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Ein vor Fantasie und Sprachkraft sprühender Abenteuerroman ab 10 Jahren aus der Feder des Bestseller-Autors Markus Orths Durch ein Unglück strandet die 10-jährige Paula auf der schwimmenden Insel der Zeit: Chronossos. An diesem geheimnisvollen Ort gelten ganz eigene Gesetze: Alles, was dort geschieht, kreist um das rätselhafte Phänomen der Zeit. Die Rückkehr zu ihren Eltern scheint für Paula ein unmögliches Unterfangen. Sie muss zurück in die Vergangenheit schwimmen, den mächtigen Teufelskraken besiegen und gegen die Hubbanesen kämpfen: dunkle Kreaturen, die ewig leben und durch und durch böse sind. Zum Glück findet Paula auf Chronossos drei wundersame, neue Freunde, die sie sofort ins Herz schließt: Carissima, die liebevoll-verrückte Urwald-Oma; Anna Bella, die coolste Sau im ganzen Land; und - Baddabamba, ein weiser, gütiger Gorilla, der die Gabe hat, ein klein wenig in die Zukunft zu träumen. Nur gemeinsam können sie das Abenteuer bestehen. Eine atemlose, packende Geschichte mit Figuren, die man nie wieder vergisst
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Seitenzahl: 291
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Durch ein Unglück strandet die 10-jährige Paula auf der Insel der Zeit, Chronossos. Diese Insel ist eigentlich unauffindbar; hier herrschen ganz eigene Gesetze, kein Schiff könnte je an ihrem Strand anlegen. Paula möchte vor allem eins: zurück zu ihren Eltern. Ein fast unmögliches Unterfangen. Zum Glück wird sie von drei wundervollen neuen Freunden unterstützt: der liebevoll-verrückten Urwald-Oma, der lebenslustigen Sau Anna Bella und dem gütigen Gorilla Baddabamba. Doch gegen die schlimmsten Feinde auf der Insel muss Paula sich ganz allein beweisen …
Ein philosophischer Abenteuerroman, wie man ihn noch nicht gelesen hat!
Teil I – Paula lernt das Kämpfen
1 – Ganz allein auf dem Meer
2 – Zwei tief fliegende Tiger
3 – Die stärkste Oma der Welt
4 – Baddabamba verbeugt sich
5 – Die coolste Sau im ganzen Land
6 – Der Uhrzeitsee und die Mühle der Zeit
7 – Teufels-Krake mit zwölf Tentakeln
8 – Gefahr auf der Lichtung
9 – Die klügste Oma der Welt
10 – Miss Spinners Geschichte
11 – Der stete Wandel der Gezeiten
12 – Ein herrliches Einerlei
13 – Die Zeit-Vollbremsung
14 – Eine erste Niederlage
15 – Das winzige Immer-Baby
16 – Ein Affe wird gefüttert
Teil II – Der Teufels-Krake
17 – Ein Rucksack namens RUDI
18 – Aufbruch zur Mühle der Zeit
19 – Sprung ins warme Wasser
20 – Die traurigste Oma der Welt
21 – Minutenmuschel und Spiegel-Igel
22 – Tote Hand im Sumpf
23 – Die verrückteste Oma der Welt
24 – Der Schrei der Hubbanesen
25 – Schritte vor der Kammer
26 – Das Gift der Schwarzspinne
27 – Teuflische Qualen
28 – Cato Patscho und die Weißen Maulwürfe
29 – Baddabambas Angst
30 – Eine grausame Tat
31 – Hinauf in die Wipfel
32 – Der Kampf gegen den Kraken
33 – Und die schnellste Schnecke der Welt
Ja. Da war dieser Satz, dieser hässliche Satz: Dafür bist du zu klein. Paula hörte den Satz immer, wenn es etwas Schönes gab, bei dem sie nicht mitmachen durfte. Achterbahnfahrten ab ein Meter dreißig. Filme gucken, die nur ihre großen Brüder schauen durften. Oder eben jetzt, im Urlaub: das Kite-Surfen.
Beim Kite-Surfen hat man ein Surfbrett an den Füßen und hängt an einem Segel. Man lässt sich vom Wind mitreißen und titscht mit dem Surfbrett übers Wasser, manchmal wird man hoch in die Luft gerissen. Das muss man gut können. Und Paulas Vater hat es seinen Söhnen beigebracht, aber seiner Tochter?
»Nein!«, sagt er. »Du bist einfach noch zu klein für dein Alter. Du musst erst größer werden. Und schwerer!«
An einem schönen, hellen Neuseeland-Morgen fuhren alle vier zum Strand: Paula, ihr Vater und ihre großen Brüder Leon und Jakob. Paulas Mutter blieb im Hotel. Sie gönnte sich eine Massage.
Die Familie ging nicht an den Wainui Strand direkt beim Hotel. Der war Paulas Vater nicht einsam genug. All die Leute, die sich in der Sonne räkeln! Das wollte er nicht. Paulas Vater fuhr mit den Kindern zu einem Geheimstrand, vierzig Kilometer entfernt. »Da haben wir unsere Ruhe.«
Tatsächlich waren die vier ganz allein an diesem einsamen Strand. Sie bauten sofort zwei große Sonnenschirme auf. Denn die Sonne brannte unglaublich heiß vom Himmel. Paulas Vater sagte zu Paula: »Du musst auf unsere Sachen aufpassen, wenn wir auf dem Wasser sind! Aber später spielen wir was mit dir!«
Paula nickte zahm und lächelte. Aber in ihr, tief drinnen, da sah es düster aus. Als würde eine Sturmfront aufziehen. Sie würde den dreien schon zeigen, dass sie nicht zu klein war! Es reichte ihr. Endgültig! Sie wollte nicht mehr nur danebenstehen. Sie wollte nicht mehr nur zuschauen. Sie wollte mitmachen! Spaß haben! Paula wartete nur auf den richtigen Augenblick. Denn sie hatte einen Plan, einen geheimen Plan.
Zunächst half sie ihren Brüdern, das ganze Zeug anzulegen, das man braucht fürs Kite-Surfen. Das ist nicht einfach. Aber Paula hatte schon öfter dabei geholfen und kannte die Handgriffe. Als die drei auf dem Wasser waren, verfolgte sie die Manöver: Wie schön das aussah! Wie elegant und leicht! Wie wunderbar es sein musste, den Wind im Schirm zu spüren und über die Wellen zu hüpfen. Wie gut die drei das konnten! Paulas Vater machte jetzt einen Riesensprung in die Luft. Bestimmt zehn Meter hoch! Und er flog ein Stückchen, ehe er wieder auf dem Wasser landete und weitersurfte. Paula vergaß kurz ihren Ärger, sprang auf und klatschte Beifall.
Zwei Stunden später schleppten sich ihre Brüder und ihr Vater über den Strand Richtung Zelt. Ihre Ausrüstung ließen sie unten am Wasser liegen. Für die zweite Runde, später. Kite-Surfen kostet Kraft. Auch Paulas Vater schien erschöpft zu sein. Trotzdem vergaß er sein Versprechen nicht und sagte: »Dank dir, Paula! Jetzt bist du dran. Was wollen wir spielen?«
Nach einer halben Stunde Ballabwerfen mit Vater und Brüdern sagte Paula: »Puuuh! Diese Hitze! Ich glaub, ich hab Durst. Und Hunger auch.«
Die anderen nickten sofort. Gemeinsam plünderten sie den Picknickkorb und mampften drauflos.
Danach sagte Paula: »Puuuh! Ich glaub, ich bin müde!«
»Ja!«, sagten die Brüder wie aus einem Mund. »Wir auch!«
Alle legten sich hin, um ein Nickerchen zu machen. Unter den Sonnenschirmen lagen sie, auf dem Rücken, mit schwarzen Brillen und fetten Kopfhörern. Auch Paula lag dort und tat so, als schliefe sie. Sie schlief aber nicht.
Denn als die Brüder und ihr Vater eingenickt waren, stand Paula vorsichtig auf. Ihr Herz purzelte: Das geschah immer, wenn sie im Begriff war, etwas Verbotenes zu tun. Sie zog ihren Neoprenanzug an und schlich los: zum Strand. Hier lagen die drei Kite-Schirme. Schön ausgebreitet für die zweite Runde am Nachmittag: die Segel mit den Brettern beschwert, damit der Wind sie nicht bauschen konnte.
Paula schlüpfte in Jakobs Sitztrapez wie in eine kurze Hose. Sie würde ihrem Vater schon zeigen, dass sie es konnte! Zu klein! Pah! Sie zog den Gurt fest zu. Ungestüm. Trotzig. Das müsste gehen. Sodann verband sie den Gurt mit den Schnüren des Segels. Und trug das Segel zum Wasser.
Paula hatte Glück. Dachte sie jedenfalls. Denn der Wind wurde stärker. Paula musste nur noch mit ihren Füßchen in die Riemen des Surfbretts schlüpfen. Aber ihre nackten Füße waren zu klein: Sie rutschten immer wieder aus den Schlaufen. Paula seufzte. Sie hätte zwei Paar Wasserschuhe übereinander anziehen müssen.
In diesem Augenblick blähte ein besonders kräftiger Windzug ihr Segel, und das Segel wurde Paula aus den Händen gerissen, es plusterte sich und flog, nein, flitzte nach oben, hoch hinauf. Paula schaute dem Segel staunend hinterher und wusste plötzlich: Das hier war die dümmste Idee ihres Lebens. Denn schon ruckte es, und Paula fühlte sich in die Luft gelupft. Das Segel flatterte zehn Meter über ihr, Paula schnurrte hoch und höher und zugleich fort vom Strand, Richtung Meer, denn der Wind kam vom Land her. Ablandiger Wind, hatte ihr Vater immer gesagt. Ein Wind, der alles aufs Meer hinausweht.
Paula schnappte sich die Stange vor ihrer Brust. Mit der konnte man das Segel steuern. Sie wusste: Sie musste sich losmachen! Sich ausklinken! Sofort! Paula tastete nach der kleinen runden Dose vor ihr: Wenn man die nach oben schob, konnte man sich befreien vom Segel. Sie schaute hinunter: Nein, fürs Losmachen war Paula schon zu hoch. Sie würde sich sämtliche Knochen brechen, wenn sie aus dieser Höhe aufs Meer knallte. Von so weit oben ist das Wasser hart wie Beton, hatte ihr Vater mal erklärt. Paula schrie um Hilfe. Sie blickte zum Strand: Dort lagen ihre Brüder und ihr Vater, aber die drei konnten sie nicht hören, sie schliefen mit ihren Kopfhörern auf den Ohren. Ansonsten war immer noch kein Mensch zu sehen weit und breit.
Einige Minuten später gondelte Paula schon über dem offenen Meer, und der Strand lag in weiter Ferne. Sie weinte. Aber sie durfte nicht weinen! Sie wollte nicht weinen! Sie musste sich beruhigen! Sich zusammenreißen! Nachdenken!
Sie zog die Nase hoch, wischte die Tränen aus den Augen. Das Meer glitzerte tief unter ihr. Paula versuchte alles Mögliche, zog rechts und links an der Stange, um das Segel zu lenken. Aber nichts tat sich. Die Schnüre dort oben: verdreht. Ausgeliefert war sie! Dem Wind! Dem Segel! Dem Meer! Ganz allein! Und keine Hilfe in Sicht.
Was sollte sie tun? Am besten: gar nichts. Solange sie flog, ging es noch. Erst wenn sie abstürzte, würde es gefährlich werden. Sie würde ins offene Meer platschen. Ohne Surfbrett an den Füßen. Sie würde ertrinken. Oder Haie würden sie fressen.
Paula schaute nach oben: Das Kite-Segel sah wunderschön aus, rot, ausgebreitet wie ein gigantischer Flügel. Man musste das Segel doch sehen! Aus der Ferne! Wenn ihr Vater aufwachte, würde Paula weg sein. Und eine Ausrüstung würde fehlen. Ihr Vater würde sofort einen Hubschrauber hinter ihr herschicken! Ein Motorboot! Er würde alles tun, um sie zu retten!
Doch Stunde um Stunde verstrich, ohne dass Paula das Brummen irgendeines Motors hörte. Die Sonne sank weiter und tiefer Richtung Meer. Der gelbe Ball färbte sich zuerst orange und dann rot, und schon wurde die Hälfte vom Meer verschluckt, dann drei Viertel, und dann war sie weg, die Sonne.
Nur noch Finsternis. Sterne am Himmel. Sonst nichts. Paula zitterte. Ihr war kalt. Unter ihr flüsterte das Meer. Hin und wieder ein seltsames Klatschen, als würde ein Fisch kurz aus dem Wasser springen. Der Wind im Segel über ihr fauchte leise. Ansonsten Stille. Immer weiter wurde Paula fortgeblasen, fort von ihrem Vater und ihren Brüdern. Sie hielt Ausschau nach den Lichtern irgendeines Schiffes. Nach einem Leuchtturm. Nach irgendwas! Aber da war nichts.
Hilflos und allein schloss Paula die Augen. Sie spürte plötzlich eine bleierne Müdigkeit in ihren Gliedern und in ihrem Kopf. Nur nicht einschlafen, dachte sie. Aber ein wenig dösen oder träumen konnte nicht schaden. An Dinge denken, die sie mochte. Einfach, um sich zu beruhigen. Um sich abzulenken von der Gefahr, in der sie schwebte. Und sie döste über die Dinge zu Hause, die ihr Spaß machten: das Reiten auf Henry. Im Reitstall. Paula stellte sich vor, wie sie auf Henry ritt, wie sie ihn striegelte und fütterte. Jetzt, im Urlaub, nach nur wenigen Tagen, vermisste sie ihn schon. Paula lenkte sich weiter ab und dachte an das Buch, das auf ihrem Nachttisch lag. Sie liebte das Lesen. Dieses Abtauchen in fremde Welten. Bis spätnachts tat sie es, heimlich, unter der Bettdecke, mit Taschenlampe. Aber auch ohne ein Buch konnte Paula abtauchen: Beim Aus-dem-Fenster-Schauen ließ sie ihre Gedanken endlos schweifen: Träumerin! So nannten ihre Eltern sie bisweilen. Paula dachte an Puzzlespiele. Ans Malen-nach-Zahlen mit ihrer Mutter. An die Rechen-Olympiade. Und an das, was sie mit ihrem Vater am liebsten tat: schwimmen. Nein, lieber nicht ans Schwimmen denken, lieber nicht, nicht jetzt! Nicht mit dem Meer unter ihr. Und in Gedanken streichelte sie rasch wieder die zottige Mähne von Henry und flüsterte ihm ins Ohr: »Es wird gut, Henry. Es wird alles gut!« Und dann schlief sie ein. Erschöpft, ausgeweint, verlassen, am Segel hängend, in größter Gefahr: schlief sie ein.
Paula wurde von einem Rauschen geweckt. Sie öffnete die Augen. Fast gleichzeitig merkte sie: Das Meer war plötzlich dicht unter ihr: höchstens zehn Meter! Die Sonne ging gerade auf. Der Wind hatte nachgelassen, nein, erloschen war er. Vollkommene Flaute. Und dort: Land! Land in Sicht! Zwar noch ein ganzes Stück entfernt, aber immerhin: Land! Rettung! Ein dicht bewaldetes Land, mit einem langen weißen Strand, mit Hügeln in der Ferne, ein großes, echtes, wunderbares, festes Land. Dort würde es bestimmt Menschen geben. Telefone! Paula würde ihre Eltern anrufen können, und man würde sie abholen. Ihre Eltern würden schimpfen, aber zugleich würden sie weinen vor Freude. Und Paula würde hoch und heilig versprechen müssen, nie wieder so einen verrückten Unsinn zu machen.
Doch der Gleitschirm sackte jetzt ab. Sank von Minute zu Minute immer tiefer. Paula wusste nicht, ob er ein Loch hatte, der Schirm, ob es am erschlaffenden Wind lag oder warum dem Segel so plötzlich Luft und Schwung ausgingen. Etwa fünfhundert Meter vom Strand entfernt plumpste Paula ins Wasser. Viel zu früh! Das Segel über ihr tat seinen letzten Atemzug, knautschte zusammen und flappte auf die Wellen. Dort lag es wie ein kaputter Drache, der kein Feuer mehr speien konnte, einfach so, ausgeblasen.
Hätte Paula nur das Surfbrett an den Füßen gehabt! Auf das Surfbrett hätte sie sich legen und mit den Händen gemütlich zum Strand paddeln können. Jetzt aber musste Paula erst mal den Gurt loswerden. Dieses komische Sitztrapez. Gar nicht so einfach, weil sie gleichzeitig schwimmen und aus diesem Trapezsitz aussteigen musste. Dabei schluckte sie Wasser, das salzig und ein wenig bitter schmeckte. Endlich klappte es: Sie war frei! Und Paula schwamm los, Richtung Strand.
Ihr Schwimmlehrer hatte ihr beigebracht: lange Arme, weite Züge, nicht zu hektisch, immer ruhig bleiben. Ja, schon, aber das hatte sie in einem Schwimmbecken gelernt. Jetzt durchquerte sie das offene, das schaurig-tiefe Meer. Mit echten, wilden Wellen. Paula wurde schnell müde, ihre Muskeln brannten nach wenigen Minuten. Aber es ging hier um Leben und Tod. Sie musste weiterschwimmen. Egal, wie weh es tat.
Und sie schwamm. Tapfer schwamm sie durch die Wellen. Immer weiter. Aber irgendwie hatte sie das Gefühl, gar nicht richtig fortzukommen. Vielleicht gab es eine Strömung, die sie immer wieder zurück ins Meer zog? Sie kämpfte, Paula gab alles. Was für ein schrecklicher Tod wäre das! Ertrinken! Die Dunkelheit unter ihr! Wasser in der Lunge, absinken, zappeln und …
Eine Rückenflosse! Paula schrie auf. Ein Hai! Hier! Dicht neben ihr! Paula hatte Angst vor Haien. Obwohl sie einmal gelesen hatte, dass in Wirklichkeit gar nicht so viele Menschen an Hai-Attacken sterben. Nein, viel mehr Menschen sterben an Kokosnüssen als an Hai-Attacken. Wenn die Menschen auf dem Strand unter herrlichen Kokospalmen lümmeln und so eine fette Kokosnuss runterknallt, direkt auf den Kopf, ist man sofort tot. Viel gefährlicher also, unter Palmen zu liegen, als im offenen Meer mit Haien zu schwimmen. Dennoch: Paulas Angst vor Haien war groß. Sie schwamm noch schneller. Nun musste sie nicht nur den Strand erreichen, sondern auch dem Hai entkommen. Sonst sähe es schlimm aus. Schon streifte die Rückenflosse ihren Körper. Paula blickte auf das Monster neben sich: ein langes graues, glattes Tier. Doch plötzlich streckte das Tier den Kopf aus dem Wasser. Ein Gesicht wie ein Lächeln, ein Trillern, ein Nicken.
Der Hai war kein Hai!
Der Hai war ein Delfin!
Ein schöner Delfin, der jetzt kurz aus dem Wasser sprang. Paula jubelte. Auch das wusste sie: Delfine haben schon oft Menschen vor dem Ertrinken gerettet.
Der Delfin schwamm dicht an Paula heran. Er hatte seltsame schwarze Ringe um die Augen, aber egal, Paula legte die linke Hand an die Rückenflosse des Delfins. Und schon ging es los. Mit turboschnellen Schlägen der Schwanzflosse brachte der Delfin sich und Paula auf Tempo, pflügte zügig durchs Wasser, immer Richtung Strand. Paula kreischte vor Glück und auch vor Vergnügen. So schnell war sie noch nie durch die Wellen geflogen und gehüpft.
Und dann sah Paula den Strand dicht vor sich, er waren nur noch etwa zehn Meter. Sie ließ den Delfin los und schwamm die paar Züge, bis sie festen Grund unter den Füßen spürte. Ein sandiger, weicher, wunderbarer Untergrund ohne Steine. Der Delfin sprang noch ein letztes Mal aus dem Wasser, wie um sich zu verabschieden, er tanzte ein paar Sekunden auf der Schwanzflosse, keckerte lustig und verschwand. Paula rief: »Danke!« Sie drehte sich zum Strand und holte erst mal tief Luft.
Doch ihr blieb keine Zeit. Denn genau in dem Augenblick, da Paula glaubte, es geschafft zu haben, und in Richtung des düsteren Dschungels schaute, der dicht hinterm Strand begann, hörte sie einen spitzen lauten Schrei.
Das klang wie: »Jahuhaa!«
Es teilten sich die mächtigen Wipfel der Urwaldbäume, und etwas kam auf Paula zugeflogen, etwas Großes, Schwarz-Gelbes. Aus dem Dschungel flog dieses Wesen heran, kreiselte um sich selbst in der Luft, als wäre es von einer mächtigen Urkraft geschleudert worden, dabei brüllte das Wesen entsetzlich wild und laut und landete nur wenige Meter vor Paula im Wasser: Es klatschte mit einem fetten Platschen ins Meer. Sein Kopf tauchte wieder auf. Paula konnte kaum glauben, was sie sah: Es war ein Tiger! Ein riesiger, messerscharf-zahnbesetzter Tiger.
Sofort duckte sich Paula ins Wasser, bis zur Nasenspitze. Der Tiger bemerkte sie nicht. Zum Glück. Er brüllte noch einmal, und es hörte sich fast so an, als brülle der Tiger vor Vergnügen. Dann paddelte das Tier zum Strand, schüttelte das Wasser aus dem Fell und trottete zurück in den Urwald.
Schon ertönte ein zweiter Schrei: »Jahuhaa!«
Und ein zweiter Tiger sirrte kreiselnd durch die Luft. Er landete beinah an derselben Stelle in den Wellen wie der erste Tiger. Und auch der zweite Tiger brüllte, paddelte zum Strand, schüttelte sich und stapfte zurück in den Urwald. Paula kniete noch ein wenig im lauen Wasser, aber da kam nichts mehr, die Luft war rein.
Sie watete zum Strand. Restlos erschöpft suchte sie Deckung hinter einem dicken Felsen, streckte sich aus, fiel in eine kurze Ohnmacht, und ihr letzter Gedanke war: »Wo bin ich hier bloß gelandet?«
Als sie wieder zu sich kam – es waren wohl kaum ein paar Minuten vergangen, denn die Sonne stand immer noch sehr tief überm Meer –, da blickte Paula in ein Gesicht. In ein liebenswertes Gesicht. In ein fröhliches, lächelndes, aber auch faltiges Gesicht. Und über dem Gesicht thronte eine orangefarbene lockige, aufgeplusterte Haarpracht, die aussah wie die zerstrubbelte Blumenkohlperücke eines gutmütigen Clowns. Das Gesicht gehörte zu einer alten Frau. Sie kniete bei Paula und befand sich auf Augenhöhe. Dann sagte sie: »Keine Sorge, Mädchen, bei mir bist du in Sicherheit!« Paula konnte nicht anders, alle Angst und alle Kälte und alle Kämpfe der letzten Nacht schüttelte sie von sich und fiel der alten Frau im Sitzen um den Hals. Die Frau streichelte Paula über den Schopf und sagte: »Es wird alles gut!«
Paula beruhigte sich langsam. Sie stand auf. Auch die Frau erhob sich. Aber nicht wie eine uralte Oma, sondern irre schnell, fast hüpfend. Jetzt sah Paula: Die Frau trug einen nachtblauen Trainingsanzug mit roten und grünen Punkten, dazu violette Turnschuhe. Um den Hals herum hing eine Kette, an der eine kleine kreisrunde Plakette baumelte: vollkommen schwarz. Und an jedem ihrer Finger steckte ein silberner Ring.
Paula fragte: »Wo bin ich hier?«
Die alte Frau kicherte, hüpfte quietschfidel in die Luft, landete auf einem Bein, balancierte und breitete die Arme aus wie eine Ballerina, dann drehte sie sich einmal um sich selbst, pfiff durch ihre Finger und rief: »Nicht schlecht, Herr Specht!« Und sofort schlüpfte aus ihrem orangefarbenen Wuschelhaar – wie aus einem Nest – ein knallbuntes Vögelchen. Es setzte sich der alten Frau auf die Schulter und – sprach. Wie ein Mini-Papagei. Dreimal hörte Paula dasselbe Wort. Es klang wie: »Chronossos! Chronossos! Chronossos!« Dann flatterte das kleine Vögelchen zurück ins grell-orangefarbene Haarnest.
Die alte Frau sagte: »Herr Specht hat recht. Wir befinden uns am südwestlichsten Punkt der schwimmenden Insel Chronossos. Also, hm: Sofern eine schwimmende Insel einen südwestlichsten Punkt haben kann, weil: So eine schwimmende Insel, die dreht sich ja immer! Jahuhaa!«
»Schwimmende Insel?«, rief Paula, schüttelte den Kopf und fragte: »Und wer bist du?«
»Ich?«, sagte die Frau, stellte sich in Positur, drückte den Rücken durch und rief feierlich: »Mein Name, liebes Mädchen, lautet: Carissima Ballaballissima Fortissima Intelligissima Dormissima Tristissima Circulus von Chronossos.«
Paula schnaufte verblüfft.
»Keine Sorge. Musst du dir nicht alles merken. Nenn mich einfach Carissima. Manche nennen mich auch Urwald-Oma. Aber so alt bin ich jetzt auch wieder nicht. Jahuhaa!«
Urwald-Oma? Carissima? Circulus von Chronossos? Fliegende Tiger? Schwimmende Insel? Vogel im Haar? Das alles hatte nichts, aber auch gar nichts mit dem zu tun, was Paula aus ihrem Leben kannte. Selbst die Sonne schimmerte gelber und satter. Dazu lag über allem ein köstlicher Duft nach Kokos und Vanille.
»Und du?«, fragte die Urwald-Oma. »Wie heißt du?«
»Paula. Paula Kruse.«
»Und du lebst in Neuseeland?«
»Nein. Wir machen Urlaub. Eigentlich wohne ich in Cismar. Auch am Meer. An der Ostsee. Aber ganz weit weg.«
»Und was hast du für komische Sachen an?«
»Wieso? Mein Neoprenanzug?«
»Was bitte-danke ist ein Neoprenanzug?«
»Kennst du das nicht?«
»Nicht die Bombe!«
»Den braucht man zum Surfen und Tauchen.«
»Ist das so?«
»Au, Mann!«, rief Paula plötzlich und schlug sich die Hand vor die Stirn, als hätte sie etwas vergessen. »Hast du ein Handy?«
»Ein … was?«
»Ein Smartphone, ein Handy, ein Telefon!«
»Ein Telefon?«, sagte die Urwald-Oma. »Tut mir leid. So was gibt’s nicht auf Chronossos.«
»Was?«, sagte Paula enttäuscht. »Und wie soll ich dann meine Eltern anrufen?«
»Wo befinden sich denn deine Eltern?«
»In Wainui, Neuseeland.«
»Oje«, sagte die Oma. »Und wie bitte-danke bist du überhaupt hergekommen?«
»Mit einem Segel. Ich bin die ganze Nacht durch die Luft gesegelt. Und dann ins Meer gestürzt. Ein komischer Delfin hat mich gerettet. Der hatte Ringe um die Augen.«
»Oh. Das war Filippina! Unsere Freundin. Sie schwimmt immer mit unserer Insel mit. Jahuhaa! Und die komischen Augen, das ist ihre Taucherbrille.«
»Taucherbrille?«, fragte Paula.
»Ja. Filippina hat eine Salzwasser-Allergie. Die Taucherbrille haben wir ihr gebastelt, damit ihre Augen nicht ständig tränen.«
Paula lächelte und schüttelte den Kopf.
»Aber«, sagte die Oma jetzt, »eine ganze Nacht über dem Meer! Du musst ja einen Mordshunger haben! Ich bring dich in meine Festung bitte-danke. In Ordnung?«
»Deine Festung?«
»Ja. Eine Festung braucht man, um sich zu schützen. Gegen Feinde!«
»Hast du denn Feinde?«
»Leider ja. Im Norden, im Westen, im Osten und in der Mitte der Insel. Jahuhaa!« Carissima schaute besorgt Richtung Meer und sagte: »Wir sollten langsam los, Paula. Um diese Zeit kommen die Spazierstock-Haie gerne an Land, und mit denen ist nicht zu spaßen. Wollen wir?«
Paula fragte nicht nach, was Spazierstock-Haie waren, sie musste erst einmal alles ordnen in ihrem Kopf, und so ging sie still neben Carissima von Chronossos über den feinkörnigen Strand zum Rand des Urwalds.
Der Dschungel wirkte schattig und dunkel und nicht gerade einladend. Es zwitscherte und tschilpte, zirpte, klopfte und huhuhte. Überall mussten sich Tiere verborgen halten. Paula zitterte ein wenig. Ihr war kalt. Kein Wunder nach einer ganzen Nacht über dem Meer. Unter den Urwaldriesen erstreckte sich undurchdringliches Unterholz, Dickicht, Büsche, kleinere Bäume. Sie folgte der Urwald-Oma auf einem ausgetretenen, gewundenen Pfad durch die Wildnis. Es roch hier nicht mehr nach Kokos und Vanille, sondern nach Hitze und feuchtem Moos.
Plötzlich blieb die Urwald-Oma stehen. Auf dem Pfad standen die zwei Tiger, die vorhin ins Meer geplumpst waren. Paula hielt die Luft an. Die Urwald-Oma aber zückte eine goldene Uhr aus der Tasche ihres Trainingsanzugs, seufzte, nickte und näherte sich den Tieren. Die Tiger pirschten heran, hechelten ein wenig, fast wie Hunde, die auf ein Stöckchen warten. Dennoch wirkten sie aus der Nähe noch weitaus bedrohlicher als vorhin im Meer.
»Also gut!«, rief die Urwald-Oma und pfiff mit beiden Fingern ihrer rechten Hand. »Noch eine Runde! Aber dann ist Sense für heute! Capito?!«
Die Tiger nickten wild und freudig. Dann drehten sie sich um und wedelten mit ihren Schweifen. Die Urwald-Oma packte zu, griff nach dem ersten Schwanz, lüpfte den großen, schweren Tiger scheinbar mühelos vom Boden, hoch in die Luft, drehte sich im Kreis wie eine Hammerwerferin, warf den Tiger in hohem Bogen aus dem Dschungel hinaus und schrie: »Jahuhaa!«
Paulas Mund stand offen. Der Tiger flog nach oben, durch die Baumwipfel, und ein paar Sekunden später hörte Paula ein Platschen in der Ferne: Der erste Tiger war wohl im Meer gelandet. Und der zweite Tiger folgte dem ersten auf dem Fuß.
»Jahuhaa!«, rief Carissima von Chronossos zu Paula. »Zum Glück bin ich die stärkste Oma der Welt! Ich bin stärker als der fetteste Elefantenkönig, ich bin stärker als drei Dinosaurier und ich bin stärker als die berühmte Armee von Pitschi-Glatscho, ich bin stärker als … na ja … eben alles, was es gibt. Deshalb musst du keine Angst haben, Paula. Solange du bei mir bist. Es gibt schreckliche Gefahren auf der Insel.«
»Meinst du die Tiger?«
»Och, nein, die Tiger sind harmlos. Na gut: Als sie mich zum ersten Mal gesehen haben, wollten sie mich natürlich fressen, aber ich habe sie am Schwanz gepackt und durch die Luft geschleudert, genauso wie gerade eben! Die Tiger waren zuerst erschrocken, dann aber haben sie gemerkt: Das Fliegen macht irre Spaß! Seitdem kommen sie jeden Morgen zu mir und wollen ins Meer geschleudert werden. Na gut: Wenn’s weiter nichts ist! Bitte-danke, kein Problem!«
»Aber, Carissima«, sagte Paula. »Wenn du die stärkste Oma der Welt bist, stärker als die Armee von …«
»Pitschi-Glatscho!«
»… dann brauchst du dich doch vor niemandem zu fürchten. Warum hast du dann eine … Festung? Und Feinde?«
In diesem Augenblick zwitscherte der kleine Vogel wieder aus dem Nest der Oma, flatterte in der Luft stehend wie ein Kolibri vor Paulas Nase und quietschte: »Carissima ist die stärkste Oma von Welt. Aber leider nur für drei Stunden pro Tag. Und zwar genau von sechs Uhr morgens bis neun Uhr morgens. Immerhin. Nicht schlecht, Herr Specht! Nicht schlecht!«
Schon verschwand der Vogel wieder.
»Musst du immer alles verraten?«, murrte die Oma und verdrehte die Augen nach oben, Richtung Vogel.
»Stimmt das denn?«, fragt Paula.
»Leider ja«, murmelte die Urwald-Oma ein wenig zerknirscht. »Es tut mir leid. Ich kann nichts dafür. Mein Leben auf der Insel Chronossos ist den gestrengen Gesetzen der Zeit unterworfen. Meinen sogenannten Gezeiten!«
»Das heißt: Du bist die stärkste Oma der Welt, aber nur von sechs bis neun Uhr morgens?«
»So ist es!«
»Und was machst du, wenn die Tiger NACH neun Uhr kommen und dich angreifen?«
»Och, die Tiger wissen doch nicht, dass ich nur von sechs Uhr bis neun Uhr die stärkste Oma der Welt bin. Die wissen ja nicht, dass sie mich um fünf nach neun locker auffressen könnten.«
»Und deshalb tun sie dir nichts?«
»Genau! Und außerdem bin ich nicht allein auf der Insel. Ich habe nicht nur Feinde, sondern auch Freunde.«
»Und einen Vogel!«, rief Paula und zeigte auf den Haarschopf der Urwald-Oma.
»Das stimmt!«, lachte die Oma. »Einen Vogel sollte jeder haben. Und meiner da oben, der heißt Herr Specht!«
In diesem Augenblick sah Paula einen Baum. Eigentlich sah sie die ganze Zeit Bäume, aber dieser Baum hier war ein ganz besonderer Baum. Das spürte sie sofort. Der Baum schien noch größer und höher zu sein als die anderen Urwaldriesen, dicker, bemooster. Und hoch oben klebte etwas an seinem Stamm: eine Uhr.
»Schau mal«, flüsterte Paula. »Eine Uhr am Baum. Da oben.«
»Ich weiß«, sagt die Urwald-Oma. »Das ist unser Uhrzeitbaum. Der älteste Baum: Seine Wurzeln reichen der Insel bis tief ins Herz. Sagte ich, dass Chronossos eine lebende Insel ist?«
»Es gibt keine lebenden Inseln!«, rief Paula.
Die Urwald-Oma holte tief Luft. »Chronossos schon!«, sagte sie. »Als schwimmende Insel ist Chronossos ständig in Bewegung. Die Insel möchte auf keinen Fall von irgendwelchen Menschen entdeckt werden. Und sie spürt, wenn Schiffe sich nähern, sie spürt es an den Wellen, die sich an ihrem Strand brechen, sie spürt die Schiffe, wenn sie noch weit in der Ferne sind. Und dann schwimmt sie einfach weg. Daher wurde Chronossos noch nie von irgendeinem Menschen gesehen. Keiner weiß, dass es Chronossos überhaupt gibt. Jahuhaa!«
Paula dachte kurz nach. »Aber warum ist die Insel nicht vor mir weggeschwommen?«
»Gute Frage, Paula! Die Antwort lautet: Du bist zu klein! Sie hat dich nicht bemerkt.«
»Erstens bin ich nicht zu klein«, maulte Paula. »Und zweitens: Wie kann eine Insel sehen? Hat sie Augen?«
»Sie fühlt mit dem Sand ihres Strandes, aber sie sieht und hört mit den Wipfeln ihrer Bäume.«
»Und was ist jetzt mit der Uhr da oben?«
»Ach so. Schau mal, Paula: Das ist so. Unsere Insel Chronossos kann nicht nur durch das Meer schwimmen, sondern auch durch die Zeit. Also jedenfalls ein klein wenig bitte-danke. Genauer gesagt: Die Insel kann die Zeit um exakt eine volle Stunde zurückdrehen.«
»Was? Wie? Zurückdrehen?«
»Die Insel dreht die Zeit um eine Stunde zurück. Und dann ist sie wieder genau dort, wo sie eine Stunde zuvor gewesen ist. Wenn sich also zufällig zwei oder mehrere Schiffe gleichzeitig nähern, von verschiedenen Richtungen, wenn die schwimmende Insel also keinen Ausweg mehr hat, keinen Raum mehr, in den sie fliehen und ausweichen könnte, dann flüchtet sie eben durch die Zeit.«
»Das verstehe ich nicht!«
»Ganz einfach: Wenn sie die Zeit am Uhrzeitbaum um eine Stunde zurückdreht, ist Chronossos wieder an dem Ort, an dem sie eine Stunde zuvor gewesen ist. Dann kann die Insel einfach woanders hinschwimmen und geht den Schiffen aus dem Weg.«
»Das ist unmöglich!«, schnaufte Paula.
»Nichts ist unmöglich«, sagte Carissima.
Paula dachte einen Augenblick nach und sagte dann: »Hm. Aber wenn es so was gäbe, wär das echt cool. Dann würd ich das auch gerne können! Die Zeit um eine Stunde zurückdrehen!«
Paula stellte sich vor, wozu so eine Zeitrückdrehung alles nützlich wäre. Bei einer Klassanarbeit zum Beispiel: Man liest sich die Aufgaben durch, dann dreht man die Uhr einfach eine Stunde zurück. Man wüsste haargenau, was drankommt. Und könnte eine bessere Note schreiben! Oder wenn man jemandem etwas Fieses gesagt hat. Und es tut einem leid. Dann dreht man die Uhr um eine Stunde zurück, lässt es einfach bleiben und sagt stattdessen was Nettes.
»Aber das geht doch alles nicht«, sagte Paula traurig und schüttelte den Kopf.
»Ich weiß, es ist schwer zu glauben. Aber du wirst mit der Zeit alles selber sehen. Mit eigenen Augen. Hier, auf Chronossos.«
»Mit der Zeit?«, fragte Paula. »Ich will so schnell wie möglich zurück zu meinen Eltern!«
»Hm«, sagte die Urwald-Oma traurig. »Schwierig. Schwierig.«
Paula dachte kurz nach. Dann hellte sich ihr Gesicht auf, sie warf den Kopf in den Nacken, ließ die Zöpfe tanzen und rief: »Wenn es stimmt, was du sagst, also, wenn die Insel Chronossos wirklich schwimmen kann, dann lass sie doch einfach zurück nach Wainui schwimmen!«
»Das kann ich nicht«, sagte die Urwald-Oma. »Chronossos hat ihren eigenen Kopf. Ich habe keinen Einfluss auf die Richtung, in die sie schwimmt.«
Paula rief: »Das heißt, wir schwimmen irgendwohin?«
»Ja.«
»Und wir wissen nicht mal, in welche Richtung?«
»Ja.«
»Vielleicht immer weiter weg von Neuseeland?«
»Ja.«
»Und wir können auch nicht entdeckt werden?«
»Niemals.«
»Dann komme ich ja nie wieder von der Insel runter!«
Die Urwald-Oma schwieg einen Augenblick. Dann sagte sie: »Paula! Wir werden die Suppe schon schaukeln, die wir uns da eingelöffelt haben. Wir werden es schaffen, wir alle zusammen! Das versprech ich dir bitte-danke! So wahr ich die Urwald-Oma bin!« Mit diesen Worten beugte sich Carissima von Chronossos zu Paula hinab und sah sie fest an. Die Augen der Oma leuchteten himmelblau. »Ich werd dich nicht allein lassen!«, sagte die Oma. Dann hüpfte sie wieder in die Höhe, rief »Jahuhaa!« und sagte: »Komm! Gleich sind wir da.«
»Wo?«
»Wir müssen nur noch um die Ecke dort.«
Sie folgten dem Pfad, der in eine Treppe mündete, eine Treppe aus Steinen und Brettern und ausgetretener Erde.
»Jahuhaa!«, rief die Urwald-Oma und zeigte nach oben. »Willkommen in meinem bescheidenen Zuhause.«
Die Urwald-Oma wies auf einen hohen, mächtigen Zaun am Ende der Treppe. Wie die Palisaden einer Festung erstreckte sich diese Umzäunung zu beiden Seiten: dicke Pfähle, wohl vier Meter hoch, Pfähle, dicht nebeneinander in den Boden gerammt und in allen möglichen Farben angepinselt. Paula aber hatte keine Augen für den riesigen Zaun, sondern nur für den – Gorilla, der davor saß. Ein großer, schöner schwarzer Gorilla auf einem Holzstuhl, er hatte ein Bein über das andere geschlagen, in der einen Hand hielt er ein Buch, in der anderen ein Glas mit Strohhalm. Jetzt blickte der Gorilla zur Urwald-Oma und zu Paula, legte das Buch auf ein Tischchen neben sich, saugte noch einmal am Strohhalm, stellte das Glas zurück und stand auf.
Paula und die Urwald-Oma stiegen die steile Treppe hoch zum Tor. Das waren über hundert Stufen. Rechts und links der Treppe wucherte dichtes, undurchdringliches Dornengestrüpp. Oben angekommen, schnappte Paula erst mal nach Luft. Aus der Nähe betrachtet war der Gorilla eine noch viel mächtigere Erscheinung, imposant und um einiges größer als die Urwald-Oma. Er stand einfach nur da, neben dem Eingangstor, und verströmte eine Bärenruhe. Er lächelte. Was für ein hübsches Gesicht er hat, dachte Paula. Diese glitzernden braunen Äuglein. Die flache Nase. Ein makellos schwarzes Fell: Das sah aus, als würde er sich jeden Morgen kämmen oder zu einem Pelzfriseur gehen. Ein runder, wohlgeformter, beinah menschlicher Kopf und keine hohe Stirn, wie Paula dies von den Gorillas im Zoo her kannte. Und dieser Rücken! Ein glitzernd silberner Rücken, der angenehm funkelte im Kontrast zum restlichen schwarzen Fell.
»Carissima, willkommen zurück«, sagte der Gorilla ruhig, langsam und tief. Seine Stimme war angenehm warm und beruhigte Paula sofort.
Paulas Mund klappte auf. »Er spricht!«, raunte sie der Oma zu.
Der Gorilla stand kerzengerade vor ihnen und machte eine Verbeugung.
Die Urwald-Oma flüsterte: »Warum sollte er nicht sprechen, Paula? Er heißt Baddabamba. Mein lieber Freund Baddabamba ist weiser, klüger und belesener als wir alle zusammen auf der Insel.«
Dann wandte sich die Urwald-Oma dem Gorilla namens Baddabamba zu und erwiderte dessen Verbeugung. Und seltsam: Die Oma sprach ein wenig anders mit Baddabamba als mit Paula.
»Wie ist das werte Befinden?«, fragte sie den Gorilla.
»Ach«, sagte Baddabamba, »die Sonne vermag meinen Pelz nicht zu durchdringen.« Und er wischte mit der Hand eine kleine Fluse vom tiefschwarz behaarten Arm.
»Und welches Buch liest du heute?«, fragte die Oma.
»Moby Dick von Herman Melville.«
»Und wie gefällt dir das Buch, Baddabamba?«
»Es mundet mir wie dein köstlicher Eistee, Carissima!«
»Gut. Das freut mich, Baddabamba. Du kannst mir später von Moby Dick berichten.«
»Darf ich in Erfahrung bringen, wer hier heute auf dieser Insel gelandet ist, Carissima?«, fragte der Gorilla und deutete auf Paula.
»Das ist Paula Kruse«, sagte die Oma.
»Ein Menschenkind?«
»Sehr wohl.«
»Wie wunderbar«, nickte der schwarze Gorilla. »Entzückend.« Er wandte sich zu Paula und sagte: »Paula Kruse!« Dabei legte er ihr eine Hand sanft auf die Schulter und murmelte: »Ich habe dich erwartet!«
Paula zuckte zusammen.
Baddabamba zog sofort die Hand zurück und sagte: »Ich bitte um Vergebung, ich wollte dich nicht erschrecken, Paula.«
Die Urwald-Oma rief: »Hast du Paula gesehen, Baddabamba?«
»Ja, vorletzte Nacht. Ich sah ein Mädchen, das mit einem Schirm ins Wasser fiel.«
»Wo denn?«, rief Paula aufgeregt. »Gesehen? Wie denn? Wen denn? Mich? Wieso? Woher? Warum?«
»Baddabamba«, sagte die Urwald-Oma, »hat manchmal gewisse Träume, in denen er Dinge sieht. Dinge, die noch nicht geschehen sind, aber noch geschehen werden.«
»Dinge aus der Zukunft?«
»Genau.« Die Urwald-Oma wandte sich wieder an den Gorilla: »Was hast du sonst noch gesehen?«
»Nicht viel mehr, es tut mir leid.«
»Mein getreuer Baddabamba«, sagte die Oma. »Es ist gut. Kannst du es bitte-danke so einrichten, in sechzig Minuten zu uns zu kommen, also um exakt acht Uhr dreißig, zur Versammlung