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Teaser / Erstes Großkapitel aus "Hiobs Spiel 1" Das riskanteste und schwärzeste literarische Projekt deutscher Sprache, vergleichbar nur mit Die 120 Tage von Sodom des Marquis de Sade. Es ist ein Schrecken ohne Ende. Hiobs Spiel ist die Geschichte eines Mannes, der sich auf eine unglaubliche Geschichte eingelassen hat eine Wette um das Schicksal der Welt. Gewinnt er, kann er die Welt retten. Verliert er, fällt sie dem Bösen anheim. Um die Welt vom Bösen zu befreien, muss er ihre entsetzlichsten Schauplätze aufsuchen, muss tief in die Abgründe der menschlichen Existenz hinabsteigen, und er muss auch selbst betrügen, morden, quälen und vernichten. Der Inhalt ist so maßlos wie das gesamte, auf mehrere Bände und fünfzig Jahre angelegte Projekt vermessen. "Hiobs Spiel" ist ein Romanzyklus der Extreme, der Schrankenlosigkeit, des Absoluten. Das gesamte Arsenal an Genres, Formen und Jargons, das dem Autor während seiner Arbeit an den Texten begegnet, soll in "Hiobs Spiel" einfließen. Nicht Belletristik, Maletristik nennt Meißner dabei sein Metier, für das er auch beim Schreibprozess die Schleusen des Verdrängten und Unbewussten öffnet.
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Seitenzahl: 87
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Impressum
LESEPROBE
Tobias O. Meißner: Hiobs Spiel 1, Prognosticon 1
Die Erstausgabe erschien 2002 im Eichborn Verlag, Berlin.
Bei der vorliegenden Neuausgabe handelt es sich um die erste vollständige, exakt den Intentionen des Autors folgende Fassung – den »Writer’s Cut« also. Sämtliche Kürzungen und andersgearteten Eingriffe in das Manuskript, die dem Erstdruck vorausgingen, wurden rückgängig gemacht. Der gesamte Text wurde in enger Zusammenarbeit mit dem Autor durchgesehen.
© 2013 by Tobias O. Meißner
Mit freundlicher Genehmigung des Autors
© dieser Ausgabe 2013 by Golkonda Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Hannes Riffel
Korrektorat: Catherine Beck
Technische Unterstützung: Robert Schröder
Gestaltung: s.BENeš [www.benswerk.de]
E-Book-Erstellung: Hardy Kettlitz
Golkonda Verlag
Charlottenstraße 36 | 12683 Berlin
[email protected] | www.golkonda-verlag.de
ISBN: 978-3-942396-80-6
Prolog
»Ich selbst spiele in dieser Geschichte noch keine Rolle.«
Die Stimme eines Kindes, wie von weit her.
Es ist mitten in der Nacht, und das Theater ist menschenleer.
»Zumindest nicht im ersten Buch. Im zweiten tauche ich zum ersten Mal auf, wenn auch nur als Traum. Wirklich in Erscheinung trete ich wahrscheinlich erst im vierten oder fünften Band, mit Sicherheit kann jedoch niemand das wissen.«
Es ist ein kleines Theater, in einem Hinterhof gelegen. Ein rätselhaftes Stück mit Namen »Königin der Teilbarkeit« wird hier gegeben, und von den fünfzig Sitzen sind höchstens zehn besetzt.
Zu dieser Stunde gibt es hier nur das Mädchen und das eigenartige, wabernde Licht, das durch drei hohe Fenster hereinweht, von den Leuchtschriftzügen einiger Lokale und dem regelmäßigen An- und Ausgehen der Zimmerlichter des Hauses.
»Schon bald werdet ihr euch fragen: Was soll das alles? Was ist der Grund für eine Erzählung mit so viel Gewalt, so viel Entsetzlichkeit und Not? Ich kann das noch nicht erklären, nicht gleich zu Beginn. Nicht einmal die Hauptfiguren wissen zu Beginn, was sie eigentlich tun und warum. Aber sie lernen. Sie sind unter Schmerzen dabei, sinnliche und übersinnliche Erfahrungen zu sammeln. Und genau so wird es euch ergehen. ›Lohnt sich das?‹ werdet ihr fragen. Ich kann nur antworten: nicht für jeden.«
Das Mädchen steht alleine auf der dunklen Bühne.
Es sieht aus, als wäre es zehn oder elf Jahre alt, mit langen braunen Haaren und großen Augen. Seine Kleidung ist anders als das, was man in diesem Jahrhundert trägt, in diesem Land zu dieser Jahreszeit.
Einen Vorhang gibt es nicht. Ein paar Requisiten stehen oder liegen noch auf der Bühne herum, unter anderem ein großer bunter Ball und verschiedene schwarze Stühle.
»Vieles von dem, was hier verhandelt wird, ist wahr, ist zumindest bezeugt worden, und was nicht direkt wahr ist, wurde in Albträumen durchlebt. Niemand würde sich so etwas einfach nur ausdenken. Niemand, der noch nicht verloren ist.«
In den tiefen Schatten zwischen den Sitzreihen bildet sich undeutlich ein unruhiges Publikum heraus. Menschen. Tiere. Tiermenschen. Ein fünfundzwanzigjähriger Mann in der Maske eines Fünfundsiebzigjährigen. Eine Frau, die viele Frauen ist, aber alle sind sie schön, und viele von ihnen waren Schauspielerinnen in der Frühzeit der Filmgeschichte. Hinter ihr ein Mann oder ein Ungeheuer mit einer Krone oder Hörnern. Und seitlich, abseits von den anderen, ein blasser, fiebernder Zauberkünstler, mit Farbe beschmiert und Blut.
Die Schatten überlagern sich, löschen sich gegenseitig aus.
Das Mädchen lächelt.
»Ansonsten kann ich euch nichts mit auf den Weg geben. Es darf nicht zu einfach werden, das würde der Natur des Geschehens widersprechen. Ihr werdet verletzt werden, aber die meisten Verletzungen werden heilen. Ihr werdet herausgefordert werden und in dieser Herausforderung ein Spiel sehen können oder ein lebenslanges Ringen. Ihr werdet lernen müssen zu lachen, über Dinge, die eigentlich nicht zum Lachen sind. Ich empfinde Mitgefühl für euch, aber ich beneide euch auch, nun, da ihr alles noch vor euch habt.«
Sie legt ihre Handflächen über ihre Augen und tritt so weit nach vorne an den Bühnenrand, dass ihre Zehen keinen Halt mehr haben.
»Hier spielt man ein Spiel um die Seele der Welt,
wo Gott ist der Teufel, ein Irrer der Held.
Prinzessinnen werden ermordet und morden,
das Böse und Gute sind taumelnde Horden.
Gewalt und Gewalten umgarnen sich gierig,
den Sieger zu finden erweist sich als schwierig.
Es gibt einen Sinn hier und auch ein System,
und beides zu finden ist niemals bequem.
So lasst uns denn schaudern, mit Mut delirieren,
die Zeit unsres Lebens in Wahn investieren,
lasst staunen uns, kichern, erschrecken und weinen
und weiter noch wollen auf zittrigen Beinen,
lasst Märchen uns trinken wie Schweiß und wie Tränen
und unsere Sicherheit trügerisch wähnen,
lasst Wandlung und Vielfalt uns werden zum Ziel
– denn dergestalt tut sich uns kund Hiobs Spiel.«
Das Mädchen verbeugt sich tief und springt hinab ins Dunkel des Raums.
Es gibt keinen Applaus.
Prognosticon 1: Der begrabene Zirkus
a) Einsatz
Irgendein Priester wird lachen.
Wenn ich komme, um zu beichten.
(Hiob M.)
Der Arzt hieß Facundo. Facundo oder so ähnlich.
Er hatte kein freundliches Gesicht, eigentlich überhaupt kein Gesicht, aber er war so dick und violett und ädrig, und die Gummischlaufe an der Kehle war so hart, dass der mongoloide Junge ihn in den Mund nehmen musste und lutschen und saugen, während der Zwiebelpfleger dem Jungen roh den Klistierschlauch einführte. Walzer blecht im hellen Hintergrund.
Facundo grunzte und bewegte seine schlaffen Hüften, bis er den Rachen des Jungen ganz erstickte und dieser durch die Nase kaum noch Luft bekam, was herrlich anzuschauen und zu hören war. Er strich dem Jungen tauber werdend durch das volle Haar, und als Facundos Augen hinter den dicken Brillengläsern zuquollen, gab er dem Pfleger einen Wink. Der öffnete feixend den Hahn, und der Junge füllte sich innen mit sengenden Flammen, brüllte und riss sich zuckend aus den Schläuchen los. Am nassen, kalten Boden schlenkerte er und quoll auf, bis seine Haut fettrosa wurde wie eine Wurst und Risse bekam. Der Pfleger lachte seinen Zwiebelatem umher und drehte an der Einlaufdüse das kochende Öl ab. Ein Tenor belfert wie rückwärts durch die dicken tauben Steine.
Facundo war noch nicht gekommen, er war unzufrieden, wurde schrumpelig und schlaff. »Guillermo«, keuchte er dem Pfleger zu, der sehr viel Spaß hatte und bleckend lachte. »Lass uns in die Zelle da drüben gehen und diesmal richtig liederlich sein.«
Der Zwiebelpfleger nickte, packte die Schläuche unter den Wagen und schob ihn quietschend zur nächsten Tür. Ein Blick durch die Luke verriet die beiden Kinder, die dort im Unrat schliefen. Mädchen. Zwei Mädchen. Der Geruch ihrer Exkremente war berauschend. Facundo schwoll wieder an, und die beiden Onkels betraten nebeneinander den Ort, wo alles erlaubt war, und schlossen schwitzend hinter sich ab.
Facundo konnte wahnsinnig sein. Er bellte und jaulte wie ein Köter, zerriss sich den fleckigen Arztkittel und schmierte sein Gesicht mit Scheiße ein. Der Sänger walzert hängend immer wieder wieder wieder. Es ist Carneval Joselito.
Der Mongoloide lebte noch, in einer Pfütze aus geschmolzenem Fleisch. Er träumte von den Heiligen. Vom Karneval. Wieder. Wieder. Wied.
Hinter der dicken tauben Backsteinmauer des Krankenhauses Moabit begann ein routinierter Montag. Draußen war Januar, schneelos, die Sonne stach hinterlistig zwischen grauen Wolkenfetzen hervor, und hinter den aseptischen Glasschiebetüren wallte der monotone Straßenlärm heran. Der junge Mann, der am Donnerstag ohne Papiere in der Nazarethkirche mit apoplektischen Symptomen zusammengebrochen war, hatte am Sonnabend einer Aushilfsschwester den qualligen Kartoffelbrei ins Gesicht gedrückt und seinen asthmatischen Bettnachbarn mitsamt der Matratze aus dem Bett geworfen, um seine Gesundheit zu demonstrieren und seine Entlassung zu beschleunigen. Die Untersuchung durch den Ordnungsdienst am Sonntagmorgen ließ er nervös und fahrig über sich ergehen, gab seinen Namen einmal mit »Lutz Diddrich » und einmal mit »Richard Heilhecker« an, schenkte einem schnurrbärtigen jungen Uniformpolizisten seine baumwollene, blaukarierte Holzfällerjacke und konnte gehen.
Die Sonne warf ihn mit winterlicher Wucht fast wieder in die sich schließende automatische Tür zurück, aber mit dem linken Arm vorm Gesicht kam er am Pförtner vorbei, ohne allzu viel Aufsehen zu erregen. Er rannte die Birkenstraße hinunter, schlüpfte an streitenden jugendlichen Türken vorbei in die U-Bahnstation, kurz, bevor es draußen kalt zu regnen begann, fuhr drei Stationen schwarz bis zum Leopoldplatz, schaute dort kurz, ob die Linie nach Alt-Tegel gerade einlief, was aber nicht der Fall war, sprintete durch karstadttütenbehängte Wintermantelmütter hindurch die Treppen hinauf und rannte im gallert-öligen Platzregen an der pumpend immer noch vibrierenden Nazarethkirche vorbei die Müllerstraße bis zur Amsterdamer Straße hinauf, wo er sich schlüssellos gegen die Tür von Nummer 9 warf, bis sie aufknackte, und zu seiner Wohnung im Quergebäude hochlief. Mit nach chemischer Krankenhausseife riechendem Schweiß in den Augen trat er seine eigene unbezeichnete Wohnungstür ein und kam gerade noch rechtzeitig, um der felllos fleischigen Katze, die an seinem Fernseher hing, mit einem splinterigen Baseballschläger das Gehirn über die Mattscheibe zu dreschen und den röchelnden Kadaver an den Stromkreis der Modelleisenbahn anzuschließen, bis das Ding mit der Stimme von Kathleen Byron zu reden anfing.
»Guten Montag, guter Montag, mein hübscher Lieb-Haber«, schnarrte der rosafarbene, nackte Leib, »spielst du noch immer mit Weiß? Brauchst du ein Brett?«
Der junge Mann ließ sich nach hinten aufs ungemachte Bett fallen, strich sich durchs nasse Haar und gönnte sich die ersten Sekunden der Entspannung seit fünf oder sechs Tagen. »Ist dir nach Plaudern zumute, Widder? Du willst doch nur von der Tatsache ablenken, dass ich dich erwischt habe. Was wolltest du vom Fernseher? Kulenkampffs knistrige Seele rauslutschen?«
Das pulsierende Katzenaas lachte, bis ein paar offen liegende Schenkelsehnen rissen. Die Stimme wurde tiefer. »Ich wollte Porno-Kabel sehen. Hast du Porno-Kabel?«
»Denkst du, ich könnte mir das leisten? Niemand bezahlt mich.«
»Du und ich, wir könnten wieder Porno-Kabel werden. Würdest du wollen?«
Der Mann richtete sich auf die Ellenbogen auf. »Komm jetzt, Widder. Gib mir meine Karten.«
»Wie du willst, du süßer Scheißer. Versuch es in Barranquilla. Dort ist Carneval Joselito, o Mama, da ficken die Leute ü-ber-all!«
»Kolumbien? Eine Drogengeschichte?«
Die Katze lachte schmatzend. »Nein. Eine Gruselgeschichte. Sie schlachten dort Menschen und werfen sie weg, und man soll nie wegwerfen, was man noch brauchen könnte.«
»Shit.«
»Ja, genau. Bleib mir treu, mein Kleiner. Du weißt genau, dass nur ich dich wirklich glücklich machen kann.«
Mit der schmierigen Imitation eines Hundebellens wich alle Bewegung aus der Katze, und der junge Mann riss das Ding von den Schienen, wickelte es mitsamt ein paar übrigen Schafgarbenzweigen in Alufolie und presste es tief in den Mülleimer. Er löste vier orange-sprudelnde Vitamintabletten in einem einzigen gesprungenen Glas Wasser, kippte das künstliche Gesöff hinunter, dachte kurz nach, holte sein Kampfmesser unter dem toten Kohleofen hervor, pustete die Staubmäuse weg und stürmte aus der Wohnung zwei Etagen weiter nach oben.