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Mit seinen Bestsellern um »Die Dämonen" schrieb sich Tobias O. Meißner ins Herz der Fantasyleser. Nun beginnt sein neues um eine von Krieg und dunkler Magie geprägte Welt: Nach einer übermächtigen Invasion besetzt eine gewaltige Armee das Land. Sieben Heere, gebildet aus den skrupellosesten, kaltblütigsten Kriegern, unterwerfen Städte und Dörfer. Die Bewohner beugen sich der erdrückenden Macht der Eroberer - doch dann gelingt es einer Gruppe Aufständischer überraschend, einem der Heere empfindliche Verluste zuzufügen. Es ist der Beginn einer Revolution - und eines gewaltigen Krieges, der alle in den Abgrund reißen wird ...
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ISBN 978-3-492-97153-9
November 2015 Deutschsprachige Ausgabe: ©
Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2015 Covergestaltung und -motiv: www.buerosued.de Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck
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1
Als das friedliche Land Akitania im Frühherbst von den sieben Heeren Nafarroas eingenommen wurde, hielt die Welt nicht in ihrer Umdrehung inne.
Die Sonne barg nicht ihr Gesicht in den Wolken, Flüsse verhielten nicht ihren Lauf. Kein Wind stemmte sich, kein Regen vergoss Tränen.
Die Besetzung war kein Geschrei, kein Empören, sondern eher ein Rascheln und Wispern.
Das Knarren von Leibgurten. Knistern von hohem Gras. Das rasselnde Schnauben der eigenartigen Tiere, auf denen die Anführer der Nafarroaner über die südlichen Berge, das westliche und nördliche Meer und die östlichen Wälder in das Land gekommen waren. Nur hier und da schabte Metall gegen Metall. Jemand nieste. Einige fluchten oder lachten.
Es wurde weder gebrüllt noch in rasendem Galopp gestürmt.
Es wurde nicht gekämpft. Nicht verbrannt. Nicht niedergemacht.
All dies war nicht notwendig.
Die Heere Nafarroas kamen, wie der Herbst kommt, langsam und unaufhaltsam, nach und nach alles einfärbend mit ihrem schwarzweißen Rüstzeug aus gebrochenem Licht.
Das friedliche Land Akitania hatte kein nennenswertes Heer. Die Menschen waren Bauern, Händler, Handwerker, Viehhirten, Mundschenke, Baumeister und Dichter.
Wie eine Umwälzung, die so langsam vonstattengeht, dass sie kaum Staub aufwirbelt, trotteten die Truppen Nafarroas zu ihren aberhunderten von neuen Bestimmungsorten, wohlverteilt über das ganze Land, dem gliedernden Plan des Beraterstabes und der Interpreten folgend, den ihre schöne Königin nach mehreren Monaten der reiflichen Erwägung nun in die Tat umzusetzen beschlossen hatte.
Die sieben großen Heere teilten sich auf in den sieben neuen Regionen, bis jeder Einzelne der Soldaren seinen Posten in der Fremde eingenommen hatte, und bis die Fremde keine Fremde mehr war, da sie jetzt ebenfalls dem Land Nafarroa gehörte.
2
Aus dem Dorf Hagetmau war es das Mädchen namens Nendlèce, das die einmarschierende Truppe als Erste zu Gesicht bekam.
Zuerst traute sie ihren Augen nicht. Etwas funkelte zwischen den Bäumen, fing das blonde Licht der Sonne ein und machte etwas ganz anderes daraus. Eine Rüstung. Mehrere Rüstungen. Schwarz und weiß gemusterte Harnische. Helme mit blank glänzendem Kamm.
Dann bemerkte sie das Tier, auf dem der Anführer ritt.
Gesehen hatte sie ein solches Tier noch niemals, nur in den Erzählungen der Älteren und im Hagetmauer Geschichtenbuch beschrieben: Es war eine Mischung aus Pferd und Vogel, mit Federn, die wie Eisenschuppen starrten, und einem Schnabel, so dick, als könnte man damit Türen durchschlagen. Ein Gryph. Ein leibhaftiger Gryph, wie herabgestiegen von dem Wandgemälde, das sie einmal in Maylis betrachtet hatte.
Die Soldaren, die diesem Berittenen folgten, waren zu Fuß, in einer durch Erschöpfung schon leicht unregelmäßig gewordenen Formation. Insgesamt dreißig Mann. In Nendlèces Augen waren dreißig fremde Männer ein ganzes Heer.
Sie mussten aus Nafarroa stammen. Etwas anderes war gar nicht denkbar. Eine umherstreifende Räuberbande in einheitlichen Rüstungen? So etwas gab es nicht. Ein gezähmter Gryph nördlich der Berge von Pyr? Davon hatte sie noch nie gehört.
Aber was machte eine Truppe aus Nafarroa so weit nördlich des Gebirges, das beide Länder unmissverständlich voneinander trennte?
Nendlèce zerbrach sich den Kopf, bis ihr schier die Augen tränten, aber sie konnte sich auf diesen Anblick dennoch keinen Reim machen.
Erst vor wenigen Wochen war sie sechzehn Jahre alt geworden. Immer hatte sie ihr langes, hellbraunes Haar zu einem buschigen Zopf gebunden, damit es ihr beim Rennen in den Wäldern nicht hinderlich wurde. Gerne hätte sie es ganz abgeschnitten und es kurz wie ein Junge getragen, aber ihre Eltern sagten, dass niemand ein solches Mädchen anschauen würde, und sie hofften wahrscheinlich darauf, sie bald an einen wohlhabenderen Händler aus Urgons oder Samadet oder noch weiter weg verheiraten zu können. Dabei war Varlie, ihre große Schwester, auch noch nicht verheiratet, und Varlie war sogar schon 18Jahre alt, und wenn man ganz genau hinschaute – besonders früh am Morgen– konnte man bereits feststellen, dass sie nicht mehr ganz jung war.
Nendlèce dagegen sah noch sehr kindlich aus, und sie ärgerte sich manchmal darüber, dass ihre kleine Nase ihrem Gesicht etwas Flüchtiges verlieh. Stolz dagegen war sie auf die Narbe, die ihre linke Augenbraue in zwei Hälften teilte. Gerne erzählte sie ortsfremden Markttreibenden, dass das beim Reiten passiert war. So ganz gelogen war das nicht, aber eben auch nur die halbe Wahrheit: Als sie noch sehr klein gewesen war, hatte sie das Schaukelpferd eines befreundeten Mädchens so wild beansprucht, dass sie sich mitsamt dem Holzspielzeug überschlagen hatte. Seitdem hatte sie diese Narbe und trug sie wie ein Ehrenabzeichen der Tapferkeit.
Ansonsten war das aber eine schwierige Sache mit der Tapferkeit. Weil man so vieles dabei falsch machen konnte, über das die Erwachsenen dann schimpften.
Auch jetzt, im Angesicht dieses rätselhaften Heeres, war ihre große Schwester Varlie Nendlèces größter Halt. An wen sonst sollte sie sich wenden? Wem Bescheid geben über die sich durch die Wälder an Hagetmau heranpirschende Truppe von Feinden? Nicht schon gleich Rauthne, der Dorfbyrgherin. Die würde sie nur für ein übermütiges Kind halten und ihr nicht glauben. Auch nicht Mardein, dem Seher und Feuersemanen, denn der hatte die Soldaren nicht kommen sehen, obwohl er doch anscheinend vorausahnend war. Varlie. Varlie allein würde wissen, was zu tun war, weit mehr noch als ihre Eltern, die sicher wieder nur besorgt wären um ihren Hausrat, wie jedes Mal, wenn das Wetter oder die mannigfaltigen Kreaturen der Wildnis Hagetmau zu schaffen machten.
Nendlèce beobachtete den Trupp weiterhin. Sie war sicher, bislang unbemerkt geblieben zu sein. Viel zu klein war sie dazu, viel zu sicher und gewandt beim Pirschen durchs Unterholz. Aber sie traute sich auch nicht heraus aus ihrer wohl verborgenen Position. Viel zu schlecht konnte sie einschätzen, wie gut das Gehör oder die Witterung des Gryph waren.
Sie vergewisserte sich, dass der Trupp auf dem Weg nach Hagetmau blieb. Wartete, bis sich der kleine Heerwurm aus ihrer Sichtweite hinausgeschlängelt hatte. Ein Flecken Gryphlosung war auf dem Weg zurückgeblieben. Wie ein Beweis dafür, dass Nendlèce sich das alles nicht nur eingebildet hatte.
Dann rannte sie los. Wusste, dass der Weg, den die Soldaren nahmen, sich wand, sich den Gegebenheiten des hügeligen Terrains anpasste, und kannte selbst einen kürzeren Weg, der unbequemer war und steiler, auf dem sie jedoch das Dorf bestimmt ein Viertel einer Stunde vor den Soldaren erreichen konnte.
Ein Viertel einer Stunde nur, um Hagetmau zu warnen! Um gemeinsam mit Varlie und vielleicht dann auch mit der ältlichen, schnell überforderten Rauthne alles in die Wege zu leiten, was nun zu tun war.
Nendlèce rannte. Die Bäume fetzten an ihr vorüber, das Sonnenlicht flackerte, von Blättern zerhackt. Sie atmete regelmäßig dabei. Unter den Mädchen von Hagetmau gab es keines, das ihr im Rennen oder Reiten etwas vormachen konnte. Nendlèce war die schnellste. Wenigstens das Tragen einer Hose anstatt eines Kleidchens erlaubten ihr ihre Eltern, damit sie sich im Wald besser bewegen konnte. Mit weiten Sätzen wie ein Reh sprang sie über quer liegende Stämme hinweg und überholte somit die Truppe, die sich Hagetmau näherte.
3
Das Dorf wurde für Nendlèce sichtbar. Denn über die dicht bewaldeten Felsen kam sie, anders als die Soldaren, die sich durch tieferes Gelände voranbewegten.
Achtzig Häuser, aus grauen Steinen geschichtet, mit Holz und Gräsern gedeckt. Die markantesten Gebäude und Plätze waren von den Felsen aus alle zu sehen. Die mit rötlichen und schwarzen Holzschindeln verkleidete Ratshalle, in der die Byrgherin Rauthne alle zwei Wochen die Neuigkeiten des Landes Akitania verkündete, soweit sie ihr denn zu Ohren gekommen waren: Dekrete der Krone, Gerüchte und Entwicklungen aus der Umgegend oder der nächstgelegenen großen Stadt Marmandeh, sogar – für die Bauern besonders interessant– Wetterprophezeiungen von Wolkensemanen. Dann der Marktplatz, den die Hagetmauer scherzhaft Hafen nannten. Hier fand einmal im Monat ein buntes Markttreiben statt, wenn die fahrenden Händler sich für diesen Tag in Hagetmau trafen, bevor sie nach Doazit und Maylis weiterzogen. Am Marktplatz die Stube des Tortenmacherpärchens, die Geschmeideschmiede, die Kleidermacherin, die auch Ausbesserungen und Reinigungen kundig vornahm. Etwas dahinter, aber immer noch am Hauptweg die einzige Schenke Hagetmaus, Das schwarze Lamm. Im nördlichen Bereich des Dorfes schließlich das höchste Bauwerk: der steinerne Glockenturm des kleinen Abelion-Tempels, umgeben von einem sorgsam gepflegten Apfelbaumhain, denn Äpfel waren Abelions heilige Früchte. Alarm konnte man läuten mit dieser Glocke. Falls es brannte. Falls der Fluss Lut empfindlich über die Ufer trat. Oder auch – was noch nie vorgekommen war, zumindest nicht, seit Nendlèce sich erinnern konnte– wenn ein Heer aus Nafarroa anrückte.
Vor dem Dorf der schmale Fluss. Klar und hell durchsprudelte er sein Bett. Die Brücke. Die Brücke konnte man zerstören, das würde die Soldaren aufhalten. Bis auf den Gryph. Der würde sich aufschwingen in die Luft mit seinen wie Metall funkelnden Flügeln und mitten auf dem Marktplatz von Hagetmau niedergehen, zwischen Tortenmacher und Geschmeideschmiede. Und Feuer speien? Konnten Gryphe Feuer speien? Mardein, der Feuersemane, müsste das wissen.
Nendlèces Gedanken überschlugen sich beinahe noch schneller als ihre Füße.
Aber sie schrie die Neuigkeiten nicht hinaus, als sie den Waldhang in weiten, sicheren Sätzen hinabstürmte zum Dorf, die Brücke querte und den südlichen Bereich des Dorfes. Die Hagetmauer, an denen sie vorüberkam, würden sie doch ohnehin nur für verrückt gehalten haben. Für ein Kind halt.
Varlie. Ihre große Schwester Varlie würde wissen, was zu tun war, ob man läuten, hinausschreien, zu den Waffen greifen oder sogar fliehen musste.
Die Haustür stand offen, um die Wohnräume zu lüften.
Nendlèce sprang über die Schwelle ins Innere und rempelte damit beinahe ihre Mutter um. »Kind! Pass doch auf!«, rief die Mutter aus und schnalzte tadelnd.
»Wo ist Varlie?«, fragte Nendlèce ganz atemlos.
»Am Ufer wahrscheinlich. Irgendwo. Treibt sich mit diesem Taugenichts Tautun herum.«
Nendlèce war schon wieder losgelaufen. Sie wusste, wo am Ufer sich Varlie am liebsten aufhielt. Flussabwärts in Richtung der Mühle, wo verblühter Flieder sich weit über das Wasser reckte. Schon auf halbem Weg sah sie ihre Schwester ihr entgegenkommen, mit mürrischem Gesichtsausdruck. Varlie hatte sich ihr hübschestes Kleid angezogen, das mit den aufgestickten Blütenkränzen, aber Tautun war wohl wieder nicht gekommen zur Verabredung. Er »vergaß« so etwas gerne und oft.
»Nin, was ist los?«, fragte Varlie, die sofort spürte, dass ihre kleine Schwester nicht einfach nur aus Übermut ganz außer Puste war.
»Soldaren!«
»Soldaren?«
»Aus Nafarroa, glaube ich! Dreißig Mann in Rüstungen! Einer reitet auf einem Gryph! Und sie kommen direkt auf Hagetmau zu!«
»Das kann doch nicht sein! Irrst du dich auch nicht?«
»Nein, ich hab sie selbst gesehen.«
»Wo sind sie?«
Nendlèce deutete auf den Weg, den die Soldaren kommen mussten. »Noch etwa ein Viertel einer Stunde entfernt, vielleicht weniger.«
»Das gibt es doch gar nicht.«
Nendlèce sah, wie es in Varlie arbeitete. Varlie war ein auffallend hübsches Mädchen, mit ihren klaren hellen Augen und dem beinahe hüftlangen Haar, das sie im Gegensatz zu ihrer kleinen Schwester meistens offen trug, so auch jetzt, von ein paar Nadeln in Form gesteckt. Aber sie hatte – noch mehr als Nendlèce– etwas Wildes an sich. Etwas Ungestümes und Launisches, das den meisten jungen Burschen im Dorf Angst einjagte. Nur Tautun hatte diesen Zug an ihr wohl eine Zeit lang reizvoll gefunden, denn er war selbst so, jähzornig bis hin zur Unzugänglichkeit. Aber jetzt – alle im Dorf wussten das, nur Varlie wollte es nicht wahrhaben– hatte er Varlie wohl auch schon wieder satt bekommen.
Varlie zeigte weder Furcht noch Besorgnis angesichts der von Nendlèce geschilderten Gefahr. Da war etwas anderes, das in ihren Augen aufflackerte: Tatendrang. Etwas, das sie von ihrem eigenen, nagenden Kummer ablenken konnte.
»Wir holen uns die Säge. Und dann verständigen wir Rauthne und Mardein.«
»Die Säge? Bist du sicher?«
»Wann, wenn nicht dann, wenn Soldaren kommen?«
Die Säge befand sich seit Generationen im Familienbesitz. Ein Erbstück ihres abenteuer- und rauflustigen Urgroßvaters mütterlicherseits. Die beiden Mädchen wussten genau, wo sie verwahrt war, denn schon oft hatten sie sich auf den Dachboden geschlichen, um dieses eigentümliche Schwert zu bestaunen.
Diesmal schlichen sie nicht. Sie gingen ganz aufrecht und hastig hinein, an ihrer irgendetwas vor sich hin murmelnden Mutter vorbei, nahmen die Stiege nach oben, wo ihre Räume waren, und wo Varlie sich erst einmal unsanft ihres Kleides entledigte, um ebenso wie Nendlèce in Hosen, ein weites Hemd und festere Bundschuhe zu schlüpfen. Dann kramten sie den Truhenschlüssel heraus, kletterten die Leiter auf den Dachboden hoch, schlossen die Truhe damit auf und bargen die Säge aus den Tüchern, in denen sie eingewickelt war wie ein Neugeborenes. Die lange, schwere, leicht gekrümmte Klinge mit den an eine Säge erinnernden Zacken in der Schneide und mit dem kunstvoll gewirkten messingfarbenen Griff, in den die Hand der Trägerin sich einführen musste wie in das Innere einer Seemuschel.
Varlie war diese Trägerin. Immer nur Varlie. Niemals Nendlèce.
Aber es sah gut aus. Das große Schwert schmiegte sich um Varlies Rechte. Nendlèce fand diese Waffe schon beidhändig schwer zu heben, sie konnte sich gar nicht vorstellen, dieses Ding einhändig zu schwingen. Nendlèce war die Schnelle, Varlie von ihnen beiden die Starke.
Sie gingen wieder nach unten. Standen da, mitten im niedrigen, mit Zierrat aus Wäldern und Feldern und allerlei Markttreiben vollgestopften Raum. Geweihe und Felle, kleine Tonkrüge und Kettchen aus der Geschmeideschmiede.
»Was ist denn jetzt los?«, fragte die Mutter. »Ich habe euch doch schon tausendmal gesagt, dass das kein Spielzeug ist! Könnt ihr nicht oder wollt ihr nicht hören?«
»Soldaren kommen. Wir müssen vorbereitet sein«, sagte Varlie mit triumphierendem Unterton. Dann eilten die Schwestern nach draußen und rannten gemeinsam auf die Ratshalle zu, noch bevor ihre Mutter ihnen Einhalt gebieten konnte.
4
Die Dorfbyrgherin Rauthne hatte ihre innen mit silbernen und rötlichen Fellen ausgeschlagenen Räume im westlichen Teil der Ratshalle. Wie oftmals saß sie gerade mit dem Feuersemanen Mardein zusammen und spielte eine Partie Bildkarten, als Varlie und Nendlèce in das Gebäude gestürmt kamen. Rauthne war am Gewinnen, sie hatte die Bildkarten mit den höheren Zahlwerten an sich gebracht, deshalb reagierte sie erst auf die beiden Mädchen, als diese schon beinahe gegen den Kartenspieltisch stießen.
»Nanu, so eine Überstürztheit«, bemerkte die greise Dorfbyrgherin. »Und wozu schleppt ihr dieses uralte Ding mit euch herum? Ihr wollt doch nicht etwa einen Apfelbaum umsägen?« Dies war ein deutlicher Verweis für die unziemliche Hast der beiden Mädchen: Einen der Gottheit Abelion heiligen Baum zu beschädigen galt in Akitania als großer Frevel.
»Verzeiht uns, ehrenwerte Byrgherin«, sagte Varlie, »aber Soldaren aus Nafarroa nähern sich dem Dorf. Ein ganzer Trupp. Uns bleibt weniger als das Viertel einer Stunde, um uns zu rüsten!«
»Was für ein Unfug: Soldaren aus Nafarroa«, sagte die Byrgherin nur und blieb einfach sitzen.
Zum Zeichen ihrer Amtswürde war ihr Schädel kahlgeschoren und an den Schläfen mit den rötlichen Schutzschnörkeln Abelions bemalt. Ihr schmaler Leib steckte in der dunkelroten, schweren Robe des Unter den Menschen Ausgezeichnetseins. Vielleicht, weil ihr die weiblich wirkenden Haare fehlten, erinnerte ihr Gesicht ein wenig an das eines Mannes, vielleicht hatte sie aber auch schon immer etwas Herbes an sich gehabt. Jedenfalls war ihr Gesicht von Tausenden von Runzeln durchzogen, mehr noch, als man von ihren 70Lebensjahren erwartet hätte. Die meisten dieser Runzeln waren durch Lachen entstanden, einige davon aber auch durch Entschlossenheit, durch Nachdenken und durch das Durchsetzen nicht ganz einfacher Entscheidungen.
Der ihr gegenüber sitzende Mardein, der dicke Sehgläser vor den Augen trug, die er als »Brenngläser« bezeichnete, und der ganz in abgewetztes, seiner Behauptung nach feuerfestes Wildleder gekleidet war, murmelte: »Habe ich nicht eine große Umwälzung geweissagt? Eine Umwälzung, die in Hagetmau ihren Anfang nehmen wird?«
»Ach, du«, wehrte die Byrgherin belustigt ab. »Du weissagst so allerhand. Vor zwei Jahren hast du uns eine große Dürre vorausgesehen, und vor lauter Regen verschimmelte uns der Weizen auf den Feldern.«
Mardein war nur vier Jahre jünger als die Byrgherin, wirkte aber, als wäre er erst in seinen Fünfzigern. Seine Wangen hatten eine dauerhaft rote Farbe – einige sagten, das komme vom Branntwein, er selbst hielt dem entgegen, dass es von der frischen Luft und der regelmäßigen Übung des Glockenläutens kam–, und seine ungestümen langen Haare hätten ihm sogar durchaus etwas Jugendliches verliehen, wenn sie nicht bereits von dunkelgrauer Farbe und an den Stirnseiten schon sehr weit zurückgewichen gewesen wären. »Aber diesmal sehe ich Rüstungen«, beharrte er mit seiner leisen, wie summend klingenden Stimme. »Schwarz und weiß.« Mardein schien zwei verschiedene Stimmen zu besitzen. Das Kräfte sparende Summen des Alltags und ein grollendes Tosen, das er nur bei Tempelandachten verwendete, und bei dem sich Hagetmauer immer wieder aufs Neue fragten, wo er es hernahm.
»Gar nichts siehst du. Ohne deine Gläser könntest du nicht einmal die Karten in deinen Fingern erkennen. Wer hat denn überhaupt etwas gesehen, ihr Mädchen? Von wem stammt dieses Gerücht?«
»Ich habe sie gesehen«, sagte Nendlèce und trat einen halben Schritt vor. »Mit meinen eigenen Augen. Und ich bin gerannt, um vor ihnen hier sein zu können.«
»Hmja. Wie viele sollen es denn sein?«
»Dreißig. Ihr Offizier reitet einen Gryph.«
»Aber das ist doch vollkommen unsinnig. Wir sind hier mehr als zwanzig Marschstunden von den Bergen entfernt. Warum sollten Soldaren aus Nafarroa so weit landeinwärts durch Akitania geraten?«
»Warum, wissen wir auch nicht, ehrwürdige Byrgherin«, sagte nun wieder Varlie, »nur dass es so ist, wissen wir.«
»Hast du sie denn auch gesehen?«
»Das Wort meiner Schwester genügt mir. Sie erfindet keine Geschichten. Als sie letztes Jahr im Wald Wölfe gehört hat, wollte ihr auch erst niemand glauben. Bis dann die ersten Schafe gerissen wurden.«
»Daran erinnere ich mich natürlich gut. Hmja. Es kann aber trotzdem nicht sein. Wir haben Frieden mit Nafarroa. Ihr letzter Versuch, in Akitania einzumarschieren, liegt mehr als hundert Jahre zurück. Und sie haben sich blutige Nasen geholt, seinerzeit. Von wo kommen sie, sagst du?«
»Von Süden.« Nendlèce beschrieb den Weg genauer.
»Reitet ihnen ein Bote voraus? Vielleicht sind sie nur auf der Durchreise, auf dem Weg in unsere Hauptstadt? Eine Art Delegation.«
»Ein Bote müsste jetzt schon hier sein. Der ganze Trupp ist nicht mehr weit entfernt.«
Nendlèces Beharren auf ihrer Geschichte versetzte die alte Byrgherin nun doch langsam in Unruhe. Sie legte die Karten weg, schaute kurz bedauernd ihren höheren Zahlwerten hinterher und stemmte sich aus ihrem Stuhl hoch.
»Umwälzung«, knurrte Mardein, und erhob sich ebenfalls.
»Lasst uns nach draußen gehen, Ausschau halten, mit den Leuten reden«, schlug Rauthne vor. »Wer weiß noch von diesem Gerücht?«
»Nur unserer Mutter haben wir davon erzählt.«
»Na, die wird euch auch nicht geglaubt haben. Sonst wüsste es jetzt schon das halbe Dorf. Lasst uns auf den Platz gehen.«
Drinnen war es so dunkel gewesen, dass die Sonne sie nun alle ein wenig blendete. Mardeins Brenngläser knackten regelrecht, so satt tranken sie sich mit Licht.
»Ich will jemanden auf dem Glockenturm haben, nur für alle Fälle. Das kann doch nicht schaden, oder? Mardein, schick jemanden hinauf, er soll nach Süden Ausschau halten.« Mardein gab dem zehnjährigen Pellit, der gerade zufällig vorüberschlenderte, das entsprechende Kommando. Als Dorfsemane, Seher und rechte Hand der Byrgherin hatte er Befugnis, anderen Anweisungen zu geben. Pellit machte sich unverzüglich an den Aufstieg, trat sich vor lauter Eifer an der Leiter beinahe selbst auf die Hände.
»Ist heute sonst noch jemand von Süden gekommen? Hat sonst jemand etwas gesehen?«
Rauthnes Frage richtete sich an sämtliche Passanten. Niemand konnte Nendlèces Aussagen bestätigen, aber spätestens jetzt begann das Gerücht in Hagetmau umzugehen, und schon nach kurzer Zeit hatte sich auf dem Platz eine neugierige und beunruhigte Menge von etwa vierzig Personen versammelt.
»Wonach soll ich denn Ausschau halten?«, krähte Pellit von oben herab. Sein zerzauster Kopf tauchte neben der Glocke auf wie ein zweites, kleineres Geläut.
Rauthne überlegte kurz, dann rief sie hoch: »Melde alles, was dir außergewöhnlich vorkommt.« Zu Mardein raunte sie: »Wenn er nicht weiß, worum es sich handelt, wird er nicht denselben Fehler machen können wie das Mädchen.«
»Worum könnte es sich denn handeln?«, knarzte Mardein.
»Was weiß ich? Eine Händlerkarawane vielleicht.«
»Und der Gryph? Was sieht aus wie ein Gryph?«
»Ein Ochse mit einem schmückenden Überwurf, der an Flügel erinnert.«
»Er hatte einen Vogelkopf mit Schnabel«, versetzte Nendlèce, die das Getuschel mit angehört hatte.
»Hmja«, schnaubte Rauthne unwillkürlich. »Vielleicht sind es fahrende Schausteller, die einen Gryph mit sich führen.«
Darüber dachte Nendlèce immerhin nach. War es möglich, dass sie sich so geirrt hatte? Aber die Brustharnische, schwarz und weiß gefärbt wie in Nafarroa üblich. Das Marschieren der Männer in Zweierreihen. Und sie hatten keinen Karren bei sich gehabt. Schausteller oder Händler waren doch niemals ohne Karren unterwegs!
Varlie war unzufrieden. »Was stehen und gaffen wir denn so herum? Uns bleibt nur noch ganz wenig Zeit, uns gegen den Überfall zu wappnen! Sollten wir nicht die Brücke verbarrikadieren? Die Leute zu den Waffen rufen?«
»Zu welchen Waffen denn?«, entgegnete ihr die Dorfbyrgherin. »Deine Säge ist doch schon so ziemlich das Einzige, was sich in dieser Hinsicht in ganz Hagetmau finden lässt. Nur Tautun besitzt noch ein Kurzschwert, das er mal einem Durchreisenden beim Wettzechen abgenommen hat. Wo steckt Tautun überhaupt? Hat ihn jemand gesehen?« Tautun war wie ein ständiges Nagen im Hinterkopf der Byrgherin. Er war der Dorfaufrührer. Derjenige, der sich am liebsten prügelte. Der immer über den Durst trank. Der Reisende anpöbelte. Scheunen demolierte. Der alles anzweifelte und in den Dreck zog, was man sich in langen Beratungen zum Wohle des Dorfes überlegt hatte. Seit Jahren schon hoffte sie, er würde Hagetmau endlich verlassen, um anderswo Unfrieden zu stiften. Aber er blieb, womöglich aus Trägheit, womöglich aus Rachsucht aufgrund der unglücklichen Entscheidungen seiner Kindheit, womöglich aber auch, weil sich hinter seinem großspurigen Gebaren eigentlich ein Feigling verbarg. Hier im Dorf wusste er, wen er einschüchtern konnte, ohne etwas befürchten zu müssen. Draußen in der Fremde jedoch würden alle Karten neue Zahlwerte erhalten.
Folster, der stiernackige Wirt vom Schwarzen Lamm, drängte sich zur Byrgherin und dem Semanen durch: »Was soll ich machen, wenn wirklich Soldaren kommen? Ich will nicht, dass sie bei mir alles kurz und klein schlagen und die Zeche prellen. Wenn ich aber einfach dicht mache, fangen sie vielleicht im Dorf an zu plündern.«
Rauthne verzeichnete mit einem Nicken, dass Folster sich immerhin nicht nur um seine einladend hergerichtete Wirtsstube, sondern auch um das restliche Dorf sorgte. »Noch wissen wir nicht, ob überhaupt Soldaren kommen. Ich finde es mehr als unwahrscheinlich. Wir haben nur die Aussage eines einzelnen Mädchens.«
»Das aber nicht dafür bekannt ist, Geschichten zu erfinden«, sagte Hernyet, die schmale und hoch aufgeschossene Dorflehrerin.
In der Menge entstand plötzlich Gedränge. Der schnauzbärtige Vater von Nendlèce und Varlie schubste sich hindurch. Ganz rot im Gesicht war er vor Ärger. »Ich will, dass ihr sofort nach Hause kommt. Was soll das denn, eurer Mutter einen solchen Schrecken einzujagen! Und dass du die Waffe einfach so entwendest, darüber wird noch zu sprechen sein, mein junges Fräulein.« Er fasste nach der Säge, doch Varlie entzog sie ihm einfach. Für einen Augenblick sah es so aus, als würde er sich die Finger an der gesägten Klinge aufreißen. Es war nichts passiert, denn der Vater hatte seine Hand erschrocken wieder zurückgezogen, aber den Umstehenden stockte nichtsdestotrotz der Atem.
»Ihr versteht wohl alle nicht, worum es hier geht«, sagte Varlie entschlossen, mit kräftiger Stimme. »Nendlèce hat uns allen einen Vorteil verschafft, indem sie uns rechtzeitig vor einem Überfall gewarnt hat. Aber ihr steht nur herum und schwatzt und wartet. Wenn die Soldaren hier sind und Feuer legen und mit ihren Schnabelhakenwaffen auf uns einzuprügeln beginnen– was dann?«
Die Unruhe griff auf dem Platz um sich wie das von Varlie heraufbeschworene Feuer, brach sich durch brodelndes Gemurmel Bahn. Der Vater stand immer noch vor seiner Tochter, eingeschüchtert jedoch von ihrem kriegerischen Gebaren.
»Greifen sie denn überhaupt an?«, fragte die alte Tortenmacherin aus der Menge. »Ich meine, stürmen sie und brüllen dabei und schwenken ihre Fahne? Oder befinden sie sich einfach nur auf irgendeiner Mission, womöglich auf dem Weg zu unserer Hauptstadt?«
»Das ist richtig«, pflichtete ihr ebenfalls greisenhafter Mann ihr bei. »Sie könnten eine… diplomatische Abordnung sein. Wir sollten sie eher willkommen heißen, anstatt das Dorf in Furcht zu versetzen.«
»Willkommen heißen?«, schnappte Varlie. »Es sind Feinde aus Nafarroa! In Rüstungen! Und bis an die Zähne bewaffnet!« Letzteres hatte sie erfunden, aber als Nendlèce ihr von »Soldaren« berichtete, hatte sie sich die gar nicht anders als waffenklirrend vorstellen können.
»Sie könnten dennoch einfach nur eine gut ausgerüstete… diplomatische Abordnung sein«, griff ein anderer auf. »Wir haben Frieden, oder etwa nicht?« Mehrere widersprachen Varlie jetzt. Die Hagetmauer an sich unterschieden sich nicht von anderen Dörflern Akitanias oder anderswo: Sie wollten ihr Dasein ungestört fristen und fürchteten jegliche Unruhe, jegliches Rätsel, jegliche Unwägbarkeit. Dennoch – oder gerade deshalb– versetzte jedes außergewöhnliche Waldesrauschen sie in Entsetzen.
Die Byrgherin Rauthne wollte gerade die Arme erheben, um der brodelnden Menge ein paar ordnende und beruhigende Worte zuteil werden zu lassen, als von oben Pellits Stimme gellte: »Ich kann etwas sehen. Auf dem Weg nach Süden. Nähert sich der Brücke.«
»Was ist es denn, was du siehst?«, fragte Rauthne.
»Ein… ein… ein Reitvogel… und ein Trupp Soldaren!«
»Wie viele Soldaren?«, fragte Rauthne nach oben.
»Sie sind noch nicht alle aus dem Wald. Es könnten hunderte sein!«
»Es sind nur dreißig«, schwächte Nendlèce ab. »Ich habe sie alle überblicken können.«
»Glaubt ihr uns jetzt endlich?«, schrie Varlie und schwenkte die Säge. Sie schrie insbesondere ihren eigenen Vater an. »Wir sollten zur Brücke laufen und sie dort aufhalten. Wenn sie nur reden wollen, können sie ja dort mit uns reden. Aber sie sind dann wenigstens nicht schon mitten im Dorf!«
»Ihnen entgegenzugehen ist klug«, raunte Mardein der Byrgherin zu. »Aus Höflichkeit wie aus Wehrhaftigkeit.«
»Jawohl«, sagte der Tortenmacher, »lasst uns eine… diplomatische Abordnung bilden!«
Rauthne seufzte. Sie wollte viel lieber Karten spielen, als einem Gryph entgegenzuschreiten. Und nafarroanischen Soldaren. Aber sie war die Byrgherin. Sie trug Abelions Schutzschnörkel. Und die Robe des Unter den Menschen Ausgezeichnetseins. Es war ihre Aufgabe, den anderen voranzugehen. Mit gutem Beispiel.
»Also gut«, sagte sie, war jedoch der Meinung, dass ihre Stimme dabei zu wackelig geklungen hatte. »Also gut«, wiederholte sie deshalb noch einmal sicherer. »Wer uns begleiten möchte, soll das tun, aber hinter Mardein und mir bleiben. Varlie, du und deine Schwester, ihr könnt mitkommen, immerhin habt ihr die Soldaren als Erste gemeldet, aber ihr haltet euch zurück, verstanden? Kein Wort will ich von euch hören. Und dieses scheußliche Ding gebt ihr an euren Vater zurück!«
»Aber…«
»Unverzüglich, Varlie!«
Es sah aus, als würde sich Varlie erst aufbäumen, dann aber etwas in ihr gekappt werden. Sie begriff, dass sie zwar nafarroanischen Soldaren, nicht aber den verweisenden Blicken ihres Vaters, der Byrgherin, dem Semanen, der Lehrerin und dem Tortenmacherpaar etwas entgegenzusetzen hatte. Wenigstens Nendlèce hielt noch zu ihr. Aber Tautun? Tautun, den sie sich am allermeisten an ihrer Seite wünschte, ließ sich nirgends blicken und hatte sie abermals völlig im Stich gelassen.
Sie gab die Säge an ihren Vater, und zwar so, dass er sich nicht schneiden konnte. Dabei kam es ihr vor, als ließe sich ihre Hand schwerer aus dem umwindenden Griff lösen, als sie hineingefunden hatte. Ihr Vater jedenfalls schien beschlossen zu haben, den unerhörten Vorfall von vorhin erst einmal hintanzustellen. Zumindest, bis die Sache mit den Soldaren geklärt war.
»Ich will auch mitkommen!«, plärrte Pellit von oben.
Rauthne dachte kurz darüber nach, ob es sinnvoll sein könnte, weiterhin mittels eines Ausgucks den Überblick zu behalten. Aber Nendlèce hatte nur von dreißig Soldaren gesprochen. Und Pellits Stimme würde ohnehin nicht bis zur Brücke unmissverständlich vernehmlich sein. Also winkte sie ihn herunter.
»Wo ist mein Sohn?«, fragte sie raunend den Semanen.
»Sicherlich bei irgendeinem Mädchen, mein Feuerorakel hat sich da nicht so festgelegt«, antwortete dieser mit schiefem Grinsen. »Meinst du denn, er könnte uns von Nutzen sein?«
»Bei Verhandlungen immer. Er macht einen blendenden Eindruck auf Fremde, das hat sich doch schon oft erwiesen. Und Tautun?«
»Bei dem wäre wahrscheinlich selbst mein Feuerorakel überfragt.«
Rauthne seufzte. Ihr Sohn war, wenn er auch wenig Ehrgeiz zeigte, so doch ihre Hoffnung und Stütze, wenn Dinge schiefzulaufen begannen. Tautun dagegen war ihre verlässliche Sorge. Am liebsten hätte sie beide unaufhörlich im Auge behalten.
»Gehen wir«, sagte sie und setzte sich in Bewegung. Mardein folgte ihr, dahinter zwanzig zu gleichen Teilen Neugierige und Beherzte aus dem Dorf, unter ihnen Varlie und Nendlèce, die sich von ihrem Vater nicht nach Hause zwingen ließen, weshalb auch er lieber dabei blieb, der Wirt Folster, die Lehrerin Hernyet, die die Größte im ganzen Zug war, und der junge Pellit, der sich schier überschlagend zu ihnen gesellte. Das Tortenmacherpaar hatte sich in seinen Tortenmacherladen zurückgezogen, und die rund zwanzig weiteren Dorfbewohner, die sich vorhin noch neugierig versammelt hatten, verzichteten nun ebenfalls murmelnd darauf, einem leibhaftigen Gryph gegenüberzutreten.
5
Die beiden Gruppen erreichten die Brücke beinahe gleichzeitig.
Die Brücke überspannte lediglich sieben Schritte. Der Lut war kein breiter Strom.
Die nafarroanischen Soldaren, die ihre Marschordnung beim Verlassen des Waldes verändert hatten und in vier breiten Siebenerreihen zur Brücke vorgerückt waren, verhielten auf ein knappes Kommando des Gryphreiters, der von einem Unteroffizier zu Fuß flankiert wurde.
Der Gryphreiter befahl auch diesem Unteroffizier, zurückzubleiben, und betrat als Einziger die schmucklos nüchterne Holzkonstruktion, ritt gemessenen Schrittes bis zu ihrer Mitte vor.
Der Fluss Lut rauschte munter. Die Krallen des Gryph scharrten vernehmlich auf dem alten Holz.
Kein Hagetmauer hatte ein solches Fabelwesen bislang dermaßen deutlich in Augenschein nehmen können.
Es war größer als ein Pferd. Die Flügel angelegt, metallisch schimmernd wie mit einer Art Lasur überzogen. Seine Augen waren gelblich und wirkten streng wie die eines Adlers oder Falken, aber wie bei einem Adler oder Falken lag das lediglich an der Form der Augenbrauen. In Wirklichkeit schaute es wachsam nach hierhin und dorthin, mit Kopfbewegungen, die deutlich weniger ruckartig als die eines Vogels waren, und die am ehesten an einen gelehrigen Hund erinnerten. Sein grauer, rissiger Schnabel war riesig, das Gefieder blauschwarz und von ebenso dunklem Fell durchsetzt. Dieses Wesen schien Vogel und fellbewehrtes Säugetier zugleich zu sein, ein Reittier, ein Flugtier, ein Kampfinstrument, vielleicht sogar mit magischen Fähigkeiten. Mardein allein wusste mit Sicherheit, dass es kein Feuer speien konnte.
In seinem Sattel, der mit Ketten am Leib des Gryphen festgeschnallt war, saß der Offizier, der sich durch mehrere Details der Rüstung von seinen Soldaren unterschied. Als Einziger trug er auf seinem einteiligen Glockenhelm nicht nur einen metallischen, sondern einen mit Gryphfedern verzierten Kamm. Als Einzigem war bei ihm die Brust seines schwarzweißen Krebsharnischs mit einem Banddekor und einer Schnurbördelung versehen. Als Einziger hatte er nicht nur einen mattschwarzen Schnabelstreithammer im Seitenhalfter, sondern in einem Gehenk am Gryph eine Säbelhelmbarte, eine mit einem nafarroanischen Wimpel verzierte Hellebarde mit einer Säbelklinge über einem Schnabelhaken.
Den Hagetmauern kam diese Waffe ganz besonders furchteinflößend vor. Im Grunde genommen wirkte sie wie ein leicht gekrümmtes Schwert an einer mannslangen Stange, aber gleichzeitig durch den zweiteiligen Widerhaken noch besonders grausam. Man konnte damit stechen, schneiden, sensen, reißen, sie womöglich sogar schleudern. Wenn man darin geübt war.
Der Gryphreiter machte den Eindruck eines Mannes, der sein Handwerk verstand. Die Augen in seinem markanten, von einem gestutzten rötlichbraunen Vollbart verzierten Gesicht ähnelten im Ausdruck denen des Gryphen, als er das Dorf und seine bunt gemischte Abordnung musterte. Dennoch hatte seine Haltung im Sattel etwas beinahe Lässiges. Etwas Überlegenes.
Seine Männer wirkten müde und staubig und nachlässig rasiert. Die Byrgherin überschlug, wie lange sie unterwegs sein mochten. Zwanzig Stunden durch Akitania mindestens. Aber wie viele Tage vorher schon durch die weitläufigen, gefahrvollen und nur auf wenigen Pässen querbaren Berge von Pyr? Und davor, von ihrem ursprünglichen Stützpunkt in Nafarroa? Vielleicht, dachte Rauthne, waren sie einen ganzen Monat lang unterwegs gewesen. Oder sogar noch länger. Hagetmau, ein Ort der Ruhe, musste ihnen nun wie die Erfüllung all ihrer Sehnsüchte scheinen.
»Seid gegrüßt«, sagte der Offizier mit heiserer Stimme. »Dies ist Hagetmau?« Er sprach den Namen natürlich falsch aus.
Für einen Moment gingen der Byrgherin ganz merkwürdige Ideen im Kopf herum. Was, wenn sie jetzt einfach sagte: Nein, Hagetmau liegt weiter flussabwärts? Aber das war natürlich Unsinn. Zum einen gab es Wegweiser in der Umgegend, die unbezweifelbar nach Hagetmau deuteten, und zum anderen würden die Soldaren wiederkehren, nachdem sie erkannt hätten, dass man sie angeschwindelt hatte, und dann hätten sie allen Grund, ärgerlich zu sein. Feindseliger jedenfalls als jetzt, wo es fast so aussah, als ob man miteinander ganz ruhig ins Gespräch kommen könnte.
Ganz ruhig. Ins Gespräch.
»Ja, das ist Hagetmau. Ich bin die Byrgherin Rauthne.« Jetzt wusste ihr Gegenüber immerhin, wie man den Dorfnamen richtig aussprach.
Der Offizier richtete sich im Sattel ein wenig auf und formulierte die folgenden Sätze in einem einzigen Ausatmen: »Ich bin Capitar Jerlo Angaszin vom Dritten Nafarroanischen Heer. Das sind meine Männer.« Dann holte er neu Luft und sagte: »Hagetmau gehört ab sofort zum nafarroanischen Protektorat. Ist dies bereits eine offizielle Delegation oder wollen wir auf dem Marktplatz das Volk zusammenrufen? Ich möchte zu den Bewohnern dieses Dorfes sprechen, um die neuen Gegebenheiten zu erläutern, damit es keine Schwierigkeiten gibt.«
Seine Worte verwirrten die Byrgherin so sehr, dass sie sich beinahe an Mardein festhalten musste, damit ihr nicht schwindelig wurde. Was bedeutete das: nafarroanisches Protektorat? Ab sofort? Die neuen Gegebenheiten? Sie irritierte auch der schwere Akzent des Capitars. Die Sprachen von Akitania und Nafarroa waren miteinander verwandt und ähnlich genug, dass man einander einigermaßen verstehen konnte, wenn jeder bei seiner Sprache blieb, aber wenn einer versuchte, sich der Worte des anderen zu befleißigen, hörte man das Fremde umso deutlicher heraus.
»Hmja, wir sind nur zwanzig, in Hagetmau leben jedoch über fünfhundert Menschen. Vielleicht wäre es tatsächlich sinnvoller, Ihr sagt das, was Ihr zu sagen habt, zu möglichst vielen? Damit es dann hinterher nicht zu Missverständnissen kommt. Oder zu Übertreibungen durch die mündliche Weitergabe.« Übertreibungen wie: »Hagetmau gehört jetzt zum nafarroanischen Protektorat«. So etwas war doch ganz unvorstellbar. Es hatte gar keinen Krieg gegeben. Und schon gar nicht hatte Akitania einen solchen verloren.
Der Offizier nickte. Sein Gryph ebenfalls, aber eher, um eine Pferdebremse zu verscheuchen, die sich in seinen Augenwinkel setzen wollte.
»Dann folgen wir euch zum Marktplatz, Byrgherin«, sagte er. Er gab zwei Kommandos an seine Männer in nafarroanischer Sprache. Die vier Siebenerreihen verdichteten und verlängerten sich gleichzeitig zu vierzehn Zweierreihen, damit die Männer die Brücke passieren konnten. Ihr militärischer Drill in dieser Hinsicht schien tadellos zu sein, die Formationsveränderung ging leise und ohne Missverständnisse vonstatten.
Rauthne wechselte einen flackernden Blick mit Mardein. »Umwälzungen«, brummte dieser nur.
Sie schaute noch den Wirt und die Lehrerin an, dann kurz sogar Varlie und Varlies Vater. Das Mädchen schien es nicht fassen zu wollen, dass Rauthne die feindlichen Soldaren ins Innere von Hagetmau einzuladen im Begriff stand.
Dann sagte die Byrgherin: »Gehen wir.«
Sie fühlte sich so seltsam. Als würde sie auf weichgekochten Stelzen gehen.
Wenn sie richtig verstanden hatte, was der Offizier gerade gesagt hatte, dann war jetzt alles anders als noch vor wenigen Augenblicken. Dann war sie nicht mehr Byrgherin. Hagetmau nicht mehr ihr Dorf. Die Krone Akitanias nicht mehr zuständig für Hagetmau. Die Krone Akitanias möglicherweise gar nicht mehr existent. Denn wie war es sonst zu erklären, dass Soldaren Nafarroas zwanzig Stunden landeinwärts auftauchten, ohne dass es vorher zu einem Alarm, zu Heeresbewegungen, zu Kämpfen, zu Rekrutierungen, zu Chaos und Geschrei und Brand gekommen war?
Der Himmel war so blau und ehrlich wie ehedem.
Aber unter ihm hatte sich alles verrückt.
6
Die Soldaren marschierten in Zweierreihen über die Brücke und verbreiterten sich dahinter wieder zu Siebenerreihen. Wie ein Lebewesen, das fließend seine Form ändert. Beinahe ohne Kommandos ging das vonstatten.
Durch das Dorf Hagetmau lief ein Wachrütteln. Dann ein Aufschaukeln.
Es war keine richtige Panik, denn wenn man aus dem Haus schaute, konnte man Rauthne und Mardein und andere sehen, die sich ganz unbedrängt zusammen mit den fremden Soldaren bewegten. Man konnte auch sehen, dass der Gryph kein Feuer spie, sondern gezügelt war und sich nicht wilder gebärdete, als ein Pferd das getan hätte. Dennoch hatte Hagetmau noch nie so viele Soldaren beherbergt. Nicht Soldaren der Krone und erst recht nicht welche aus dem immer entweder verfeindeten oder mindestens beargwöhnten Nafarroa. Vor sechs Jahren waren einmal drei Soldaren der Krone durch das Dorf gekommen und im Schwarzen Lamm abgestiegen. Das war bislang die eindrucksvollste militärische Präsenz gewesen. Und jetzt: dreißig! Und ein Gryph!
Einige Dorfbewohner rannten aus ihren Häusern, belauerten die Prozession von hinter den Häusern aus. Andere verbarrikadierten sich. Häuften Schränke und Kommoden hinter ihre Türen. Zwei Familien überlegten, aus Hagetmau zu flüchten, ließen es aber sein, zumindest so lange, bis man hatte in Erfahrung bringen können, was überhaupt geschehen war, und aus welcher Himmelsrichtung eigentlich die größte Gefahr drohte.
Die meisten jedoch kamen neugierig nach draußen, schwatzten aufgeregt miteinander, tauschten Mutmaßungen aus, bauschten Gerüchte noch zusätzlich auf. Von einem Krieg war die Rede. Vom Abdanken der Krone. Sogar von einer ganz neuen, unbekannten Gefahr, die die Krone veranlasst haben musste, nafarroanische Truppen zur Unterstützung ins Land zu holen.
Einige benutzten den Begriff »Missverständnis«.
Auf dem Marktplatz fächerten sich die Soldaren nochmals auf: Aus den vier Siebenerreihen wurden zwei beeindruckende Vierzehnerreihen, die gegeneinander verschoben waren, so dass sie beinahe einen Halbkreis bildeten, der die Richtung nach Süden, zu den Bergen, nach Nafarroa, abschirmte. Als hätte sich von dort aus eine riesige zweizinkige Forke aus Gerüsteten nach Hagetmau hineingeschoben.
Rauthne und Mardein sorgten dafür, dass so viele Hagetmauer wie möglich sich vor dieser Forke versammelten. Einige dieser Dörfler trugen Bewaffnung in Händen, zumindest das, was in einem Dorf wie diesem an Bewaffnung vorhanden war: Heugabeln, Dreschflegel, Stuhlbeine als Keulen, Fleischmesser, eine Einhandsäge. Varlies und Nendlèces Vater hatte immer noch das gesägte Schwert in der Hand, das Einzige, das hier zu sehen war.
Der Capitar Angaszin betrachtete das Treiben mit Geduld. Auch die Bewaffnung. Er schien nichts anderes erwartet zu haben. Seine Soldaren waren durch Helme und Harnische weit besser gepanzert als jeder Dörfler, und mit ihren Schnabelstreithämmern auch deutlich durchschlagskräftiger bewaffnet.
Ein eifriger Dörfler wollte die Glocke des Abeliontempels Sturm läuten, doch Mardein, der für die Betreuung des Tempels zuständig war, konnte ihn davon abhalten. »Wir wollen doch den Gryph nicht unnötig beunruhigen, oder?«
Rauthne bemerkte, dass ihr Sohn Baresin sich auch endlich in der Menge zeigte. Sein nach städtischer Mode wohlgeformtes Haar war etwas zerzaust, und tatsächlich hatte er eine der Töchter eines dem Dorf vorgelagerten Hofes im Arm, aber immerhin interessierte er sich für den Aufruhr, der in Hagetmau herrschte. Er drängte sich aber nicht durch zu seiner Mutter, um Näheres zu erfahren. Offensichtlich hielt er es für klüger, sich angesichts der unklaren und möglicherweise gefahrvollen Gesamtlage vorerst im Hintergrund zu halten.
Baresin hatte ein interessantes Gesicht. Er hatte die spitze Nase seiner Mutter geerbt. Um diese beherrschende Nase herum allerdings das geradezu weiblich hübsche Gesicht seines Vaters, eines Durchreisenden, der vor annähernd vierzig Jahren dreimal durch Hagetmau gekommen war und der damals in ihn verliebten jungen Byrgherin ein Geschenk dagelassen hatte: eine Schwangerschaft, und dann, aus dieser hervorgehend, einen unehelichen Sohn.
Sie hielt auch nach Tautun Ausschau. Tautun, der Unruhestifter. Ein einziges Schmähwort von ihm konnte jegliche beginnende Verhandlung zum Kippen bringen. Es war wichtig, ihn im Auge zu behalten. Aber er war nach wie vor nirgends zu sehen. Wusste er etwas? Wusste er etwas über das Vorrücken der Nafarroaner nach Akitania, und hatte er sein Wissen aus Geringschätzung gar nicht erst mit dem Dorf teilen wollen? Sie verwarf diesen Gedanken. Tautun taugte nicht zum Intriganten. Hätte er etwas gewusst, hätte er damit beim Zechen im Lamm geprahlt. Unüberhörbar für jeden.
Dafür sah sie das Tortenmacherpaar wieder. Ihre Gesichter tauchten im Fenster ihres Ladens zwischen den Torten auf, wie aus Zucker gegossen oder aus Marzipan geformt.
Der Gryph hustete oder nieste. Jedenfalls schüttelte er sich kurz und scharrte mit einer seiner Krallen. Sein Reiter hielt ihn am kurzen Zügel. Hagetmau bewegte sich um ihn her wie ein Marktplatztreiben in einem langsamen Schreittanz des Misstrauens.
7
Für den Capitar Jerlo Angaszin war dies die entscheidende Stunde seiner ganzen Mission. Die eigentliche Übernahme des ihm zugewiesenen Dorfes.
Das Überqueren der Berge und das Bewegen im noch feindlichen Akitania war auch schon nicht ohne Gefahrenstellen gewesen– aber jetzt ging es ums Ganze. Vom Sattel seines Gryphen aus versuchte er, alles im Auge zu behalten, und er wusste, dass sein Unteroffizier Santag Freconvil, auf den er sich voll und ganz verlassen konnte, desgleichen tat.
Wie näherten sich die Hagetmauer? Waren sie eher wütend oder arglos? Entschlossen oder neugierig? Rotteten sich welche im Hintergrund zusammen? Was taugte ihre Bewaffnung? Nahmen sie Schilde oder Behelfsschilde wie zum Beispiel einen Schemel zur Hand, um sich besser verteidigen zu können?
Ganz besonders wichtig: Gingen auf Dächern oder dem Tempelturm Bogenschützen oder Speerwerfer oder Steineschleuderer in Stellung?
Nichts dergleichen.
Schon von der Brücke aus hatte er den Tempelturm mit der Glocke gesehen. Und die Dächer.
Die Dorfabordnung an der Brücke hatte vollkommen harmlos gewirkt. Keine wettergegerbte Bauernwehr, im Kämpfen erfahren und aufeinander eingespielt. Sondern eine bunte Horde Zivilisten, also lauter Einzelpersonen. Eine Gruppe, die unter Druck in eigenständig Flüchtende zerfallen würde. Sogar Kinder waren dabei gewesen. Mädchen.
Auch jetzt, in der Mitte des Dorfes, sah er einhundert, zweihundert, schließlich dreihundert Dörfler sich versammeln und durcheinander wimmeln wie Hühner auf einer Freifläche, aber niemanden, der ihm ein Gefahrenpotenzial darzustellen schien. Einer der Männer hatte ein nicht unbeachtliches, gesägtes Schwert in der Hand, aber es war offensichtlich ein Erbstück, der Mann hatte keine Ahnung, wie man es auch nur richtig in die Hand nahm.
Eindrücklich gewarnt worden waren sie vor den magisch begabten Semanen. Und vor den Byrghern und Byrgherinnen mit ihren apfelroten Schädelmarkierungen, weil diese oftmals ebenfalls magische Fähigkeiten besaßen oder sogar richtige Semanen waren.
Abelion. Der uralte Gott der Äpfel. Seine trutzigen Tempel, hier sogar mit einem Turm.
Magie.
In früheren Kriegen hatten die Akitanier Semanen aufgeboten, die mit einem Ruck ihrer Hände ganze Reitereien zu Fall bringen konnten.
Diese beiden hier aber sahen harmlos genug aus. Die Byrgherin war schon so alt, dass sie kaum noch schnell gehen konnte. Und der wildledergekleidete Dorfsemane neben ihr, mit den langen, schütteren grauen Haaren, den Pulverbeutelchen um den Hals und am Gurt und den dicken Augengläsern wirkte trotz seiner blühenden Gesichtsfarbe kaum weniger hinfällig.
Dennoch sah Capitar Angaszin in ihm die größte Widrigkeit Hagetmaus. In seinen Pulvern mochte etwas sein, das blenden konnte, betäuben oder sogar lähmen. Schon kurz hinter der Brücke hatte er deshalb seinem Unteroffizier Freconvil die Anordnung gegeben, den Semanen unablässig im Auge zu behalten und ihn im Ernstfall mit einem Schlag sofort niederzustrecken. Der Semane war nur ein einzelner Mann, ein verhältnismäßig betagter noch dazu. Ihn zu überwältigen würde höchstwahrscheinlich jeglichen darüber hinausreichenden Aufruhr zum Erliegen bringen.
Capitar Angaszin musste beinahe ein Lächeln unterdrücken.
Er fragte sich, ob die anderen Capitars in den anderen Dörfern ebenso leichtes Spiel gehabt hatten. Oder ob einige seiner ärgsten Konkurrenten um eine Beförderung auf Widrigkeiten gestoßen waren, mit denen sie dann nur ungeschickt umzugehen wussten. Was sie im Rennen um die wirklich begehrten Posten – Posten, auf denen man sich nicht mehr wochenlang mit dreißig schwitzenden und murrenden Befehlsempfängern durch unwirtliche Einöden quälen musste– empfindlich zurückwerfen würde.
Hagetmau jedenfalls befand sich schon jetzt vollständig in seiner Hand.
Das Dorf war nur zu verschlafen, zu einfältig und zu arglos, um das bereits begriffen zu haben.
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