Die Soldaten - Tobias O. Meißner - E-Book

Die Soldaten E-Book

Tobias O. Meißner

0,0
2,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die Festung Carlyr ragt über weites, unbekanntes Feindesland. Hinter ihren Mauern bedeutet ein einziger Fehler den Tod. Um nach einer gewaltigen Niederlage neue Soldaten auszubilden, wird Leutnant Fenna nach Carlyr versetzt. Doch der Norden hat seinen eigenen Schrecken zu bieten. Im verbrannten Land jenseits der Festung verbergen sich die Affenmenschen, die schon einmal einen großen Feldzug zum Scheitern gebracht haben. Und als Fenna zusammen mit der unerfahrenen Akademieabsolventin Loa Gyffs seine Kompanie ins Land der Feinde führt, entdeckt er, dass die Wüste ein weitaus gefährlicheres Geheimnis birgt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



ISBN 978-3-492-98005-0

© für diese Ausgabe: Fahrenheitbooks, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2013 Covergestaltung: FAVORITBUERO, München Covermotiv: © Jaroslaw Grudzinski / Shutterstock.com Datenkonvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Karte: Erhard Ringer

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2011

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich Fahrenheitbooks die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

ERSTER TEIL

Ausbildung

1

Die Sonne zappelte am Himmel.

Der Sattel bot kaum noch Halt.

Dass die Hitze so weit nördlich dermaßen quälend sein würde, hatte der Leutnant nicht ahnen können. Noch nie zuvor hatte er die Felsenwüste mit eigenen Augen gesehen. Auf ihren Gipfeln hatte er sogar Schnee erwartet, aber da war nichts, was Kühlung versprach. Die Luft flimmerte und ließ das graubraune Gebirge tanzen. Hammerköpfige Echsen huschten züngelnd umher. Zikaden sirrten in Wellen. Der Himmel war wolkenlos und dennoch bewegt wie ein Gewässer voller goldener Strömungen. Die Sonne – die Sonne war die Königin des Himmels: Sie herrschte unumschränkt, und das Firmament kannte keine Farben mehr außer ihrer. Aber dem Leutnant kam es so vor, als würde hinter den steilen Abweisungen der Felsenwüste noch zusätzlich ein Feuer lodern, dessen warmer Hauch immer wieder zu ihm herabwehte, seine Armhärchen bestrich wie mit summender Glut und ihm den Schweiß aus den Poren zog.

Der Leutnant war kein blutjunger Mann mehr – im letzten Winter hatte er das 32. Lebensjahr erreicht. Seit vierzehn Jahren bereits trug er die Uniform der Königin des Kontinents. Aber nun schien ihm der kühlende Winter genau so weit entfernt wie die Jugend, in der solche Hitze ihm noch nichts ausgemacht hatte.

Je weiter er ritt – von Ferbst aus landeinwärts, das spröde und ausgebleichte Gebirge der Felsenwüste unablässig zur Rechten –, desto mehr seiner Kleidungsstücke verschwanden in den Satteltaschen. So war er als einigermaßen stattlicher Leutnant der königlichen Stadtgarde von Chlayst von Bord eines Schiffes gegangen, und nun, sechs Tage später, strauchelte er auf einem armeeeigenen Pferd unter der Sonne dahin, unrasiert, bloßarmig, die Hosen bis hoch zu den Knien aufgekrempelt, die Lippen brüchig, das harte Gesicht zu einer steten Grimasse verzogen. Das Wasser in seinen Feldschläuchen war lauwarm wie eine Körperausscheidung und schmeckte mit jedem Schluck bitterer. Das Pferd gebärdete sich bockig, ging oft eher seitlich als gerade, verkantete sich, nickte nervös mit dem Kopf, scheute bei jedem Geräusch. Der Leutnant war kein guter Reiter – das Pferd misstraute ihm ebenso wie er dem Pferd, und der Sattel war unbequem und schweißig. Eigentlich hatte er darauf gehofft, von Ferbst aus in einer Kutsche weiterreisen zu können, doch in der Garnison dort hatte man ihm die Zügel eines Pferdes in die Hand gedrückt und ihm gesagt, es wäre nett, wenn er das Tier bis Carlyr einreiten könnte.

Bis Carlyr. Zur Festung Carlyr.

Der Leutnant verfluchte seinen Befehl.

Er hasste es, reiten zu müssen.

Er hasste die Hitze des inneren Landes.

Er hasste es, so weit entfernt zu sein von Chlayst.

Chlayst war aufgegeben worden im letzten Jahr, als die Luft plötzlich giftig wurde und es tote Vögel regnete. Die Stadtgarde war mitsamt der Bevölkerung an die Küste geflohen, dorthin, wo man noch atmen konnte. Seitdem verwaltete sie das Chaos. Gute Leute wurden gebraucht, denn neuerdings waren zu Not und Elend, Pestilenz und Entsetzen sogar noch bewaffnete Aufstände hinzugekommen. Vor Chlayst war der Leutnant nützlich gewesen unter gleichsam Nützlichen, die Stadtgarde eine schmale Barriere, die das Gute vom Unzurechnungsfähigen zu trennen vermochte. Aber was machte er hier, einsam auf einer staubigen Straße, die nach verbrannten Kräutern und Kuhdung roch und sich als Kruste auf die Zunge legte, wenn man unachtsam genug war, den trockenen Mund eine Weile offen zu lassen?

Er verfluchte seinen Befehl.

»Gönne dir die paar Monde, ein halbes Jahr vielleicht, dann hole ich dich wieder zurück«, hatte sein alter Hauptmann ihm gesagt. »In der Festung Carlyr haben sie den großen Feldzug gegen die Affenmenschen verloren, dort ist noch mehr Not am Mann als bei uns.«

»Aber hier kenne ich mich wenigstens aus, ich habe mein ganzes Leben in Chlayst verbracht!«, hatte der Leutnant versucht aufzubegehren.

Doch der alte Stadtgardehauptmann hatte nur gelächelt, dieses müde, väterliche Lächeln. »Das Chlayst, in dem du gelebt hast, gibt es nicht mehr. Mach dich nützlich, wo man dich braucht! Und atme, mein Junge! Atme!«

Der Leutnant sah den Scheiterhaufen vor sich mit den Kindern. Nur kurz. Er sah dieses Bild immer nur ganz kurz, als hätte sein Unterbewusstsein begriffen, dass es länger nicht zu ertragen war.

Die Seeluft der Überfahrt nach Ferbst hatte ihn zu erfrischen versucht, doch der Leutnant hatte dies nicht zugelassen. Er trug Chlayst in seinem Herzen, das gefallene, verseuchte alte Mädchen, Perle der Sturmsee. Zum Scheiterhaufen verwelkt. Kindergrab.

Seit dem letzten Hochsommer war jeder Atemzug in Chlayst ungesund gewesen. Ein Sumpf in unmittelbarer Nähe der Stadt hatte begonnen, giftiges Gas auszudünsten. Panik hatte die Menschen erfasst. Das sorgsam in ihnen verschlossene Böse hatte begonnen, sich offen zu brüsten. Männer hatten sich um Brot erschlagen. Frauen sich gegenseitig die Kinder entrissen, weil ihre eigenen krepiert waren. Selbst bei der Garde hatte es einige gegeben, die sich am Zusammenbruch der Stadt zu bereichern trachteten. Händler aus anderen Städten verscherbelten minderwertige Hilfsgüter und strichen hohnlachend Gewinne ein. Der Leutnant hatte versucht, diesen Stall ausmisteten, den Sumpf trockenzulegen, die Stadt zurückzugewinnen, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Die Toten zu Haufen zusammenzukehren. Er hatte sich übernommen. Seinen 32. Geburtstag hatte er im Lazarett verbracht, umringt von anderen, die noch viel schwerer vergiftet waren als er und starben, während er von den Kindern albträumte.

Jetzt ging es ihm schon wieder besser, und als das Gesuch von der Festung Carlyr eingetroffen war, einen mit der Ausbildung neuer Rekruten vertrauten Unteroffizier zu überstellen, hatte der alte Hauptmann ihm diesen Auftrag zugeschanzt. Als Urlaub sozusagen. »Atme, mein Junge, atme.«

»Aber die Heugabelmänner!«

Denn nun gab es auch noch die Heugabelmänner. Eine stets größer werdende Bande von Gesetzlosen, die sich im Gebiet von Chlayst und Furbus breitmachten und sich in Furbus bereits mit königlichen Truppen angelegt hatten. Der Leutnant hatte das deutliche Gefühl, dass der Königin der Kontinent langsam, aber sicher aus den Händen glitt. Eine kostbare Kristallschale in freiem Fall. Denn auch im fernen Westen, in Skerb, widersetzten sich die Freibeuter den Dekreten aus der Hauptstadt. Und der große Feldzug gegen die Affenmenschen war im Norden, in der Gegend der Festung Carlyr, verloren gegangen.

»Die Heugabelmänner«, hatte der alte Hauptmann gelächelt, »sind kein Problem einer Stadtgarde, mein Junge. Die Königin wird Truppen schicken, und dann wird das erledigt.«

Aber welche Truppen? Wenn die Festung Carlyr schon bis nach Chlayst schicken musste, um einen geeigneten Offizier zu finden? Welche Truppen gab es denn überhaupt noch? Wenn es seine Aufgabe war, eine neue zu gründen?

Der Leutnant verfluchte seinen Befehl.

In den Nächten schlief er buchstäblich auf seinem Säbel. Man hatte ihm eingeschärft, dass sich die Affenmenschen und anderes Ungetier seit dem Fehlschlagen des großen Feldzuges vermehrt in den Außenbereichen der Felsenwüste herumtrieben. Er wollte keine unliebsamen Überraschungen erleben. Also nutzte er die Klinge seines Säbels, um sich selbst einen leichten Schlaf zu verschaffen. Seine Erschöpfung hätte ihn sonst vielleicht in Träume sinken lassen, und aus Träumen war schon so mancher nicht mehr erwacht.

Auch lauerten in den Träumen die Kinder.

Der Magen des Pferdes rumorte in den Nächten. Das Tier scharrte mit den Hufen, sodass der Leutnant mehrmals aufschreckte und dachte, jetzt würden gleich Affenmenschen über ihn herfallen.

An jedem frühen Morgen schimmerte alles Gestein feucht. Aber auch dieser Tau war wie ein Trugbild. Er löste sich schon im Laufe des Vormittags zu scharfkantiger Trockenheit auf.

An den Mittagen schien die Königin des Himmels wie festgenagelt über ihm zu schweben und ihn zu verhöhnen. Das Pferd warf nur einen winzigen Schatten, tief unter seinem äderigen Bauch. Einmal fragte sich der Leutnant, ob er nicht lieber unter seinem Pferd reiten sollte, in diesem winzigen, wohligen Schatten, aber das war natürlich Unsinn, das war die Hitze, die seinen Helm zum Glühen brachte und sein Gehirn darunter zum Sieden. Aber ohne den Helm war es noch schlimmer. Ohne den Helm schienen seine dunklen Haare im Licht Feuer zu fangen.

Sein Bart kratzte. Seine Arme und Beine juckten. Seine breitschultrige Gestalt flimmerte wie Wasser. Das Pferd stieß ihm hart ins Kreuz bei jedem Hufschritt. Er hasste es, reiten zu müssen. Es war zu heiß für diese Jahreszeit.

Denn es war noch nicht einmal Feuermond. Man hatte den 4. Sonnenmond geschrieben, als er von Ferbst aus losgeritten war. Nun musste ungefähr der 10. sein. Spätestens zu Mittelsonne sollte er die Festung erreichen, so lautete seine Order. Aber vielleicht war das ja gar nicht mehr möglich. Vielleicht war die Festung zerschmolzen wie Wachs und nun nur noch eine weitere unförmige Felsformation unter vielen.

Der Leutnant schüttelte den Kopf. Sein Helm fühlte sich an wie etwas, das frisch aus dem Ofen eines Schmiedes gekommen war. Es war alles so absurd. Linkerhand leuchtete das Grün der fruchtbaren Ebenen von Hessely. Der Sonnenmond war eigentlich eine wunderschöne Jahreszeit. Eine der liebsten des Leutnants während seiner vielen Jahre im milden Chlayst. Wenn die Sturmsee frische Brisen über die Stadt schickte, die nach Tang und Rogen dufteten. Sommers wie winters war die Sturmsee gut befahrbar gewesen. Nur im Frühjahr und im Herbst fuhr sie ihre Krallen aus und machte den Seeleuten das Leben schwer. Wie die Heugabelmänner. Wie die Freibeuter von Skerb.

Der Leutnant riss sich zusammen. Seine Gedanken schweiften schon wieder zum Meer ab und zu Chlayst. Aber hier gab es nirgendwo ein Meer oder eine Stadt. Hier gab es Staub und Felsen und jenseits der Felsen weitere Felsen und weiteren Staub. Und irgendwo dort drinnen schien ein Feuer zu lodern, das einem das Mark bei lebendigem Leib aus den Knochen kochte. Selbst in Chlayst gab es keine frischen Brisen mehr, sondern nur noch den Gestank von Gift und Auswurf.

Die Welt war im langsamen Untergehen begriffen. Die Anzeichen waren so eindeutig wie die Hufabdrücke hinter ihm im Staub.

Als der Leutnant die Festung erreichte, ritt er beinahe an ihr vorüber, ohne sie zu bemerken, so jäh und senkrecht fügte sie sich in jene zerklüftete Gebirgswand, die ihn nun schon seit sieben Tagen rechterhand leitete. Es war sein Pferd, das stehen blieb. Es witterte Artgenossen und kühles Brunnenwasser hinter dem Festungstor.

Der Leutnant hob den Blick und sah zum ersten Mal in seinem Leben die Festung Carlyr.

Sie bestand aus Stein, war aber nicht in den Stein gehauen worden, sondern mühsam aufgeschichtet und zusammengefügt. Sie verschloss einen Pass durch die Felsenwüste, den einzigen offenen Durchgang in das Land der Affenmenschen – den Hohlweg, wie er allgemein genannt wurde. König Rinwe hatte den Bau dieser Festung in Auftrag gegeben, nachdem er im Süden den Geisterfürsten niedergeworfen und das übrige Land mit eiserner Faust zur Einigkeit umgeformt hatte. Aus einem Grund, der in den beinahe siebenhundert seitdem vergangenen Jahren in Vergessenheit geraten war, hatte Rinwe das Land der Affenmenschen nicht erobern wollen, sondern sich stattdessen damit begnügt, die einzige Öffnung im Gebirge der Felsenwüste wie mit einem Korken zu verschließen: durch die Festung Carlyr.

Mittlerweile sah das trutzige Gemäuer heruntergekommen aus. Die Jahrhunderte hatten an ihm genagt wie Ratten. Weiter westlich, in Galliko, wo keine Gebirgskette das Affenmenschenland vom übrigen Kontinent abgrenzte, wurde immer wieder gekämpft, wurde die Stadt erneuert, aufrechterhalten, verstärkt, versorgt, besichtigt, gehegt und wie ein Heiligtum oder ein Kleinod des Trotzes verehrt. Aber in der Festung war es ruhig gewesen in den letzten Jahrzehnten. Erst der fehlgeschlagene Feldzug der Königin hatte Carlyr wieder auf den Landkarten erscheinen lassen. Das mit Magiern verstärkte Heer war stolz hier hindurch in das Affenmenschenland marschiert. Einige Wochen später waren die geschlagenen Überlebenden, an Körper und Seele krank wie die Einwohner Chlaysts, durch ebendiese Festung wieder zurückgekrochen.

Die den zivilisierten Landen des Kontinents zugewandte Vorderfront der Festung wurde von einem hohen, zweiflügeligen Tor aus schwarzem Holz beherrscht. Oben lief die Mauer in spitzen Zinnen aus, linkerhand sah man einen viereckigen Torturm, rechts nur zwei Banner: das blau-goldene der Krone und das verschnörkelte »C«, welches das Wappen der Festung Carlyr bildete.

Vom Torturm aus wurde der Leutnant erblickt. Dass er die Festung zuerst nicht bemerkt hatte, hatte ihn der Möglichkeit beraubt, seine Uniform wieder in Ordnung zu bringen. »Heda, was lungert Ihr dort herum?«, rief ein Soldat vom Turm herunter. Seine Stimme klang jedoch gar nicht so unfreundlich, sondern eher scherzend.

Der Leutnant förderte mit langsamen, müden Bewegungen aus seinen Satteltaschen ein zusammengerolltes Pergament zutage. Er hielt es hoch gegen die Sonne und rief heiser: »Leutnant Eremith Fenna von der Stadtgarde Chlayst. Ich habe Befehl, mich bei Oberst Ibras Jenko zu melden. Und ich habe ein Pferd aus der Garnison Ferbst mitgebracht.«

»Ahh«, entgegnete der Wachtposten lachend. »Der Leutnant für die Grünhörner! Wird aber auch Zeit! Wir erwarten Euch schon seit vorgestern. Zieht Euch ein bisschen mehr an, dann könnt Ihr gern reinkommen.«

Grummelnd stieg der Leutnant vom tänzelnden Pferd und brachte seine Uniform, so gut es ging, in einen zumindest halbwegs präsentablen Zustand. Alles war durchgeschwitzt und stank, aber das konnte einem bei dieser Gluthitze wohl kaum zum Vorwurf gemacht werden. Es war quälend, die Ärmel und Hosenbeine wieder herabrollen zu müssen und dadurch noch mehr in Schweiß zu geraten.

Ein Schatten fiel über ihn. Er hob den Blick. Dort oben unter der Sonne flog etwas. Kein Wüstengeier. Eher ein Reptil mit langen, schmalen Schwingen. Ein Wesen aus dem unbekannten Land hinter den Bergen, das sich zu weit nach Süden vorgewagt hatte. Nach ein, zwei Kreisbewegungen über der Festung drehte es ab und flog über das Gebirge davon.

Ein Riegelbalken wurde verschoben. Das große schwarze Tor öffnete sich. Es knarrte nicht. Es war frisch geölt worden, als der Feldzug der Königin sich angekündigt hatte. Aber die Bewegung der beiden von je zwei Soldaten aufgestemmten Torflügel wirbelte Staub auf, der gegen Leutnant Fenna brandete. Durch den Schweiß haftete der Staub an ihm wie Mehl. Die Torsoldaten lachten. »Willkommen in der Festung Carlyr, Leutnant.«

Der Leutnant durchquerte das Tor, das störrische Pferd am Zügel führend.

Der Haupthof war kühler als die Straße, wahrscheinlich, weil die Festung zwischen zwei schroffen Klippen eingepasst und deshalb nur zur Mittagszeit der Sonne voll ausgesetzt war. Die Uniformen der hier Dienst tuenden Soldaten wirkten verhältnismäßig gepflegt. In Chlayst hatte der Leutnant – der allgemeinen Ausnahmesituation geschuldet – mehr unrasierte und nachlässig gekleidete Soldaten gesehen als hier. Die einzelnen Gebäude – Stallungen, Lazarett, die Messen für Gemeine und Offiziere, die Unterkünfte, das Verwaltungsgebäude, eine achteckige Kapelle, das Waffen-, das Ausrüstungs- und das Vorratslager, die Latrinen, ein kleines Gefängnis zur Bestrafung von Soldaten, zwei überdachte Brunnen – waren gut in Schuss und adrett entlang der Außenmauern angeordnet. Alle Bauten waren grau, wenngleich in verschiedenen Abstufungen. Nach hinten, nach Norden, dem Feind zugewandt, gab es ein zweites Tor und einen zweiten Torturm, der noch höher war als der südliche und dadurch bereits Eigenschaften eines Bergfrieds aufwies. Auf dem Innenhof exerzierte gerade eine Kompanie aus 29 Infanteristen, die von zwei Leutnants angeleitet wurde. Der eine der beiden Leutnants war klein, dicklich und hatte feuerrote Haare, der andere war hochgewachsen und schlaksig mit einem länglichen Gesicht.

Auf den ersten Blick konnte Leutnant Fenna erkennen, dass die Festung Carlyr unterbesetzt war. Abgesehen von den Exerzierenden ging kaum jemand umher. Die Zinnen- und Torbesatzungen entsprachen dem regulativen Minimum. Der Feldzug der Königin hatte also auch hier seine Spuren hinterlassen.

Eine Ordonnanz trat an ihn heran, ein ältlicher Mann mit furchtsamen blassblauen Augen. »Willkommen in der Festung Carlyr, Herr Leutnant«, sagte auch dieser noch einmal, während die Torsoldaten hinter ihnen beiden grinsend die schwarzen Flügel zuschoben und verriegelten. »Um das Pferd wird man sich kümmern. Darf ich um Eure Papiere ersuchen?«

Leutnant Fenna nahm dem Pferd sein persönliches Gepäck ab und sah ihm hinterher, als ein Stallbursche es hinwegführte. Das Pferd wirkte plötzlich ganz pflegeleicht und handzahm. Dann kramte Fenna seine Überstellungsorder hervor und hielt sie der Ordonnanz hin, während er weiterhin die Festungsanlage mit zusammengekniffenen Augen musterte. Es schien ihm, als seien sowohl die hintere, nördliche Mauer als auch das dortige Tor dicker und stabiler als ihre südlichen Entsprechungen, was sicherlich einen Zweck erfüllte. Nach hinten heraus wehten keine Banner, was ungewöhnlich war, aber vielleicht auch irgendeinen Sinn ergab. Besorgt blickte sich der Leutnant nach oben hin um. Da die Festung von hohen Felsen eingekeilt war, konnte sie von oben herab attackiert werden, was eigenartig war. Normalerweise errichtete man Festungen eher auf Berggipfeln oder an sonst wie herausragenden Punkten und nicht zwischen den Schenkeln eines Gebirgszuges. Er versuchte Treppen oder sonstige Aufstiege auszumachen, die darauf hindeuteten, dass die Klippen links und rechts der Festung ebenfalls dazugehörten und oben von Fernwaffenspähern oder dergleichen bewacht wurden. Aber nichts dergleichen war zu erkennen.

»Die Papiere sind in Ordnung«, unterbrach die Ordonnanz sein Abschweifen. »Ich denke, der Oberst wird sogleich Zeit für Euch haben, Herr Leutnant. Wenn Ihr mir bitte zu folgen geruhtet …« Die Ordonnanz ging vorneweg, auf das zweistöckige, ausgebleichte Gebäude zu, an dem ein Schild mit der Aufschrift »Führung und Leitung« angebracht war.

Der kleine, rothaarige Leutnant stauchte gerade einen seiner Infanteristen zusammen, mit dessen Schuhwerk wohl etwas nicht in Ordnung war. Der längliche Leutnant stand ungerührt daneben und bohrte sich im Ohr.

Bevor Leutnant Fenna in die Schatten des Gebäudes eintrat, fielen ihm noch zwei Gesichter auf, die ihn aus der Entfernung zu betrachten schienen. Das eine gehörte zu einem städtisch in Zivil gekleideten Spitzbartträger, der lässig im Türrahmen eines Unterkunftsgebäudes lehnte und mit geringschätzigem Lächeln das Treiben auf dem Festungshof zu begutachten schien. Das zweite war das einer jungen Frau. Sie schaute aus dem Lazarettgebäude kurz zu Fenna hinüber und wandte den Blick gleich wieder ab. Dennoch hatte er ihr flüchtiges Gesicht noch in der Dunkelheit des ihn nun umfangenden Flures vor Augen.

Oberst Ibras Jenko empfing Leutnant Fenna in seiner Schreibstube mit Hofblick im oberen Stockwerk. Die Schreibstube enthielt Regale, Ablagen, einen wuchtigen Schreibtisch und als einzigen Wandschmuck eine Karte des Affenmenschenlandes, auf der die meisten Flächen weiß und unbeschriftet waren.

Der Oberst war ein ausgesprochen massiger Mensch. Dabei war er aber nicht im eigentlichen Sinne fett. Seine Körpermasse schien überwiegend aus Muskeln und Unverrückbarkeit zu bestehen. Sein Bauchumfang war keinen Deut breiter als seine Brust. Die Haare waren grau und kurz und wirkten dermaßen borstig, als könnte der Oberst mit ihnen Wunden reißen wie mit einem Morgenstern.

Jenko hatte sich erhoben und zerdrückte Fenna nach dem knappen militärischen Gruß herzlich die Hand. »Freue mich sehr, dass Ihr den Weg hier herauf gefunden habt, Leutnant. Freue mich wirklich sehr. Nehmt doch Platz, ja, dort. Rückt Euch den Stuhl näher ran. Na, wie gefällt Euch unsere kleine Schatztruhe? Kann sich doch sehen lassen, nicht wahr? Ahhh, der verdammte Feldzug. Dieser verdammte, verdammte Feldzug.«

»Gibt es noch Verwundete hier im Lazarett?«

»Vom Feldzug? Nein. Sind alle verreckt. Warum? Was erzählt man sich denn so?«

»Dass es Krankheiten gegeben hat.«

»Krankheiten? Ja. Der ganze Feldzug war eine Krankheit. Eine Pest, ah. Ich habe ein gesamtes Bataillon verloren. Hauptmann Veels. Drei Kompanien. Ein tadelloser Kerl, der Veels. Tadelloser Kerl, ja. Die Hälfte meiner gesamten Besatzung: futsch. Hä? Einfach so. Kein Einziger von meinen hat’s mehr zurückgeschafft. Ein Teufelskerl, dieser Gayo. Hat die anderen zurückgeführt aus den sengenden Flammen der Hölle. Kennt Ihr den Mann? Hauptmann Gayo?«

»Nein.«

»Ah! Tut nichts zur Sache. Tut gar nichts. Ein Teufelskerl. Ist jetzt in Aldava, bei der Königin. Wird wahrscheinlich bald Kommandant einer Stadtgarde oder General oder so was. Kriegt man nicht mehr, solche Leute.« Der Oberst fasste nun den ihm gegenübersitzenden Leutnant scharf ins Auge. »Chlayst, häh? Auch so ein Pestloch. Müsstet Euch eigentlich hier schnell heimisch fühlen können, Leutnant. Ha!«

Leutnant Fenna räusperte sich. »Mit Verlaub, Oberst Jenko: Mir ist noch nicht ganz klar, was ich eigentlich hier tun soll. In Chlayst wird wirklich jeder einzelne Soldat gebraucht. Eine Gruppierung, die sich Die Heugabelmänner nennt, zieht dort Unruhestifter zusammen, die gegen die Belange der Königin zu verstoßen beginnen.«

»Mit Verlaub, ja. Das ist hübsch: mit Verlaub. Habt Euch nicht freiwillig gemeldet, das ist mir schon klar. Euer Hauptmann schuldete mir noch was. Brauche einen tadellosen Mann, der belastbar ist. Was ist das eigentlich für ein komischer Vorname: Eremith? Wollten Eure Eltern nicht, dass Ihr jemals eine Frau abkriegt? Ha!«

»Sie haben es mit th geschrieben. Also ist es nur ein Name, keine Berufung.«

Oberst Jenko sah den Leutnant wieder prüfend an. Dann lachte er auf, dass sein ganzer Leib erbebte. »Gefällt mir. Gefällt mir, der Mann. Euer Hauptmann hat mir Euch geschildert als jemanden, der in der Lage ist, Jungspunden Respekt einzuflößen. Nicht zu alt, um nicht mehr mithalten zu können, aber auch nicht mehr grün hinter den Ohren. Das ist recht so. Tadellos. Genau das kann ich jetzt brauchen. Darum geht es nämlich: Grünhörner. Wisst Ihr, Leutnant, was ein Grünhorn ist?«

»Ein … Rekrut?«

»Richtig. Begriff aus Galliko. Hübsches Wort. Trifft die Sache genau. Wollen sich die Hörner abstoßen. Sind aber noch ganz weich. Ich brauche neue Männer. Die Königin hat niemanden mehr. Alle futsch. Affenmenschenfeldzug. Köstliche Sache. Ganz große Idee. Haben ein paar Intellektuelle in Schreibstuben ausgebrütet. Hat mich meinen Hauptmann Veels gekostet. Jetzt habe ich den Hobock losgeschickt. Ah, kommt mal her, Leutnant, hier, ans Fenster! Seht Ihr die beiden Leutnants dort unten? Der Rothaarige, das ist Teny Sells. Der andere, der wie ein mageres Pferd aussieht: Marig Hobock. Die beiden teilen sich das Kommando über die Zweite Kompanie des Zweiten Bataillons. Klappt ganz anständig so weit.«

»Die waren nicht beim Feldzug.«

»Nein. Der Schnitt ging mitten hindurch durch meine Festung. Erstes Bataillon mit allen drei Kompanien: futsch. Zweites Bataillon hat bisher erst zwei Kompanien. Die sind beide hiergeblieben. Und da kommt Ihr ins Spiel. Wir wollen schon lange eine dritte Kompanie hochziehen, kriegen aber jetzt keine erfahrenen Leute mehr. Der Kontinent ist wie leer gefegt von guten Soldaten. Haben die sich doch toll ausgedacht in ihren Schreibstuben in Aldava, die Intellektuellen, findet Ihr nicht auch? Wir müssen jetzt klarkommen mit dem, was sich uns bietet. Hauptsächlich Haderlumpen und Wonneproppen. Aber immer noch besser, als wenn die sich den Mistgabelmännern anschließen, oder, Leutnant?«

»Heugabelmänner.«

»Ah ja! Hübsch. Hübscher. Jedenfalls: Das ist der Plan. Hobock hat siebzehn Gestalten aus der Umgegend zusammengesammelt. Die meisten aus Hessely. Sind aber auch ein paar aus Richtung Ferbst und Galliko dabei. Überwiegend Dorfjugend. Wollen halt bespaßt werden. Siebzehn ist aber eine blöde Zahl. Zu wenig für eine echte Kompanie. Zu viel für einen Zug. Also machen wir Folgendes: Ihr schmeißt die Unfähigsten drei von denen wieder raus, dann haben wir vierzehn plus einen Leutnant, macht eine gute halbe Kompanie. Die nennen wir dann die Dritte. Vielleicht kriegen wir ja irgendwann noch die zweite Hälfte voll.«

»Und was soll diese halbe Kompanie dann machen?«

»Na, ihren Dienst natürlich. Alles, was so anfällt. Wenn ein zweiter Feldzug beschlossen wird, dann: den zweiten Feldzug.« Das Gesicht des Obersts war jetzt lauernd. Er schien darauf zu warten, dass der neue Leutnant Anzeichen von Schwäche und Überforderung erkennen ließ.

Leutnant Fenna jedoch ließ sich auf dieses Spielchen nicht ein. Er lächelte zum ersten Mal. »Wenn diese halbe Kompanie nichts taugt: Kann ich sie dann nach Chlayst mitnehmen?«

Jetzt musste der Oberst wieder lachen. Er klopfte dem Leutnant sogar seitlich gegen die Schulter, sodass dieser beinahe aus dem Fenster gestoßen wurde. Dann führte er ihn zum Stuhl zurück. »Das ist gut, das ist wirklich gut, ja. Jedenfalls sollte die Arbeit jetzt endlich in Angriff genommen werden. Die siebzehn Halunken sind schon eine Woche hier und schlagen sich auf Kosten der Königin die Bäuche voll. Ist ein schönes Weib, unsere Königin, oder? Schon mal gesehen?«

»Noch nie. Schaut sie ab und zu hier vorbei?«

»Ach, bewahre! Das Höchste, was sich hier im Schatten der Wüste jemals blicken lässt, ist der klapprige General Feudenstich. Ist eigentlich schon längst im Ruhestand, der gute Junge, aber lässt es sich nicht nehmen, für die Königin immer noch sämtliche Garnisonen zu inspizieren. Immer auf Achse. Altes Eisen will nicht rosten. Na, jedenfalls: Für Anfang Rauchmond ist der alte Junge bei uns angemeldet. Da will ich dann ein anständiges Manöver abhalten, um ihn von der Funktionstüchtigkeit unserer Festung zu überzeugen. Das gibt Euch also lediglich anderthalb Monde, um Eure Dritte in eine vorzeigbare Form zu bringen. Das ist aber doch ausreichend, findet Ihr nicht? Es gibt eben keinen Urlaub und keine freien Tage. Ich erwarte ja nichts weiter, als dass Ihr Euch gegen Gollbergs Erste einigermaßen achtbar schlagt.«

»Mit Verlaub: Ich komme mit den ganzen Namen und Zuständigkeiten noch nicht ganz klar.«

»Ah, das ist nur menschlich, Leutnant, nur menschlich. Dabei ist doch alles ganz einfach geworden, seitdem die Hälfte unseres Regimentes futsch ist. Jetzt gibt es nur noch ein Bataillon, das Zweite. Angeführt wird es von Hauptmann Sigden Gollberg, ein ganz tadelloser Junge. Spitzenmaterial, wie man so schön sagt. Gollberg führt die Erste Kompanie höchstpersönlich an. Das sind alles Reiter, Kavalleristen. Teufelskerle und -kerlinnen. Dann gibt es noch die Zweite Kompanie, das sind die da draußen, Hobock & Sells. Und dann Euch und vierzehn handverlesene Grünhörner: die dritte Kompanie des Zweiten Bataillons. Alles ganz einfach.«

»Also ist Hauptmann Gollberg mein unmittelbarer Vorgesetzter?«

»So ist es, Leutnant, so ist es. Ihr werdet ihn noch früh genug kennenlernen. Am Anfang wird er Euch nicht dreinreden. Ihr macht Euch erst mal mit Euren Grünhörnern vertraut. Drei müssen weg. Ich gebe Euch einen Schreiber zur Seite, Lement, ein ganz tadelloser Junge. Der kann Euch helfen mit den ganzen Namen und dem Verwaltungskram. Und zu allererst solltet Ihr Euch mit Leutnant Hobock zusammensetzen, der hat die ganzen Gauner ja herbeigetrommelt und kennt sie inzwischen schon seit zwei, drei Wochen. Der kann Euch einiges über sie erzählen.«

»Gut. Dann würde ich Leutnant Hobock und den Schreiber gerne in einer Stunde in meinem Quartier treffen.«

»Ah, ja fein, fein! Gleich ans Werk, was? Guter Mann! Kurz waschen wäre ratsam, man kann Euch unter all dem Staub ja kaum ausmachen, ha! Ich gebe Euch für heute meine Ordonnanz mit, Sowis, ein ganz tadelloser Bursche. Der zeigt Euch Eure Unterkunft und führt Euch rum, was man so wissen muss, ja? Noch Fragen, Leutnant … ähhh: Fenna?«

»Wenn ich welche habe: Soll ich mich dann an Hauptmann Gollberg wenden oder direkt an Euch?«

»Ah, kommt am besten erst mal direkt zu mir, im Moment ist ja nicht allzu viel los. Gollberg ist meistens draußen und reitet Patrouillen, um die Gegend nach Norden abzusichern. Da brauchen wir ihn ja nicht mit jedem Krümel zu behelligen, was?«

»Sehr wohl, Oberst!« Leutnant Fenna erhob sich und grüßte militärisch. Gollberg war draußen, im Norden? Im Feindesland?

Bevor er sich abwenden und den Raum verlassen konnte, fragte Oberst Jenko noch: »Schon mal ’nen Affenmenschen zu Gesicht bekommen?«

»Nein, Oberst. Noch nie.«

»Hm. Na schön, na schön. Fragt bei den Grünhörnern nach, ob einer von denen schon mal in Galliko war. Ist immer gut, was zu lernen.«

»Sehr wohl, Oberst.«

»Und – Leutnant?«

»Ja?«

»Denkt daran: Allzu scharf macht schartig.«

»Allzu scharf macht schartig?«

»Ja. Nicht zu hart rannehmen, die Jungs. Zumindest nicht am Anfang. Ich brauche eine Dritte Kompanie für das Manöver. Will ja nicht, dass die alle schlappmachen, nachdem sie uns hier die Vorratskammern weggefressen haben. Wir verstehen uns.«

»Jawohl, Oberst. Die Soldfrage ist mit den Rekruten geklärt?«

»Darum kümmert sich der Schreiber Lement.«

»Sehr wohl.« Leutnant Fenna grüßte abermals und verließ dann die Schreibstube. Sowis, die Ordonnanz, erwartete ihn vor der Tür.

Jetzt erhielt der Leutnant eine kleine Führung durch die Anlagen der Festung. Wo die Latrinen für Offiziere sich befanden und man sich waschen und sogar in einem Holzzuber baden konnte. Wo die Wäscherei und die Ausbesserei für die Uniformen sich befand. Wo die Offiziersmesse war, und zu welchen Tageszeiten man dort etwas zu essen oder zu trinken bekommen konnte. Fenna dachte kurz darüber nach, auch das Lazarett besichtigen zu wollen, um sich dem hübschen Mädchen vorstellen zu können, kam dann aber zu dem Schluss, dass er dazu erst ordentlich gewaschen sein sollte.

Zuletzt führte Sowis ihn in das flache Gebäude mit den Offiziersunterkünften. »Ihr habt Glück, Leutnant«, sagte Sowis und blickte mit seinen wässrigen Augen dabei so besorgt drein, als würde er eher etwas Unerfreuliches verkünden. »Unteroffiziere bis hin zum Leutnantsrang teilen sich in der Regel zu zweit eine Kammer, Hobock und Sells machen das so. Aber momentan gibt es in der Festung keine weiteren Leutnants mehr, sodass Ihr ein Zimmer für Euch allein habt.«

»Wie viele Leutnants sind denn im Ersten Bataillon gefallen?«

»Drei. Espran, Ressell und Wainhold. Mit Espran hättet Ihr Euch das Zimmer geteilt. Hier ist es. Das ist der Schlüssel dazu.«

Fenna nahm den Schlüssel in die Hand. »Und wo wohnen die höheren Offiziere?«

»Hauptmann Gollberg wohnt auch hier, auf der anderen Gangseite. Hauptmann Veels ist gefallen. Und der Oberst schläft in der F & L.«

»Führung und Leitung«, brummte der Leutnant.

»Richtig«, bestätigte Sowis besorgt.

»Ich nehme an, eine eigene Ordonnanz oder so etwas wie ein Adjutant steht mir nicht zu?«, erkundigte sich Fenna.

»Na ja, wenn ich richtig informiert bin, wird Euch ein Schreiber zugeteilt. Das ist dann ja schon so etwas in der Art.«

»Richtig. Dann danke ich Euch erst mal sehr, Sowis. Ich muss mich jetzt noch etwas frisch machen. Könnt Ihr bitte dafür sorgen, dass Leutnant Hobock und der Schreiber mich in etwa einer halben Stunde in meinem Zimmer aufsuchen?«

»Wird veranlasst, Leutnant.«

»Und die dreckigen Uniformen bringt man in die Wäscherei?«

»Legt die einfach vor die Tür. Ich lasse sie später einsammeln.«

»Danke schön noch mal.«

Sowis huschte davon, der Leutnant schloss sein neues Zimmer auf.

Es enthielt tatsächlich zwei Betten, zwei schlanke Schränke, ein wackelig anmutendes Schreibpult, eine Kommode mit Waschschüssel, ein kleines, einfach gerahmtes Gemälde, das eine blühende Wiese zeigte, einen Schemel, eine leere Vase auf einem Beistelltischchen und einen Garderobenständer, bei dem zwei von vier Holzhaken abgebrochen waren. Ein Fenster ließ Licht herein. Fenna spähte hinaus. Das Fenster führte nicht auf den Exerzierhof, sondern gegenüber auf die graue Wand des nächsten Gebäudes. Die Mannschaftsunterkünfte, wenn er sich richtig erinnerte.

Er nahm seine Ersatzuniform aus dem Gepäcksack und ging sich waschen und rasieren. Vom Waschraum aus konnte er durch eine Lüftungsscharte einen Blick auf die Zweite Kompanie des Zweiten Bataillons werfen, die immer noch draußen exerzierte und sich nun im Stechschritt übte. Danach kehrte er umgezogen in sein Zimmer zurück.

Ein paar Sandstriche Ruhe wollte er sich noch gönnen, bevor die Arbeit an der Dritten Kompanie begann.

Die hohen Felswände links und rechts der Festung beschäftigten ihn. Waren Affenmenschen denn nicht ausgezeichnete Kletterer?

2

Ein Klopfen weckte ihn. Er konnte nicht länger als einen einzigen Sandstrich lang eingenickt sein.

»Herein!«

Der längliche Leutnant und ein alter Mann mit Stirnglatze und dafür um so längeren Seitenhaaren traten ein. »Leutnant Marig Hobock und der Schreiber Lement melden sich zur Stelle«, sagte der Längliche grinsend.

Fenna eilte ihm – noch etwas benommen vom Schlaf – entgegen und drückte ihm die Hand. »Leutnant Eremith Fenna aus Chlayst. Freut mich sehr.«

»Eremit? Zieht es dich deshalb hier herauf in die Berge?«

Fenna seufzte. »Meine Eltern wollten, dass aus mir etwas Besonderes wird.«

»Das war aber sehr umsichtig von ihnen. Und dann noch Chlayst?« Der Längliche verzog das Gesicht. »Außer Skerb wohl so ziemlich der unangenehmste Posten, den es zurzeit gibt. Im Vergleich dazu schieben wir hier oben eine ruhige Kugel – wenn nicht gerade ein gigantischer Feldzug angesagt ist.«

»Mal sehen. Eine neue Kompanie aufzubauen ist mit Sicherheit eine Menge Arbeit.«

»Ja, dann kommen wir mal gleich zur Sache. Lement und ich haben etwas für dich vorbereitet. Gib ihm die Liste.« Der Schreiber händigte Leutnant Fenna hastig ein Pergament aus. Hobock zog unterdessen hörbar die Nase hoch. »Ich habe mir die Freiheit genommen, die Burschen, die ich nördlich des Larnus zusammengesammelt habe, in drei Gruppen einzuteilen. Die Pflichtbewussten sind die, die auf mich schon jetzt und eigentlich von Anfang an einen sehr guten Eindruck gemacht haben. Ausgezeichnetes Soldatenmaterial, würde ich schätzen. Leider natürlich die kleinste der drei Gruppen. Was soll man machen? Es ist nach dem Feldzug wirklich schwer geworden, Nachschub aufzutreiben. Die Bequemen, das sind die, bei denen man davon ausgehen kann, dass sie sich das Leben als Soldaten möglichst einfach und angenehm vorstellen. Täglich was zu futtern, ein Dach über dem Kopf, im Winter beheizt, Kameradschaft und Liederchen und dazu noch eineindrittel Kupferstücke pro Tag als Sold. Und dann gibt es noch die Unbequemen. Das sind die Querulanten und Stänkerer, mit denen du noch deine helle Freude haben wirst, das kann ich dir jetzt schon versprechen. Einige der übelsten Burschen habe ich gar nicht erst mitgebracht. Eigentlich hatte ich die Order, dreißig Mann zusammenzutrommeln, aber ich habe kaum mehr als die Hälfte geschafft, so schwierig ist es, gute Leute zu finden.«

»Verstehe.« Fenna besah sich das Pergament mit den Namen.

Die Pflichtbewussten:    

Nilocas Deleven

Jamu Scapedo

Breff Adirony Teppel

Die Bequemen:    

Alman Behnk

Ellister Gilker Kindem

Jovid Jonis

»Scheusal« Jeo Kertz

Sensa MerDilli

Bertus Plankett

Tadao Nelat

Bujo Stodaert

Die Unbequemen:    

Gerris Resea

Yinn Hanitz

Ildeon Ekhanner

Fergran von den Holtzenauen

Leutnant Hobock fuhr fort zu erläutern: »Ich könnte die Leute alle in den Hof rufen, dann kannst du dir schon mal aus dem Fenster einen ersten Eindruck verschaffen. Wenn sie ihrem neuen Leutnant gegenüberstehen, werden sie natürlich alle Haltung annehmen und sich Mühe geben. Es könnte also aufschlussreicher für dich sein, dir anzuschauen, wie sie sich mir gegenüber verhalten, denn bei mir haben sie schon längst mitgekriegt, dass ich hinterher nicht für sie zuständig sein werde, und nehmen sich die eine oder andere Frechheit heraus.«

»Hm. Was bedeutet »Scheusal« Jeo Kertz?«

Hobock lachte auf. »Das ist sein Spitzname. So nennen ihn alle. Er ist richtig stolz darauf. Er trägt ein Gestell mit dicken Schleifgläsern auf der Nase und sieht auch ansonsten ziemlich unmöglich aus. Riecht auch streng, der Mann, egal, wie oft man ihn zum Waschen schickt. Ist aber ansonsten harmlos. Einer von den Bequemen halt.«

»Und dieser Fergran von den Holtzenauen ist ein echter Adeliger?«

»Verarmter Landadel, wenn du mich fragst. Von irgendwo aus dem Larnwald. Bildet sich viel ein auf seine Kenntnisse der Schmetterlingsmenschen. Schwierig zu handhaben. Einer von den Unbequemen.«

»Und Garsid? Hat der keinen Vor- oder Nachnamen?«

»Nicht dass ich wüsste. Das ist ein knallharter Bursche, der war schon mehrere Jahre in Galliko. Der lässt selbst mich deutlich spüren, dass ich weniger Erfahrung im Kampf mit den Affenmenschen habe als er. So jemand kann natürlich von großem Nutzen für die ganze Truppe sein, aber man muss ihn erst mal in ein disziplinarisches Geschirr zwingen, wenn du verstehst, was ich meine.«

»Ja.« Fenna dachte nach. »Ich soll drei von denen aussortieren. Ihr würdet mir natürlich zu den Unbequemenraten?«

Hobock verzog wieder das Gesicht. »Ach, das kann ich gar nicht so mit Sicherheit sagen. Wie schon erwähnt: Die Unbequemen sind schwer zu satteln, aber womöglich sind einige von ihnen die besten Pferde im Stall. Die Bequemen sind sicherlich … austauschbarer. Leichter zu ersetzen. Solche findet man in jedem Dorf. Vielleicht nicht gerade jetzt, aber in einem Jahr wahrscheinlich schon wieder. Nur die Pflichtbewussten würde ich natürlich auf jeden Fall behalten. Die machen einem als Offizier das Leben leicht.«

»Sie müssen aber auch was draufhaben. Pflichtbewusstsein alleine genügt nicht. Was stehen mir denn für Kapazitäten zur Verfügung, um einen ordentlichen Übungsparcours im Hof aufzubauen?«

»Ein Übungsparcours? Na ja, wir haben ein paar Geräte im Zeughaus. Hindernisse. Ein paar Holzkästen, Seile, Netze und so’n Kram.«

»Und stumpfe Waffen?«

»Auch das.«

»Gut. Lement, kannst du dir so etwas wie ein Punktesystem ausdenken, bei dem man die Leute in – sagen wir – drei Disziplinen gegeneinander antreten lassen kann? Wettrennen in der Gruppe, Hindernislauf alleine und Zweikämpfe?«

Der Schreiber, der bislang noch gar nicht zu Wort gekommen war, versteifte sich militärisch. »Es sind siebzehn Mann. Man könnte ein 16er-Zweikampfsystem benutzen mit einem Mann Überhang. Wollen wir genaue Regeln festsetzen, was erlaubt ist und was nicht?«

Fenna dachte wieder kurz nach. »So wenig Regeln wie möglich. Ich will sehen, was die Kerle für Tricks draufhaben.«

»Das ist kein Problem, Leutnant«, sagte Lement und nickte bekräftigend. »Ich kann auch während des Wettbewerbs Notizen machen und die Euch dann kontinuierlich vorlegen.«

»Sehr gut. Es gibt nur eine Sache, die ich nicht so richtig begreife«, sagte Fenna, jetzt wieder an Leutnant Hobock gewandt. »Wenn es eigentlich dreißig Mann hätten werden sollen und Ihr nur siebzehn zusammenbekommen habt – warum soll ich dann drei rausschmeißen? Wäre es nicht schlauer, alle siebzehn zusammenzuhalten und im Laufe der Zeit noch dreizehn dazuzurekrutieren?«

»Kommt das direkt vom Oberst mit dem Rausschmeißen?«

»So sah es für mich zumindest aus.«

Hobock grinste. »Das hat so sein System bei dem Alten. Dadurch sollen die Grünhörner merken, dass sie sich hier nicht auf einem bequemen Posten ausruhen können, sondern dass man auch jederzeit wegen Unfähigkeit unehrenhaft entlassen werden kann. Oder sterben. Deshalb sind wir auch immer noch das Zweite Bataillon, obwohl es das Erste gar nicht mehr gibt. Das Erste steht beständig als leuchtendes Beispiel vor uns, und wir anderen sind irgendwie alle nur die Zweitbesetzung.«

»Sieht Hauptmann Gollberg das genauso?«

»O Mann, der natürlich nicht! Dem scheint sogar beim Reiten die Sonne aus dem Arsch. Vielleicht ist das auch Quatsch, die Durchnummerierung mit Erstem und Zweitem war ja vorher auch schon so. Das hat nichts mit Leistung zu tun. Aber jedenfalls, wenn der Alte sagt, drei rausschmeißen, dann schmeiß drei raus. Ist besser so in deinen ersten Tagen.«

»Ja, das denke ich auch. Kann ich ein paar von Ihren Männern ausleihen, um den Parcours aufzubauen?«

»Dürfen unsere Jungs denn zuschauen?«

»Na klar, warum denn nicht?«

»Dann helfen wir alle mit.«

Beim Hinausgehen legte Fenna noch seine verschwitzte Uniform vor die Tür, wie Sowis ihm dies geraten hatte.

Auf dem Hof war es immer noch sehr warm, obwohl die beidseitig aufragenden Klippen mit ihren Schatten eine allzu quälende Glut verhinderten. Fenna schaute unwillkürlich wieder zu dem Lazarett hinüber, doch dort ließ sich niemand blicken. Auch der spöttische Zivilist in der Mannschaftstür fehlte jetzt.

Die Soldaten der Zweiten Kompanie des Zweiten Bataillons waren trotz der im Inneren der Festung erträglichen Temperaturen bereits ziemlich in Schweiß geraten, weil der rothaarige Leutnant Sells sie ordentlich herumscheuchte. Das Aufbauen eines Hindernisparcours für »die Neuen« erschien ihnen allen als willkommene Abwechslung.

Leutnant Fenna betrachtete diese Soldaten, während er Hand in Hand mit ihnen arbeitete. Sie waren anders als die in Chlayst, sahen gesünder aus, was sicherlich der unverdorbenen Luft geschuldet war, aber auch jünger und frischer. Sie hatten alle dieselbe kurz geschorene Frisur, die auch Sells und Hobock trugen, deutlich kürzer als in Chlayst. Auf eine schwer zu beschreibende Weise sahen sie sich alle – auch die vier oder fünf Frauen unter ihnen – ähnlich, als wären sie ein und derselben annähernd idealen soldatischen Gussform entsprungen. Vielleicht täuschte dieser Eindruck aber auch nur, weil sie so gut koordiniert zusammenarbeiteten. Auf jeden Fall war Fenna sich ziemlich sicher, dass noch keiner von denen gravierende Kampferfahrungen aufwies. Sein eigener kurzfristig zusammengewürfelter Trupp versprach, in dieser Hinsicht eventuell spannender zu werden.

In einem großen Oval bauten Fenna und die Zweit-Zweiten mithilfe etlicher Pflöcke und Nägel einen Kurs, dessen Hindernisse aus zwei hohen Bretterwänden, fünf hintereinanderliegenden Fässern zum Drüberspringen und zwei weiteren zum Hindurchkrauchen, drei tiefen Hürden zum Drunterdurchrobben, einem aufgespannten Netz zum Durch-die-Maschen-Waten sowie sechs quer gespannten Seilen bestand.

»Der ist doch gar nicht übel«, sagte Leutnant Sells hinterher stolz. »Den werden wir noch bis morgen stehen lassen, dann können unsere Jungs und Mädels ihn auch mal benutzen.«

Der Schreiber Lement hatte inzwischen einen Punktwertungsplan entwickelt. Seine langen Seitenhaare waren vor Fleiß ganz gesträubt. »Für den Hinderniskurs ist die Wertung ziemlich einfach: null Punkte, wenn einer unterwegs aufgibt oder gar nicht mehr weiterkommt; einen Punkt, wenn er den Kurs absolviert; zwei Punkte, wenn er den Kurs zügig absolviert; drei Punkte bei herausragender Geschicklichkeit und Schnelligkeit. Beim Kämpfen gibt es bei siebzehn Mann vier Runden. Wer verliert, scheidet aus, wer gewinnt, kommt eine Runde weiter. Ein Mann ist zu viel, den müsst Ihr entweder von Anfang an herausnehmen, oder Ihr könnt einem der bereits Ausgeschiedenen vielleicht eine zweite Chance geben. Bei Erreichen jeder Runde gibt es einen Punkt. Was den Wettlauf angeht, würde ich vorschlagen, dass wir drei Gruppen bilden, zwei zu sechs und eine zu fünf Mann. Da gäbe es dann null Punkte für den Letzten und vier oder fünf für den Ersten. So bekommen wir am Ende eine recht differenzierte Punkteskala zusammen mit dem Höchstwert zwölf und dem denkbar schlechtesten Wert null. Da sind dann Abstufungen erkennbar, die Aussagekraft besitzen.«

»Sehr gut, Lement. Wer am Ende null Punkte hat, ist wohl nichts für uns«, brummte Fenna.

Leutnant Hobock stellte sich neben die beiden. »Wo soll denn der Wettlauf langführen?«

Fenna schaute sich kurz um. »Einfach einmal von der Westmauer zur Ostmauer, dort anschlagen und wieder zurück. Nichts Ausgefallenes.«

»Dann lassen wir sie mal antreten, oder?« Hobock grinste.

»Ja. Macht Ihr das am besten, Hobock. Euch kennen sie ja schon. Und dann stellt Ihr mich vor, und ich übernehme.«

»Äh – unter uns Gleichrangigen können wir ruhig Du zueinander sagen.«

»Später, Leutnant. Wenn wir etwas zusammen erlebt oder getrunken haben.«

Achselzuckend schlenderte Hobock hinüber zu den Mannschaftsunterkünften.

Fenna wandte sich an Lement: »Und du führst Buch und notierst die Punkte.«

»Selbstverständlich. Ich habe schon Tabellen vorskizziert.«

Aus den Mannschaftsunterkünften war Leutnant Hobocks Stimme zu hören: »Grrrrrrrünhörrrrrrnerrrrr! Auf dem Hof an-ge-trrreee-tennn zum Appell! Euer neuer Leutnant wartet! In Zweierreihen hopp, hopp, hopp! Nicht so lahmarschig da hinten. Hopp, hopp, hopp! Auf den Hof. Nicht in das Netz laufen. Rechtsherum. Dem Vordermann hinter-heeeer und Augen auf, ihr lahmen Gesellen!«

Die Buntheit des Haufens, der sich aus der Tür auf den Hof ergoss, überstieg Fennas Befürchtungen deutlich. Keines der Grünhörner trug Uniform. Das ergab immerhin Sinn. Drei sollten entlassen werden, denn noch war keiner von ihnen vereidigt.

Leutnant Hobock hatte mit diesem Häuflein offensichtlich schon ein paar Grundbedingungen eingeübt – wahrscheinlich hatte er sie auf der Reise zur Festung in Formation marschieren lassen. Nun bereitete es ihm eine diebische Freude, die siebzehn Noch-Zivilisten mit militärischen Kommandos zu drangsalieren. »Nicht haltmachen da vorne! Euer neuer Leutnant ist der, der dieselbe Uniform trägt wie ich und keine roten Haare hat. Bekommt ihr das hin, dieses Rätsel zu lösen? Na wunderbar! Aufschließen! Ist denn noch einer nicht draußen? Hanitz, komm mal in die Gänge, Mensch! Hopp, hopp, hopp heißt Galopp und nicht Stopp! Rechtsherum, wo die anderen stehen. In langer Reihe aufstellen! Stillgestanden da vorne, aufrücken hinten. Und Ach-tung! Hallll-tung! Das heißt: Bauch einziehen, Behnk! Mütze runter, Jonis! Aufhören zu zittern und aufhören zu schnattern! Leutnant Fenna hat das Wort, eigens für euch Hundejungen angereist aus dem gefährlichen Chlayst, um euch etwas Achtung einzuflößen vor dem Wappen der Königin! Augen rechts, auf das Wappen! Augen geradeaus, auf euren Leutnant! Geradeaus ist da, wo deine Zehen hinzeigen, Behnk, nicht oben im Himmel!«

Fenna wippte unwillkürlich auf den Fußballen. »Danke, Leutnant Hobock.« In einer langen Reihe standen sie nun vor ihm. Siebzehn Rekruten in Zivil. Einer war nicht nur dick, sondern sogar fett. Einer sah jung aus wie ein Dreizehnjähriger. Einer war alt. Einer war einen Kopf größer als die anderen. Einer trug eine traditionelle hesselische Trachtenkleidung. Der mit den Augengläsern war hässlich wie ein Affenmensch. Einer sah aus wie ein Mädchen, war aber keins. Einer hatte vor Aufregung rote Flecken im Gesicht. Der Schnösel mit dem Spitzbart war natürlich auch dabei. Sicherlich der Adelige.

»Warum sind keine Frauen dabei, Leutnant Hobock?«, fragte Fenna.

Hobock zuckte wieder die Achseln. »Hat sich nur eine Einzige freiwillig gemeldet. Nach dem Feldzug sind die Frauen wohl vorsichtiger geworden. Und als die eine dann mitgekriegt hat, dass sie die Einzige wäre, hat sie einen Rückzieher gemacht.«

Fenna knurrte. In Chlayst hatte er sehr gute Ergebnisse mit weiblichen Untergebenen erzielt. Sie neigten nicht so sehr dazu, sich selbst zu überschätzen und Dummheiten zu machen wie die Kerle. Außerdem waren sie reinlicher und gaben auch auf ihre Ausrüstung besser acht. »Eine Kompanie aus Jungs. Na gut, das soll wohl so sein. Wir machen jetzt Folgendes, Männer. Jeder tritt einzeln vor und gibt seinen Namen, sein Alter und seinen Herkunftsort an. Anschließend läuft er so schnell wie möglich eine Runde auf diesem Hinderniskurs. Abschließend stellt er sich vor die anderen hin und nennt seinen Grund, weshalb er Soldat werden möchte. Ich mache das jetzt einmal vor, und ich erwarte, dass ihr euch alles merken könnt. Leutnant Eremith Fenna, 32 Jahre, aus Chlayst!«

Fenna lief los. Ein kurzer Blick hinauf in das obere Stockwerk der Führung & Leitung bestätigte ihm, dass Oberst Jenko dort am Fenster stand und mit unbewegter Miene zu ihnen hinabschaute. Auch die Wächter auf den Tortürmen waren jetzt Publikum. Hobock & Sells. Die Zweite Kompanie. Die Grünhörner. Das wieder aufgetauchte hübsche Gesicht hinter dem Lazarettfenster.

Ihm war klar, dass er ein Risiko einging, indem er sich selbst dem Parcours aussetzte. Wenn er von den Kletterwänden stürzte oder sich sonst wie ungeschickt anstellte, würde das sein Ansehen bei den Grünhörnern und auch in der gesamten Festung von Anfang an gehörig untergraben. Aber er hatte es sich schon in Chlayst zum Prinzip gemacht, von seinen Leuten nichts zu verlangen, was er sich nicht auch selbst zutraute. Und darüber hinaus hatte er das Gefühl, dass er seinen eigenen Status als Neuer, als Grünhorn innerhalb des etablierten Systems Carlyr, am ehesten dadurch verlieren konnte, dass er jegliche Hänselei von Anfang an im Keim erstickte.

Er nahm die erste Bretterwand mit Wildheit. Sprang, zog sich hoch, riss sich selbst hinüber, landete gut. Die Wand zitterte, hielt aber. Danach die querliegenden Fässer: Er sprang schnell und hoch genug, um mit jedem Schritt ein Fass zu überwinden. Jetzt glitt er durch ein liegendes Fass, etwas zu heftig, das Fass wurde schier aus seinen Befestigungspflöcken gerissen. Ruhig. Ruhiger. Jetzt das Netz. Fenna beschloss, Tempo herauszunehmen, um nicht peinlich ins Straucheln zu geraten. Er durchquerte die Maschen mit Umsicht. Jetzt Anlauf. Die zweite, noch höhere Hinderniswand. Die Wand ächzte und barst beinahe, aber Fenna mühte sich hinüber. Dann wieder runter, unter den tiefen Hürden hindurch und durch das zweite offene Fass. Diesmal vorsichtiger, nicht so schürfend. Zuletzt ein kurzer Spurt und die sechs quer gespannten Seile wie ein Hürdenläufer.

Er kam wieder bei den Grünhörnern an. Sein Atem ging schwer, er merkte, wie ihm die Strapazen der Reise noch in den Knochen steckten und die kurze Ruhe auf dem Bett ihn eher noch ermüdet als gestärkt hatte. Aber er nahm militärische Haltung an und sagte: »Ich bin Soldat, weil ich der Krone und der Königin, die sie trägt, mit all meiner Kraft und all meinen Fähigkeiten dienen möchte. So, dieser Grund ist somit genannt worden. Ich erwarte von euch, dass ihr mir weitere Gründe nennt, siebzehn an der Zahl. Also los jetzt, in der Reihenfolge, wie ihr hier steht.« Den letzten Satz bekam er kaum noch heraus, jetzt musste er viermal atmen, um wieder Luft aufzuholen. Er schaute lieber nicht zu Oberst Jenko hoch, das hätte als Zeichen der Unsicherheit ausgelegt werden können.

Das erste Grünhorn trat vor. Ein Klippenwälder, der für einen Klippenwälder verhältnismäßig schmal und geschmeidig wirkte. Er war älter als Fenna, seine Haare waren halblang und zu vielen kleinen Zöpfen geflochten, sein Gesicht wangenknochig und ernst. »Nilocas Deleven, 37 Jahre, aus Bangannisan in den Klippenwäldern.« Deleven bewältigte den Parcours mit Leichtigkeit. Keine Wand ächzte. Kein Fass rüttelte. Er war schneller als Fenna. Er war auch nicht so außer Atem, als er sich hinterher aufstellte und sagte: »Ich möchte Soldat in der Festung Carlyr werden, weil ich davon ausgehe, dass dieser Stützpunkt nach dem unglücklichen Verlauf des großen Feldzuges von wichtiger taktischer Bedeutung für den gesamten Kontinent werden könnte.«

Fenna staunte und blickte zu Hobock hinüber. Hobock nickte und deutete auf das Pergament mit den Grünhörnern, wo Deleven ganz oben stand bei den Pflichtbewussten. »Der beste Mann!«, formte Hobock lautlos mit den Lippen, sodass nur Fenna es mitbekam. Das war natürlich Pech, dass ausgerechnet der Beste von allen direkt hinter Fenna antrat und dessen Leistung etwas schmälerte. Aber andererseits war es sicherlich kein Zufall, dass Deleven als Erster aus den Unterkünften gerannt gekommen war und nun vorne in der Reihe stand. »Der Nächste!«, sagte Fenna nur knapp. Lement notierte drei Punkte für Deleven.

Das zweite Grünhorn trat vor. Das war der in der bunten Trachtenkleidung. Rosige Wangen konturierten sein stupsnasiges Gesicht. »Mails Emara, 18, aus Westkald in der Gegend von Hessely. Ein kleiner Ort, der auf den meisten Karten leider überhaupt nicht verzeichnet ist, obwohl wir für unseren Honig und unsere Schnapsbrennereien gerühmt werden.«

Emara hatte schon deutlich mehr Mühe als Fenna und Deleven, brauchte vier Anläufe für die zweite, hohe Bretterwand und verhedderte sich im Netz. Aber er schaffte es. »Ich will Soldat werden«, keuchte er, »weil Westkald und Hessely als Erstes überrannt werden, wenn Carlyr fällt, und ich meine Familie – meine Eltern und meine Geschwister – und meine schöne Heimat schützen möchte. Danke sehr.«

Lement schwankte zwischen einem und zwei Punkten. Fenna entschied, nicht allzu streng zu sein, und ließ den Schreiber zwei notieren.

Das dritte Grünhorn war der Fette. Er schwabbelte förmlich beim Vortreten. »Alman Behnk, 22, direkt aus Hessely. Ich möchte Soldat werden, weil … ach nein, das kommt ja erst hinterher.« Er wetzte los, überwand strampelnd und fiepend die erste Bretterwand, kroch mehr, als dass er sprang, über die liegenden Fässer und blieb dann im ersten liegenden Fass stecken. Es ging nicht mehr vor und nicht mehr zurück. Lachend mussten mehrere Soldaten der Zweiten Kompanie ihm da heraushelfen. Auch von den Türmen war Gelächter und Gejohle zu hören. Dennoch gab Behnk nicht auf. Das Netz überwand er langsam und mit Umsicht. Aber an der zweiten Wand war dann Schluss.

Dennoch stellte Behnk sich neben der Wand auf und sagte weinerlich: »Ich möchte Soldat werden, weil ich besser werden will, Leutnant!«

Fenna nickte und winkte Behnk zurück in die Reihe. Lement notierte eine »0«, aber Fenna vermerkte im Hinterkopf, dass Behnk es immerhin versucht hatte.

Der Vierte war der Älteste unter den Grünhörnern. Sein Vollbart war bereits silbergrau, sein Haupthaar deutlich gelichtet. »Breff Adirony Teppel, 54 Jahre, aus Paischen bei Uderun«, brüllte er laut und zackig. Den Parcours bewältigte er quälend langsam, aber vollständig. »Ich will Soldat werden, weil meine beiden Söhne auch Soldaten waren und auf dem Feldzug gegen die verfluchten Affenmenschen gefallen sind!« Eckig trat er zurück ins Glied. Lement vermerkte einen Punkt.

Der Fünfte hatte Sommersprossen und beinahe so rote Haare wie Leutnant Sells. »Ildeon Ekhanner, 38, ebenfalls aus Paischen bei Uderun.« Ekhanner riss beim Robben unter den drei tiefen Hürden sämtliche Hürden mit sich und schlug beim Endspurt über die Seile so schwer hin, dass Fenna schon befürchtete, er habe sich ernstlich verletzt, aber er rappelte sich wieder auf und hinkte zurück ins Glied. Beinahe vergaß er seinen Schlusssatz, doch der neben ihm stehende Teppel stupste ihn zweimal an. »Ach ja: Ich will Soldat werden, weil mein Kumpel Breff ebenfalls Soldat wird. Und weil ich Gutes tun will und Nützliches, für den Kontinent und alle Leute und so!« Lement notierte einen Punkt.

Der Sechste: ein schmallippiger Glatzkopf mit stechenden Augen. Sein linkes Ohr war von drei Ringen durchbohrt, allerdings nicht im Läppchen, sondern oben im Knorpel der Ohrmuschel. »Garsid, 30, von Galliko.« Garsid zeigte die bislang beste Leistung auf dem Parcours, noch schneller als Deleven. Er flankte geradezu über die Bretterwände und war der Erste, der beim Netz nicht in die Maschen trat, sondern oben auf dem gespannten Netz selbst balancierte. Lement notierte eine »3«, als Garsid sagte: »Ich will Soldat werden, weil ich mich auch schon für den Feldzug freiwillig gemeldet hatte, mir dann aber etwas dazwischenkam, sodass ich nicht teilnehmen konnte.« Fenna trat zu Lement und wies ihn an, aus der »3« eine »4« zu machen, weil Garsid einen neuen Weg über das Netz erfunden hatte.

Der Siebte war der Riese. Über zwei Schritt groß, mit den für Klippenwälder typischen Hunderten von kleinen Zöpfen, die wiederum zu einem großen Zopf zusammengebunden waren. Sein Gesicht war langwimprig und wirkte sanft und etwas dümmlich. »Ellister Gilker Kindem. Schwertmann Erster Rang, Sohn von Gilgris Kindem, Schwertmann Dritter Rang. 23 Jahre. Das Dorf, aus dem ich komme, heißt Sipbyckten.« Kindems Stimme war dermaßen tief, dass sie innen drin im Kopf ein Dröhnen verursachte.

Wie bei einem Klippenwälder nicht anders zu erwarten, bereitete der Parcours ihm keine große Mühe, aber er war deutlich langsamer und schwerfälliger als Deleven und Garsid. Lement notierte eine »2«. »Ich will Soldat werden, weil ich die Königin verehre. Sie ist die schönste Frau, die ich je gesehen habe. Ich habe sie nämlich einmal gesehen, in der Hauptstadt, beim Arispfest vor zwei Jahren. So ist das.« Fenna konnte ein Lächeln nicht unterdrücken.

Der Achte war der Junge, der wie ein Dreizehnjähriger aussah. Braune Locken umrahmten sein unschuldiges Gesicht. »Jovid Jonis, 17 Jahre alt, aus der Provinz Hessely.« Der Junge hatte Mühe mit den Bretterwänden, quälte sich aber umständlich und langgliederig hinüber. Er war völlig erschöpft, als er wieder bei der Reihe ankam. »Ich … ich … will … Soldat werden, … Soldat werden … weil mein … Vater … sagt, dass das eine … gute … und anständige Anstellung ist … Herr Leutnant.« Jonis erhielt einen Punkt.

»Darf ich dich fragen, ob du tatsächlich schon siebzehn bist, mein Junge?«, fragte Fenna in ungewollt väterlichem Tonfall.

»Jawohl, Herr Leutnant, sieb… siebzehn, Herr Leutnant. Ich weiß, dass ich … jünger aussehe. Aber ich bin siebzehn und habe sogar schon ein Mädchen, Nara Wesener, die dritte Tochter des Galanteriehändlers.«

Einige lachten, Fenna nickte nur.

Der Neunte war der hässliche Bursche mit dem fettigen Topfhaarschnitt, den eitrigen Pickeln, den dicken Augengläsern und dem senfartig-säuerlichen Körpergeruch: »›Scheusal‹ Jeo Kertz aus Kimk, 21 Jahre«, sagte er munter. Anschließend zerstörte er den Parcours. Er riss erst eine der Kriechtonnen aus ihrer Verankerung, zerrte das Netz zu Boden, als er versuchte, wie Garsid darüberzubalancieren, und sprang gegen Ende dermaßen heftig gegen die höhere Wand, dass diese auseinanderbrach. Die Soldaten der Zweiten Kompanie mussten den Kurs erst einmal wiederherstellen. Kertz lachte über das ganze Gesicht. »Ich will trotzdem Soldat werden. Stellt Euch mal vor, Leutnant, was ich bei den Feinden alles kaputt machen kann!« Jetzt lachten auch die anderen nicht mehr nur über, sondern auch mit Jeo Kertz, und selbst Leutnant Fenna musste grinsen. Dennoch bekam Kertz null Punkte gutgeschrieben.

Der Zehnte war der gutaussehende Spöttische mit dem Spitzbart und der geschmackvollen Kleidung, den Fenna für den Adeligen gehalten hatte. Aber er wurde überrascht: »Gerris Resea, 25, aus Ferbst.« Mit nur halb geöffneten Augen absolvierte Resea den neu aufgebauten Parcours so zügig, dass es zwar zu zwei Punkten reichte, Fenna aber das Gefühl nicht loswurde, dass auch drei Punkte leicht im Bereich des Möglichen gewesen wären. Ein kurzer Blick auf Hobocks Liste bestätigte ihm, dass Resea ganz oben auf der Liste der Unbequemen stand. Nicht durch Faulheit, sondern durch Überheblichkeit würde dieser Mann zum Problem werden. »Ich werde Soldat, weil die Armee jetzt mehr denn je gute Leute dringend brauchen kann.« Fenna unterdrückte ein höhnisches Schnauben. Borniertheit hatte er noch nie ausstehen können.

Der Elfte war Fenna vorher in der Reihe nicht aufgefallen, aber als er nun vortrat, war deutlich zu sehen, dass er sogar kräftiger und athletischer gebaut war als sämtliche Soldaten der Zweiten Kompanie. Seine Haut war dunkler als die der anderen, seine Augen glühten wie schwarze Edelsteine. »Sensa MerDilli aus Diamandan.« MerDilli übersprang zwei Fässer auf einmal, stürzte im Netz, flankte geradezu übermenschlich über die höhere der beiden Bretterwände und stürzte ein zweites Mal beim Versuch, zwei der gespannten Seile auf einmal zu überspringen. Ihm zuzuschauen war ein Erlebnis, aber er war noch zu ungebändigt, um wirklich effektiv zu sein. Fenna sah unglaublich viel Arbeit auf sich zukommen. »Ich will Soldat werden, weil ich auch schon zum Feldzug wollte wie der Glatzkopf«, sagte MerDilli, ohne groß aus der Puste zu sein. »Leider ist Diamandan so weit weg. Bis ich endlich in Endailon ankam, war das Heer schon abgerückt. Ich bin hinterher, konnte es aber nicht mehr einholen. Seitdem drücke ich mich im Norden herum und warte auf eine Gelegenheit. Als Leutnant Hobock mich dann ansprach, wusste ich: Das ist es!« Lement sprach sich kurz mit Fenna ab und vermerkte dann drei Punkte.

Der Zwölfte war das genaue Gegenteil des Elften. Während MerDilli männlich wirkte wie ein Krieger, der sich auch alleine durchzusetzen verstand, war der Zwölfte zwar ein Junge, sah aber hübsch und zart aus wie ein Mädchen. Er trug die dunklen Haare kurz, aber seltsamerweise betonte dies sein weibliches Gesicht nur noch mehr. »Tadao Nelat, 19, aus Ferbst«, hauchte er mit zarter Stimme. Und dann machte er sich an den Hinderniskurs. Er schlängelte sich sehr geschmeidig durch die Fässer, tänzelte eleganter als alle anderen durch die Netzmaschen, glitt unter den Hürden hindurch wie ein Tänzer oder eine Tänzerin – aber für beide Hinderniswände brauchte er jeweils mehr als fünf Sandstriche. Lement konnte ihm nur einen Punkt gutschreiben, aber immerhin. »Ich möchte Soldat werden«, flötete Nelat abschließend, »weil meine Eltern sagen, dass das einen Mann aus mir machen wird.« Niemand lachte, denn alle hatten gesehen, dass Nelat auf dem Parcours Potenzial bewiesen hatte.

Das Gesicht des Dreizehnten glich dem einer Krähe: Wie bei einem Schnabel schienen sämtliche Züge sich in der Nase zuzuspitzen. Selbst seine Haare sahen ein wenig wie Federn aus. »Jamu Scapedo, 24, aus Galliko.« Auch Scapedo balancierte über das Netz. Im Sprinten schien er der bislang Schnellste von allen zu sein. Lement verzeichnete volle drei Punkte. Scapedo grinste zufrieden. »Ich will Soldat werden, weil ich so viele Affenmenschen wie möglich töten möchte. In Galliko ist man viel zu zaghaft, man hat dauernd Schiss vor irgendwelchen Gegenangriffen. Aber hier in Carlyr ist man anders drauf. Hier hat man gesehen, zu was die Affen in der Lage sind. Von hier aus könnte man einen Vorstoß machen, der sich wirklich gewaschen hat.«

Der Vierzehnte war wieder ein Gegensatz zum Dreizehnten: Während Scapedo aggressiv und schneidig wirkte, machte der Dreizehnte einen ausgesprochen harmlosen und freundlichen Eindruck. Er trug den flaumigen Schnauzbart eines Heranwachsenden und hatte ein weiches, kinnloses Gesicht. »Bertus Plankett aus dem hübschen Dörflein Jeckist, mitten in der Ebene zwischen Hessely und Ferbst. Stets zu Diensten. 22 Jahre bin ich jung.« Beinahe gemütlich trabte Plankett über den Parcours, mühte sich unvorteilhaft über die Wände, schaffte aber alles mit schneckenhafter Gelassenheit. Er lächelte sogar, als er abschließend erklärte: »Ich will Soldat werden, weil man da tolle Erfahrungen machen kann. Man lernt neue Leute und Gegenden kennen. Man lernt etwas. Und das Essen soll auch gar nicht schlecht sein, habe ich mir sagen lassen.« Lement gab ihm einen Punkt.

Jetzt waren nur noch drei übrig. Der Fünfzehnte schien immerhin das militärische Grüßen schon ordentlich verinnerlicht zu haben. Er war bleich und dünn wie ein Geschöpf, das in Kellern lebt. »Bujo Stodaert, 22 Jahre, aus Hessely, meldet sich zur Dritten Kompanie, Zweites Bataillon Festung Carlyr, Leutnant Fenna. Ich beginne.« Mit Elan und vorbildlicher Haltung absolvierte Stodaert den Kurs mit zwei Punkten. Er hätte auch drei Punkte sammeln können, wenn er sich nicht vor und nach jedem einzelnen Hindernis wie ein Turner aufgerichtet und das Kinn und die Arme heischend in die Höhe gereckt hätte. Sein Hohlkreuz beim Springen imponierte allen.

»Melde den Kurs als gemeistert«, sagte er anschließend steif. »Bewerbe mich um eine Anstellung als königlicher Soldat, weil jeder junge Mann, der die Annehmlichkeiten eines Lebens auf dem Kontinent in Anspruch nimmt, die gleichzeitige Verpflichtung besitzt, dem Land zurückzuzahlen, was es ihm an Möglichkeiten bereitstellt. Bitte deshalb auch gehorsamst auf jegliche Soldzuteilung verzichten zu dürfen. Der Dienst für die Krone soll mir des Lohnes genug sein, Leutnant Fenna.« Fenna nickte so ernst, wie es ihm möglich war.

Der Sechzehnte hatte ein Gesicht, das Leutnant Fenna auf Anhieb gut gefiel. Einnehmend, aber nicht anbiedernd. Gut aussehend, aber uneitel. Er war unrasiert und hatte störrische dunkelblonde Haare. »Fergran von den Holtzenauen aus Schlehen im Larnwald. 25 Jahre.« Das also war der Adelige. Er gab sich redlich Mühe und überwand seine offensichtliche Abneigung, unter den Hürden oder durch die Fässer auf dem Boden herumzukriechen und sich schmutzig zu machen. Zerzaust stellte er sich wieder auf und bekam von Lement zwei Punkte. »Ich will zur Armee, weil ich glaube, dass meine medizinischen Kenntnisse hier von Nutzen sein könnten.«

Leutnant Fenna zog die Augenbrauen hoch. »Du willst nicht Soldat werden, sondern Stabsheiler?«

Von den Holtzenauen lächelte. »Beides. Ich kann kein guter Stabsheiler werden, wenn ich die Soldaten und ihre Lebensbedingungen nicht kenne.«

Fenna nickte und fragte sich, was dieser Mann auf der Liste der Unbequemen zu suchen hatte. Hobocks Einschätzungen schienen ihm ohnehin nicht immer ganz nachvollziehbar zu sein. Vielleicht verhielten sich die Männer ihm gegenüber aber auch anders.

Der Letzte in der Reihe war der mit den roten Hektikflecken im Gesicht. Er stotterte vor Zackigkeit. »Yinn Hanitz aus Kikikikimk. Aus Kimk natürlich. Verzeihung! 26 Jahre alt.« Auffällig an Hanitz war, dass sein Gesicht bereits durch mehrere Narben nicht verunstaltet, aber doch deutlich geprägt wurde. Er hatte Augen, die tief in schattigen Höhlen zu liegen schienen, und stürzte sich mit Feuereifer in den Parcours. Die hohe Wand ging beinahe ein zweites Mal zu Bruch. Das letzte quer gespannte Seil riss von den Pflöcken. Aber drei Punkte waren der Lohn für die dadurch erreichte hohe Geschwindigkeit. »Ich will Soldat in der Festung Carlyr werden, weil ich schon oft als Zivilist hier gewesen bin. Ich habe früher als Händlergeselle Holz nach Carlyr liefern geholfen, und die Festung hat immer einen großen Eindruck auf mich gemacht. Auch jetzt fühle ich die Erhabenheit dieses Ortes und seine einzigartige Lage – wie ein Damm, der die Felsenwüste vor dem brandenden Meer aus Affenmenschenleibern abschließt.«

Fenna nickte und stellte sich vor der Reihe auf. »So weit, so gut, Männer!« Er ließ sich von Lement die Punkteliste aushändigen. »Wir haben nur zwei Nuller, fünf Einser, fünf Zweier, vier Dreier und einmal sogar einen Vierer: Garsid, der einen neuen Weg über das Netz erfunden hat. Das ist doch schon recht vielversprechend. Was ich euch vorher nicht gesagt habe, und zwar absichtlich