auch wieder seiner Mitbewohnerin zeigte. Er rieb kurz den mächtigen Kopf an Annas Bein, als Zeichen dafür, dass er ihr verziehen hatte, und sprang dann auf das Fensterbrett.

Sie wusste wirklich nicht, warum sie derart nervös war. Sie hatte schließlich nichts zu verlieren, sondern nur etwas zu gewinnen. Die Idee zu ihrem »Glücks-Yoga-Seminar« war ihr vor einiger Zeit gekommen, als zwei verschiedene Hörer ihres Podcasts sie angeschrieben und sich erkundigt hatten, ob sie in den Highlands auch Yoga anbieten könnte. Allein die Tatsache, dass ihr Podcast von mehr Menschen gehört wurde als nur von ihren Freunden in Edinburgh, für die sie ursprünglich damit angefangen hatte, fand Anna schon unglaublich. Und dass sich nun auch noch Fans direkt an sie wandten, war sensationell.

Mit »Highland Happiness«, wie ihre kleine wöchentliche Audioshow hieß, schien sie einen Nerv getroffen zu haben. Zwei ihrer Freunde, die ebenfalls einen Podcast betrieben, hatten sie mit ihrer Begeisterung für das Hörformat angesteckt, und nun war sie seit ein paar Monaten voller Elan dabei. Außerdem war es eine schöne Möglichkeit, von ihren Erlebnissen im schottischen Hochland zu erzählen, die für ihre früheren Kollegen und Bekannten in Edinburgh regelrecht exotisch klangen. Anna selbst hatte, bevor sie Anfang des Jahres nach Kirkby gezogen war, nie außerhalb von Edinburgh gelebt. Sie liebte ihre bunte, trubelige Heimatstadt immer noch sehr, aber ihren kräftezehrenden Alltag als Klinikärztin mit Endlosschichten vermisste sie kein bisschen.

Seit sie in Kirkby wohnte, fühlte sie sich viel ausgeglichener und viel mehr bei sich als je zuvor. Ihre beste Freundin Linda äußerte regelmäßig die Sorge, dass die viele ungewohnte Freizeit, die gute Luft und die zwangsläufige Langeweile auf Dauer nicht gut für Annas Seelenheil sein konnten, doch das Gegenteil war der Fall. Mal abgesehen davon, dass sie sich noch keine Sekunde gelangweilt hatte, seit sie hier lebte. Man konnte Kirkby sicher eine Menge Dinge unterstellen, aber nicht, dass hier nichts los war. Nur konnte Linda das nicht wissen, weil sie sich seit Monaten beharrlich weigerte, ihre urbane Komfortzone zu verlassen und ihre Freundin zu besuchen.

Sie war allerdings eine treue Hörerin des Podcasts – wie etliche völlig fremde Menschen offenbar auch – und hatte Anna in der zunächst noch sehr vagen Idee bestärkt, einen »Glücks-Yoga-Workshop« anzubieten. Colleen, die örtliche Event-Koordinatorin, und Bürgermeister Collum McDonald waren ebenfalls Feuer und Flamme für das Projekt gewesen, das ihrer Meinung nach auch in der Nebensaison neue Gäste nach Kirkby locken könnte. Ehe Anna sichs versah, hatten die beiden flugs ein Paket geschnürt – mit Übernachtungsangeboten entweder im Pub oder im örtlichen Edel-Bed-&-Breakfast The Cosy Thistle, das von Colleens Verlobtem Alexander Fraser betrieben wurde. Anna selbst hatte »nur« noch ihr Seminarprogramm entwickeln müssen – eine Mischung aus Yoga, Atem- und Achtsamkeitsübungen sowie einer kleinen Wandertour zu den Kraftplätzen der Umgebung.

Dagegen wäre grundsätzlich nichts einzuwenden gewesen, doch von der ersten Idee bis zum heutigen Start des ersten Workshop-Wochenendes waren gerade mal vier Wochen vergangen. Nach Annas Geschmack viel zu wenig Zeit dafür, gründlich an einem sinnvollen Konzept zu arbeiten. In ihrer vorletzten Podcast-Folge hatte sie das Seminar erwähnt, und nun lagen tatsächlich fünf Anmeldungen vor. Fünf Menschen, die sie nicht kannte, waren bereit, für ihren Kurs in die Highlands zu fahren und vierhundertfünfzig Pfund zu bezahlen – ohne Übernachtung. Zwei Frauen hatten sich ein Zimmer im Pub gemietet, ein Ehepaar ein Cottage im Bed & Breakfast, und jemand, der sich nur »Len« nannte, hatte gar keine Übernachtungsoption gewählt. Wo er oder sie nächtigen würde, wusste sie also nicht.

Seufzend griff sie nach ihrer Kaffeetasse, doch die war inzwischen leer. Dafür war ihr himmelblauer Pulli voller Croissantbrösel. »Mehr Achtsamkeit beim Frühstücken«, schimpfte sie leise mit sich selbst und schüttelte sich möglichst diskret die Blätterteigflocken vom Pullover. »Komm, Elvis, Zeit für die Sprechstunde.« Der Workshop begann erst um drei Uhr nachmittags. Vorher musste sie sich noch um deutlich Handfesteres kümmern – um die Gesundheit von Kirkbys Einwohnern.

Es waren nur wenige Schritte von der Bäckerei bis zum hübsch renovierten alten Arzthaus, in dem sie den ersten Stock bewohnte und in dessen Erdgeschoss ihre Praxis untergebracht war. Als sie vor einer halben Stunde zum Frühstücken aufgebrochen war, war dort alles noch ruhig und dunkel gewesen, doch nun saß ihre Helferin Maggie mit einem breiten Lächeln am Empfangstresen, und alle Räume waren hell erleuchtet. Anna scheuchte Elvis die Treppe zu ihrer Wohnung hinauf – auch wenn das ein etwas halbherziger und vor allem sinnloser Versuch war, den Kater von seinen Extratouren abzuhalten. Elvis nutzte seine Katzenklappe weidlich aus, war aber nicht darauf angewiesen. Im Notfall öffnete er auch Fenster und Türen, und Anna war sich ziemlich sicher, dass er früher oder später ihre Patienten im Wartezimmer besuchen oder zu einer seiner ausgedehnten Dorfrunden aufbrechen würde.

»Guten Morgen«, begrüßte sie Maggie, eine ehemalige Krankenschwester Mitte fünfzig, die froh war, einen Job in ihrem Heimatort ergattert zu haben. »Schon Kundschaft da?«

»Dein regulärer Acht-Uhr-Termin und zwei unangekündigte Erkältungsopfer«, entgegnete Maggie fröhlich und reichte ihrer Chefin die drei Patientenakten. »Scheint ein betriebsamer Tag zu werden.«

»Dann lass uns mal loslegen«, sagte Anna und ging in ihr Sprechzimmer, um sich die Hände zu waschen und ihren Kittel anzuziehen. Je mehr Patienten kamen, desto weniger musste sie über den Nachmittag und das Wochenende nachdenken.

• • •

»Was tu ich hier bloß?« Die Worte, die sich Lennox fast lautlos selbst zuraunte, dröhnten umso hallender in seinem Kopf. Was tat er hier? Wie war er auf die wahnwitzige Idee gekommen, nach Kirkby zu fahren? Das war natürlich eine rhetorische Frage, und er kannte die Antwort: Schuld hatte dieser verdammte Podcast, den er seit ein paar Monaten mit wachsender Begeisterung hörte. »Highland Happiness« hieß die Sendung. Der dämliche Titel wäre an sich schon Grund genug gewesen, überhaupt nicht reinzuhören, und doch hatte ihn die Stimme der Moderatorin von der ersten Minute an in ihren Bann gezogen. Er war im Frühjahr in Spanien gewesen, als er in einem Anfall von Heimweh über diesen Podcast gestolpert war.

Heimweh. Beim bloßen Gedanken daran schüttelte er jetzt den Kopf. Hatte er unter der spanischen Sonne, in einer hellen, bunten Stadt wirklich Heimweh nach diesen grünen Hügeln verspürt, den torfig-öden Weiten, den tief hängenden dunkelgrauen Wolken und den geheimnisvollen Seen? Auf jeden Fall war ihm der Podcast aufgefallen, und seitdem war Anna Teil seines Lebens. Obwohl oder vielleicht sogar weil sie ausgerechnet aus seinem Heimatdorf Kirkby sendete.

Er wusste kaum etwas über diese Anna. Sie sprach nicht viel von sich selbst, sondern erwähnte immer nur, dass sie noch nicht allzu lange in den Highlands lebte und dass für sie alles noch ein großes Abenteuer und ein noch viel größerer Glücksspender war. Die Art und Weise, wie sie die Landschaft beschrieb, ließ diese so reizvoll erscheinen, wie er selbst die Highlands nie wahrgenommen hatte, und er hatte sich dabei ertappt, dass er von Woche zu Woche mehr Lust bekam, die Region mit neuen Augen, mit ihren Augen wahrzunehmen. Außerdem hatte Anna regelmäßig Interviewpartner in ihrer Show. Sie hatte schon seine halbe Familie am Mikro gehabt, aber vor allem das Gespräch mit seiner Lieblingsschwester Isla hatte die lang ignorierte Sehnsucht in ihm weiter angefacht. Wie lang war es her, dass er sie das letzte Mal gesehen hatte? Bestimmt schon mehr als drei Jahre. Von seiner restlichen Familie ganz zu schweigen, die vermisste er aber längst nicht so sehr wie Isla. Redete er sich zumindest einigermaßen erfolgreich ein. Na ja, mittelerfolgreich wenigstens. Also ehrlich gesagt, gar nicht erfolgreich.

Es reichte ihm nicht mehr, nur übers Telefon oder in Text-Chats auf dem Laufenden gehalten zu werden. Sein ältester Bruder Alex würde bald erneut Vater werden, und Lennox kannte noch nicht einmal Colleen, die Mutter des Kindes. Auch die spröde Isla hatte ihr Herz verschenkt – was einem mittleren Weltwunder gleichkam. Dieser Jon musste ein wirklich außergewöhnlicher Mann sein, wenn er es mit Isla aufnehmen konnte. Selbst Shona, das Küken der Familie, hatte ausgerechnet in Kirkby ihr Glück gefunden, dabei hätte er sofort mehrere Gliedmaßen darauf verwettet, dass seine jüngere Schwester sich genauso auf ewige Zeiten von Kirkby fernhalten würde wie er selbst. Falsch gedacht.

Tja, und dann war es wieder Anna gewesen, die ihn mit ihrer Stimme, die ihn an sonnenwarmen Honig auf nackter Haut erinnerte, buchstäblich dazu gezwungen hatte, nach Kirkby zu fahren. Vor anderthalb Wochen hatte sie einen Workshop angekündigt, den sie geben wollte. Ein zweieinhalbtägiges Glücksseminar, in dem die Teilnehmer lernen sollten, jederzeit ihren »inneren Glücksbrunnen anzuzapfen«, und dadurch angeblich zu mehr Gelassenheit, Ausgeglichenheit, Kreativität und Lebensfreude finden würden. Das klang wie größter esoterischer Bullshit, und jeder, der bei klarem Verstand war, müsste sie des Betrugs bezichtigen. Allein – er war nicht bei klarem Verstand. Er war einsam, leer und so voll unspezifischer Sehnsucht, dass manchmal fast schon das Atmen wehtat. Also hatte er auf der Stelle einen Slot für diesen Workshop gebucht und kurz darauf in einem Anfall von Selbstüberlistung auch noch Shona angerufen und sein Kommen angekündigt. So als wollte er unbedingt sicherstellen, dass er keinen Rückzieher machen konnte. Er hatte ihr aber noch eindringlich eingeschärft, niemanden sonst aus der Familie zu informieren.

Das ergab alles keinen Sinn, nicht mal in seinem eigenen Kopf. Er starrte aus dem Fenster des Busses, der von Inverness aus in Richtung Kirkby zockelte und auf der Strecke schon einiges an Verspätung angesammelt hatte. Lennox sah auf die Uhr. Wenn es so weiterging, würde er es mit viel Glück einigermaßen pünktlich zum Workshop schaffen, hätte aber keine Chance, vorher noch bei seiner Familie vorstellig zu werden und bei irgendjemandem um Unterschlupf zu bitten. Irgendwie hatte er das alles nicht wirklich durchdacht. Und irgendwie würde er am liebsten auf der Stelle umdrehen und den ganzen bescheuerten Besuch abblasen. Was hatte ihn nur geritten? Lennox Fraser zurück in Kirkby – das war eine Katastrophe mit Ansage. Doch nun war es zu spät.

In Drumnadrochit, dem letzten Halt vor Kirkby, waren zwei Frauen ausgestiegen, die sich die ganze Fahrt über lautstark über ihre Teenager-Kinder beklagt hatten. Ohne diese Soundkulisse war es beinahe gespenstisch ruhig. Der Bus tuckerte nun einen Hügel hinauf, und gleich würde vom mächtigen Loch Ness nichts mehr zu sehen sein. Danach kamen ein Waldstück, eine weitere Senke, und dann würde er den Kirchturm von Kirkby vor sich haben. Lennox konnte nicht verhindern, dass sein Herz schneller schlug. Gelassenheit, Ausgeglichenheit, Kreativität und Lebensfreude – seinetwegen müsste es nicht einmal alles sein. Eine der vier Zutaten zu einem glücklichen Leben würde ihm schon reichen.

Nun erspähte er die ersten Pferdekoppeln von Onkel Ruperts Reitanlage. Einige der mächtigen Clydesdale-Pferde standen auf den Wiesen und grasten. Kurz darauf fuhren sie an einem Gebäude vorbei, das er bislang nur von Fotos kannte: Islas Restaurant The Scottish Thistle. Auf dem Parkplatz standen etliche Fahrzeuge, von denen eines aussah, als würde es zu einem Fernsehsender gehören. Ob es wohl eine weitere Aufzeichnung für die Kochshow gab? Lennox war ziemlich erstaunt gewesen, dass seine Schwester bei einer Netflix-Produktion mitgemacht hatte, bei der es um das beste Restaurant Großbritanniens und Irlands gegangen war. Nicht, dass er es ihr nicht zugetraut hätte, er war vielmehr verwundert, dass sie so ein Mainstream-Format in Erwägung gezogen hatte. Doch die Show, die er natürlich atemlos verfolgt und von der er sich speziell die Wettbewerbsepisoden mehrfach angesehen hatte, war wirklich gut gemacht gewesen.

Und sie hatte gewonnen! Sie war letzte Woche bei einer Liveshow gekürt worden, bei der auch einige Familienmitglieder dabei gewesen waren. Ihr Vater Marlin, Alex, Colleen, Jon, Tante Alice, Tante Heather und Onkel Rupert. Isla hatte ihn gefragt, ob er dabei sein wollte, hatte sich sehnlichst gewünscht, dass er auch kam – doch er hatte abgesagt. Warum? Darauf hatte er keine Antwort. Offiziell war er in Italien gewesen. So dreist hatte er seine Schwester bis dahin noch nie angelogen, tatsächlich war er in London gewesen, wo auch die Show stattgefunden hatte. Vermutlich war er einfach zu feige gewesen. Nein, ganz sicher sogar. Aber er schätzte, dass ihn diese Tatsache mehr belastete als Isla, die ihm seine Flunkerei geglaubt hatte. Zumindest hoffte er das. Nun schien sie wieder im Rampenlicht zu stehen, aber vielleicht würde sie nachher einen Augenblick Zeit für ihn haben?

Zwei Minuten später war es endgültig nicht mehr zu leugnen: Lennox Fraser war wieder zu Hause! Er stand etwas verloren auf dem Dorfplatz von Kirkby, und das schottische Wetter entschloss sich just in diesem Moment dazu, ein paar Sonnenstrahlen durch die dicken grauen Wolken zu schicken. Wie im Spotlight stand er da – mit seinem riesigen Rucksack und seiner Gitarre auf dem Rücken. Vor dreizehn Jahren war er mit kaum mehr Gepäck nach London gegangen. Und nun war er wieder zurück.

Er schloss kurz die Augen und schluckte ein paarmal gegen das unsichere Gefühl an, das sich in seinem Hals gebildet hatte und das er nicht wirklich einordnen konnte. Er öffnete die Augen wieder und schaute sich um – alles wirkte viel lebendiger als früher. Der Pub war nicht mehr vernagelt, sondern strahlte frisch renoviert. Das Kneipenschild des Wise Pelican glänzte in der Sonne. Unwillkürlich musste Lennox grinsen. Islas Freund schien Humor zu haben. Überhaupt war alles in Kirkby proper herausgeputzt. Bei seinem letzten Besuch war das Rathaus eingerüstet gewesen, heute sah es aus, als sei es erst kürzlich erbaut worden. Auf sämtlichen Fensterbrettern blühte es – wie bei fast allen anderen Häusern hier in der Ortsmitte –, und vor der geöffneten Eingangstür standen drei Frauen und plauderten angeregt. Er kannte sie nicht, doch er spürte, dass sie ihn heimlich musterten. Das hatte sich offensichtlich noch nicht geändert: Neuankömmlinge waren immer einen zweiten Blick wert.

In der Ferne machte er die Old Bakery aus, jene Bäckerei, an die er nur ganz verschwommene Kindheitserinnerungen hatte, weil sie dichtgemacht hatte, als er ungefähr fünf Jahre alt gewesen war. Vor Kurzem hatte ihr seine Cousine Kristie neues Leben eingehaucht. Er unterdrückte den Impuls, hinzulaufen. Soweit er wusste, hatte sie ohnehin nur vormittags geöffnet, und außerdem musste er sich beeilen. Ein Blick auf sein Handydisplay verriet, dass es schon kurz nach drei war und der Workshop wohl gerade anfing.

Entschlossen wandte er sich um und ging über die Straße in Richtung der ehemaligen Schule. Das war in seiner frühen Kindheit sein vertrauter Schulweg gewesen. Zwei Jahre lang hatte er dort Unterricht gehabt, ehe alle Dorfkinder der umliegenden Gemeinden täglich mit dem Bus zu einer neuen, großen Schule in Drumnadrochit gefahren worden waren.

Als er durch die frisch lackierte mächtige Holztür trat, war er fast ein bisschen enttäuscht, dass von dem feuchten Mief, den er insgeheim erwartet hatte, nichts mehr wahrzunehmen war. Auch dieses alte Gemäuer war inzwischen wunderschön saniert worden und strotzte vor neuem Leben. Es sah auch ganz anders aus, als er es in Erinnerung hatte. Statt Düsternis empfing ihn eine offene, lichtdurchflutete Aula mit zusammengeschobenen Faltwänden. An einer Schmalseite gab es sogar eine Bühne. Isla hatte erwähnt, dass das Erdgeschoss zu einem Veranstaltungsraum umgebaut worden war, in dem seit dem Sommer schon mehrere öffentliche Partys und private Feste stattgefunden hatten. Eine rollbare alte Tafel stand in der Mitte, und mit Kreide waren aktuelle Events in den Seminarräumen und die Öffnungszeiten des »Tauschladens« daraufgeschrieben worden, was auch immer das war. So erfuhr er, dass sein »Glücks-Yoga-Seminar« in Klassenraum drei stattfand, und langsam stieg er die Steintreppe zur oberen Etage hinauf.

Wenigstens die von vielen Kinderfüßen glatt polierten Stufen fühlten sich unter seinen Sohlen noch etwas vertraut an. Oben angekommen sah er als Erstes, dass sein ehemaliges Klassenzimmer zu einem Trödelladen umfunktioniert worden war – der ominöse Tauschladen? Zwei Kisten schleppende Jugendliche drängelten sich an ihm vorbei und steuerten zielstrebig auf den hell erleuchteten Shop zu, in dem Lennox zwei Frauen erspähte, die Waren sortierten. Wieder trafen ihn neugierige Blicke und ein freundliches Lächeln, doch weder die Frauen noch die beiden Jungs kamen ihm irgendwie bekannt vor. Schon seltsam, dass er in diesem Kaff, in dem er früher jeden Grashalm, jedes Schaf und mit Sicherheit jeden Bewohner gekannt hatte, noch keinem vertrauten Gesicht begegnet war. Aber vielleicht war es auch gut so. Da konnte er womöglich einfach unbemerkt wieder abhauen, falls …

Lennox führte diesen Gedanken nicht zu Ende, denn sein Blick war auf die nächste Tafel gefallen, die den Weg zu seinem Workshop anzeigte. Er würde sich nicht von den Gefühlen, die seine alte Heimat in ihm auslöste, davon abbringen lassen, Anna kennenzulernen und sich von ihr in die Geheimnisse des Glücks einführen zu lassen. Die Tür zum angezeigten Klassenzimmer war natürlich schon geschlossen, was ihn nicht wunderte, denn es war inzwischen Viertel nach drei, und vermutlich befand man sich schon in der ersten Meditation oder so. Er zögerte kurz, klopfte dann aber sachte an und schlüpfte, ohne auf eine Reaktion zu warten, in den Raum.

»Tut mir leid, ich bin zu spät dran«, sagte er zur Begrüßung, als er sich fünf Augenpaaren gegenüberfand. Immerhin standen alle noch und lagen nicht etwa schon tiefenentspannt auf ihren Yoga-Matten.

»Du musst Len sein«, erklang die Stimme, die ihm seit vielen Monaten so vertraut war, als sei sie eine enge Freundin. Allerdings sah Anna vollkommen anders aus, als er sie sich vorgestellt hatte. Wobei er sich nie ein konkretes Bild von ihr gemacht hatte, aber irgendwie hatte er eine dunkelhaarige, mysteriöse Frau erwartet. Die Anna, die ihn nun freundlich anlächelte, hatte jedoch gar nichts Geheimnisvolles an sich. Stattdessen wirkte sie mit ihren langen honigblonden Locken und den strahlenden blauen Augen fast engelhaft.

»Ja, der bin ich«, antwortete er und wunderte sich, dass seine Stimme plötzlich so brüchig klang. Er räusperte sich. »Der Bus hatte Verspätung. Sorry.«

»Kein Problem. Wir haben gerade erst angefangen. Nebenan ist die Garderobe. Da kannst du deine Sachen deponieren und dich rasch umziehen. Wir warten auf dich.«

Täuschte er sich, oder war sie irgendwie erleichtert über die Unterbrechung? Gerade wandte er sich schon wieder zur Tür, als er ihre Stimme noch einmal hörte. »Hast du eine eigene Yoga-Matte dabei? Falls nicht, findest du nebenan im Regal noch welche. Nimm dir eine, die dir gefällt, und auch eine Decke.« Er nickte kurz und verließ den Raum.

Das angrenzende Zimmer, das Anna als Garderobe bezeichnet hatte, schien vor allem ein Materialspeicher für die diversen angebotenen Aktivitäten zu sein. Ein Regal war voller Tonfiguren, in einem weiteren stapelten sich Farbkästen und Papierblöcke. Auf der Tafel unten hatte er irgendwas von Töpfer- und Malkursen gelesen. Erstaunlich, was in Kirkby neuerdings alles angeboten wurde … Lennox wuchtete seinen schweren Rucksack auf eine schmale Bank, die an der Längsseite des Raums an der Wand stand und ihn an alte Turnhallen erinnerte. Seinen Gitarrenkoffer schob er darunter. Dann schlüpfte er aus seinen schweren Schnürboots und seiner Jacke und hielt kurz inne. An ein angemessenes Outfit für das Seminar hatte er nicht gedacht. Er war davon ausgegangen, dass man für Yoga einfach normale Sportklamotten anziehen konnte, doch Anna trug eine hell gemusterte weite Hose, die ihn an Hippies erinnerte, und dazu einen weichen himmelblauen Pullover. Auch die anderen Teilnehmer waren in merkwürdige Gewänder gehüllt.

Mit derartiger Spezialkleidung konnte er jedenfalls nicht dienen. Seufzend öffnete er seinen Rucksack, verwarf die knappen Laufshorts, die er eigentlich hatte anziehen wollen, kramte tiefer und zog seine alte, ausgebeulte graue Lieblingsjogginghose und ein verwaschenes Langarmshirt hervor. Ja, das würde gehen. Rasch zog er sich um, griff sich eine der aufgerollten Yoga-Matten und eine gelbe Fleecedecke aus einem Regal und kehrte auf Strümpfen in den Seminarraum zurück.

»Schön, dass du wieder hier bist«, begrüßte ihn Anna freundlich. »Magst du dir auch noch einen Tee nehmen?« Sie deutete auf ein Sideboard an der Wand, auf dem eine große Thermoskanne und einige Tassen standen.

Die anderen Teilnehmer – drei Frauen und ein Mann – saßen inzwischen auf ihren Matten und hatten allesamt Tassen in den Händen. Lennox nickte nur, rollte seine Matte im hinteren Bereich des ehemaligen Klassenzimmers aus – alte Gewohnheit, in der Schule hatte er auch immer am liebsten in der letzten Reihe gesessen – und trat dann zum Sideboard. Er spürte die Blicke in seinem Rücken. Abschätzig, wertend. Zumindest die der anderen Teilnehmer. Nur Anna wirkte wirklich warmherzig.

»Tut mir echt leid, wenn ich den Ablauf durcheinandergebracht habe«, hörte er sich murmeln. Irgendwie fühlte er sich in Erklärungsnot.

»Schon gut. Wir waren gerade dabei, uns ein bisschen kennenzulernen.« Anna lächelte, doch er meinte in ihrem Blick ein nervöses Flackern auszumachen. Richtig tiefenentspannt kam sie ihm nicht vor.

Mit seinem Tee – leider keinem schwarzen, sondern einer exotisch duftenden Kräutermischung – ging Lennox zu seiner Matte zurück und nahm dort im Schneidersitz Platz.

»Jetzt, wo wir vollständig sind, noch einmal offiziell: Herzlich willkommen zum Highland-Happiness-Glücks-Yoga-Seminar«, begann Anna. »Ich freue mich wirklich sehr, dass ihr hierhergekommen seid, um euch mit mir auf die Suche nach dem Glück zu machen.« Sie trank einen Schluck aus ihrer Tasse, und Lennox konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie darin Kräftigung und Halt suchte. »Wollen wir mit einer kleinen Fragerunde anfangen? Was ist Glück für euch?« Sie sah erwartungsvoll in die Runde, doch keiner schien den Anfang machen zu wollen.

Lennox ganz sicher auch nicht. Er hatte keine Antwort auf diese Frage. Was war Glück für ihn? War er nicht hierhergekommen, um das herauszufinden? Um seinen »inneren Glücksbrunnen anzuzapfen«, wie sie es in ihrem Podcast so vollmundig angekündigt hatte? Und überhaupt – war das nicht ein merkwürdiger Beginn? Sollten sich die Teilnehmer nicht erst mal vorstellen? Oder noch viel besser, die Gastgeberin? Gut, vermutlich war das alles schon passiert, als er noch nicht da gewesen war, und wenn er ehrlich war, interessierte es ihn auch nicht, ob sich unter den bunten Batikshirts und -hosen Hobbyerleuchtete oder Investmentbanker verbargen.

Mit einem Mal fühlte er den starken Impuls, abzuhauen. Er passte nicht hierher. Das war nicht seine Welt. Er wusste nicht, was Glück war, er wollte kein Yoga machen, und ganz besonders wollte er nicht hier sein. Nicht hier in diesem Raum und schon gar nicht in Kirkby.

»Das ist eine sehr große Frage für den Einstieg«, meldete sich eine Frau und lächelte etwas verlegen in die Runde. »Ich fühle mich noch nicht sicher genug, um darauf zu antworten.« Die Frau neben ihr nickte bestätigend, und das Paar im Batik-Partnerlook murmelte etwas. Anna dagegen wirkte einen Moment lang ziemlich getroffen.

»O«, sagte sie und machte dann eine kleine Pause. »Vermutlich habt ihr recht.« Sie fuhr sich mit einer etwas hilflosen Geste durch die blonden Locken, und so unbehaglich Lennox sich auch fühlte, in diesem Moment tat sie ihm wahnsinnig leid. Ganz offensichtlich hatte sie sich den Einstieg in ihren Workshop anders vorgestellt.

»Ihr habt wirklich recht«, betonte sie noch einmal. »Vermutlich ist diese Frage tatsächlich zu intim und zu groß, um sie offen zu beantworten, aber es schadet sicher nichts, darüber nachzudenken. Vielleicht wollen wir zum Abschluss am Sonntagnachmittag noch einmal darüber sprechen?« Sie lächelte nun ganz offen und schien ihre Fassung wiedererlangt zu haben. »Beginnen wir stattdessen mit einer ersten Yogarunde und Atemübungen, um erst einmal hier anzukommen. Len, du hast unsere Vorstellungsrunde vorhin versäumt. Wir können das in der Pause gerne wiederholen, aber nun legen wir los, wenn es allen recht ist.«

»Guter Plan«, sagte der andere Mann und stand auf. Er nahm seiner Frau die Tasse ab und positionierte sich dann wie ein sprungbereiter Tiger auf seiner Matte.

Auch die anderen rappelten sich auf und stellten sich auf ihre Matten. Lennox ebenfalls. Er hatte es selbst noch nie mit Yoga versucht, aber er wollte der Sache nun doch eine Chance geben.

GLÜCK IST EINE ENTSCHEIDUNG

DAS LIEF GAR NICHT gut, dachte Anna und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Sie war normalerweise so stolz auf ihre Fähigkeit, sich in Menschen hineinzuspüren und ihre Bedürfnisse zu erahnen. Doch offensichtlich war sie bei der Planung dieses Workshops viel zu verkopft vorgegangen. Die Frage nach dem Glück war tatsächlich ein richtig blöder Einstieg gewesen.

Überhaupt verlief der Nachmittag überhaupt nicht wie geplant, und sie befand sich gerade weit, sehr weit außerhalb ihrer Komfortzone. Das Yuppie-Paar Maya und Kieran hatte sie schon eine halbe Stunde vor Kursbeginn überfallen, als sie noch dabei gewesen war, alles herzurichten. In ihren albernen, aber mutmaßlich sündteuren Designer-Yoga-Klamotten hatten die beiden sie nonstop zugetextet und ganz genau wissen wollen, nach welcher Methodik sie arbeitete. Sie selbst seien ja schon bei X, Y und Z gewesen und hätten echt viel Erfahrung. Aber ein Glücksseminar praktisch vor der Haustür sei ja auch mal ein nettes Erlebnis. Wobei »vor der Haustür« wohl ein eher relativer Begriff war, denn die beiden kamen aus London, schienen für ihre »Retreats« ansonsten aber um die halbe Welt zu jetten. »Bei unserem letzten Indienaufenthalt haben wir im Ashram …« – so war es die ganze Zeit gegangen, doch irgendwann war Anna mental ausgestiegen und hatte versucht, sich auf ihre Aufgaben zu konzentrieren.

Die beiden anderen Frauen – Abby und Celeste – wirkten dagegen etwas asynchron. Anna hatte das eindeutige Gefühl, dass bei ihnen irgendwas schwer im Argen lag, konnte es aber nicht wirklich fassen oder einordnen. Nun ja, das würde sich wohl noch offenbaren. Und dann war da dieser Nachzügler namens Len, der in voller Straßenmontur, mit Gitarre und Gepäck, zerzaust und mitgenommen aufgeschlagen war und völlig verloren aussah. Dabei kam er ihr auf seltsame Weise bekannt vor, so als hätte sie den intensiven Blick aus seinen grauen Augen schon oft auf ihrer Haut gespürt. Was nicht sein konnte, denn gleichzeitig war sie sich sicher, dass sie ihn noch nie in ihrem Leben getroffen hatte – daran würde sie sich erinnern.

Okay – die Herrschaften wollten nicht mit ihr über Glück sprechen. Dann würde sie es mit einem anderen Ansatz versuchen. Glück war ohnehin etwas, das man nicht intellektuell erfassen konnte, sondern nur emotional. Und der beste Weg zu den eigenen verborgenen Gefühlen war Yoga! Zumindest war es das, was das Leben sie gelehrt hatte. Sie beobachtete, wie sich ihre Teilnehmer aufstellten: Kieran dynamisch und sprungbereit, seine Frau Maya betont gelassen. Abby und Celeste wirkten abwartend und schienen möglichst viel Abstand zu suchen. Zueinander und zum Rest der Gruppe. Bei Len hatte Anna den Eindruck, dass er überhaupt nicht wusste, was er tun sollte und was von ihm erwartet wurde.

»Hat jemand von euch keine Erfahrung mit Yoga?«, fragte sie, obwohl sie sich der Antwort ziemlich sicher war. Aus Kierans Richtung vernahm sie ein leises Schnauben und einen unterdrückten Kommentar.

»Ich habe noch nie Yoga gemacht«, sagte Len erwartungsgemäß und klang dabei ziemlich defensiv. »In den Teilnahmebedingungen hieß es aber auch, dass Vorerfahrung nicht nötig sei.«

»Richtig«, entgegnete sie. »Wir starten zunächst mal mit einem simplen Ablauf, der sich Sonnengruß nennt. Damit bereiten wir Körper, Geist und Seele auf die weiteren Übungen vor. Manche meinen sogar, dass der Sonnengruß die Essenz der Yoga-Lehre schlechthin ist, und ich tendiere ebenfalls dazu. Kräftigung, Dehnung, Öffnung sind die wesentlichen Elemente, die man dynamisch oder auch ganz langsam und behutsam absolvieren kann. Der Sonnengruß besteht aus zwölf Asanas, so nennen wir die unterschiedlichen Yoga-Positionen, und dient der Aktivierung und zum Aufwärmen. Ich werde jede Pose ansagen und kurz erklären. Wer Schwierigkeiten oder Fragen hat, meldet sich bitte.« Sie schenkte Len, der mit einem misstrauisch umwölkten Ausdruck dastand, ein hoffentlich aufmunterndes Lächeln. »Es ist wirklich ganz einfach und hat doch erstaunliche Wirkungen.«

Langsam führte sie ihre Teilnehmer durch die einzelnen Phasen des Sonnengrußes und beobachtete dabei aus den Augenwinkeln, wie sie sich anstellten. Kieran und Maya waren offenbar tatsächlich sehr erfahren und glitten mühelos durch die Abfolge. Auch Abby und Celeste hatten augenscheinlich einiges an Vorerfahrung, wirkten jedoch etwas gebremst. Vielleicht waren sie aber auch einfach nur ein bisschen eingerostet. Len dagegen hatte beim ersten Zyklus nur zugeschaut und sich die Abläufe eingeprägt. Bei der zweiten Runde war er nun dabei und absolvierte die Asanas mit geschlossenen Augen und sehr konzentriert. Seine Bewegungen waren zwar ein wenig ungelenk, denn sein Körper schien sich an die neuen Übungen erst einmal gewöhnen zu müssen, aber trotzdem strahlte er eine Kraft und Energie aus, wie sie sie bei Yoga-Anfängern noch nie erlebt hatte. Erstaunlich, wirklich ganz erstaunlich.

Von Durchgang zu Durchgang wurde er sicherer, und seine Bewegungen wurden flüssiger. Anna hätte schwören können, dass er sich zudem merklich entspannte. Nach dem sechsten Durchgang – die letzten beiden in etwas flotterem Tempo – keuchten Abby und Celeste hörbar, und auch bei Kieran und Maya hatten sich Schweißperlen auf der Stirn gebildet. Len, der den ersten Sonnengruß nur beobachtet hatte, machte einen letzten Durchgang allein. Ganz offensichtlich hatte er instinktiv erfasst, dass Symmetrie beim Yoga ein entscheidendes Element war.

»Das wirkt aber nicht so, als hättest du noch nie Yoga gemacht«, sagte Celeste und musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen.

Er zuckte nur mit den Schultern und fühlte sich offenbar nicht zu einer Erklärung verpflichtet.

»Gibt es Yoga-Übungen, die ihr besonders liebt oder bei denen ihr euch besonders wohlfühlt?«, wollte Anna nun wissen. »Es sollten Positionen sein, in denen ihr auch ein paar Minuten verharren könnt.«

»Ein paar Minuten?« Kieran sah sie mit gerunzelter Stirn an. »Wir sind eher Anhänger der dynamischen Yoga-Lehre. Uns erschließt sich der Sinn davon nicht, endlos eine Position zu halten.«

Anna konnte es nicht leiden, wenn ein Teil eines Paares immer für beide sprach. So als hätte Maya keine eigene Meinung und keinen freien Willen. Noch weniger mochte sie es, wenn Menschen engstirnig waren und ihre Vorurteile pflegten. Dabei hatten die beiden, nach allem, was sie vorhin erzählt hatten, reichlich Erfahrung mit allen möglichen Yoga-Schulen, doch offenbar stand ihnen der Sinn mehr nach Work-out und weniger nach Erkenntnis. Nun ja, solche Menschen hatte sie in Edinburgh oft genug erlebt: zum einen als Patienten im Krankenhaus, die nach eigener Auffassung besser über die unterschiedlichen Behandlungsansätze Bescheid wussten als sie; zum anderen in der Yoga-Schule, die ihr Freund Finlay betrieb. Dort hatte sie auch ihre Ausbildung zur Yoga-Lehrerin gemacht.

»Dynamisches Yoga ist toll«, entgegnete sie lächelnd. »Ich liebe es sehr, wenn ich meinen Körper in kurzer Zeit intensiv fordern und mich richtig verausgaben will. Allerdings ist das nicht das Ziel des Workshops. Wir wollen nicht bis zur körperlichen Erschöpfung trainieren, sondern durch Achtsamkeit unser ganzes Sein erfassen. Körper, Geist und Seele. Das klappt nicht, wenn der Körper allein arbeitet.« Sie wusste, dass das ziemlich esoterisch klang – gleichzeitig war es aber auch die Wahrheit. Und sie ahnte, warum Kieran so sehr auf die anstrengende Variante stand. Dabei musste man nicht denken, und ab einem gewissen Punkt waren die Empfindungen nur noch rein körperlicher Natur. Und die waren weit weniger schmerzhaft als manche seelische Verwundung.

Sie wünschte, sie hätte früher an diese doch ziemlich wahrscheinliche und offensichtliche Komplikation gedacht – dann hätte sie den Workshop gar nicht erst angeboten. Denn um sein inneres Glücksreservoir freizulegen, musste man sich zwangsläufig durch eine üppige Gerölllawine aus unterdrückten Gefühlen arbeiten – und irgendwie war sie sich plötzlich ganz sicher, dass keiner ihrer fünf Teilnehmer dazu bereit war. Mist. Aber nicht zu ändern. Trotzdem oder genau deswegen wollte sie ihr Bestes geben und Blockaden abbauen.

»Aus diesem Grund ist es wichtig, dass wir uns Übungen suchen, bei denen wir zur Ruhe kommen und tief in uns hineinspüren können«, fuhr sie fort. »Glück ist eine Entscheidung, das habe ich ganz früh in meinem Leben gelernt, auch wenn sich das für euch merkwürdig anhören mag. Glück passiert nicht einfach, es ist immer in uns, und wir können es jederzeit einladen, damit wir es auch wahrnehmen. Das funktioniert am besten, wenn wir uns dafür bereit machen. Vielleicht hat jemand schon von ›Yin-Yoga‹ gehört? Das geht in diese Richtung. Lasst uns einfach mal mit Uttanasana, der simplen Rumpfbeuge im Stehen, beginnen.« Sie machte die Übung vor, beugte dabei ihren Oberkörper nach vorn und unten. »Ihr könnt eure Arme entweder an den Ellbogen fassen und hängen lassen, eure Beine umschlingen oder die Hände entspannt am Boden ablegen. Entscheidend ist, dass alles passiv passiert und ihr nicht aktiv und aggressiv in die Dehnung geht. Konzentriert euch auf euren Atem, und spürt, wie sich die Muskeln in den hinteren Oberschenkeln, im Gesäß und auch im Rücken immer weiter dehnen. Es kann sein, dass eure Beine zu kribbeln anfangen oder ihr andere ungewohnte körperliche Reaktionen spürt. Lasst das zu, atmet und fühlt tief in euch hinein. Ihr haltet diese Position jetzt drei Minuten lang. Und erschreckt bitte nicht, ich werde zu jedem von euch kommen und eventuell kleine Korrekturen vornehmen.«

Als sich alle fünf Teilnehmer in diese so simple und doch so effektive Übung versenkten, ging sie zuerst zu Abby. Sie wollte keine Korrekturen vornehmen, das war Unsinn, sie wollte Kontakt zu den Menschen herstellen. Ihre Freunde hatten schon immer gewitzelt, dass es ihre Superkraft war, empathisch zu sein und die Befindlichkeiten ihres Gegenübers einfach erspüren zu können. Für sie selbst war daran nichts Magisches, vielmehr war es schon immer ein Überlebensreflex für sie gewesen, die Stimmungslagen der Menschen in ihrer Umgebung zu erkennen. Richtig intensiv wurde es aber erst bei physischem Kontakt. Wenn sie jemanden berührte, erfuhr sie so viel mehr. Das war in ihrem Job als Ärztin außerordentlich praktisch, denn viele Patienten erzählten nicht, wie es ihnen wirklich ging. Jetzt wollte sie wissen, wo die Problemfelder bei ihren Teilnehmern lagen, um besser auf deren Bedürfnisse eingehen zu können. Doch aus Erfahrung wusste sie auch, dass sie das besser nicht so klar aussprach. »Handauflegen« klang für die meisten Leute viel zu durchgeknallt.

Doch genau das tat sie nun. Sie legte Abby eine Hand auf den unteren Rücken, die andere an ihre Hüfte, und ihr Eindruck bestätigte sich. Die Mittvierzigerin war in mehr als einem Wortsinn verkrampft. Ihre Muskulatur war verspannt, und sie schien tief in sich etwas zu verbergen, das aber machtvoll nach draußen drängte. Bei ihrer Freundin Celeste sah es nicht viel besser aus. Auch hier gab es Verkrampfungen, die aber eher durch große Enttäuschung genährt wurden, die Anna ebenfalls wahrnahm. Sie hoffte nur, dass die Enttäuschung nicht ihrem Workshop galt.

Kieran war voller schwer zu zähmender Energie, doch die floss nur an der Oberfläche. Tiefer im Inneren lag ein großes Bedürfnis nach Ruhe. Anna lächelte leise in sich hinein. Wenn Kieran sich auf die folgenden Übungen einließ, war er einer der Kandidaten, die von ihrem Konzept am meisten profitieren konnten. Maya überraschte sie. Sie hatte sich völlig in die Übung fallen lassen können und wirkte vollkommen entspannt.

Ihren letzten Kandidaten betrachtete sie einen Moment lang mit etwas Abstand. Sie konnte keine Auren sehen und glaubte auch nicht daran, dass irgendjemand das vermochte – ganz so metaphysisch war sie dann doch nicht gepolt –, aber irgendwas ließ sie zögern. Er stand reglos in der Pose, ließ die Arme locker hängen und hatte die Fingerrücken auf dem Boden abgelegt. Er wirkte konzentriert, atmete aber ruhig und gleichmäßig. Trotzdem umgab ihn eine merkwürdige, kaum zu erklärende Barriere. Sie trat näher und berührte ihn ganz sacht am Rücken – und dabei traf sie fast der Schlag. Als hätte sie auf eine heiße Herdplatte gefasst, riss sie erschrocken ihre Hand weg und konnte sich nur mit Mühe einen Schmerzenslaut verkneifen, so sehr drohte sie die Flut der Empfindungen zu überwältigen. Das Echo seiner unbeschreiblichen Sehnsucht, seiner Trauer und seiner tiefen Erschöpfung hallte in ihr wider. Und offenbar fühlte er es auch. Abrupt richtete er sich auf und starrte sie mit seinen sturmgrauen Augen an, aus denen wortloses Entsetzen sprach. Dann drehte er sich um und ergriff die Flucht.

Kurz überlegte sie, ob sie ihm hinterherlaufen sollte – doch vielleicht musste er einfach nur auf die Toilette und würde gleich wiederkommen? Natürlich war das eine ziemlich naive Annahme, das wusste sie selbst und wurde gleich darauf durch Türengepolter und hektische Schritte von nebenan bestätigt. Der geheimnisvolle Len hatte das Weite gesucht, und er würde nicht zurückkehren. Doch sie hatte hier noch vier andere Teilnehmer, und auf die würde sie jetzt mit aller Macht ihre Konzentration richten.

• • •

Es war ein Fehler gewesen, hierherzukommen! Ein Fehler mit Ansage! Lennox spürte, wie sein Herz schlug. Regelmäßig zwar, aber so schnell und heftig wie nach einem Sprint. In seinen Ohren rauschte es, und einen Moment lang hatte er Angst, ohnmächtig zu werden oder alternativ den Verstand zu verlieren. Annas kurze und ganz zarte Berührung hatte sich wie ein Axthieb angefühlt. Der Schmerz war kein körperlicher, doch das machte ihn nicht weniger schlimm. Es fühlte sich an, als wäre ein Fass voll negativer Gefühle in ihm explodiert. Er kannte sie alle. Es waren nämlich seine eigenen, bei denen er sehr viel Mühe darauf verwandt hatte, sie sorgfältig wegzusperren und zu verdrängen. Doch nun waren sie alle wieder da – roh und zerstörerisch wie immer. Anna hatte sie auch gespürt, da war er sich ganz sicher, denn kurz bevor seine innere Atombombe detoniert war, hatte er ihre vorsichtig forschende, fragende Annäherung wahrgenommen. Das war für einen Augenblick sehr angenehm gewesen, fast verführerisch und tröstend – und vermutlich war das der Moment gewesen, der seine Barrieren zum Einsturz gebracht hatte.

Er hatte keine Ahnung, wie er aus dem Schulhaus gekommen war, doch nun stand er schwer atmend auf der Straße, den Rucksack in der einen Hand, den Gitarrenkoffer in der anderen. Er blickte an sich hinunter. Umgezogen hatte er sich nicht. Er trug immer noch seine Schlabberjogginghose, aber seine Füße steckten wieder in den Boots, und seine Lederjacke hatte er auch an. Langsam beruhigte er sich wieder. Er bückte sich und schnürte die Stiefel zu, dann schwang er sich den Rucksack auf den Rücken. Er brauchte einen Plan dafür, wie es jetzt weitergehen sollte.

»Bist du Lennox?«

»Ähm?«, murmelte er irritiert und musterte die Frau, die diese überraschende Frage gestellt hatte. Sie hatte schulterlange kastanienbraune Haare, ein Lächeln, das von Sekunde zu Sekunde breiter wurde, und war außerdem ziemlich schwanger. Er hatte sie noch nie gesehen – zumindest nicht persönlich, aber …

»Ist das so eine schwierige Frage?«, fuhr sie amüsiert fort. »Du bist eindeutig Lennox. Du könntest eine Mischung aus Isla und Marlin sein und hast die gleichen schwarzen Haare und grauen Augen wie Shona. Außerdem kenne ich dich von zahllosen Fotos, auf denen du allerdings nicht so abgerissen rüberkommst. Ich bin Colleen. Deine zukünftige Schwägerin.« Sie breitete die Arme aus, und ehe Lennox sichs versah, hatte sie ihn an sich gezogen.

Er war vollkommen überrumpelt und spürte plötzlich einen deutlichen Tritt an seinem Bauch. »Kann es sein, dass dein Baby mich gerade geboxt hat?«, fragte er verblüfft.

»Deine Nichte oder dein Neffe freut sich eben«, erklärte Colleen lachend. »Genau wie ich. Ich fass es nicht, dass du endlich mal hier bist! Ich habe dich schon fast für ein Phantom gehalten. Seit wann bist du da? Wo wirst du schlafen?«

»Ähm …« Zurück zur dämlichen Einsilbigkeit, aber diesem Redeschwall war er gerade nicht gewachsen.

»Entschuldige bitte, dass ich dich so überfahren habe, aber ich freu mich einfach so, dich kennenzulernen.« Colleen strahlte ihn warmherzig an, dann runzelte sie die Stirn. »Warst du etwa bei Annas Workshop?«

Kein gutes Thema. »Hm«, versuchte er es zur Abwechslung mal mit einer anderen Silbe, aber er fürchtete, dass er nicht mehr lange damit durchkommen würde, denn ihr Stirnrunzeln verstärkte sich sichtlich.

»Ich hatte mich dafür angemeldet, habe aber schnell festgestellt, dass es nicht das Richtige für mich ist.«

»O? Aber der Kurs läuft doch noch nicht mal eine Stunde. Wie kann man da so schnell ein Urteil fällen? Wahrscheinlich ist Anna jetzt am Boden zerstört. Sie hat sich so viel Mühe gegeben, das alles auf die Schnelle zu organisieren, und war verdammt nervös deswegen. Soll ich mal mit ihr reden? Also, falls es ein Missverständnis gegeben hat, kann man das ganz bestimmt rasch klären.« Sie machte Anstalten, zum Schulhaus zu laufen, doch Lennox hielt sie zurück.

»Nein, schon gut. Es liegt garantiert nicht an Anna, sondern an mir. Ich bin einfach nicht bereit für … ähm … Glück. Oder Yoga. Oder Glücks-Yoga. Sie macht das sicher total toll.« Er räusperte sich. »Es war ein ziemlich spontaner Entschluss von mir und eine echte Schnapsidee. Eigentlich bin ich hauptsächlich da, um euch zu besuchen – auch um dich kennenzulernen.« Er versuchte es mit einem Lächeln und horchte in sich hinein, ob diese Notlüge irgendwas bewirkte. Doch seltsamerweise fühlte es sich gar nicht nach Lüge an. War sein Unterbewusstsein am Ende tatsächlich der Meinung, dass er wegen seiner Familie hier in Kirkby war? Verstörender Gedanke irgendwie.

»Wie süß von dir, aber warum hast du dann nicht Bescheid gegeben?«

»Hab ich doch. Ich hab letzte Woche Shona angerufen.«

»Echt? Sie hat gar nichts gesagt.« Colleen schüttelte den Kopf. »Aber es geht hier zurzeit auch drunter und drüber. Seit Isla letzte Woche den Kochwettbewerb gewonnen hat, ist die Familie – ach was, der ganze Ort! – im Ausnahmezustand. Heute Vormittag hat sie dann auch noch die Nachricht bekommen, dass ihr der Guide Michelin einen zweiten Stern verliehen hat. Kannst du dir das vorstellen?« Colleen schlug sich die Hand vor den Mund. »Ich plappere schon wieder. Das mach ich sonst nie, aber das liegt an den Hormonen. Ehrlich, die haben mich vollkommen im Griff.«

Darauf wusste Lennox nicht viel zu sagen, aber die Tatsache, dass Isla endlich den heiß ersehnten zweiten Stern ergattert hatte, erklärte auch die vielen Autos auf ihrem Parkplatz. Er freute sich von Herzen für seine Schwester und wollte am liebsten sofort zu ihr, doch vermutlich war sie gerade ziemlich beschäftigt.

»Shona ist dieses Wochenende übrigens gar nicht da«, sprach Colleen weiter. »Sie ist mit eurem Dad zu einer Whisky-Messe in Edinburgh gefahren. Die beiden sind erst am Sonntagabend wieder zurück. Da bist du doch hoffentlich noch da? Oder wie sehen deine Pläne aus?«

Seine Pläne? Das war eine verdammt gute Frage. »Ich hab ehrlich gesagt keine Pläne«, gab er zu. »Ich wollte einfach mal wieder vorbeikommen und …«

»Und?«

»Und … na ja … Zeit mit euch verbringen. Dich kennenlernen. Islas und Shonas neue Männer kennenlernen …« Wieder hörte er in sich hinein. Wieder keine Lügen. Zumindest keine vollständigen. Bewusst gemacht hatte er sich das alles nicht, aber er schien ja im Moment von einer höheren Macht getrieben zu sein.

»Verstehe«, entgegnete Colleen nickend, offensichtlich zufrieden mit seiner eher nichtssagenden Erklärung. »Und bei wem von deiner zahlreichen Verwandtschaft wirst du schlafen? Bitte bei uns! Dein altes Kinderzimmer gibt es immer noch. Aber du kannst auch in eines der Cottages gehen. Ach, ich freu mich so.« Sie hakte sich bei ihm unter und lotste ihn in Richtung Harriswood House – der Stammsitz der Familie Fraser und ein Ort, mit dem er nicht nur schöne Kindheitserinnerungen verband.

Als sie sich dem Haus näherten – Colleen plapperte ohne Unterlass –, fiel sein Blick wieder auf das Restaurant seiner Schwester. Der Parkplatz war nun fast leer, die meisten Autos, auch das vom Fernsehsender, waren verschwunden.

»Colleen, sei mir nicht böse«, unterbrach er ihren Redefluss. »Aber ich würde gerne erst bei Isla vorbeischauen und ihr gratulieren.«

»Versteh ich«, sagte sie. »Ich weiß doch, wie nahe ihr euch steht.« Sie drückte kurz seinen Arm und ließ ihn dann los. »Bis später.«

»Bis später«, versprach er und lief zielstrebig auf das Restaurant zu. Er schämte sich dafür, dass er es noch nie betreten hatte, weil er Isla insgeheim dafür verachtet hatte, dass sie nach Kirkby zurückgekehrt war. Ihre Ankündigung hatte ihm damals einen ziemlichen Stich versetzt. Er hatte einfach nicht begreifen können, was seine hochtalentierte, heiß geliebte Schwester in diesem piefigen Kaff wollte, wo sie doch überall auf der Welt ein Restaurant hätte eröffnen können. Jahrelang war sie herumgereist und hatte an den unterschiedlichsten Orten gearbeitet – und er hatte sie immer besucht. Manchmal nur für ein paar Tage, manchmal wochenlang. Die gemeinsame Zeit in Italien, in Thailand und Dänemark hatte ihm viel bedeutet. In ihrer Nähe fühlte er sich immer besonders kreativ. Und nicht ganz so allein und verloren wie sonst. Doch seit ihrer Rückkehr nach Kirkby hatte er sie mit Nichtachtung gestraft. Wobei ihm langsam dämmerte, dass er damit vor allem sich selbst wehgetan hatte.

Er holte tief Luft und sammelte sich, als er vor der Eingangstür des Restaurants stand, dann drückte er die Klinke und fand die Tür abgeschlossen vor. Merkwürdig. Er trat ein paar Schritte zurück. Er wusste, dass Isla eine Wohnung über dem Restaurant hatte, und nahm an, dass es irgendwo noch einen weiteren Eingang geben musste. Langsam ging er an dem Gebäude vorbei, dessen Front wie die eines typischen alten schottischen Bauernhauses wirkte, obwohl es in Wahrheit erst ein paar Jahre alt war. Als er auf einen rosenumrankten Rundbogen stieß, der zu einem geschützten Garten führte, wusste er, dass er am Ziel angekommen war. Isla hatte ihm häufig von ihrem heiß geliebten Küchengarten vorgeschwärmt. Er trat durch den Bogen und wurde gleich darauf schwanzwedelnd von einem schwarzen Neufundländer begrüßt.

»Du bist wohl Polly«, sagte er zu dem Tier und ließ es an seiner ausgestreckten Hand schnuppern, ehe er es an den Ohren kraulte. Isla hatte viele Fotos von der jungen, aber schon reichlich imposanten Hündin geschickt.

»Lennox?«, hörte er Islas Stimme schrill aufkreischen. »Lenny? Ich fass es nicht!« Seine Schwester kam wie eine Furie aus ihrer Küche geschossen, schubste den Hund unsanft zur Seite und umarmte Lennox so stürmisch, dass er fast das Gleichgewicht verlor.

»Ich bin so froh, dich zu sehen«, murmelte er in ihren Nacken und merkte, wie ihm Tränen in die Augen schossen. Gott, wie sehr hatte er seine Schwester vermisst!

Sie ließ ihn los und schaute ihn voller Verwunderung und Zuneigung an. Auch in ihren Augen schimmerte es verdächtig. »Du siehst ziemlich fertig aus«, stellte sie fest.

Er winkte ab. Über seine Befindlichkeiten mussten sie jetzt nun wirklich nicht sprechen. Wenn überhaupt jemals. Aktuell gab es jedenfalls wichtigere Themen. »Herzlichen Glückwunsch zum zweiten Stern!«, sagte er stattdessen.

»Danke, aber woher weißt du das? Die Pressemitteilung vom Guide Michelin ist doch erst heute Mittag rausgegangen. Es kann also noch gar nicht in den Nachrichten gewesen sein.« Sie blickte betreten zur Seite.

»Nicht von dir jedenfalls.« Diese Erkenntnis traf ihn fast so hart wie Annas Berührung vorhin. Früher hatten Isla und er sich so nahe gestanden wie Zwillinge. Es hatte nichts gegeben, was er nicht mit ihr geteilt hätte – und umgekehrt. Doch irgendwie hatte sich das in den letzten Jahren schleichend geändert.

»Ich …«, setzte Isla zu einer Erklärung an, schüttelte dann aber den Kopf. »Ich werde mich nicht dafür entschuldigen. Du hast deine Poleposition bei mir schon vor einem Weilchen verloren. Genau wie ich meine bei dir. Warum weiß ich nicht, dass du in Kirkby bist?« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und funkelte ihn herausfordernd an.

»Du hast ja recht. Vollkommen recht«, gab er mit einem Seufzer zu. »Ich habe es von Colleen erfahren, die ich vorhin zufällig vor der Schule getroffen habe.«

Isla musterte ihn ein paar Sekunden lang schweigend und schien die vielen verwirrenden Informationen irgendwie verarbeiten zu wollen, dann gab sie auf. »Okay, mir fehlen für den Moment zu viele Bausteine, als dass ich einen Sinn in alldem erkennen könnte. Ich hab allerdings auch keine Zeit, mich jetzt damit zu beschäftigen. In gut zwei Stunden startet bei mir das Abendgeschäft, und wir hängen mit den Vorbereitungen ein bisschen hinterher, weil ich so viele Interviews geben musste. Brauchst du ein Quartier?« Er nickte. »Dann komm mit. Du kannst meine Wohnung haben. Ich nutze die sowieso nicht mehr, seit ich bei Jon eingezogen bin.« Sie lotste ihn durch die Küche, in der drei weitere Köche herumwuselten. »Leute, das ist mein Bruder Lennox. Lenny, das sind mein Souschef Tom, meine Jungköchin Grace und unser Praktikant Karim.«

»Hi«, sagte er lahm in die Runde und hob kurz die Hand.

»Hi«, grüßte es vielstimmig zurück, doch richtig viel Beachtung schenkte ihm niemand, weil sie alle mit ihrer Arbeit beschäftigt waren.

Isla öffnete eine Tür, die zu einem schmalen Treppenhaus führte, und ging voran in ihre Wohnung, wo sie mitten im Wohnzimmer landeten. »Klein, aber dein, solange du willst«, verkündete sie und drehte sich einmal um die eigene Achse. »Wohnzimmer, Schlafzimmer, Bad. Das Bett ist frisch bezogen, und Handtücher findest du im Badezimmer. Hier ist ein Extraschlüssel.« Sie deutete auf eine flache Schale auf dem Fensterbrett, in der ein Schlüssel mit Distelanhänger lag. »Am besten, du nutzt den Eingang durch die Garage, dann springst du uns nicht auf die Füße, wenn wir arbeiten. Wenn du Hunger hast, sag Bescheid. Wir sehen uns später.« Damit drückte sie ihm einen kurzen Kuss auf die Wange und verschwand rasch wieder in ihr Küchenreich.

»Wow«, murmelte er und stellte erst mal den Gitarrenkoffer ab. Dann betrat er das Schlafzimmer und deponierte seinen Rucksack im angrenzenden Ankleidezimmer, in dem bis auf zwei Kochuniformen gähnende Leere herrschte. Isla war jahrelang eine Nomadin gewesen, und wie er selbst hatte sie sich nie viel aus Besitz und Mobiliar gemacht. Nun lebte sie nach eigener Aussage bei ihrem Freund Jon über dem Pub – und trotzdem fühlte sich alles in dieser kleinen Wohnung nach seiner Schwester an, was erstaunlich tröstlich war. Lennox nahm in dem gemütlichen Ohrensessel Platz, der in der Fensternische im Wohnzimmer stand, und blickte nach draußen auf die vertraute Landschaft und den nahen Ort. Er war tatsächlich wieder zu Hause. Für den Moment jedenfalls.

NATURGEISTER

»VIELEN DANK, DAS WAR wirklich ein wundervolles Erlebnis«, sagte Celeste am frühen Sonntagnachmittag bei der Verabschiedung und umarmte Anna mit einem seligen Lächeln im Gesicht.

Auch Abby, Kieran und Maya waren entspannt, fröhlich und vielleicht sogar ein wenig glücklich. Der Workshop war überstanden, und er war nach den Anfangsschwierigkeiten ausgesprochen gut gelaufen. Trotzdem verspürte Anna nicht etwa Stolz auf sich, sondern vor allem tiefe Erleichterung, weil es endlich vorbei war.

Sie bereute die Entscheidung nicht, den Kurs anzubieten und durchzuziehen, aber sie hatte auch nicht das Bedürfnis, das Experiment so rasch zu wiederholen. Das Seminar hatte sie nicht nur mehrfach an ihre persönlichen Grenzen gebracht, sondern diese auch überschritten. Auch wenn sie den Teilnehmern laufend gepredigt hatte, dass man die eigenen Grenzen manchmal ausdehnen musste, um sich weiterzuentwickeln, blieb es doch eine sehr anstrengende Angelegenheit.

Ihre Gedanken kehrten wieder zu ihrem Kurzzeitgast Len zurück, von dem sie inzwischen wusste, dass er mit vollem Namen Lennox hieß und der einzige Fraser-Sprössling aus Kirkby war, den sie noch nicht kannte. Sie war überrascht gewesen, dass niemand davon gewusst hatte, dass Lennox nach Kirkby zurückgekehrt war, um an ihrem Kurs teilzunehmen. Nun ja, streng genommen konnte man auch gar nicht sagen, dass er am Workshop teilgenommen hatte, nachdem er kaum eine halbe Stunde nach seiner verspäteten Ankunft panisch geflohen war. Dieser Moment ging ihr nicht aus dem Kopf. Es war unfassbar intim und noch viel erschreckender gewesen. Es hatte sich für sie angefühlt, als hätte sie versehentlich seinen Schutzschild zerschmettert und ihn der Wucht des darauf folgenden Gefühlssturms ausgeliefert. Wenn es schon für sie so intensiv gewesen war, wollte sie sich gar nicht ausmalen, was er empfunden haben musste. Was er womöglich immer noch empfand. Sie wollte ihn gern um Verzeihung bitten, gleichzeitig wusste sie nicht, wofür genau – denn eigentlich hatte sie nichts Falsches gemacht.