Hiobs Spiel 2 - Traumtänzer - Tobias O. Meißner - E-Book

Hiobs Spiel 2 - Traumtänzer E-Book

Tobias O. Meißner

0,0

Beschreibung

Das Spiel geht weiter ... Wieder wird Hiob Montag um das Schicksal der Welt spielen, Aufgabe um Aufgabe lösen, um sie zu retten. Und immer verzweifelter, ihm selbst ekliger und den hässlichen Methoden seiner vor nichts zurückschreckenden Gegner immer ähnlicher werden seine Mittel, um zu gewinnen. Immer mehr wird er das Gesicht des Feindes annehmen, in der Absicht, das Böse auszulöschen. Tobias O. Meißner wirbelt Genres, Stilformen und Jargons durcheinander und schafft etwas, für das es in der Literatur sonst keine Entsprechung gibt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 668

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Impressum

Die Erstausgabe erschien 2006 im Eichborn Verlag, Berlin.

Die vorliegende Neuausgabe wurde in enger Zusammenarbeit mit dem Autor durchgesehen.

© 2013 by Tobias O. Meißner

Mit freundlicher Genehmigung des Autors

© dieser Ausgabe 2013 by Golkonda Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Hannes Riffel

Korrektorat: Catherine Beck

Technische Unterstützung: Robert Schröder

Gestaltung: s.BENeš [www.benswerk.de]

Foto letzte Seite: Benson Kua from Toronto, Canada

(http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Deserted.jpg)

E-Book-Erstellung: Hardy Kettlitz

Golkonda Verlag

Charlottenstraße 36 | 12683 Berlin

[email protected] | www.golkonda-verlag.de

ISBN: 978-3-942396-55-4 (Druckausgabe)

ISBN: 978-3-942396-59-2 (E-Book)

Inhalt

Titel

Impressum

Prognosticon 5: Muss noch runter

Prognosticon 6: Aussetzer

Prognosticon 7: Veidts Tanz

Prognosticon 8: Am Ende mit Weisheit

Prognosticon 9: Ruprechtsnacht

Prognosticon 10: Battle Arena Tokyo

Prognosticon 11: Abreibung

Prognosticon 12: D-E(f)fekt

Prognosticon 13: Muttermund

Eröffnung

Phantastik im Golkonda Verlag

Berolina, die Göttin der Dämmerung.

Die Bürgersteige sind mit Kot gepflastert. Gäbe es nicht Lebewesen in den heraufbeschworenen Slums, die sich von diesem Schmutz ernähren, man könnte ohne Stelzen gar nicht gehen.

Einer geht auf Stelzen, schwankt im stärker gewordenen Wind.

Es ist ein Karneval der Kulturen.

Halbnackte Brasilianerinnen tanzen schlotternd im Graupelregen. Das Getrommel übertönt noch das Geschnarre aus Lautsprechern. An diesem einen Tag trinkt der Berliner Caipirinha statt Futschi, um sich exotischer zu fühlen. In selbstgehäkelten Kostümen hüpfen Arbeitskreise verbissen zur Lebensfreude entschlossener Mittvierzigerinnen vorüber.

Das Mädchen steht unter einer Ampel, alle Lichter außer Kraft gesetzt. Sie wendet sich uns langsam zu.

»Sieben zu null steht es in Hiob Montags ungeheuerlichem Spiel. Sieben Punkte erst hat er errungen für all die Überrestgeschöpfe, Elektrokutierten, Kriegsversehrten, Blutdürstenden und auch Selbstmörderinnen, deren Schicksale unter seiner mitleidlosen Hand zur Neige gingen. Achtundsiebzig Punkte benötigt er, um das Spiel zu gewinnen und sich zum strahlend neuen König des Wiedenfließes ausrufen zu lassen. Siebzehn Punkte sind der bisherige Weltrekord, gehalten von einem in allen Historien vergessenen chinesischen Bauernmädchen. Neun neue Fälle umfasst dies zweite Buch. Der Weltrekord ist also in Reichweite. Ein Punkt bringt ein Prognosticon, drei Punkte eine Manifestation. Aber wird Hiob immer zu null spielen können? Ist es nicht auch denkbar, dass das Wiedenfließ Punkte macht und den Abstand verringert, näher kommt wie ein heranrasender Güterzug, um mit jedem einzelnen von Hiobs Punkten die Menschheit zu strafen für ihre niemals überwundene Unduldsamkeit? Ist es nicht auch denkbar, dass der jugendliche Hiob Montag keinen Gedanken an dergleichen verschwendet, berauscht vom Zu-Null-Erfolg des bisherigen ersten Buches?«

Sie streicht sich die langen Haare aus dem Gesicht und sieht sich um.

»Er ist hier irgendwo, der Spieler. Streicht herum an den Rändern der Vergnüglichkeit, verborgen in den Drogenhändlergestrüppen des Volksparks Hasenheide. Er ist immer dort, wo Menschen guter Dinge sind. Er ist der Moment, wo das Gute aufhört, zum Lächeln zu bringen, und in Besorgtheit und Beklemmung übergeht.

Ach, Hiob.

Schon bald wirst du ein Bild von mir sehen, in einem deiner Träume, schon bald. Doch wirst du dich an mich erinnern, wenn auch dieses Buch zur Neige geht?«

Kinder rempeln gegen das Mädchen.

Sie löst sich zögernd von der toten Ampel, geht ein und lässt sich treiben in den grauen alltäglichen Umzug der müllübersäten Trottoirs.

Prognosticon 5: Muss noch runter

Dornige Wildnis umgürtet die Stadt.

Von blutenden Stufen jagt der Mond

die erschrockenen Frauen.

Wilde Wölfe brachen durchs Tor.

(Georg Trakl)

Zwischen den ausgebombten Ruinen brannten wild lodernde Feuer. Davon abgesehen war es Nacht.

Arvec kehrte zurück aus dem Niemandsland und zog an einem ausgefransten Seil einen Käfig ohne Rollen hinter sich her. In dem Käfig war ein Hund, ein ziemlich großer mit dichtem schwarzen Fell, der sich in dem engen Metallkasten kaum bewegen konnte.

Janko warf Arvec eine Bierdose zu, der fing sie grinsend mit der Linken, entschnappte sie einhändig wie eine Handgranate und bog sich beim Saufen weit nach hinten zurück. Joran und Zivorad konnten den Gestank von Arvecs schwerem Khakimantel riechen.

»Wie sieht’s aus da hinten?«, fragte Joran, um den Gestank zu übertönen.

Arvec rülpste brüllend. »Schön. Es ist schön da draußen. Das Paradies. Hier, ich hab euch was mitgebracht, Jungs. Ich will euch was zeigen. Hilf mir mal, Janko, fass mit an. Aber komm nicht auf die Idee, den Käfig anzufassen, hörst du? Sonst hast du keine Hände mehr.« Janko half Arvec missmutig, den Käfig mit dem knurrenden Rüden über ein paar überlappende Trümmer zu schleifen. Es war eine beschissene, unnötige Arbeit. Janko schürfte sich einen Handballen auf und fluchte. Arvec lachte.

»Wo hast du den her? Wo hast du den aufgetrieben?«, fragte Joran, dem jetzt so mulmig wurde, dass er tatsächlich aufstand und vor Arvec und dem Käfig zurückwich.

»Den haben sie zurückgelassen«, grinste Arvec. »Ist zu groß, das Vieh, zum Mitnehmen. Frisst mindestens zwei Kilo Fleisch am Tag, wer kann sich so was schon leisten. Gib mir mal dein Scheiß-Gewehr rüber, Zivorad.«

»Seh ich behindert aus?«

»Ja, natürlich siehst du behindert aus. Hast du dich noch nie im Spiegel gesehen?« Arvec lachte in die Runde, und Janko und Joran fielen mit ein. »Aber davon abgesehen gibst du mir jetzt dein Scheiß-Gewehr.«

»Warum denn? Warum denn ich?«

»Einfach darum. Her damit.«

»Was willsten damit machen?«, fragte Joran von weiter hinten her. »Ist doch Blödsinn, gute Kugeln für so ’nen Köter zu verschwenden.«

»Hab ich denn gesagt, dass ich damit schießen will?«, entgegnete Arvec, machte einen schnellen Schritt auf Zivorad zu und riss an seinem Gewehr. Zivorad war nicht schwächlich, er hielt fest und greinte und ließ sich von Arvec mehrere Meter über den splittrigen Boden ziehen. Erst dann ließ er los. Arvec tat so, als würde er ihn erst treten, dann mit dem Gewehr erschießen. Janko lachte jetzt aus vollem Hals, bis seine Augen gar nicht mehr zu sehen waren. Dazwischen saugte er an seinem wunden Handballen.

»Achtung Jungs, jetzt kriegt ihr was zu sehen«, machte Arvec und stellte sich breitbeinig hin wie ein Zirkusdirektor. »Joran, du Feigratte, komm ran, sonst verpasst du wieder das Beste.« Joran wollte nicht, ihm stand nackte Angst im Gesicht, aber den Befehlen Arvecs konnte er sich nicht widersetzen. Mit zögernden, schlurfenden Schritten kam er näher, und als er im Flackerschein der Flammen stand, trat Arvec mit seinen aufgerauten Stiefeln mehrmals hart und präzise gegen den Käfig und benutzte das Gewehr als Hebel, bis der Käfig mitsamt dem Hund in einem der Feuer lag. Die Flammen griffen sofort mit vielfingrigen Händen in das ergiebige Hundefell und wühlten sich sengend hindurch. Der Rüde fing an zu toben und zu zittern und veranstaltete einen Höllenradau. Da der Käfig so klein war, bogen und dröhnten sich die Metallstreben nach draußen. Vorne am Maul nahm der Hund sogar ein paar von ihnen zwischen die Zähne und riss und biss daran herum, bis mit jedem seiner schnaufenden, japsenden Atemzüge Blut durch die Brandmulde sprühte.

»Seht euch das an«, sagte Arvec fast andächtig. »Ist das nicht wunderbar?«

Janko war so nah wie möglich an den hüpfenden und rasselnden Käfig rangegangen und schaute vornübergebeugt hinein. »Gibt nicht auf, der Kläffer. Toller Bursche. Enorme Kraft. Hätte ’nen klasse Kampfhund abgegeben, Arvec.«

»Bist du sicher, dass der Käfig halten wird, Arvec?«, fragte Joran zitternd.

»Alles allererste Qualität. Da, guckt mal, könnt ihr das sehen? Jetzt fängt das Fell richtig an zu brennen. Achtet auf die Augen, ich sag euch, die schmelzen weg wie Ölfarben, das sieht irre aus.«

»Du hast recht«, meinte Zivorad fasziniert. »Junge, hat der ’ne Kraft.«

Der Hund schnellte seinen gemarterten, unrettbaren Leib jetzt auf und nieder, presste, wo es nur ging, blutendes Fleisch durch den Käfigrost, um den heißen Teufeln zu entgehen. Er bellte oder jaulte nicht, nur hechelnde, pfeifende Atemzüge und ein tiefes grimmiges Grollen, das nicht aus der Kehle, sondern aus der Tiefe der Eingeweide zu kommen schien. Sein Körper, obwohl fettnass vor Schweiß, stand jetzt in hellenden, beißend rauchenden Flammen, die sich immer tiefer Nahrung suchten. Das schwarze Fell versengte und verklumpte zu stinkenden Fetzen und fiel brockig ab.

»Achtet auf dieses Grollen, Jungs. Hört euch das genau an: So hört sich Hass an. Das ist der Klang von Hass!«

»Erschieß ihn doch«, flehte Joran. »Bitte erschieß ihn. Das ist ja schlimm.«

»Hast selbst mal ’nen Hund gehabt, stimmt’s, Joran, mein Junge?«

»Jja, ja«, schluchzte Joran. Er hasste sich für seine Mädchentränen.

»Weiß ich doch«, grinste Arvec. »Atme tief ein, hörst du?« Er legte Joran einem Arm um den Hals und zog sein flennend verzerrtes Gesicht ganz nah an seins. »Kannst du das riechen, in dem Rauch, mein Junge? Der Gestank des Schmerzes, die ganzen Ausdünstungen der Todespein. Mein Mantel riecht auch danach, hier komm, riech, das hier ist von Weibern, und das hier ist für dich, jah, lass dich gehen, mein Junge, komm nur her, ja, so ist gut. Und weißt du, wisst ihr denn alle überhaupt, was das Beste dran ist? Das Beste? Ihr habt ja keine Ahnung!«

»Bitte hör auf«, winselte Joran. Der Hund rasselte Rauch aus den Lungen, am Bauch riss seine grindiggebrannte Haut auf und immer weiter.

»Mann, stinkt das, pfui Deibel«, rief jetzt auch Zivorad angewidert und wedelte mit der Hand vor seiner Nase herum. In seiner Stimme lag der typische würgende Ton von jemandem, der gleich kotzen muss.

»Der stirbt und stirbt nicht!«, jubelte Janko anerkennend. »Hat die Kraft von zehn, der alte Kläffer. Und wird immer noch stärker!«

»Jaaaaahhaaaaahh!«, machte Arvec und wirbelte den hilflosen Joran herum in einem ungleichgewichtigen Pas-de-deux. Joran rutschte aus und schlitterte auf allen vieren neben die Feuerstelle. »Und das Beste dran«, schrie Arvec heiser, »das Beste dran ist, wenn ich das Vieh jetzt aus dem Käfig lasse!« Mit zwei Schritten stand er mitten in den Flammen, und während der untere Saum seines Mantels Feuer fing, hieb er mit dem Kolben von Zivos Gewehr ein paar Zapfen aus ihren Verankerungen und schoss mit zwei Kugeln eine Stacheldrahtumwicklung mürbe. Der brennende Hund, riesig und rasend, barst sofort aus dem Käfig, war blind über und in Joran und weiter am nächsten, bevor Zivorad und Janko auch nur – viel zu spät – die Arme vor die Gesichter reißen konnten.

Arvec brannte bis hoch zu den erhobenen Armen und lachte mit diesem tiefen Grollen, das nicht aus der Kehle, sondern aus der Tiefe der Eingeweide zu kommen schien.

Die Nacht begann mit einem Vorspiel.

Hiob war gerade mit dem ihm eigenen Missmut in einem selbst zusammengestellten Workout begriffen (Widder hatte ihm neulich mal ganz beiläufig gesagt, dass sie es eigentlich nicht so sexy fand, wenn sie während gemeinsamer körperlicher Betätigungen seine Rippen zählen konnte), als er an seiner Wohnungstür ein Rascheln und Kratzen hörte.

Ohnehin schlapp schon vom zweiten Dutzend hochgestellter Liegestütze, rollte Hiob über den billigen Teppichboden ab und wetzte zur Tür, aber außer einem quadratischen weißen Umschlag in Notizblockgröße war da nichts mehr. Der Umschlag roch an den Klebenähten ein wenig nach Essig, das war typisches Wiedenfließaroma. Wahrscheinlich hatte ihn irgendein haariger kleiner Homunculus geliefert, der jetzt irgendwo im Treppenschatten kauerte und hinter vorgehaltener Hand über den Klingelstreich kicherte.

Hiob schloss die Tür wieder, fetzte den Umschlag auf, entnahm das Kärtchen, las »Genieße diese Nacht / A.«, hob die runtergefallene Eintrittskarte für eine erstklassige Travestieshow auf, schüttelte den Kopf, verglich stirnrunzelnd seinen X-Men-Wecker mit der auf der Karte angegebenen Anfangszeit, ging ins winzige Badezimmer, wusch sich, holte sich das zerknitterte schwarze Second-Hand-Jackett aus dem Schrank, welches er bei feierlicheren Anlässen immer zu tragen pflegte, zog es an, gefiel sich im Spiegel und machte sich auf den Weg zum Veranstaltungsort, mustergültig den Tatbestand der Beförderungserschleichung erfüllend.

Er hasste Travestieshows.

Hiob war aufgeschlossen – oder am menschlichen Elend desinteressiert – genug, um nichts gegen Homosexuelle zu haben, aber warum Männer sich wie Frauen anzogen und mit scheußlichen Stimmen glücklicherweise früh verstorbene Showdiven imitierten, und warum irgendjemand auf diesem Planeten auch noch dafür bezahlte, dabei zuschauen zu dürfen, war ihm schon immer schleierhaft gewesen. Zu allem Überfluss tauchte auch noch Widder nicht auf, sodass es wohl geplant war, dass er alleine hineingehen musste. Innerlich auf das Prognosticon der ganzkörperbehaarten Wer-Marianne-Rosenberg vorbereitet, durchsaß er anderthalb Stunden lang an einem schummrig beleuchteten Tisch – und von den aufmunternden Blicken langwimpriger Galane befummelt – eine zotige Hölle aus ausladenden Kleidern, schwingenden Hüften, eindimensionalen Witzen, fluffigen Tü-Tüs, peinlichen Anzüglichkeiten, marodem Pianogeklimper und einem knarrenden Chansongesang, der so niederschmetternd war, dass er sich einmal sogar beide Handflächen auf die Ohren presste und das Gesicht verzerrte, als würde er in einer Zentrifuge sitzen.

Die Leute ringsumher – das Haus war ausverkauft – amüsierten sich königlich. Es waren fast nur Heteros, Pärchen zumeist, bei denen die Weibchen mit vornehmer Anerzogenheit lachten, ohne die gelben Zähne dabei zu entblößen, während die Männchen in ihren Rollkragenpullovern sich die glänzende Stirn mit violetten Servietten abtupften. Champagner prickelte in den Gläsern, Federboas wischten durch Hiobs Gesicht, mit Rinderhormonen aufgepumpte Busen glänzten hochgezurrt im Halblicht, Lippengloss schimmerte feucht über ausgeprägten Adamsäpfeln, das unvermeidliche I am what I am mündete in einen tosend trommelnden Applaus.

Als es vorbei war und Hiob an die erfrischend herbstlich durchnieselte Abendluft zurückwankte, war er der Meinung, sich seinen Spielpunkt ehrlich verdient zu haben.

Ein Stück weit mitgetragen von der heiter beschwingten Menge, wies er grob die unverfängliche Uhrzeitfrage eines dunkeläugigen Tim-Fischer-Verschnitts zurück und trottete allein Richtung Untergrundbahn, trottete durch den Glam Slum der nordschöneberger Lebensart und wurde mit jedem Schritt missmutiger und wütender.

Was sollte dieser ganze Scheißabend? Warum war Widder nicht aufgekreuzt? Warum hatte er sich in dieses lächerliche Bohèmien-Jackett gezwängt (das er jetzt nur deshalb nicht einfach über eine Hecke schmiss, weil es ein Geschenk seines Mäzens Feininger war)? Und warum zum Jakob waren Transvestiten nur immer so einfallslos und bieder, so auf Konformität bedacht, so schleimig und beifallheischend? Warum imitierten sie nicht mal seine Louise oder Clara Bow oder Pola Negri oder Ella Raines oder andere wirklich coole und interessante Frauen? Nein, sie scharwenzelten immer nur als Marlene herum oder als Marilyn oder Madonna und gaben dem ganzen eigentlich vielschichtigen Frau-Sein damit einen schalen und oberflächlichen Namen. Die traurige Zurschaustellung der Phantasielosigkeit von Imponiergehabe-Möchtegerns. Ein Dressurzirkus aufgedonnerter Abnormitäten im Dienste des bourgeoisen Amüsements. Zum Kotzen.

Zufälligerweise (oder auch nicht) kam es gerade in dem Moment, als Hiobs Groll und Frustration den Zenit ihres makellosen Steigfluges erreicht hatten, zu einer unterdimensionalen Vibration. Eine Art Ruck lief durch das zweiflügelige Weltgebäude, klein genug, um die anderen Passanten der Nacht, die Hiob auf den Gehsteigen schlendernd Gesellschaft leisteten, völlig unbehelligt zu lassen, ausreichend aber, um einem einen halben Globus entfernt dösenden namenlosen Schamanen vom Stamm der Sacree für immer jeglichen Tastsinn zu rauben und Hiob selbst straucheln zu lassen, und zwar so weit, dass seine rechte Hand sozusagen über den Bürgersteig hinausglitt und erst auf dem feuchtkalten Grund des Straßenbelags wieder Halt fand. Hiob schüttelte den Kopf, als hätte man ihm einen Handkantenschlag in den Nacken versetzt, und rappelte sich ächzend wieder auf. Niemand sonst hatte etwas bemerkt, hatte seine Laufrichtung geändert oder auch nur zu dem wohl betrunkenen Hiob herübergeblickt.

Der jedoch wusste, dass er seinen Sinnen trauen konnte. Etwas hatte gerade begonnen, diskret, aber unmissverständlich.

(In Buckow biss etwas die Hand, die fütterte, und zwar so fest, dass Fingerglieder rissen. In Tegel sprang spuckend der große zottige Schatten auf sein Frauchen und machte ihr ein unangenehmes Kind. Durch die Zwinger des Tierheims Lankwitz rollten Wogen des lärmendsten Irrwitzes. Ein schwarzer Pudel presste sich in rohen Klumpen durch die rautenförmigen Maschen. Ein Tierpfleger setzte sich lächelnd eine Einschläferspritze in die Zunge und drückte ab. Durch den fast völlig lichtlosen Humboldthain hetzte geifernd eine größer werdende Meute.)

Hochschauend zum wie ausgelaufen platten und eingedellten Mond spürte Hiob ein lykanthrophisches Jucken ringsum in Gürtelhöhe, aber es war nicht das, nicht er selbst.

Von irgendwo weit die Straße runter, dort, wo die Laternen von links und rechts schon eins wurden, erklang das schrille Heulen eines mondsüchtigen Köters, das langsam tiefer und kehliger wurde, als würde es akustisch verlangsamt oder sonst wie manipuliert.

Berlin war für jemanden, den Hunde hassten, ohnehin schon immer ein heißes Pflaster gewesen. Im Allgemeinen besaßen die vierbeinigen Kunstscheißer nicht die Zielgerichtetheit und die intelligente Ausdauer, um wirklich massiert und wirkungsvoll gegen Hiob vorzugehen. Aber jetzt beeilte er sich doch mehr, als es sein Selbstbewusstsein eigentlich zulassen wollte, die U-Bahn-Station zu erreichen, und als sich zu dem einen mittlerweile tief und großtönend röhrenden Geheul noch drei oder vier weitere gesellten, war er heilfroh, die Abwärtstreppe erreicht zu haben und gleich darauf mit einem kurzen Sprint den schon abfahrbereiten gelben Zug zu erwischen.

Die sogenannte Untergrundbahn fuhr auf oberirdischen Gusseisenbrücken Schlangenlinien durch Dogshit City.

Hinunterblickend auf die kühle Stadt mit ihren vielfarbigen Laternen, den leuchtenden Kreuzworträtselmustern der Hochhausfassaden, den sanft regenbesprühten Asphaltnarben und dem schimmernd unbewegten Wasser eines brackigen Kanals vermeinte Hiob das Hecheln und Grollen der fellbewehrten Meuten hören zu können, die sich dort unten zusammenrotteten und als flinke, von Zwielichtern gevierteilte Schemen durch die harten Gassen hetzten. Aber das konnte ja wohl kaum sein. Das konnte unmöglich so groß sein wie eine Manifestation. Es war ein Prognosticon, allerhöchstens, Hitchcocks Die Vögel in einer kleiner budgetierten Neufassung als Die Köter, keine wirklich stadtbedrohende Gefährlichkeit, geschweige denn das infernalische Gewimmel einer standesgemäßen Inundation.

Das grau uniformierte Pärchen eines privaten Sicherheitsdienstes stieg in den Waggon ein; sie führten eine Art Rottweiler samt Maulkorb mit sich, wie meistens. Wenn sie die Fahrausweise kontrollieren wollten, müsste Hiob halt wieder auf den zweitältesten Trick der Welt zurückgreifen, aber das hatten sie offensichtlich nicht mal vor, also konnte Hiob ganz unauffällig bleiben. Der Hund jedoch zerrte an der Leine und knurrte und schäumte sogar durch sein Maulgitter hindurch in Hiobs Richtung. Als der männliche Uniformierte gegenhielt und den Vierbeiner zurechtwies, begann der, fiepend im Kreis zu tapsen und den Uniformierten gegen die Uniformbeine zu pissen. Heiterkeit im gesamten Waggon, nur eine alte Frau empörte sich. Hiob stieg aus, wartete in einem der Hochbahnhöfe lieber auf den nächsten Zug. Das enervierend piepsige Gebelle eines kleinen Pinschers hallte hier von irgendwoher durch die hundehüttenartige Bahnhofskonstruktion. Ein Notarztwagen, blassweiß in der Nacht, kojakte unten vorüber. Der nächste Zug kam erst nach viel zu langen zehn Minuten – auf Mitternacht zugehend erschlaffte der Bahnverkehr dieser sogenannten Hauptstadt immer bis zur völligen Stasis –, und Hiob stieg wieder ein. Keine Hunde diesmal, überzeugte ihn ein flüchtiger Blick durch den Waggon. Dafür lag ein Penner mit blutender Kopfwunde auf der dunkelgrün zerfransten und mit unleserlichen Tags übersäten Sitzbank. Eine kleine Bierflasche rollte bei jedem Stop in der Wagenlänge hin und her. Als Hiob die Tür des Bahnhofs aufzog, an dem er aussteigen musste, heulte von weither ein Wolf. Oder ein Schäferhund, sich seiner Ahnen besinnend.

Hiob stieg um in die deutlich besser beleuchtete und auch wirklich unterirdische Linie 6. Der große Bahnhofsraum hallte wieder vom wütenden Keifen zweier halbgroßer Hunde, die von ihren halbstarken Besitzern nur halbherzig zurückgehalten wurden. Es waren überhaupt viel zu viele Hunde zu dieser späten Stunde noch unterwegs. So, als wären sie alle zusammen unruhig geworden und hätten ihre Besitzer dazu gezwungen, noch mal mit ihnen runter zu gehen. Es war nicht Vollmond draußen. Es war nicht Frühling. Es lag kein Gewitter in der Luft und auch kein Erdbeben.

Die Fahrt die paar Stationen in der 6 war ruhig und bieder, erfüllt nur vom Rattern des Zuges und dem Rascheln derer, die schon die Zeitungen von morgen lasen. Einem inneren Instinkt folgend, nicht dort auszusteigen, wo man ihn vielleicht erwarten konnte, fuhr Hiob über die Paradestraße drüber bis nach Tempelhof und lugte dort erst vorsichtig in die kühle Nachtluft, bevor er die gekachelte Unterwelt zugunsten des offenen Geländes aufgab. Auf dem Boulevard des Roten Barons konnte er in zwei- bis dreihundert Metern Entfernung die Silhouetten dreier Dobermänner sehen, die wohl in seine Richtungen schauten. Da wusste er, dass der Kampf eröffnet war und seine Wohnung viel zu weit weg, fast so weit wie das letztendliche Gewinnen seines Spiels.

Keine Chance, ein Auto anzuhalten, um sich bis zu seiner Haustür chauffieren zu lassen. Nur ein Lebensmüder ließ einen jungen Mann mit langen Haaren zu sich ins Auto steigen, und die Lebensmüden waren heute Nacht alle von unseren vierbeinigen Freunden aus ihrer Lethargie geweckt worden.

(In Spandau zwängte sich ein glatter Dackel zwischen sein Herrchen und sein Frauchen, die gerade Liebe machten, und biss sich dort fest. Ebenfalls in Spandau trottete eine riesige dänische Dogge mit schlackernden Lefzen und Bauch durch das Kinderzimmer, stellte sich mit den Vorderpfoten auf die Babykrippe, bis das Käfiggestell umkippte und das eingewickelte Baby benommen und stumm über den Boden rollte, fasste nach und lief mit treuem Blick und einem seitlich aus dem Maul heraushängenden Kinderärmchen zur telefonierenden Mutter zurück. In Schmargendorf fraß ein Labrador den scharfkantigen Deckel einer Hundefutterdose gleich mit. In Lichtenberg und dem angrenzenden Hohenschönhausen zog ein Irish Setter auf der verzweifelten Suche nach erlegtem Wild seine unsteten Bahnen.)

Hiob schritt schnell aus, mit der Zackigkeit des Böses-Ahnenden, aber dennoch holte das Übel ihn ein, denn es hatte doppelt so viele Beine wie er. Es war ein prototypisch breitschädeliger Pitbull, der da vorne ungelenk und kraftvoll um eine Ecke geschliddert und wie der fleischgewordene Albtraum jedes Hämophilen mit schlabbernder Zunge auf Hiob zugewetzt kam.

Eines hatte Hiob im Laufe der Jahre über Hunde gelernt: Sie waren durch menschliche Verzüchtung so weit entfernt von dem, was sie ursprünglich einmal gewesen waren, dass es nichts mehr half, sich in einer Unterwerfungsgeste auf den Bauch zu legen, zu winseln oder sonst was. Das würde den Pitbull von gar nichts abhalten. Er würde einfach denken: »Au prima, Hals und Weichteile sind ja nach oben gekehrt, da kann ich mir die ganze umständliche Vorarbeit sparen und gleich voll in den Mann gehen«, und losfleischern. Also nahm Hiob seinen ganzen Mumm zusammen und rannte auf den anstürmenden Hund zu, dabei mit der vorgestreckten Linken ein arkanisches Abwehrsymbol zeichnend, was aber Unfug war, da ein Pitbull weder etwas besaß, das die Bezeichnung Großhirn lohnte, noch über den kampfhinderlichen Luxus einer wie auch immer gearteten Spiritualität verfügte.

Hiobs Körper war schwerer als der des Hundes, aber der Pit war kompakter, massiger, wie eine Kanonenkugel. Außerdem neigte ein Menschenkörper wegen seiner schlecht ausbalancierten Länge eher zum Brechen. Der Aufprall war dementsprechend mörderisch, und bei dem, was der Pit anschließend mit seinen Kiefern vor Hiobs Gesicht veranstaltete, fühlte sich Hiob unwillkürlich an einen Hai oder den angeketteten Spike aus den guten alten Warner-Brothers-Cartoons erinnert. Während also sein Körper rücklings über den Straßenbelag schleuderte und von einem ganzen Silvesterfeuerwerk verschiedenster Schmerzmeldungen kaputtdefiniert wurde, schaffte es Hiob mit beiden Händen, die Kehle des fuhrwerkenden Monsters einigermaßen zurückzuhalten. Es war eine Frage der Wut, von Tier gegen Tier, und da der Hund mehr Tier war als Hiob, musste Hiob verlieren. Also vergaß er sein Menschsein und bäumte sich auf. Das hier war NuNdUuNs gottverdammte Welt, hier schwang NuNdUuN sein beschissenes Zepter. Das Spiel nach seinen Regeln. Der Hund mit dem stinkenden Atem des Fließes. Brüllend brachte Hiob die kratzende und beißende Töle auf den Rücken, unterlief mit dem eigenen Kopf die scharfkantige Deckung des Unterkiefers und biss mit den eigenen zurückentwickelten Fängen durch widerliches Nacktfell und bitteres Fleisch, bis Sehnen rissen und Blut so stark spritzte, dass der Strahl regelrecht schmerzhaft war. Der zweite Hund war ein kurzhaariger Schäferhund-Collie-Bastard; er sprang Hiob ins Genick, als dieser taumelig hochkam, und riss ihn auf dem blutschlüpfrigen Asphalt seitlich mit weg.

Unglaubliche Fänge gruben sich wie industrielle Hochleistungszahnbacken seitlich in Hiobs Nacken, und er kratzte und stach gurgelnd mit beiden Händen hinter sich über knochiges Fell, bis er mit einem Zeigefinger in einer zäh freiplatzenden Augenhöhle festhakte und sich von dort in ein Hundehirn vorbohren konnte. Hiob gelangte auf die Beine, während der Mischling noch immer fiepte und biss, weil er nichts anderes mehr tun konnte. Einer von diesen hässlichen kastenschnauzigen Airedale-Terriern kam von vorne angesprintet, und Hiob tat das, was er eigentlich schon immer mal mit einem Hund hatte machen wollen: Er gab dem fliegenden Vierbeiner einen solchen Fußkick in Gegenrichtung, dass Rippen wie Zündholzer brachen. Der Airedale flog meterweit durch die Luft, und Hiob verstärkte sogar noch seine eigene Fallwucht, um knirschend auf dem immer noch an seinem Rücken hängenden Mischling zu landen. Dessen Kiefer gaben nun endlich Hiobs Hals frei, und Hiob zog auch seinen Finger aus dem klebrigen Hirn. Der Schäferhund-Collie-Nachkomme lebte noch und jaunerte fast wie ein kleines Kätzchen, doch für so was hatte Hiob keine Zeit. Er spuckte fremdartige Halssehnen aus und schaute grimmig die Straße runter. Es waren sechs oder sieben, angeführt von einem kolossalen Neufundländer, der vielleicht sogar schwerer war als Hiob selbst. Diese sechs oder sieben waren der einhundertundeinprozentige Tod.

Hiob änderte realistisch die Taktik und rannte mit weit ausgestellten Schritten vor der Meute weg, dem Sprühregen entgegen, der jetzt durch die Straßenschluchten hinwehte und den Teer schlüpfrig machte und trügerisch. Die verdammte Häuserfront war viel zu lang, viel zu weit, nicht einmal bis zur nächsten Kreuzung würde er lebend kommen, dahinten kamen schon die sieben heran, der schwarze Neufundländer mit unglaublichen Sätzen vorneweg. Japsend, die eine Hand in den blutenden Nacken gepresst, warf Hiob sich seitlich gegen die Klingelleiste eines sechsstöckigen Gebäudes. Irgendjemand musste doch da sein, musste aufmachen, musste einfach. Die Hunde kamen näher. In Panik hämmerte und trommelte Hiob auf sämtliche Klingeln gleichzeitig, gellte dann völlig außerhalb jeder Zurechnungsfähigkeit irgendetwas in den zögerlichen Knisterchoral, der zu wissen begehrte, wer da um Einlass störte. Die Hunde kamen näher, hatten die drei auf der Straße liegenden passiert. Jammernd warf sich Hiob immer wieder gegen die schwere Tür, die nur ganz oben riefelig verglast war. Endlich drückte irgendeine vertrauende Seele den Knopf. Die Tür schnappte auf, Hiob strauchelte hindurch, warf sich von innen dagegen und hielt die Tür zu gegen den selbstmörderischen Anderthalb-Zentner-Ansturm des Neufundländers, der die gesamte obere Türverglasung bersten ließ und wie Schrapnellgeschosse der Länge nach durch den Durchgangsflur feuerte. Ein knirschender Riss bildete sich in der Tür, und Hiob – den Kopf eingezogen, aber die Haare dennoch voller Glas – wunderte sich über seine eigene Körperkraft in Augenblicken der Not, denn die ihm das Leben gerettet habende vertrauende Seele drückte immer noch vertrauend den Löseknopf. Jetzt erst hörte sie auf, die Türarretierung hakte richtig ein, und die übrigen sechs Teufel sprangen jenseits daran hoch und kratzten und kläfften und markierten mit gelblichem Speichel. Dann kam auch der Neufundländer – weit davon entfernt, tot oder benommen zu sein – dazu, und der Riss in der Tür fing obszön an zu klaffen.

Hiob sah sich im Briefkastendurchgang um. Nicht nach oben. Nicht in eine der Wohnungen, das war eine Sackgasse und bedeutete das Gefressenwerden. Aber auch nicht hier warten, die Tür würde nicht mehr lange halten. Ein Hinterhof versprach Rettung. Wenn er mit weiteren Hinterhöfen verbunden war, konnte Hiob an anderer Stelle wieder im Straßenlabyrinth auftauchen, ohne dass die Meute seine Spur direkt verfolgen konnte. Er rannte los, durch die hintere Durchgangstür auf einen Hof, heftiger gewordener Regen klatschte auf ihn herab. Ihm fiel diese alte Rain-Dogs-Legende ein, somit hoffte er, dass der Regen gut für ihn war, dass er die Hunde verwirren würde. Links war eine ruppige Ziegelmauer. Hiob sprang auf eine Gelbe Tonne und von dort auf die Mauer. Dahinter standen keine Mülltonnen in unmittelbarer Nähe, also biss er in den sauren Apfel und sprang, mit einer Hand aufgestützt. Es gelang, ohne dass seine Fußknöchel aus den Fugen sprangen. Süßer Vogel Jugend, ein wirkungsvolleres Workout als das zu Hause.

Er war jetzt in einem anderen Innenhof und gönnte sich erst mal ein paar Minuten, um sein saublödes Dinnerjackett zu zerreißen, sich das Gros des Rückenstoffes um den schmerzenden und immer noch blutenden Hals zu wickeln und sich aus den Ärmeln so was wie zusammengeballte Fäustlinge zu improvisieren, die allein schon wegen der Zähigkeit des Stoffes gar nicht gut für die Zähne waren. Während er sich so wie ein antiker Gladiator bandagierte und wieder zu Atem fand, dachte er nach.

Die ganze Sache sah doch ziemlich böse aus, weitreichend, mindestens bezirksübergreifend, wahrscheinlich aber sogar wie ein fetter Alb über der ganzen Stadt liegend. Trotzdem konnte es einfach unmöglich eine Manifestation oder etwas noch Schlimmeres sein, davon hätte man ihn unterrichten müssen. Wenn es also nur ein Prognosticon war, die Ausprägungen dieses Prognosticons sich aber in Brisanz und Flächenwirkung kaum noch von einer Manifestation unterschieden, musste das, was dieses Prognosticon von einer Manifestation unterschied, in der Behebbarkeit des Problems zu finden sein. Mit anderen Worten: Im Gegensatz zu einer Manifestation musste das hier ganz einfach zu regeln sein. Aber wie? Musste er den Hunden nur einmal herrisch »Platz!« zurufen, und alles wurde gut? Ein Versuch würde nicht viel mehr kosten als wahrscheinlich sein Leben.

In zwei der den Innenhof umrankenden Wohnungen gleichzeitig fingen Köter an zu keifen. Lichter gingen an.

Hiob musste nach Hause. Er war ja sowieso nicht mehr sehr weit von seiner Wohnung entfernt. Er musste nach Hause und hoffen, dass er dort in irgendeinem Buch oder einem seiner etlichen magischen Krimskramse irgendetwas fand, das man dazu benutzen konnte, tollwütige Hunde zu heilen. Mit Anlauf klimmte und stemmte er sich über eine zweite Querhofmauer und probierte dann auf der Seite, die der, durch den er den Häuserblock betreten hatte, genau gegenüberlag, den Ausgang. Die Straße lag ruhig und still im Regen da, nicht einmal Autos fuhren um diese Zeit.

Eng an die Häuserwände seiner Straßenseite gedrückt, rannte Hiob los, orientierte sich am nächsten Straßenschild neu und schlug die Richtung seines Wohnhauses ein.

(Ein stubenreiner Rauhhaardackel pisste und schiss in einer Dahlemer Villa mehr als das Dreifache von dem, was so ein kleiner Körper eigentlich hergeben konnte. Eine Windspielhündin in Mitte wurde von ihrer eigenen Hitze so übermannt, dass sie Teile ihrer Gebärmutter als Fehlgeburt ausschied. Ein Steglitzer Foxterrier bekam einen Bellkrampf von unerträglicher Lautstärke und Heftigkeit, bis ihm Herz und Lunge gleichzeitig versagten und aus den feinkupierten Ohren gelb-wässriges Blut troff. Einem Boxerhund in Charlottenburg, dessen Hinterbeine in einem Generationen dauernden Prozess zu human-ästhetischer Schräge verzüchtet worden waren, brach einfach plötzlich die Wirbelsäule in der Mitte durch, er plumpste auf den Boden und verreckte vier Stunden lang. Zwei Köpenicker Cockerspaniel fanden sich eine verwirrte Katze und rammelten sie blutig. Einem Bobtail in Wittenau zerbröselten plötzlich die Zähne im Maul. Fast gleichzeitig verpufften in einer raschen Serie von staubigen Implosionen seine inneren Organe und Gedärme und traten als übelriechende, rotsprenkelige Fürze durch Rachen und After aus. Zurück blieb eine Art Flokati mit klappernden Knochen drin, einem Sacree-Medizinbeutel nicht unähnlich.)

Mehrmals war ihm, als würde der Schatten des riesigen Neufundländers hinter ihm quer über die Straße huschen, vielleicht unter dem lachhaften Mond, zwischen Nachtwolken jagend. Der Regenhimmel war wieder aufgerissen, verweht, vergessen. Schatten überall irritierten den armen Hiob, der fast nur noch vom Stechen seiner Lunge und dem Buckern seiner wahrscheinlich infizierten Bisswunde definiert wurde. Er fragte sich grimmig, was für Späße so eine Blutvergiftung wohl mit seinem mutierten Metabolismus treiben würde, was für eine Art von Hiob dabei entstehen würde. Die rettende Wohnung war jetzt nur noch drei Querstraßen entfernt, und Hiob sah sich so oft um, um sicherzugehen, dass keine Meute hinter ihm aufholte, dass er beinahe in die Gruppe von etwa dreißig Hunden hineingerannt wäre, die plötzlich unter einer Wolkenlichtung vor ihm auftauchten, die Straße in ihrer gesamten Breite versperrend.

Sie atmeten, knurrten, warfen die Köpfe hin und her, tappten unruhig und fixierten ihn mit fahlsilbernen Augenpaaren. Dreißig oder sogar vierzig vierbeinige Nachfahren von Wildhunden, die in ihren völlig unterschiedlichen Silhouetten, Größen, Farben und Ausprägungen mehr wie dreißig oder vierzig diversifizierte Dämonen wirkten denn wie domestizierte Spielgefährten. Sie hassten ihn, das konnte Hiob deutlich riechen, hätten ihn auch in einer normalen Nacht schon genug gehasst, denn Hunde gehörten NuNdUuN, und er war NuNdUuNs härtester Gegner – aber in dieser besonderen Nacht quoll ihnen der Hass förmlich aus den Mäulern und tropfte zischend auf den Asphalt. Da drüben, rechts, war auch der Neufundländer. Seine Augen waren noch heller als die der anderen, blendeten fast.

Hiob war stehen geblieben, versuchte erst, sich gar nicht mehr zu bewegen, nicht einmal zu atmen, den Puls anzuhalten, aber das war natürlich keine Lösung. Er ging rückwärts, gaaaaaaanz langsam, und als er den sechsten wackligen Schritt gemacht hatte, fingen die vierzig an zu bellen.

Drohgebärde. Einschüchterungsversuch. Völlig unnötig bei Hiob, dessen Haare schon seit einer halben Stunde darüber diskutierten, ob es nicht eine gute Idee wäre, eine weiße Fahne zu werden. Aber dennoch wirkungsvoll. Weil laut. Wütendes, ungebremstes Gebell, das sich zwischen achtzig Killerzahnreihen Bahn bricht. Man musste nicht die mythische Sprache der Tiere sprechen, um das »Wir zerfetzen dich gleich, und du wirst es hassen!« deutlich herauszuhören.

Rückwärts gehend versuchte Hiob, während ihm Schweiß und Wasser vom Kinn liefen, mit weit ausgebreiteten Armen irgendeine Beschwichtigungsformel, irgendeine Sonde abzuschießen in die kleinen, harten Hirne der Hundeartigen, einen Zugang zu finden, Kommunikation. Der Mensch, das überlegenste Säugetier auf diesem Planeten, und die niederen Wirbler. So etwas in der Art. Klappte aber nicht. Mit Latein buchstäblich am Ende. In der Kabbala gab’s auch nichts Passendes. Es gab ein paar Codizes zur Manipulation von Vierbeinigen beim Magicking und den verwandten Lehren der Inuit, aber das war sinnlos angesichts einer Übermacht von vierzig zu eins. Hiob wich weiter zurück, ließ beide Hände beruhigend kreisen und murmelte mit tiefer und möglichst ruhiger Stimme Gemeinplätze wie: »Braaaav! Brave liebe Hundchen! So ist’s gut, lasst den Onkel Hiob einfach in Frieden, dann segnet er euch auch.« Tatsächlich bewegten sich die Hunde auch nicht vorwärts. Einige von ihnen bellten immer noch, andere fletschten die Zähne, aber sie schienen den Rückzug des Magiers einigermaßen nachzuvollziehen und als Eingeständnis völliger Impotenz zu akzeptieren. Sie waren eine Straßensperre, sie blockierten nur, verwehrten Hiob den Weg nach vorne, den Schritt zum achten Punkt, und so, wie er sich jetzt im Augenblick fühlte, war er überzeugt davon, mit nur sieben Punkten sehr gut leben zu können. Wie hatte Widder ganz richtig gesagt? Sieben ist eine Glückszahl.

So hätte es dann also ganz gemütlich werden können, wenn nicht just in diesem Moment die Bullen aufgetaucht wären. Sie rollten von rechts hinten ins Bild, in ihrem schnieken grünweißen Volkswagenkleinbus auf Routinestreife, sahen aufmerksamerweise den zurückweichenden Mann und die anfeindende Meute, erinnerten sich geistesgegenwärtig an ähnlich lautende Funksprüche über entfesselte Vierbeiner in dieser Nacht und die damit in Zusammenhang zu bringende erhöhte Alarmbereitschaft, von der schon seit Stunden im P-Funk die Rede war, und zogen den Sicherungsbolzen aus der Handgranate, indem sie mit blechernem Türenscheppern links und rechts aus ihrer Wanne sprangen und trampelnd herumsprangen und -rannten, um die hilflose Person mit aufgeschnappten Hüftholstern in die behagliche Sicherheit des Wagens zu eskortieren.

Die Hunde setzten sich augenblicklich in Bewegung. Der Neufundländer zögerte noch, aber die anderen formierten sich zu einer Brandungswelle aus Krallen und Zähnen.

»Ihr seid ja echt die Kavallerie, Jungs«, meinte Hiob. »Ich hoffe nur, ihr habt auch ’ne Maschinenpistole oder so was im Wagen.«

»Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte der Ranghöhere der beiden, »kommen Sie einfach langsam zurück zum Wagen, wir sind hinter Ihnen.« Um die Bedeutsamkeit seiner Worte zu unterstreichen, gab er zwei Warnschüsse in die Luft ab, die Hiob fast das Herz stoppten.

Die Hunde wurden unruhig, wild, kamen näher, spürten Gier.

»Ich glaube, ich hole wirklich besser die MP raus, Hauptwachtmeister!«, salutierte der Unerfahrenere der beiden exakt und wetzte zum Wagen zurück, um dort die schwere Ausrüstung für Extremnotfälle aus der Armaturenklemme zu brechen. »Kommen Sie, laufen Sie ruhig, ich gebe Ihnen Deckung«, sagte der Hauptwachtmeister jetzt und zielte mit linker Stützhand genau auf Hiobs Rücken. »Kommen Sie rüber, Mann, das hat jetzt keinen Sinn mehr mit dem Langsamgehen.«

»Was Sie nicht sagen«, erwiderte Hiob, der jetzt plötzlich in der Gegenwart zweier noch Blöderen wieder Oberwasser bekam. Er wandte den Hunden den Rücken zu und lief zu dem neu wirkenden Polizeiwagen, während hinter ihm die nassen Zahnreihen sich aufbäumten und zum Dreisprung ansetzten. Der Unterwachtmeister kam jetzt mit einer UZI-ähnlichen Leichtschnellfeuerwaffenkonstruktion um die platte Nase des Busses herumgesprintet, blieb aber angesichts der manischen Raubtierfront so angewurzelt stehen, dass seine Mütze aufgrund der Massenträgheit nach vorne durch die Luft flog. Der HWM feuerte jetzt gezielt mit seiner jungfräulichen Dienstwaffe auf die vorderste Angriffswelle und brüllte dabei irgendwas, was wie Russisch klang, aber auch gut auf massive Verdauungsstörungen zurückzuführen sein konnte. Hiob rupfte sich rau die unpraktischen Stoffumwicklungen von den Händen, nahm dem schlackernden UWM das UZI-Teil aus den totenstarren Fingern, machte zwei Schritte nach vorne, um auf gleicher Höhe mit dem HWM zu stehen, schwenkte die Waffe vor sich her im Kreissegment und zog den Abzug durch. Es gab fast gar keinen mechanischen Widerstand, im Gegenteil: Die Maschinenpistole schien aus dem Lauf heraus einen solchen Unterdruck zu erzeugen, dass Hiobs Abzugsfinger am Griff wie angenagelt wurde. Die Nacht vor den dreien wurde erhellt wie ein amerikanischer Filmstar im Blitzlichtflimmern von Cannes. Der Klang der Waffe war viel subtiler und angenehmer als das kunstvollste chinesische Feuerwerk. Eher wie das satte Schnurren eines gut geölten Motors.

Hiob streute mit herablassendem Film-Noir-Gesichtsausdruck eine einzige endlose Salve aus dem ausgestreckten rechten Arm nach vorne, dabei den Strahl schwenkend wie ein Gärtner seinen Gartenschlauch. Die Hunde hatten keine Chance, und das gefiel ihm. Sie rissen auf, platzten, spritzten umher, überschlugen sich, schleuderten, sprangen meterhoch ohne Beine, meterweit ohne Kopf, warfen Eingeweide wie bunte Luftschlangen durch die Gegend und bepulverten ein stattliches Kreissegment mit einem grobkörnigen Popcorn aus Knochen, Fell und Fleisch.

Als die letzte Projektilhülse an Hiobs Kopf vorbei elegant ins Dunkel katapultiert worden war und das mechanische Rattern des Munitions-Treibers mit einem enttäuschenden KLICK endete, senkte Hiob die Mündung und sagte: »Ich mag Katzen.« Tatsächlich war dies einer von jenen seltenen Momenten, in denen er das Spiel richtig liebte.

Neben ihm kniete der Unterwachtmeister am Boden und kotzte, ohne den Kopf vorzubeugen. Der Hauptwachtmeister jedoch schleuderte wutentbrannt seine leergeschossene Pistole zwischen die Kadaver und griff Hiob mit beiden Händen tätlich an. »Sind Sie verrückt geworden, Sie? Das ist eine Dienstwaffe, Sie können damit nicht einfach so ...«

Hiob schleuderte ihn herum und drängte ihn hart mit dem Rücken gegen die Seitenwand des Busses. »Du halt mal bloß die Schnauze!«, schrie er zurück. »Du hast hier nichts als Scheiße gebaut. Wenn ich nicht ...« Der Polizist wischte ihm mit der Linken rau über den Mund und keifte mit schriller Feldwebelstimme dazwischen: »Sie lassen jetzt die Dienstwaffe fallen und lehnen sich hier mit erhobenen Händen gegen den Wagen, sonst trete ich Ihnen in den Arsch, dass es raucht!« Hiob hatte genug. Die Lichter in den Fenstern der umliegenden Häuser waren bereits angegangen und machten eine Art Las Vegas aus dieser beschaulichen Nebenstraße, und es war nur noch eine Frage von Sekunden, bis die Silhouetten von Schaulustigen in den Fenstern auftauchen würden wie Figuren in einem Setzkasten, um mit spitzen Fingern auf ihn zu zeigen. Er hatte ja immer noch die leere Maschinenpistole in der Hand. Er brachte sie jetzt durch das aggressive Gewische des Bullen nach oben durch und haute dem Beamten den Metallrücken der Waffe hart auf die Lippen. Es gab ein hässliches, knirschendes Geräusch, aber anders als im Film brach der Polizist jetzt nicht etwa bewusstlos zusammen, sondern erstarrte am ganzen Leib und versteifte sich, während seine kurzzeitig außer Reichweite getriebenen Augäpfel sich wieder auf Hiob fokussierten und sein geborstenes Zahnfleisch Blut und Speichel durch die geplatzten Lippen zu sprühen begann. Hiob bekam regelrechte Angst davor, der Mann könnte den Mund öffnen und etwas sagen, deshalb hob er die Waffe noch höher und schlug diesmal mit dem Griff von der Seite her möglichst heftig gegen die linke Schläfe seines Gegenübers. Wieder war das Geräusch trocken und unheimlich leise, der Kopf des Oberwachtmeisters ruckte zur Seite, die Augen schlossen sich tränend, dann fing er sich wieder und nestelte weiterhin mit beiden Händen an Hiobs Brust herum. Hiob schlug noch zweimal zu, genauso hart, auf dieselbe Schläfe, beim zweiten Schlag knickten die Knie des Mannes schon seitlich weg, und er schlug völlig unabgefangen und dumpf platschend mit einem rasselnden Grunzen auf der Straße auf. So richtig bewusstlos war er immer noch nicht, es war ein völlig unnötiger Horror, wie er sich da wand und sein eigenes Blut in die Luftröhre kriegte, aber weiter wollte Hiob nicht mehr gehen, noch ein Schlag konnte den Status der Ohnmacht bereits überspringen. Er schaute sich zu dem anderen Bullen hin um. Der kniete immer noch da, starrte auf die dampfenden Hundegekröse voraus und überzog sein dunkelgelbes Uniformhemd schön gleichmäßig mit einem zähen Schleim in fast demselben Farbton. Das war ein braver Staatsdiener, der kriegte nichts mit.

Hiob warf die blutige Maschinenpistole irgendwohin und machte sich aus dem Staub. Während er die nasse Asphaltbahn hinunterhetzte – gezwungenermaßen wieder in der falschen Richtung, von seiner Wohnung weg, denn zwischen ihm und seiner Wohnung lagen jetzt das Hundemassaker und die Schaulustigen –, begleitete ihn noch eine ganze Weile lang das stetige Aufflackern von Licht hinter den Fenstern der Anwohnerhäuser. Dann ließ das nach, und er wurde wieder einsam.

Doch das Spiel war noch nicht vorüber. Als Hiob mit zwei rechtwinkligen Richtungsänderungen begann, sich in die Richtung seiner Wohnung zurückzupirschen und dabei wachsame Blicke in sämtliche Seitenstraßen warf, konnte er in einer von ihnen den Neufundländer stehen sehen. Im stroboskopischen Mündungsfeuer der Maschinenpistole hatte Hiob nicht besonders gut darauf achten können, ob er den Neufundländer auch gut erwischt hatte, aber eigentlich hatte es da nichts zwischen ihm und dem Horizont gegeben, was dem Metallansturm entgangen war. Als er die Augen jetzt zusammenkniff, um den unheimlich schweigenden Hund besser sehen zu können, hätte er beschwören können, dass dessen Fell in Flammen stand. Hellhound on my Trail.

(In Zehlendorf explodierte ein Chihuahua. Die sieben unterschiedlichen Hunde einer ansonsten allein lebenden wohlbetuchten Dame in Lichtenrade entwickelten kannibalische Verhaltensweisen und stellten äußerst unappetitliche Dinge miteinander an. Ein in Treptow nach Hause torkelnder Spätheimkehrer wurde von einem hochbeschleunigten Pekinesen getroffen, der oben aus einem zehnten Stock gesprungen war. Ein geistig zurückgebliebener Junge in Heiligensee hob das Gesicht zur Zimmerdecke und heulte jaulend wie ein Wolf. Mehrere zumeist alte, erfahrene Hunde in ganz Berlin und auch dem unmittelbaren Umland legten sich in der Unterwerfungsgeste auf den Rücken und boten einem unsichtbaren, titanischen Schatten, der über das Land hinzog, ihre weiche, verwundbare Kehle dar. Der Schatten war langsam und träge und brummte leise vor sich hin, wie eine Gewitterwolke oder ein Luftschiff von unnennbaren Ausmaßen. Ein tiefes Grollen, das nicht aus der Kehle kam.)

Das Konzept des Magiers, der mit einer Maschinenpistole in der Hand – oder besser noch: mit je einer in jeder Hand – zwischen die Armeen der Finsternis fuhr wie ein hünenhafter Schnitter mit der Blutsense, hallte in Hiobs Gemüt nach wie ein Echo besserer Zeiten. Vielleicht sollte er, wenn er das hier überlebte, mal darüber nachdenken, sich einen Waffenpark zuzulegen. Vampire? Okay, hier ist mein abgesägter doppelläufiger Bolzenwerfer und der Patronengurt mit geweihten Schrapnell-Cruci-7-7-Pflöcken. Was? Ein Werwolf? Kein Problem. Zwei 45mm-Silverbullet-Magnums in zwei Schulterhalftern und eine Teleskop-Katana aus sechsundsechzigfach gefaltetem Sterling. Zombie-Alarm auf dem Opernball in Wien? Ha! Eine schulterbare Boden-Luft-Fernlenk-Kanone mit Zerebraldetektor und eintrittsverzögerten Explosivmantelgeschossen. Und die Welt hat ein paar Ärgernisse weniger. Auf diese Art konnte sogar Groschenhefthampelmann John Sinclair zu so einer Art Vorbild werden.

Der flackernde und rußige Schmauchspuren hinter sich herziehende Neufundländer blieb Hiob beharrlich auf den Fersen, holte aber viel langsamer auf, als ihm wahrscheinlich möglich gewesen wäre. So konnte Hiob die Außentür des Wohnhauses, in dem er lebte, tatsächlich erreichen, aber als es nun endlich so weit war, war er gar nicht mehr so froh darüber. Ihm machte zu schaffen, dass er der Lösung des Problems immer noch nicht näher gekommen war. Sicher konnte er in irgendeinem seiner magischen Ramschwerke auf seiner Bude – die wirklich macht- und wertvollen lagerten alle in »seiner« Gruft – irgendeinen gegen unartige Hundeartige gerichteten Schutz- oder Schockzauber finden und auch anwenden, aber das war alles irgendwie lau und auch zu unpersönlich, um den besonderen Gegebenheiten dieses Problems Rechnung zu tragen. Die Lösung musste einfacher sein, viel naheliegender. Das war nur ein Prognosticon, ein Vorzeichen, ein Symbol für irgendetwas anderes, Größeres, eine verballhornte Kurzbeschreibung viel weitreichenderer Dinge. Hiob stand da, die Hände links und rechts vor sich gegen die Holztür des Wohnhauses gestemmt, und dachte nach. Wenn er jetzt einfach so in seine Wohnung ging, die Abgeschiedenheit und Sicherheit versprach, entfernte er sich gleichzeitig vom Schauplatz des Geschehens, von den Straßen der Stadt und dem Hundeleben zwischen den Mülltonnen. Er wusste um den Hausschlüssel in seiner Hosentasche, aber er weigerte sich, ihn zu benutzen. Jetzt, als es ihm endlich gelungen war, dort hinzukommen, wo er die ganze Zeit hatte sein wollen, weil er das Gefühl hatte, dorthin zu gehören, verweigerte er sich der Einfachheit.

Dem Schlüssel.

Weigerte sich, den Schlüssel zu benutzen.

Den er die ganze Zeit bei sich gehabt hatte.

Der die ganze Zeit bei ihm geblieben war.

Weigerte sich

ihn zu benutzen

weil er ihn hasste.

Den Schlüssel hasste. Den Schlüssel verabscheute. Weil der Schlüssel ein Hund war.

Weil Hiob Hunde hasste. Und NuNdUuN das wusste.

Und NuNdUuN Hiob somit dazu bringen konnte, den Schlüssel nicht zu benutzen.

Den Schlüssel, der sich die ganze Zeit über redliche Mühe gegeben hatte, von ihm nicht abgeschüttelt zu werden.

Der große schwarze Hund in Flammen.

Wenn Hiob dieses Spiel gewinnen wollte, musste es ihm gelingen, Dinge zu tun, die NuNdUuN nie von ihm erwarten würde.

Wenn ihm das nicht gelang, würde er immer nur eine Marionette in den eleganten Fingern des größten Spielers aller Zeiten bleiben.

Und indem er das erkannte, wurde es ganz einfach, es zu tun.

So einfach, wie ein Prognosticon sein musste.

Hiob löste sich von der Haustür und ging langsam auf den Asphalt der Straße zurück. Der Neufundländer war nur zwanzig Meter entfernt stehen geblieben. Seine Flanken zitterten vor Schmerzen, während kalt schillernde, grausame Flammen mit widerhakenden Fingern sein Fell liebkosten. Die geschwollene Zunge hing ihm seitlich aus dem Maul und ließ wundroten Speichel blasig auf der Oberfläche kochen. Es war, je näher Hiob heranging, ein immer erbärmlicherer Anblick. Der mächtige Hund war nur ein Schatten seiner selbst und blinzelte irritiert ölige Flüssigkeit aus seinen geweiteten Augen, sodass es aussah, als würde er weinen. Aber es war nicht das vermenschlichte Weinen aus einem niedlichen Zeichentrickfilm. Es war wohl nur ein Reflex der Bindehaut auf den ätzenden Qualm des eigenen, geschmolzenen Felles. Der Neufundländer zuckte zurück, als Hiob sich ihm bis auf zehn Meter genähert hatte, blieb aber seitlich stehen und blinzelte in die Gegend. Die Nacht war kalt, jetzt aber ohne Regen. Wind fuhr in herbstlicher Ahnung zwischen alles, brachte jedes Ding ein klein wenig in Unordnung und Auflösung. Hiob blieb stehen, und sie sahen sich an. Auch der Mensch fing jetzt an zu zittern. Es war völlig unklar, was passieren würde, aber es musste leicht sein, ein Kinderspiel.

Ein Kinderspiel.

Es fiel Hiob naturgemäß schwer, sich auf den Hund einzulassen. Er bezweifelte, dass er in der Lage sein würde, kindergleich mit ihm herumzutollen, ihn zu zausen und zu liebkosen. Dafür war erstens dieser Hund zu entstellt und unnatürlich, und zweitens waren für Hiob Hunde schon immer saudumme, triefnasige Kläffer gewesen, die die Straßen und Parks mit stinkender Scheiße überzogen und idiotisch sabbernd hinter jedem Stock herrannten, den jemand durch die Gegend warf. Hiob hatte den eigentümlich erotischen Eigensinn von Katzen der hechelnden Geradlinigkeit von Hunden schon vorgezogen, bevor die schlauen Bücher aus der Gruft ihn darüber informierten, dass die Streitwagen des Fließes von Hunden gezogen wurden und in der chimärenhaften Artenvielfalt der Canidae NuNdUuN so manch ergebenen Agenten fand.

Aber irgendwie war dies hier tatsächlich leichter. Das da vor ihm war nichts weiter – aber auch nichts Geringeres – als eine geschundene Kreatur. Mehr war nicht wichtig, und das machte es in der Tat einfach.

Hiob ging in die Hocke und begann, mit beruhigender Stimme auf das Tier einzureden, die üblichen Floskeln entlang »Braver Hund, guter Hund, du bist ein guter Kerl, du brauchst doch keine Angst zu haben« etc. Der Neufundländer wich winselnd und mit einer für ein Tier dieser Größe erstaunlich hohen Stimmlage fiepend ein Stück weit zurück und schwenkte den Kopf hin und her, weil ihn die pure Agonie des Daseins in einen Hospitalismus trieb.

Hiob versuchte, das Zittern seiner eigenen Bauchmuskeln zu unterdrücken, und wiederholte noch einmal mit möglichst ruhiger Stimme: »Es wird alles gut, Alter. Hab keine Angst.« Er schloss die Augen, weil er den Anblick des entstellten Tieres, das jetzt langsam, mit verdorrter Nase schnuppernd, auf ihn zukam, nicht mehr ertragen konnte. »Bringen wir es hinter uns. Gib mir her, was du gefunden hast. Bist ein braver Hund.« Der Neufundländer kam sämtlicher Sinne beraubt, wackelig, röchelnd bei Hiob an. Hiob lehnte sich in der Hocke nach vorne, stützte sich mit der Rechten am Boden ab und streckte die Linke aus. Der Neufundländer bleckte die Zähne und grollte ein Grollen, das nicht aus der Kehle, sondern aus viel tieferer Tiefe kam. Hiob behielt seine Geste bei, er wusste jetzt plötzlich, was passieren musste, und es war tatsächlich einfach. Es passierte.

Der Hund biss zu.

Das Erschreckendste im Empfinden der zermalmt werdenen Hand war die Tatsache, dass die Zähne des Hundes glühend heiß waren, weil sein ganzer Körper im Fieber kochte. Vielleicht waren sogar die Flammen nur Ausdruck der inneren Hitze, des tiefen Grollens von gestautem Magma, von Wut und Hass und Furcht und Schmerz und Verwirrung und Unverständnis. Hiob erfuhr ins bräunliche Farbspektrum verzerrte, aber unglaublich geruchsintensive Wahrnehmungsfetzen von Lärm und Flammen, platzenden Granatentrichtern, heiser bellenden Schnellfeuergewehren, er hatte Ahnungen von Schlägen und heißen Eisen, von Hunger jenseits jeglicher Erträglichkeit, von Einsamkeit, Kälte, dem rußig-salzigen Geschmack von sich in einer Mulde angesammelt habendem Regenwasser, von in Trümmern hochragenden Nägeln und verrosteten Metallstreben, von der Bedrohung durch gleichgeartet Stärkere und aufgepeitschter, unerfüllter Läufigkeit, von einem Blutmond ohne Ende wie ein Fluss und den aufgerissenen Leibern noch lebender Kinder. Es waren nur Fluchten, Seitenblicke, winzigklein gebohrte Gucklöcher in eine wahrhaftige Realität, aber sie reichten Hiob voll und ganz. Das merkwürdige Tauziehen um Hiobs Hand ging verloren. Der Neufundländer zerrte Hiobs hart aufschlagenden Körper mit sich, die begütigende Geste zwischen Segen und Absolution in den schlackernden Bruch-Arm eines von einer Lawine Verschütteten verwandelnd.

Dann war es vorbei. Das genügte schon. Die wahren Bedingungen von Herrschaft und Demut, Stärke und Zurückgebliebenheit waren diktiert und festgehalten. Jegliche Dressur als Lüge enttarnt. Der Hund kehrte ein in sein Reich, das hundertprozentig keins des Himmels war.

Hiob blieb zurück und versuchte sich stöhnend zu sammeln. Rotz lief ihm unkontrolliert aus der Nase, und seine Blase hatte dem plötzlichen Überdruck ebenso wenig standgehalten, aber die Hand war weniger kaputt, als er befürchtet hatte. Fleisch war zerrissen und blutete stark, einige Sehnen und Knochensegmente waren in Unordnung gebracht worden und sandten schmerzhafte Notsignale nach Übersee, aber es war nichts, was bei einem Magier nicht wieder heilen würde. Der Hund hatte nicht vorgehabt, die Hand durchzubeißen. Es war nur um einen echten, aufrichtigen Kontakt gegangen, einen Kontakt auf gleicher Ebene. Die Verständigung von Fleisch. Denn alle sind wir Tiere, und jeder Versuch, so zu tun, als wäre es anders, mündet ins Gelächter derjenigen, die es besser wissen.

Als Hiob oben in seinem Zimmer – gewaschen, autodidaktisch verbunden und mit etwas Sauberem an – auf der Matratze lag, gegen die mondlichtbeschienene Decke starrte und dem leisen Wandern beider Blutvergiftungslinien von seiner Hand und seinem Hals aus zum Herzen nachspürte, hörte er wieder ein Kratzen und Rascheln an seiner Tür.

Er ging hin, öffnete, es war wieder niemand da, auf dem Boden vor der Tür lag aber ein quadratischer weißer Umschlag. Er schloss die Tür, schnupperte das Essighafte, öffnete den Umschlag, und es war ein weißes Kärtchen drin, auf das mit rauem Graphit ein großer schwarzer Punkt gekrakelt war.

Hiob ging zurück in sein Zimmer, warf sich quiekend auf die Matratze und starrte grinsend hoch zur Decke.

So allmählich erreichten die Linien sein Herz.

Jetzt genoss er tatsächlich die Nacht.

Oktoberfest in Berlin. Eine bunte Menschenmenge ließ sich schleudern, kreiseln und auf Hochtouren bringen, schoss rotgesichtig auf drahtige Wachszapfen, warf enttäuscht mit papiernen Nieten um sich, soff sich den argen Alltag aus dem Bewusstsein, hatte bunte Zuckerwatte vor den lachenden Jacketkronen kleben und bekleckerte sich fettigst mit Ketchup, Senf und Mayo. Von überallher hämmerten assimilierte Hip-Hop- und Techno-Beats auf die Trommelfelle ein, tiefe, volltönende Sprecherstimmen kündigten technische Späße an, und Lichter blinkten, strahlten bunter als die Sterne.

Hiob hasste diesen ganzen Scheiß, aber Kamber – den die artifizielle Las-Vegas-haftigkeit der angestrengten Vergnügungssucht faszinierte – hatte ihm erzählt, dass es hier eine kleine Einrichtung mit dem wenig originellen Namen Das Kartenhaus gab, in der man sich von einer Wahrsagerin namens Madame Oradour das Tarot legen lassen konnte.

Das Kartenhaus war ein nicht allzu großes, billiges Zelt, das mit der glosenden Leuchtreklame ringsum mühelos konkurrieren konnte, da es eine gewisse verbotene Sideshow-Atmosphäre verstrahlte. Es war schon nach Sonnenuntergang, der Lärm und die Lichter ringsum also auf Hochpegel, und vor dem Kartenhaus warteten außer Hiob nur noch zwei übergewichtige Hausfrauen auf Einlass, die nach der Handlesung oder Kartenlegung dann auch beide einigermaßen zufrieden und belustigt wieder zu ihren draußen wartenden, ebenfalls übergewichtigen Familien zurückkehrten. Die Madame verstand ihr Handwerk. Sie erzählte der zahlenden Kundschaft, wofür die Kundschaft zahlte.

Hiob ignorierte den Zigeuner- und Voodoo-Requisitenzirkus im Inneren des Zeltes. Es war die Madame, die ihn interessierte. Sie war etwa vierzig, attraktiv und sehr weiblich und entsprach mit ihren langen dunkelroten Haaren ziemlich genau dem Idealbild einer feministisch-selbstbewussten 90er-Jahre-Hexe. Die unvermeidliche Kristallkugel auf dem Tisch schimmerte hellblau, und die aufgedeckten Karten zeigten Figuren des Großen Arkanum.

»Madame Oradour«, stellte Hiob, im Eingang stehen bleibend, fest. »Ein ziemlich morbider Name für eine Rummelplatzattraktion.«

»Jeder von uns bekommt den Namen, den er verdient, Monsieur ... Montecchi?«

Hiob lächelte. Der Kampf war eröffnet. Er trat näher. »Die eingedeutschte Form von Montecchi ist korrekter, Madame. Montag. Mein Name ist Hiob Montag. Ich spiele das Spiel.«

»Ich habe von Ihnen gehört. Kommen Sie doch, setzen Sie sich. Für jemanden wie Sie ist die Zukunft selbstverständlich kostenlos.«

Als Hiob sich ihr gegenüber auf den dort stehenden, absichtlich unbequemen Schemel setzte, deutete sie mit rasselnden Armreifen auf den jodverfärbten Verband um seiner linken Hand.

»Ich hoffe, das ist nicht beim Handlesen passiert.«

Ihre Blicke trafen sich über dem himmelblauen Globus. »Nein. Handlesen aus der Linken würde Unglück bringen, das weiß ich. Ich bin auch nicht hier wegen meiner Hände, sondern wegen Ihrer Karten. Ich wollte Sie fragen, ob es ein Spiel gibt mit neun Karten.«

»Es gibt so viele Spiele, wie es Karten gibt, Monsieur Montag. Achtundsiebzig. Und noch ein paar mehr, die geheim sind und sehr gefährlich.«

»Ich weiß, dass man mit drei Karten spielen kann oder mit fünf, mit sieben oder mit zehn, aber mir geht es um neun. Acht aus der Vergangenheit und die neunte aus der Zukunft.«

»Ist das Wissen um die neunte Karte lebenswichtig für Sie?«

Hiob dachte einen Augenblick nach. »Nein. Es ist eigentlich nur Neugier. Ich möchte ... alle Möglichkeiten ausschöpfen, um das Spiel so gut wie möglich zu spielen, verstehen Sie? Ich bin mir nicht einmal sicher, dass es überhaupt funktionieren wird.«

Mme Oradour lächelte. »Es ist gut, dass Ihr Leben nicht von einer Karte abhängt, Monsieur Montag. Ich möchte nämlich nicht riskieren, diejenige gewesen zu sein, die Sie zu Fall gebracht hat, wenn Sie wissen, was ich meine.«

»Das ist sehr rücksichtsvoll von Ihnen.«

»Sie selbst werden die Karten legen, ich werde sie Ihnen nur lesen. Da Sie ein großer Spieler sind, werde ich das Große und das Kleine Arkanum und die Hofkarten ineinandermischen – sehen Sie: so.« Ihre Hände bewegten sich mit der Grazie seltener Schmuckvögel, und die großen, stabilen Karten, deren Motive in etwa den standardisierten Bildern für das Rider-Waite-Deck des Golden-Dawn-Ordens entsprachen, aber noch ein wenig mittelalterlicher wirkten, glitten und flossen durch diese Hände wie ein in Puzzleteile zerschnittenes Origami. Abschließend strich sie Karten in einer Mondsichelform, deren Öffnung auf Hiob zeigte, auf dem runden Tischchen aus.

»Nehmen Sie die erste Karte, Monsieur Mond-Tag. Haben Sie keine Furcht, etwas Falsches zu tun oder etwas in Unordnung zu bringen. Die Karten kennen ihre Ordnung und verlassen sie niemals.«

»Also gut.« Hiob schluckte. Er setzte sich anders hin, starrte auf die mit neutralen Rosenmustern verzierten Kartenrücken, strich dann mit dem Zeigefinger der Rechten die Krümmung der Mondsichel entlang, zog eine Karte von halbrechts und deckte sie auf. Sie zeigte eine Art Tor aus vier Stäben, auf dem oben Früchte geflochten waren wie eine Girlande oder ein hängender Torbogen. Feiernde, bekränzte Menschen waren zu sehen, und im Hintergrund eine Burgfestung.

Mme Oradour beugte sich gleichfalls nach vorne. Ihre Stimme wurde tiefer, geheimnisvoller. Sie begann, ihre Rolle zu spielen. »Die Vier der Stäbe. Das Spiel beginnt. Wir sehen eine ausgelassene Feier, die durchschritten werden muss, um zu der dunklen Feste im Hintergrund zu gelangen. Diese Feste birgt ein furchtbares Geheimnis, ihre Dächer sind rot glänzend. Es ist dort Blut geflossen.«

Hiob nickte. Barranquilla. Der Karneval. Die Irrenanstalt. Perfekt. Die Madame war so gut, wie er gehofft hatte. Er nahm die zweite Karte und deckte sie auf, diesmal von ganz links.

»König der Stäbe«, benannte die Madame. »Wir sehen einen ernsten Mann auf einem Thron sitzen. Sein Schaffenszyklus ist vollendet, die Salamanderornamente auf der Lehne des Throns beißen sich in den Schwanz. Aber er trägt einen grünenden Stab in der Hand, ist also noch nicht bereit, sich zur Ruhe zu setzen. Der lebendige Salamander hier unten rechts verstärkt das Feuer, das noch in ihm lodert.«

Charles Otts auf dem elektrischen Stuhl, der Stab seine Verbindung zu dem Dämon. »Ist es möglich«, fragte Hiob, »dass der Salamander nicht in direktem Zusammenhang mit dem König zu sehen ist?«

»Dann würde der Salamander ein Feuer bedeuten, das man leicht übersehen kann, das man aber besser nicht unterschätzen sollte.«

Das passte. Der Salamander war dieser verfluchte Ausbrecher, John Baltimore Ingless. Ihn hatte Hiob unterschätzt, und wie eine glitschige Echse war er ihm durch die Finger geglitten. Der Gedanke daran reichte schon, um Hiobs Brust schmerzen zu lassen.

»Dieser Salamander – ist es möglich, eine Karte zu lesen, die mehr über ihn aussagt? Ich wüsste gerne, ob es hier noch Versäumtes nachzuholen gibt, oder ob man den Salamander auf sich selbst beruhen lassen kann.«

»Das wäre eine zweite Karte aus der Zukunft und würde unser augenblickliches Spiel durchbrechen. Möchten Sie das Spiel abbrechen?«

»Nein.« Nicht jetzt. Nicht seinetwegen. »Machen wir erst mal weiter mit den neun Karten. Bis jetzt läuft es sehr gut. Die nächsten drei Karten müssten allerdings zusammengehören.«

»Dann ziehen Sie drei gleichzeitig. Das ist kein Problem.«

»Gut.« Er nahm drei ohnehin nebeneinanderliegende Karten, ebenfalls aus der linken Seite. Es waren ›Die Liebenden‹, ›Stäbe 9‹ und ›Schwerter 3‹.

»Die Liebenden.« Mme Oradour lächelte. »Das ist eine meiner Lieblingskarten und die erste des Großen Arkanums in diesem Spiel. Ein besonderer Spielzug also?«

»Das kann man wohl sagen.«

»Nun, wir sehen ein unbekleidetes Liebespaar, beide durch einen Berg, also Entfernung, getrennt. Die Frau ist von der Schlange der Sünde bedroht, der Mann steht vor einem brennenden Baum, befindet sich also in gefährlicher Umgebung. Auf sie beide Einfluss nimmt ein gigantischer Engel, der der Sonne gleicht, aber er hat blutrote Schwingen, und ich würde ihm nicht trauen.«

Hiob sah sich den Engel genauer an. So also sah NuNdUuN aus im Spiegel des Tarot. Er hatte ein schönes, weiblich-männliches Gesicht und grün und rot flammende Haare, und seine Flügel waren weiter als die Sonne selbst, die wie ein Heiligenschein über seinem Kopf strahlte. Es war ein ehrfurchtgebietendes, für Hiob geradezu markerschütterndes Bild. Wie konnte man als einfacher Magus gegen so etwas angehen?

»Die anderen beiden Karten zeigen einen im Kampf verwundeten Krieger, der zwischen sich und dem Rest der Welt eine Art Palisade errichtet hat, und ein von drei Schwertern durchbohrtes Herz. Die Liebe der Liebenden wird also durch zweierlei Gewalt zerstört: die Gewalt, die der Krieg dem Söldner antut, und die noch furchtbarere Gewalt der verratenen, ermordeten Gefühle.«

Die drei Schwerter. Die Gliedmaßen dreier Blutsverwandter, die sich in Magdaleens rotes Fleisch rammen. Die Einsamkeit des Anton Krantz. Und darüber das unerträglich gleichmütige Antlitz NuNdUuNs, der der zertrümmerten Liebe seinen Segen erteilt. Der graue Himmel und der Regen hinter dem getöteten Herzen waren die Teilnahmslosigkeit des Dorfes. Niemand hatte etwas gesehen.

Die Karte mit dem schrecklich zerstochenen Herzen verstärkte noch das ohnehin schon unangenehme Ziehen in Hiobs Brust. Er konnte es auf Dauer nicht ertragen, zu deutlich an das Blei in seiner Pumpe erinnert zu werden. »Weiter«, keuchte er, Übelkeit niederhaltend. »Die sechste Karte.«

Die sechste Karte war erstaunlich. Ein einziges, ruhiges Bild symbolisierte den ganzen komplexen Horror, den Bernadettes Rudel für ihn bedeutet hatte.