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Ein junger Schriftsteller versucht verzweifelt, seinen zweiten Roman zu schreiben. Sein Name: Kranich, Englisch, Deutsch, dem Leser bekannt aus dem Bestseller LEHRERZIMMER. Nachdem Kranich seine Schul-Erfahrungen veröffentlichen konnte, scheitert er: SCHREIB, MASCHINE!, eine bittere Abrechnung mit dem Literaturbetrieb, wird vom Verleger V abgelehnt. Kranich findet Unterschlupf bei seiner Tante Erna. Er hat eine geniale Idee und bereitet sich auf einen großen Wurf vor. Aber dann nistet sich seine schwangere Schwester Tamara bei ihm ein, und statt zu schreiben, geht Kranich unter im Kritikerstimmenwirrwarr, in Selbstzweifeln und in 28-Stunden-Tagen. Um möglichst schnell Geld zu verdienen, bräuchte er einen "literarischen Quickie". Vielleicht kann ihm Sebastian Pfeifer helfen, ein Neurowissenschaftler, der mittels transkranieller Magnetstimulation Kranichs Hirn zu frisieren versucht. Eine wunderbar groteske Farce über die dunkle Seite eines Autors: vom Literaturbetrieb korrumpiert, voller Größenwahn und versteckter Komplexe, Anerkennungssucht und dem verzweifelten Wunsch, etwas Grandioses zu schaffen - brillant witzig, ein Feuerwerk der Selbstironie und eine gnadenlose Demaskierung dessen, was ein Betrieb aus Menschen machen kann.
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Seitenzahl: 139
Inhalt
[Cover]
Titel
Widmung
Hirngespinste
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
Epilog
Impressum
Kurzbeschreibung
Autorenporträt
Gelobt, gelobt wollen wir werden.Wahrscheinlich Hugo von Hofmannsthal
Hirngespinste
Prolog
Kranich, Englisch, Deutsch«, sagte ich und reichte dem Mann die Hand.
»Strubel«, hustete er und fügte hinzu: »Schulschlüsselsonderbeauftragter.«
Ich nickte.
Strubel legte sofort los, er sprach gehetzt, fast ohne zu atmen, und ich musste aufpassen, um alles mitzubekommen: Er habe gehört, ich sei geflohen, aus Göppingen, aus dem Schwäbischen, aus der Provinz, eine Posse, eine Provinzposse, ein Wahnsinn, nur eine einzige Woche dort geblieben, am Erwin-Rommel-Gymnasium, und dann die Fliege gemacht, aber ich solle mir keine Sorgen machen, sagte Strubel, nein, jetzt, hier, da werde alles anders, auf jeden Fall werde alles anders, denn jetzt sei ich ja bei ihnen, in Sicherheit, in Hessen, am Hans-Dietrich-Genscher-Gymnasium, hier, in Frankfurt, in der Weltstadt, in der Bankenhochburg, da sehe die Sache anders aus, ich sei ja geradezu im Paradies gelandet, rief Strubel, denn alles, wirklich alles richte sich hier nach den geltenden Bestimmungen, hier herrsche Ordnung statt Chaos, hier herrsche Hierarchie statt Anarchie, hier herrsche einheitliche Reglementierung, hier wisse jeder genau, was er zu tun habe, hier gebe es keinen Platz für … »aber, Mensch«, unterbrach sich Strubel plötzlich selbst, wobei er auf die Uhr sah, »was red ich da, fangen wir lieber an, wir haben keine Zeit zu verlieren. Man hat Ihnen gesagt, was auf dem Programm steht? Ich soll Sie einweisen.«
»Einweisen?«
»Ins brandneue Schulschlüsselsondersystem.«
Ich erfuhr, dass man in jeden Schulschlüssel einen elektronischen Chip installiert hatte. Nummeriert. Und jeder Schlüssel war exakt einem einzigen Lehrer zugeordnet: Schlüssel Nummer eins gehörte Albrecht, Schlüssel Nummer zwei Amedick, Schlüssel Nummer drei Brenner etc. An den Eingangspforten der Schule waren mannshohe Sensoren angebracht, mit einem Computersystem verbunden. Im Überwachungsraum konnte Strubel genau feststellen, welcher Lehrer (sprich Schulschlüssel) sich im Gebäude befand und welcher Lehrer (sprich Schulschlüssel) nicht mehr oder noch nicht. Sinn des Ganzen, so betonte Strubel auffällig oft, sei nicht etwa eine Kontrolle, die sich auf die Anwesenheit und damit auf die Arbeitszeit der Lehrer bezog, nein, Sinn des Ganzen sei vielmehr der computergesteuerte, vollelektronische Selbstabschließungsmechanismus. Sobald nämlich der letzte Lehrer (sprich Schulschlüssel) die Schule verlassen habe, Komma, verriegelten sich die Türen automatisch, Ausrufezeichen! (Kollege Strubel war Mathematik- und Deutschlehrer, der die Satzzeichen manchmal gern mitsprach.) Die Eingangstüren verschlössen sich, fuhr er fort, und die Lichter gingen aus. Die Vorteile seien immens. Nach der aus Kostengründen erfolgten Entlassung des Hausmeisters sei die Schule in den letzten Monaten öfter offen gestanden in der Nacht, Komma, weil der letzte die Schule verlassende Lehrer genau das, kursiv,nicht gewusst habe, Komma, nämlich dass er der Letzte sei, Ausrufezeichen! Aber dank des neuen Selbstabschließungsmechanismus’, Apostroph, sei ein solches Versehen nun nicht mehr möglich, doppeltes Ausrufezeichen!!
Ich nickte und zwang mich dazu, nicht weiter darüber nachzudenken. Die Hessen empfingen mich nicht nur mit offenen Armen, sie hatten auch meine Flucht organisiert, hatten mich regelrecht abgeworben. Sie bräuchten jeden Mann, hieß es. Jeden Lehrer. Mehr noch. Jeden, der den Mut hätte, sich vor die Klasse zu stellen. Egal, wen. Hier, dachte ich, hier, in Hessen, am HDGG, hier wird doch alles anders sein als in Göppingen! Hier muss es doch anders sein!
Am Nachmittag blieb ich länger in der Schule als alle anderen. Nicht etwa nur, weil ich als Neuankömmling einen guten Eindruck hinterlassen wollte, sondern auch, um mich abzulenken und der Einsamkeit meiner entsetzlichen Bude zu entfliehen, die von der Schule für mich angemietet worden war, gegenüber dem Schulhof. Neben mir saß nur noch ein Referendar namens Stefan Kuller. Als lieferten wir uns einen stillen Wettkampf, schielten wir ab und zu aus den Augenwinkeln zueinander hin, um zu sehen, wer von uns Anstalten machte, das HDGG eher zu verlassen als der andere. Aber wir blieben beide standhaft sitzen.
Kullers Augen strahlten immer noch wegen des erfolgreichen Unterrichtsbesuchs, den er am Vormittag hinter sich gebracht hatte. Er hatte uns im Lehrerzimmer alles detailliert erzählt. Englisch, neunte Klasse, Thema: Australien. Während der gesamten Stunde steckte Kuller in einem Kängurukostüm. Zur Veranschaulichung zog er die verschiedensten Australiendinge aus seinem Beutel, hielt sie den Kindern hin und sagte das entsprechende englische Wort. Er meisterte auch die einzige kritische Situation der Stunde: Als er einen Bumerang aus dem geöffneten Fenster warf, der Bumerang auf seinem Rückweg jedoch nicht wieder durch dasselbe hereinflog, sondern durch das benachbarte, geschlossene Fenster, rief Kuller spontan ins Splittern des Glases hinein: »Oh! Look! The window is …?« – »… broken!«, rief die Klasse im Chor. »Exactly«, näselte Kuller unterm Kängurukopf. »And that’s why you always need an … insurance.« Er schrieb das Wort insurance an die Tafel und leitete gekonnt über auf den für jeden Australienreisenden aufgrund der hohen Flugkosten zwingend notwendigen Abschluss einer Reiserücktrittsversicherung. Der Fachleiter war restlos begeistert. So etwas, sagte er, habe er noch nie erlebt. Das Missgeschick mit dem Bumerang schrieb der Fachleiter der allgemeinen Nervosität zu, kaum der Rede wert, sagte er, man habe durchaus gesehen, dass der Referendar sich wochenlang auf diesen großen Wurf vorbereitet habe, und Kuller fügte schüchtern hinzu, dass er einen zweiwöchigen Bumerangkurs belegt habe.
Irgendwann, so gegen sechs am Abend, verließen Kuller und ich gleichzeitig das Lehrerzimmer. Ich sagte, er brauche nicht auf mich zu warten, ich müsse noch mal aufs Klo. Während ich an der Pissrinne stand, ging das Licht aus. Ich pisste im Dunkeln zu Ende, tapste durchs Schulhaus Richtung Eingang und suchte nach meinem Schulschlüssel. Der war aber nicht da. Den musste wohl, darauf kam ich nach einigem Nachdenken, Kollege Kuller versehentlich eingesteckt haben, irgendwie, dachte ich, in diesem Tohuwabohu, das entstanden war, als er sein Kängurukostüm zusammengepackt hatte. Der abnehmbare Kopf des Kängurus hatte mich traurig angeschaut, und im Beutel fehlte ein Junges. Stattdessen gab es jede Menge Kreidespuren auf dem Kostüm. Da meine Existenz als Lehrer an die Existenz meines Schulschlüssels gekoppelt war, hätte ich jetzt eigentlich bereits draußen sein müssen, dort, wo sich mein Schulschlüssel samt Kuller befand. Dem war aber nicht so. Ich klopfte eine Weile müde an die Scheiben der Eingangstür, aber draußen trieb sich niemand herum, der hätte Hilfe holen können. Und drinnen waren sämtliche Räume verriegelt. Die Lichter gingen nicht an, welchen Schalter auch immer ich drückte. Es war, als sei ich gar nicht da. Ich konnte machen, was ich wollte, ohne Schlüssel war ich kein lebender Mensch im Innern der Schulmauern.
Die Nacht brach herein. Ich suchte einen Schlafplatz. Legte mich schließlich irgendwo hin. Auf dem harten Boden kam ich nicht zur Ruhe. Lag dort, mit offenen Augen. Wusste nicht, was ich tun sollte. Aber da, in der Düsternis der Gänge, überkam mich ein Impuls, der mich noch nie überkommen hatte, zum ersten Mal in meinem Leben impulsierte es in mir dergestalt, dass ich aus meiner Tasche einen Block zog, ebenso einen Stift, mich unter eins der grünen Notausgangsschilder hockte und in dem matten, augenverderbenden Licht zu schreibenbegann. Über meine Zeit in Göppingen. Am ERG. Über diese eine Woche. Über all das, was ich dort erlebt hatte. Da musste was raus. Dringend.
Am frühen Morgen, noch ehe die Stunde der Putzfrauen schlug, sprangen die Lichter an, und auf mich zu stürmte mit hochrotem Kopf Stefan Kuller, der mir meinen Schlüssel überreichte und sich tausendmal für sein Versehen entschuldigte. Er sei mit dem Kopf, sagte er, mit dem Kopf, da sei er ja völlig woanders gewesen, gestern, völlig woanders, ich wisse ja, der Unterrichtsbesuch, das Lob, die Anerkennung, der Erfolg, das habe ihn völlig euphorisiert.
Ich stopfte meinen angefangenen Göppingentext in die Tasche und verließ das HDGG, und nicht nur das Schulhaus in Frankfurt verließ ich, nein, ich verließ ein jedes Schulhaus, ein jedes mögliche Schulhaus, ich verließ dieSchule, die Schule im Gesamten, im Allgemeinen, alle Schulenverließ ich, für immer verließ ich sie, nicht die konkrete Schule verließ ich, ich verließ die abstrakte Schule, ich verließ das System Schule, ich war endlich bereit dazu, und zwar endgültig.
1
Auf dem Frankfurter Bahnhof stand ich und hatte nichts mehr. Ich fühlte mich frei und ungemein erleichtert und war froh über die Endgültigkeit meiner Entscheidung. Da war ein Rauschgefühl in mir. Ich kann überallhin, dachte ich. Ich kann alles tun. Ich werde neu anfangen. Endlich. Die Flucht von Göppingen nach Frankfurt war bloß eine halbe Flucht gewesen. Eine Flucht vom Regen in die Traufe. Eine Flucht innerhalb ein und desselben Systems. Als wäre ich von einer Gefängniszelle in die nächste geflohen. Aber jetzt! Was jetzt folgt, ist die wahre Flucht, die Befreiung, der Beginn des eigentlichen Lebens, ganz neu anfangen, mit nichts. Endlich das tun, was ich immer schon habe tun wollen! Alles ist möglich! Alles liegt in meiner Hand! Die Welt steht offen in ihrer Offenheit. Ich muss nur in mich hineinhorchen, um zu wissen, was genau ich denn jetzt will. So dachte ich, auf dem Bahnhof stehend, und horchte in mich hinein. Das war nicht so einfach bei dem Lärm dort. Je länger ich in mich hineinhorchte, umso weniger hörte ich etwas in mir oder aus mir. Je länger ich mich selbst aushorchend zugleich in die Offenheit der Welt starrte, umso mehr graute mir. Je offener die Welt vor mir stand, umso mehr wurde die offene Welt zur offenen Wunde. Du kannst tun, was du immer schon hast tun wollen, dachte ich wieder. Ja, aber was ist das denn gewesen!?, fragte ich mich. Ich wusste es nicht. Nach Bali auswandern, wovon mein Ex-Kollege Achim Renner insgeheim träumte? Nein, das wäre nur eine neue Flucht. Irgendwas Sinnvolles, dachte ich, irgendeine Aufgabe, etwas Erfüllendes, etwas, was dein läppisches Leben über sich selbst erhebt und in einem Licht erstrahlen lässt, was dir das tägliche Schlurfen erträglich macht. Was das Aushalten des Atmens erträglich macht. Was den Beginn jedes neuen Tages erträglich macht. Ich dachte und dachte nach und horchte wie wild in mich hinein, aber alles blieb still. Als ich die innere Stille nicht länger aushalten konnte, ging ich zu einer Telefonzelle und wählte die Nummer eines Göppinger Ex-Kollegen, Religion, Philosophie, Pascal genannt, höchst bewandert in Innerlichkeitsdingen aller Art. Der, dachte ich, wird mir sicher helfen können.
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