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Der zweite Band der "Insel der Zeit"-Trilogie von Sprachkünstler Markus Orths – spannend erzählt und zum Mitfiebern ab Seite eins! Paula reist endlich zurück auf die Insel der Zeit, aber vor Ort landet sie in größter Gefahr: im Lager der bedrohlichen Hubbanesen! Doch mit Hilfe ihres Freundes Baddabamba schafft sie es, sich zu befreien. Und sie hat ein Geheimnis belauscht: Die Göttin der Hubbanesen, die die Höhle der Ewigkeit bewacht, schläft wochenlang – in der Höhle wartet Baddabambas Vater seit langer Zeit auf Rettung! Kurzerhand brechen sie gemeinsam auf, um ihn zu befreien. Aber Paula erzählt ihnen nicht alles ... Tiefgründig, klug und liebenswert: Eine packende Reise mit unvergesslichen Charakteren
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Seitenzahl: 305
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Paula reist endlich zurück auf die Insel der Zeit, aber vor Ort landet sie in größter Gefahr: im Lager der bedrohlichen Hubbanesen! Doch mit Hilfe ihres Freundes Baddabama schafft sie es, sich zu befreien. Und sie hat ein Geheimnis belauscht: Die Göttin der Hubbanesen, die die Höhle der Ewigkeit bewacht, schläft wochenlang – in der Höhle wartet Baddabambas Vater seit langer Zeit auf Rettung! Kurzerhand brechen sie gemeinsam auf, um ihn zu befreien. Aber Paula erzählt ihnen nicht alles …
Tiefgründig, klug und liebenswert: Eine packende Reise mit unvergesslichen Charakteren
Teil I – Bei den Hubbanesen
1 – Der Wunschstein
2 – Tiefseepferd und Wellenreiter
3 – Fetter Fisch mit Beinen
4 – Jeder Wunsch hat seine Tücken
5 – Professor Picco Bello
6 – In höchster Gefahr
7 – Der Plan der Hubbanesen
8 – Ein sagenhafter Duft
9 – Durch den Dschungel
10 – Die rätselhaften Bocksbeeren
11 – Im Tunnel der Maguren
12 – Auf dem Weg zu Caligula
13 – Pokkobombo und das Zeitloch
14 – Vier haarige Baumstämme
15 – Die Höhle der Spinne
16 – Ziegelsteinmikado
17 – Mörder in der Nacht
18 – Die Hubbanesen greifen an
19 – Ein fataler Fehler
Teil II – Die Höhle der Ewigkeit
20 – Wunderschöne Wendy
21 – Ein Wenn und ein Dann
22 – Arbeit, Essen, Arbeit
23 – Fühlt sich so der Tod an?
24 – Der schlimmste aller Gegner
25 – Blick in den Spiegel-Igel
26 – Die traurigste Oma der Welt
27 – Ein Wunsch wird erfüllt
28 – Frei und gefangen
29 – Keine Luft mehr
30 – Das Lied der Spinne
31 – Die Macht der Ewigkeit
32 – Ein grausames Fest
33 – Paulas schwarze Hand
34 – Baddabambas Antwort
Ja. Da lag sie: Paula. Am Strand. Zwischen Brüdern und Vater. Und schlief. Tief und fest. Hätte sicher den ganzen Tag verpennt. Vor lauter Müdigkeit. Doch ihre Brüder rüttelten sie wach. Paula öffnete die Augen und blinzelte in die Sonne.
»Schnarchsack!«, rief ihr Bruder Leon.
»Was hast du denn da?«, fragte Jakob.
Paula wusste nicht, wie ihr geschah. Wo war sie? Ihr erster, kurzer Gedanke: Chronossos! Alles kehrte zu ihr zurück. Wie im Zeitraffer sah sie ihre Abenteuer vor sich. Carissima, Baddabamba, Anna Bella, Spazierstock-Haie, Zeitlupen-Sumpf, Biss der Schwarzspinne, Hubbanesen, Baddabambas Tod, Zeit-Vollbremsung, Müller, Mühle, Teufels-Krake, bis hin zu Lahme Schnecke. Lahme Schnecke! Er war mitgekommen! In ihre Welt! Durch das Tor der Zeit! Wo steckte er?
Doch da erblickte Paula den Wunschstein. Den Paula vom Tor der Zeit gepflückt hatte. Der Stein baumelte vor ihrer Nase. Jakob hielt die Schnur in der Hand. Er musste ihr den Stein abgenommen haben im Schlaf. Jakobs Augen blitzten in der Sonne. Paula ärgern: der größte Spaß für die Brüder.
Paula griff nach dem Stein, doch Jakob riss die Schnur hoch und rannte fort, Richtung Meer. »Komm mit, Leon!«, rief er. Und Leon folgte ihm.
»Nein!«, rief Paula und sprang auf.
Sie merkte plötzlich: Etwas war anders als gewohnt. Sie schaute an sich hinab. Sie hatte zugelegt: Muskeln an Armen und Beinen. Ihre Haut war ein wenig brauner als sonst. Paula trug Strandklamotten: T-Shirt, kurze Hose, Flip-Flops.
»Was ist denn mit dir los?«, fragte ihr Vater. »Bist du gewachsen? Beim Mittagsschlaf?!«
Aber Paula hatte kein Ohr für den Vater. Sie lief hinter den Brüdern her. Die beiden spielten ihr übliches Spiel: das Werfen von Dingen, die Paula gehörten, einer zum anderen. Und das nur, um Paula zur Weißglut zu treiben. Sie liefen mit ihren Badehosen ins Wasser hinein. Und auch im Wasser warfen sie den Stein an der Schnur hin und her, immer wieder hin und her.
»Nein!«, schrie Paula. »Das ist mein Stein! Gebt ihn zurück!!«
Sie folgte ihnen. Ihr T-Shirt saugte sich sofort voll.
»Lasst eure Schwester in Ruhe!«, rief ihr Vater von ferne, aber die Brüder hörten nicht. Sie gingen immer tiefer ins Wasser.
»Woher hast du den Stein?«, rief Leon und warf ihn zu seinem Bruder. »Den hattest du doch eben noch nicht! Hast du den geklaut, Schwesterchen?«
Jakob warf den Stein zu Leon. Und Leon tat jetzt so, als hätte er ihn verloren. Paula schrie auf, doch dann zog Leon den Stein an der Schnur aus dem Wasser, lachte wild und warf ihn wieder zurück zum Bruder.
»Komm, Paula, du bist in der Soße!«
»Nein!«, rief Paula, die schon nicht mehr stehen konnte und schwimmen musste. »Gib mir den Stein! Bitte!!!«
»Was ist denn los? Wir werden ihn nicht verlieren! Und wenn, dann tauch ich danach. Soße ist doch dein Lieblingsspiel, oder?«
Paula hasste es, wenn die Brüder mit ihr sprachen, als wäre sie noch fünf Jahre alt. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Auf keinen Fall durfte sie den Wunschstein verlieren. Sie schwamm zwischen den Brüdern hin und her und wuchtete sich jedes Mal aus dem Wasser, wenn die Brüder den Stein über ihren Kopf pfefferten. Sie schaffte es nicht, ihn zu schnappen. Die Brüder hielten beim Wurf den Stein in die Hand, die Schnur flatterte nur hinterher. Auf diese Weise konnten sie gut zielen.
Jetzt aber legte Jakob die Schnur um seinen Zeigefinger, ließ den Stein rotieren und tat so, als wolle er ihn weit fortschleudern. Paula hielt den Atem an. Jakob steigerte die Geschwindigkeit, schon fluppte ihm die Schnur vom Finger und der Stein flog weit aufs Meer hinaus.
Paula erstarrte vor Schreck.
»Scheiße!«, zischte Jakob.
»Was soll das?«, rief Leon.
»Mist! War keine Absicht! Sorry! Ich hol ihn dir wieder!«
Jakob warf sich ins Meer und schwamm zu der Stelle, an der die Schnur samt Stein untergegangen war, und er tauchte ein paar Mal. Leon schwamm herbei, doch auch er schaffte es nicht, den Stein aus den Fluten zu holen. Dann tauchte Paula, konnte aber im trüben Wasser nichts erkennen. Es hatte keinen Zweck. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie schwamm zurück.
»Paula«, sagte Jakob neben ihr. »Echt. Das war blöd. Tut mir leid. Wo hast du den Stein her? Ich kauf dir einen neuen, okay?«
Paula stapfte durchs Wasser, ging zum Strand, setzte sich, nahm ein Handtuch, warf es sich über den Kopf und weinte.
»Was habt ihr jetzt schon wieder für einen Mist gebaut?«, rief ihr Vater den Brüdern zu. »Könnt ihr nicht ein einziges Mal eure Schwester in Ruhe lassen? Was habt ihr denn da geworfen?«
»Das war bloß so ein Schmuckstein. Sorry, Papa. Wir kaufen ihr einen neuen!«
In Paula war etwas kaputtgegangen. Sie hatte nicht nur ihren Wunschstein verloren. Sie weinte auch, weil die Brüder so gemein zu ihr waren.
Da hörte sie ihren Vater rufen: »Leute! Schaut mal das Pferd dort!«
Paula horchte auf, nahm aber ihr Handtuch nicht vom Kopf.
»Wow!«, rief Leon. »Das sieht schön aus!«
»Paula!«, sagte ihr Vater. »Willst du nicht das Pferd anschauen? Guck doch mal!«
Paula hörte auf zu weinen. Lahme Schnecke! Das musste Lahme Schnecke sein! Doch sie ließ den Kopf unterm Handtuch.
»Das Pferd läuft Richtung Wasser!«, rief Leon.
»Ist es ein goldenes Pferd?«, fragte Paula.
»Ja«, sagte Leon. »Woher weißt du das? Also eher hell-beige, aber in der Sonne sieht das golden aus.«
»Mit glitzernder Mähne?«
»Schau selber!«, rief Leon. »Nimm das Handtuch vom Kopf.«
»Nein. Ich sage euch jetzt voraus, was gleich passieren wird.«
»Ach so«, flötete Leon, und Paula konnte förmlich sehen, wie er eine Geste machte, entweder Finger-an-die-Stirn oder Hand-auf-und-zu, als wolle er sagen: Paula ist durchgedreht. Oder: Sie labert wieder irgendeinen Mist.
Paula aber rief: »Das Pferd wird gleich ins Meer laufen und nach dem Stein tauchen, den Jakob mir geklaut hat.«
»Bist du zu lange in der Sonne gelegen?«, fragte Leon. »Pferde können doch nicht tauchen!«
Paula fuhr fort: »Dann wird das Pferd mir den Stein bringen.«
»Also gut, Paula«, sagte ihr Vater. »Wir haben es kapiert: Der Stein ist dir wichtig. Wir werden dir den gleichen Stein noch mal kaufen. Hörst du? Sobald wir zurück sind.«
Paula rief: »Lahme Schnecke! Bitte!«
Ihr Vater antwortete: »Was? Wieso nennst du mich Lahme Schnecke? Ich kann verdammt schnell Kitesurfen!«
»Ich mein doch nicht dich, Papa!«, kicherte Paula.
Dann hörte sie ein Wiehern. Und danach nur noch die Stimmen ihrer Brüder und ihres Vaters. Durcheinander, laut, erschrocken, verblüfft, entsetzt.
»Das Pferd geht ins Wasser!«
»Immer tiefer!«
»Das darf doch nicht wahr sein!«
»Es springt rein!«
»Es taucht!«
»Jetzt ist es weg!«
»Wo ist es hin?!«
»Wem gehört es überhaupt?«
»Es ist ertrunken!«
»So lange kann kein Pferd unter Wasser bleiben!«
»Da!! Da kommt es!!!«
»Das gibt’s doch nicht!«
»Es hat die Schnur im Maul.«
»Mit dem Stein!«
»Wahnsinn!«
»Es kommt auf uns zu!«
»Paula … Das Pferd …«
Doch die Brüder und ihr Vater mussten nichts mehr sagen. Paula spürte den Schritt von Lahme Schnecke, sie spürte seine tropfende Wärme und Nähe, sie hörte sein Schnauben. Jetzt streckte sie die Hand aus, und Lahme Schnecke ließ den Wunschstein samt Schnur in ihre Hand fallen. Paula nahm das Handtuch ab, sprang hoch, legte sich den Wunschstein um den Hals, gab Lahme Schnecke einen Kuss auf die Nase und umarmte ihn fest.
Die Brüder und der Vater standen mit offenen Augen und Mündern da und schienen nicht mehr zu wissen, was sie denken sollten.
»Leon! Jakob!« Paula sprach ernst und mit Nachdruck zu ihren Brüdern und ihrem Vater. »Ich bin nicht mehr die kleine Schwester, die man ärgern kann, wie man will. Hört ihr? Ab sofort nennt ihr mich nie wieder Schwesterchen! Oder Kleine! Oder Pissnelke! Oder Paulinchen! Oder sonst wie! Ab sofort heiße ich Paula. Kapiert?« Sie lächelte. »Oder aber«, fuhr sie fort, »ihr nennt mich Paulissima! Paulissima von Chronossos!«
Paulas Vater und ihre Brüder gingen noch mal aufs Wasser. Lahme Schnecke legte sich zu Paula. Paula durchzuckte ein seltsames Gefühl: Diese Minuten hier, dachte sie, habe ich schon einmal durchlebt. Jetzt ist genau der Augenblick, an dem ich mit dem Kite-Schirm über dem Meer schwebte. Der Gedanke daran fühlte sich an wie eine Erinnerung, aber es war keine Erinnerung. Sie hatte unendlich viel erlebt auf der schwimmenden Insel Chronossos und vier Freunde gefunden: Carissima, Baddabamba, Anna Bella und Lahme Schnecke. Aber hier, in ihrer Welt, war währenddessen keine Sekunde verstrichen. Sie befand sich an genau demselben Punkt im Raum und an genau demselben Punkt in der Zeit, da sie aufs offene Meer geweht worden war.
»Lahme Schnecke!«, flüsterte sie. »Verstehst du, was ich sage?«
Lahme Schnecke nickte und schnaubte.
»Im Uhrzeitsee, unter Wasser, da habe ich dich gehört! Also kannst du mit mir sprechen?«
Lahme Schnecke nickte.
»Ich hab eine Frage: Wenn ich jetzt wieder zurück bin, in meiner eigenen Vergangenheit: Was wird dann aus den Wochen auf der Insel? Ist das alles überhaupt passiert? Ich meine: Können sich Carissima, Anna Bella und Baddabamba noch an mich erinnern oder nicht?«
Lahme Schnecke wieherte.
Und dann hörte Paula das Pferd sprechen. Sie verstand jedes Wort. Und das, obwohl der kleine Hengst seine Lippen gar nicht bewegte.
»Ich werde dir Auskunft geben«, sagte er, und er sagte es in einer atemberaubenden Deutlichkeit.
»Wieso kann ich dich verstehen?«, fragte Paula.
»Tiefseepferde sind keine Mundsprecher«, sagte Lahme Schnecke, ohne seine Lippen zu bewegen. »Wir sind Herzsprecher. Tiefseepferde sprechen mit ihren Herzen. Ohne die Lippen zu bewegen. Wir sprechen aus unserem Herzen direkt ins Herz des anderen. Lautlos. In herzförmigen Gedanken.« Und dann antwortete Lahme Schnecke auf Paulas Frage: »Was geschehen ist auf der Insel, ist geschehen und bleibt geschehen. Deine Freunde werden sich an dich erinnern und an alles, was ihr gemeinsam erlebt habt. Du allein, Paula, bist in deine eigene Vergangenheit zurückgekehrt.«
»Sie werden mich nicht vergessen?«
»Sie werden jeden Tag an dich denken.«
Paula holte tief Luft. »Lahme Schnecke«, sagte sie, »ich danke dir. Ohne dich läge ich jetzt im Bauch des Kraken.«
»So sind wir auf immer verbunden. Du hast zweimal mein Leben auf Chronossos gerettet.«
Paula sah zu Lahme Schnecke. Ihre Augen wurden ein wenig feucht. Sie schämte sich plötzlich über sich selbst und darüber, dass sie am Anfang ihrer Reise so enttäuscht gewesen war über Lahme Schnecke. Jetzt wusste sie: Es konnte kein besseres Pferd für sie geben. Und sie umarmte Lahme Schnecke.
Dann rief Paula: »Erzähl mir alles über dich. Was ist ein Tiefseepferd?«
»Wir Tiefseepferde«, begann Lahme Schnecke, »wohnen tief, tief unten im Meer. Bei uns lebt ein Volk von kleinen Wassermännern und Meerjungfrauen. Die sind nicht größer als du, Paula. Sie werden Wellenreiter genannt. Wellenreiter suchen zeit ihres Lebens ein Tiefseepferd, auf dem sie reiten können. Und Tiefseepferde suchen zeit ihres Lebens einen Wellenreiter, der auf ihnen reitet. Jeder Wellenreiter passt nur zu einem Tiefseepferd, und jedes Tiefseepferd passt nur zu einem Wellenreiter. Es ist schwierig, den richtigen Wellenreiter und das richtige Tiefseepferd zu finden. Ich habe schon viele Wellenreiter abgeworfen. Hast du nie von uns gehört?«
Paula schüttelte den Kopf.
»Wir Tiefseepferde sehen genauso aus wie alle anderen Pferde. Aber wir können meisterhaft tauchen. Niemand unter Wasser ist schneller. Wir erreichen Geschwindigkeiten von mehr als hundert Kilometern pro Stunde.« Lahme Schnecke machte eine kurze Pause und Paula konnte hören, wie er leise herzseufzte. »Vor zwei Jahren aber ist etwas Schlimmes geschehen: Es gab ein Wasserbeben. Die Druckwelle schleuderte mich nach oben! Ich verlor das Bewusstsein. Als ich wieder zu mir kam, lag ich am Strand von Chronossos. Ich war erstaunt: Ich hatte nicht gewusst, dass Tiefseepferde auch über Wasser atmen können.«
»Und dann?«
»Hat Baddabamba mich gerettet. Er gab mir zu essen und pflegte mich. Schon bald wollte ich zurück ins Meer. In mein Element. Doch es ging nicht. Ich hatte plötzlich furchtbare Angst vor dem Wasser.«
»Warum?«
»Weil ich im Wasser fast umgekommen wäre. Mein Herz scheute vor dem Wasser. Ich beschloss, an Land zu bleiben. Baddabamba brachte mich zu den Farbenpferden. Sie haben sich um mich gekümmert und Rücksicht genommen, weil ich der Langsamste war. Seit zwei Jahren lebe ich jetzt an Land, Paula. Die Angst vor dem Wasser war immer da. Und dann kamst du!«
»Ich?«
»Ja. Mit dir auf meinem Rücken schmolz die Angst vor dem Wasser. Und die Sehnsucht nach dem Wasser wuchs. Deshalb habe ich mir ein Herz gefasst und bin ins Meer gestiegen, als wir eine Pause machten am ersten Tag. Ich wollte versuchen, ob ich es wieder konnte. Ich spürte schon den Herzschlag der Wellen. Doch dann kamen die Spazierstock-Haie. Und du, Paula, warst für mich da.«
Paula strahlte still.
»Am Uhrzeitsee habe ich gewusst: Wenn der Teufels-Krake ins Wasser gleitet, gibt es nur einen, der dich retten kann, Paula. Ich bin gesprungen. Ins Wasser. Und die Angst? War weg.«
»Und wieso«, rief Paula, »heißt du Lahme Schnecke?«
»Lahme Schnecke bin ich nur für die Farbenpferde, nur an Land. Mein Name als Tiefseepferd lautet: Schnelle Schnecke! Ich bin das drittschnellste Tiefseepferd aller Zeiten!«
»Und warum Schnecke?«
»Wegen meiner weißen Blesse! Die sieht aus wie ein Schneckenhaus. Jedes Tiefseepferd hat ein Geheimwort. Wenn du dieses Wort rufst, schwimmt ein Tiefseepferd noch einmal schneller als sonst schon. Dieses Wort, liebe Paula, ist bei mir das Wort Schnecke. Und das geheime Wort vertraut ein Tiefseepferd nur einem einzigen Wesen an.«
»Und wem?«, hauchte Paula atemlos.
»Seinem Wellenreiter. Seinem einen und einzigen Wellenreiter! Den es ein Leben lang sucht.«
Ein Augenblick der Stille verstrich.
Lahme Schnecke schnaubte, und dann fragte er: »Paula. Willst du meine Wellenreiterin sein?«
»Ja«, flüsterte Paula und umarmte Lahme Schnecke, und ihre Herzen klopften im selben Takt. »Ich will es! Ich bin es! Ich bin deine Wellenreiterin!«
Eine Weile saßen beide still da. Paula dachte nach. Dann stellte sie weitere Fragen: »Diese Sprache der Tiefseepferde. Dieses Herz…?«
»Herzsprech!«
»Herzsprech. Warum hast du erst im Uhrzeitsee zu mir gesprochen und nicht schon vorher?«
»Das konnte ich nicht. Ein Tiefseepferd kann Herzsprech nur zu anderen Tiefseepferden sprechen und zu seinem Wellenreiter. Und ich wusste noch nicht, ob du meine Wellenreiterin bist. Ich wusste nicht mal, ob ein Mensch überhaupt ein Wellenreiter sein kann. Ich verstand es erst, als ich sah, wie der Krake dir folgte. Meine Angst um dich wurde so groß, dass ich einfach ins Wasser springen und dir helfen musste. Da wusste ich: Wir zwei gehören zusammen. Unser Leben lang!«
Da griff Paula an ihren Hals und zeigte Lahme Schnecke den Wunschstein. »Das ist der Stein, den ich vom Goldenen Tor gerissen habe. Es ist ein Wunschstein!«
»Und was wirst du dir wünschen, Paula?«
»Na, was wohl? Ich vermisse Baddabamba, Carissima und Anna Bella schon jetzt. Also werde ich mir irgendwann wünschen, dass wir beide zurückkehren! Du und ich! Lahme Schnecke und Paula Kruse! Nach Chronossos. Wenigstens für ein paar Monate.«
Lahme Schnecke schaute Paula lange an und sagte: »Du würdest deinen Wunschstein opfern, um wieder zurück nach Chronossos zu kommen?«
Paula nickte. »Natürlich mit dir, Lahme Schnecke!«
»Stark«, sagte Lahme Schnecke. »Wirklich stark von dir! Und wie schade, dass wir nun Abschied nehmen müssen.«
Paula schaute auf. »Abschied?«, rief sie.
Lahme Schnecke schnaubte. »Weißt du, was ich gerade möchte? So sehr wie nichts anderes auf der Welt?«
Paula schloss die Augen, und dann sagte sie: »Ja, ich glaube schon. Ich denke, du willst ins Meer. Du willst tauchen.«
»Ja, Paula. Zwei Jahre lang bin ich nicht mehr geschwommen und getaucht. Zwei Jahre lang war die Angst zu groß. Und jetzt will ich wieder ins Wasser.«
»Das kann ich verstehen.«
»Paula! Meine Heimat ist zerstört. Ich kann nicht wieder zurück auf den Meeresgrund. Ich werde durch die Meere schwimmen. In deine Heimat. Zur Ostsee. Dorthin, wo du lebst.«
»Aber das sind Tausende von Kilometern.«
»Du weißt ja, wie schnell ich tauchen kann. Ein Tiefseepferd kann seinen Wellenreiter nie mehr verlieren. Paula! Ich kann fühlen, wo genau du dich befindest. Ich schwimme einfach meinem Herzen nach.«
»Und dann?«
»Werde ich bei dir bleiben, Paula!«
»In Cismar?«
»Ja.«
»Aber wir haben nur einen Garten, keinen Pferdestall.«
»Ich brauche keinen Stall. Ich werde unter Wasser leben. Wir sehen uns, wann immer wir wollen, Paula. Und dann tauchen wir gemeinsam durch die Ostsee.«
Paula strahlte, doch das Strahlen erlosch schnell. »Also müssen wir uns jetzt verabschieden?«
»Ja. Aber nur für kurze Zeit.«
»Es tut trotzdem weh.«
Paula gab Lahme Schnecke einen Kuss auf die Nase, und dann flüsterte sie Lahme Schnecke noch etwas ins Ohr.
Lahme Schnecke fragte: »Bist du sicher?«
»Ja. Sie haben es verdient«, grummelte Paula.
»Okay. Ich mach’s.«
Mit diesen Worten trabte Lahme Schnecke davon, Richtung Meer, dorthin, wo Paulas Brüder nah beim Strand auf dem Wasser mit ihren Kites surften. Ihr Vater war ein ganzes Stück draußen und sprang und flog durch die Luft. Kurz bevor Lahme Schnecke untertauchte, drehte er sich noch mal um und warf den Kopf in den Nacken. Paula winkte und lief dann näher ans Meer. Ein paar Sekunden später hörte sie schon die erschrockenen Schreie ihrer Brüder:
»Da ist was!«
»Was Dunkles!«
»Das ist riesig!«
»Das kommt auf uns zu!«
»Papa!«
»Hilfe!«
»Ist das ein Hai?«
»Der ist schnell!!«
Doch ihr Vater war zu weit draußen auf dem Meer und hörte seine Söhne nicht. Paula musste lachen, denn Lahme Schnecke tat jetzt einen gewaltigen Satz hinaus aus dem Wasser, sprang mitten zwischen den beiden Brüdern hindurch, schlug einen wüsten Salto, klapperte mit den Hufen und tauchte wieder in die Fluten ein. Die Brüder erschraken heftig und plumpsten wie die Käfer ins Wasser.
»Hurra!«, jubelte Paula. »Gut gemacht!« Dann rief sie, so laut sie konnte: »Pass auf dich auf, meine Schnecke!«
Ihre Brüder schwammen zum Ufer, indem sie ihre schweren, vollgesogenen Segel hinter sich herzogen. Auch Paulas Vater kehrte zurück, in höchstem Tempo. Alle drei kamen zeitgleich am Strand an.
»Was war denn los?«, riefen Paula und ihr Vater wie aus einem Mund den Brüdern zu.
»Ein komischer Fisch!«
»Der war richtig fett!«
»Was denn für ein Fisch?«, rief Paula.
»Ich hab ihn nicht genau gesehen.«
»Ich auch nicht!«
»Ich wollte nur weg!«
»Vielleicht ein Hai?«, fragte Paulas Vater.
»Nein! Der sah aus, als hätte er Beine!«
»Ein Fisch mit Beinen?«, rief Paula und lachte.
»Der ist getaucht!«
»Auf uns zu!«
»Schneller als ein Torpedo!«
»Und dann ist der gesprungen!«
»Er hat einen Salto gemacht!«
»Hast du das auch gesehen, Paula?«, fragte ihr Vater.
Paula ließ unauffällig ihren Zeigefinger vor der Stirn kreisen, um ihrem Vater zu zeigen: Die Brüder sind verrückt geworden. »Nein«, antwortete Paula. »Es gibt keine Fische mit Beinen, die Saltos machen!«
»Das würd ich aber auch sagen, Jungs«, sagte ihr Vater.
»Doch!«, rief Leon.
»Und wo ist er jetzt, euer Fisch mit Beinen?«
»Wieder untergetaucht. In diese Richtung!«
»Vielleicht war es ein kleiner Orca?«, fragte Paula.
»Nein!«, schrie Leon. »Der sah eher aus wie ein Pferd!«
»Oh! Vielleicht ein Tiefseepferdchen?«, rief Paula und prustete.
»Okay!«, sagte ihr Vater. »Ich denke, das reicht für heute. Wir packen zusammen und fahren zurück.« Dann schaute er sich um. »Apropos Pferd: Sag mal, Paula, wo ist denn das Pferd von vorhin geblieben?«
»Ist schon längst abgehauen. In diese Richtung!«
Paula zeigte zu den Dünen.
»Nein«, flüsterte Leon plötzlich, als sei ihm gerade etwas eingefallen. »Nein. Es war das Pferd! Das Pferd ist auf uns zugetaucht eben. Und aus dem Wasser gesprungen. Das Pferd hat einen Salto gemacht. Deshalb haben wir gedacht, wir sehen Beine!! Das war kein Fisch, das war ein Pferd!« Doch dann merkte Leon wohl selber, was für einen Unsinn er erzählte, und er verstummte und kratzte sich den Kopf.
»Vielleicht«, sagte Paula und deutete auf die Brüder, »sind die zwei zu lange auf dem Wasser gewesen. In der prallen Sonne.«
»Das«, sagte ihr Vater, »denke ich auch!«
Wütend stapften die Brüder zu den Sonnenschirmen. Und der weitere Urlaub ging den gewohnten Lauf.
Zwei Tage später flog die Familie wieder nach Hause. In ihr Dorf. Nach Cismar. Von Neuseeland an die Ostseeküste. Zurück ins gewöhnliche Leben. Und dort musste Paula jeden Tag mit dem Bus rund vierzig Minuten zum Küstengymnasium nach Neustadt fahren. Da gibt es eine eigene Bushaltestelle, deren Dach von kleinen Säulen gehalten wird, die aussehen wie riesige Bleistifte.
Durch die schlauste Oma der Welt hatte Paula schätzen gelernt, wie wichtig es ist, Dinge zu wissen, zu studieren, zu erfahren. Sie hörte jetzt den Lehrern besser zu als vor ihren Abenteuern auf Chronossos, sie stellte viele Fragen und wurde zum ersten Mal in ihrem Leben »Streberin!« gerufen. Von einer Mitschülerin. Es störte sie nicht. Baddabamba hatte sie gelehrt, Ruhe zu bewahren. Am Nachmittag fuhr Paula wieder zurück nach Cismar, zuerst zum Reiterhof, in dem ihr Pferd Henry auf sie wartete, dann radelte sie zur Ostseeküste und starrte erwartungsvoll aufs Meer. Aber Paula wusste: So schnell Lahme Schnecke auch schwimmen konnte, er würde noch eine Weile brauchen, ehe er bei ihr auftauchte.
Jeden Abend vor dem Einschlafen zog Paula ihren Wunschstein hervor und betrachtete ihn. Mit dem Loch in der Mitte sah er aus wie ein mächtiger, schillernder, glatter Ring. Paula dachte viel nach. Was genau sie sich wünschen würde eines Tages, das stand für sie fest. Zurück nach Chronossos! Aber sie wollte keine Fehler machen. Sie hatte nur diesen einen Wunsch und musste ihn so genau wie möglich formulieren. An welchen Ort auf Chronossos wünschte sie sich zurück? An welchen Zeitpunkt wünschte sie sich zurück? Und vor allem: Sie wollte nicht noch einmal durch den Uhrzeitsee tauchen müssen, da wäre es gut, eine Zeit für die Rückkehr festzulegen. Wie lange wollte sie bleiben auf Chronossos? Sie feilte wochenlang an ihrem Wunsch, bis sie das Gefühl hatte, ihr Wunsch sei so perfekt, dass nichts mehr schiefgehen konnte. Sie versteckte den Zettel mit dem Wunsch tief in ihrer Schreibtischschublade.
Als Paula kurze Zeit später wie üblich abends am Strand saß, teilten sich endlich die Wellen, und ein Kopf tauchte aus dem Wasser auf, der Kopf eines Pferdes: Lahme Schnecke!
Er wieherte und stapfte zu ihr. Paula stürzte ihm entgegen und umarmte ihn. Lahme Schnecke war traurig und glücklich zugleich. Traurig, weil er gesehen hatte, dass seine alte Heimat am Boden des Meeres zerstört worden war durch das Wasserbeben. Glücklich, weil er jetzt, hier, mit Paula, eine neue Heimat gefunden hatte.
Paula setzte die Tauchmaske auf und schwang sich auf den Rücken von Lahme Schnecke, sie trabten los, wieder vereint, am Strand entlang, sie blickte in die untergehende Sonne, und dann bog das Tiefseepferd ab Richtung Meer. Schon tauchte Paula unter. Sie hatte gerade noch Zeit gefunden, tief Luft zu holen. Zum Glück war es angenehm warm für Ende September und das Ostseewasser immer noch ein wenig erhitzt vom Sommer. Lahme Schnecke brach immer wieder durch die Oberfläche, damit Paula Luft holen konnte. Und Paula hielt sich am Hals von Lahme Schnecke fest, jubelte und rief: »Schnecke!« In unglaublichem Tempo durchpflügten sie das Meer.
Es wurde Oktober, es wurde November, und es wurde immer kälter. Bald wurde es Paula zu kalt zum Tauchen, trotz ihres Neoprenanzugs. Wann immer sie nicht tauchten, saßen sie am Strand und redeten. Viel Zeit hatten sie nicht. Höchstens zwei Stunden. Paula musste um sieben beim Abendessen sein.
Je kälter es wurde, umso größer wuchs in Paula die Sehnsucht, nach Chronossos zurückzukehren. Dort, auf Chronossos, wäre es warm, und die Sonne schiene, und sie würde ihre Freunde wiedersehen, Anna Bella, Carissima, Baddabamba. Paula wollte noch viel von Baddabamba lernen. Vielleicht könnten sie den Weißen Maulwurf Cato Patscho besuchen oder sie könnte ausgedehnte Tauchgänge mit Lahme Schnecke unternehmen und unter Wasser die Spazierstock-Haie ärgern, denn Lahme Schnecke war so schnell, dass Paula manchmal schwindelig wurde. In jedem Fall galt: Auf der Insel Chronossos hätte Paula einfach viel, viel mehr Zeit! Als sie mit Lahme Schnecke sprach, nickte dieser und schnaubte. Auch er war bereit.
Ende November hing ein saftiger Vollmond am Himmel, als Paula mit dick gepacktem Rucksack aus dem Fenster ihres Zimmers kletterte und Richtung Strand radelte. Sie trug eine Lederhose, Boots, ein weißes T-Shirt und eine Lederjacke. Paula grinste, denn sie wusste, ihre coolen Rockerbraut-Klamotten würden Anna Bella auf jeden Fall gefallen. Es war fast Mitternacht. Am Strand angekommen, ließ sie das Fahrrad in den Sand fallen und zog den Wunschstein aus dem Rucksack. Dann wartete sie.
Als Lahme Schnecke endlich auftauchte, begrüßten sich die beiden und stellten sich nebeneinander hin. Eine Wolke schob sich vor den Mond, eine kleine Wolke, die rasch vorüberzog.
»Bist du bereit?«, fragte Paula.
»Ja«, wieherte Lahme Schnecke.
»Dann los.«
Paula stieg auf den Rücken von Lahme Schnecke. Sie setzte sich aufrecht hin, reckte den braunen Wunschstein hoch in die Luft, schloss die Augen und rief den bis ins Kleinste ausgetüftelten und auswendig gelernten exaktesten Wunsch aller Zeiten zum Himmel: »Ich wünsche uns, Paula Lola Carlotta Kruse sowie das Tiefseepferd Lahme Schnecke, für genau vier Monate auf die Schwimmende Insel Chronossos, in die Festung Fortissimo; die Ankunft dort exakt vier Tage nach unserem Kampf gegen den Teufels-Kraken; die Rückkehr nach Cismar exakt zur selben Sekunde, in der wir aufgebrochen sind!«
Sofort spürte Paula ein kurzes Wanken und Schwanken unter ihren Füßen, sie hörte einen ungeheuerlichen Krach. Ein Donnerschlag drang aus einer Wolke, einer dicken Gewitterwolke, die plötzlich den Mond verdeckte und aus der nun Blitze züngelten. Die Wolke war weder grau noch violett noch schwarz, sie war rosarot und fiel jetzt wie ein Wattebausch vom Himmel, genau an die Stelle, an der Paula und Lahme Schnecke standen. Paula fühlte sich von der Wolke gepackt und nach oben gewirbelt. Alles um sie her war rosa, und Paula klammerte sich an Lahme Schnecke. Was hatte sie getan? Dieser Wunschstein: Paula hatte ihm blind vertraut. Wo brachte er sie hin?
Sie flogen. Es ging immer höher hinauf, in die Luft. Würden sie den ganzen Weg nach Chronossos in dieser rosa Wolke fliegen? Schon umhüllte sie ein Nebel, der ihr die Sicht nahm, doch Paula wollte sich nicht bewegen, weil sie dachte, sie könnte fallen.
Der Flug endete abrupt. Der zähe Nebel zog sich zurück und lichtete sich. Paula saß immer noch auf Lahme Schnecke. Vor ihnen lag ein enger Weg aus Kies. Mitten in der Luft.
»Alles in Ordnung, Lahme Schnecke?«, fragte Paula.
Lahme Schnecke nickte.
»Komm! Mal schauen, wohin dieser Weg führt.«
Paula stieg ab und ging neben Lahme Schnecke. Rechts und links des Wegs ballte sich ein rosa Nebel zu undurchdringlichen Wänden. Der Weg wurde breiter und führte auf einen Platz, auf dem ein großes Gebäude stand: ein einziger quadratischer Klotz, strahlend schneeweiß, mit acht Stockwerken, einem flachen Dach und jeder Menge Fenster mit weißen Vorhängen. Alles an diesem Haus, nein, an diesem Palast, wirkte blendend sauber, ordentlich, blitzblank. Paula hatte sich etwas anderes vorgestellt: Sie hatte gedacht, sie ruft ihren Wunsch, und sofort wird der Wunsch erfüllt und sie ist auf Chronossos. Und jetzt das!
Paula und Lahme Schnecke traten zur Tür des Hauses. Es gab zwei Klingelknöpfe mit zwei Inschriften. Neben der oberen Klingel stand klar und schön geschwungen, gedruckt und in goldenen Lettern: Büro für Ausgesprochene Wünsche. Neben der zweiten Klingel stand in einer hässlichen, krakeligen blutroten Handschrift: Büro für Unausgesprochene Wünsche, ganz so, als hätte es vorhin erst jemand dorthin geschmiert. Paula erschauerte, als sie das zweite Schild las, gleichwohl spürte sie eine Versuchung, ihren Finger auf diesen zweiten Klingelknopf zu legen, zum Büro für Unausgesprochene Wünsche. Doch schon hatte Lahme Schnecke mit seinen Nüstern den oberen Klingelknopf gedrückt, zum Büro für Ausgesprochene Wünsche. Lahme Schnecke sagte: »Schließlich hast du deinen Wunsch ja laut und deutlich ausgesprochen, oder nicht?«
Paula nickte, erleichtert und enttäuscht zugleich. Mit einer summenden Melodie schwang die Tür auf, und Paula und Lahme Schnecke traten ins Gebäude. Drinnen erstrahlte alles in Weiß und Silber aus zahllosen Lichtern in Decken und Wänden. Sie befanden sich in einer kleinen Halle, in der es nichts anderes gab als einen Aufzugsschacht. Paula und Lahme Schnecke gingen hin, Paula drückte den Knopf neben der Aufzugstür, sofort machte es pling, und die Tür teilte sich. Paula und Lahme Schnecke traten ein. Der Aufzug war groß und hell erleuchtet durch ein Neonlicht an der Decke. An den Wänden, sogar an Boden und Decke hingen Spiegel. Paula sah, egal, wohin sie blickte, immer nur sich selbst und Lahme Schnecke, ins Ungeheure vervielfacht. Vor allem der Spiegel auf dem Boden verwirrte sie.
Im Inneren des Aufzugs gab es siebzehn Knöpfe für siebzehn Etagen. Im Augenblick befanden sich Paula und Lahme Schnecke auf der Etage Null, denn die Null blinkte abwechselnd grün und blau. Von der Null ausgehend gingen acht Knöpfe nach oben und acht nach unten. Neben den oberen stand: Speicher Eins bis Speicher Acht. Neben den unteren: Keller Eins bis Keller Acht. Die unteren, dachte Paula, führen bestimmt ins Büro für Unausgesprochene Wünsche. Lahme Schnecke drückte seine Nüstern gegen den Knopf neben Speicher Acht, und schon sausten sie los und waren in null Komma nichts oben, im achten Stock, die Tür plingte auf, und Paula und Lahme Schnecke traten hinaus. Sie gingen durch einen Flur zu einer Tür, auf der nur ein einziges Wort stand: Wartezimmer.
Paula klopfte. Nichts. Sie öffnete die Tür. Ein kleiner Raum. Gerade genügend Platz für Lahme Schnecke und sie. Kein Stuhl. Kein Tisch. Kein Fenster. Lediglich eine zweite Tür, direkt gegenüber der Eingangstür. Auf dieser Tür klebte das Schild: Annahmestelle. Warten Sie, bis Sie aufgerufen werden.
Paula merkte, dass sie mit der Rechten immer noch den Wunschstein umklammert hielt. Sie nahm ihren Rucksack und stopfte den Stein hinein, tief nach unten, zwischen all die Dinge, die sie mitgenommen hatte für die Reise: eine Taschenlampe, ein Feuerzeug, drei schlecht eingepackte Schinkenbrote mit viel Butter, die bestimmt schon zerlaufen war, und noch eine ganze Reihe anderer Dinge, von denen sie dachte, dass sie ihr auf Chronossos nützlich sein könnten, zum Beispiel ein langes, dünnes Seil, ein Taschenmesser, ein Fernglas, eine Taucherbrille, ein Kompass und Mamas Notfall-Medizin-Täschchen.
Und ihre Armbanduhr? Die war stehen geblieben. Auf zehn nach zwölf, wohl zu dem Zeitpunkt, da sie ihren Wunsch geäußert hatte. Der 30.11. um 00:10 Uhr. Paula schüttelte die Uhr, zog sie auf, aber die Zeiger bewegten sich nicht mehr. Es schien, als stehe sie still, die Zeit um sie her. Es musste daran liegen, dass Paula nach ihrer Rückkehr von Chronossos wieder genau zu dieser Zeit an der Ostsee landen würde: am 30.11. um 00:10 Uhr. In ihrer eigenen Welt wäre also keine einzige Sekunde verstrichen. Das war das Schöne an der Zeitreise: Paula gewann vier Monate. Die Zeit auf der Insel war wie ein Geschenk für sie.
Nach etwa einer halben Stunde des Wartens sprang die Tür zur Annahmestelle auf und eine leiernde Stimme quakte aus einem Lautsprecher: »Fräulein Paula Lola Carlotta Kruse. Tiefseepferd Lahme Schnecke. Bitte treten Sie ein. Sie werden erwartet.«
Paula und Lahme Schnecke betraten einen gigantischen Raum: lichtdurchflutet, aber ohne Fenster. Eher ein Saal als ein Raum. Auch hier tanzte kein Staubkörnchen im Licht, das aus Hunderten von Deckenlampen flutete, aber nicht grell, sondern angenehm sanft. An allen Wänden türmten sich deckenhohe Regale mit Aktenordnern, höchst akkurat, in Reih und Glied, ein Ordner glich exakt dem anderen, aber nicht etwa schwarz, sondern: pink.
Paulas Aufmerksamkeit wurde jedoch ganz und gar gebannt von einem Schreibtisch, der am Kopfende des Saales stand, denn an diesem Schreibtisch saß – ein Schwein. Paula musste lächeln. Sie dachte sofort an Anna Bella. Auch dieses Schwein hier wirkte wie ein Mensch und saß aufrecht und kerzengerade da. Es hielt eine Pfauenfeder in weiß behandschuhten Händen und kritzelte in rasender Geschwindigkeit ein Blatt voll. Im Gegensatz zu Anna Bella war das Schwein hier aber keine Sau, sondern ein Eber, denn sein Kinn zierte ein frisch gestutzter Bart. Der Eber trug einen schwarzen Anzug sowie eine Fliege über dem strahlend weißen Hemd, und außerdem einen röhrenförmigen Hut, einen Zylinder. Er grunzte kurz, als Paula und Lahme Schnecke eintraten, hob aber nicht den Blick, sondern schrieb weiter, ehe er den Federkiel fortlegte, das Blatt lochte und in einem Ordner abheftete. Jetzt erst schaute der Eber hoch, betrachtete die Wartenden und winkte sie schließlich heran. Bei dieser Geste fiel der Blick des Ebers auf seine eigene Hand mit dem feinen weißen Handschuh, und sofort sprang er auf wie von der Tarantel gestochen.
»Ein Fleck!!!«, rief der Eber quietschend hell. »Ein Tintenfleck!!!!« Er riss beide Handschuhe von den Händen, drückte einen Knopf, und eine Luke neben dem Schreibtisch klappte auf: Der Eber warf die Handschuhe hinein, nahm aus einer Schublade neue Handschuhe und zog sie an. »Entschuldigt bitte vielmals«, sagte er und hustete. Dann griff er zu einem Papier, das auf der äußersten Ecke des Tisches lag, führte es zu seinen Augen und las still. »Hm«, machte er und legte den Zettel wieder zurück auf den Tisch. »Dein Name ist Paula Lola Carlotta Kruse?«, fragte er mit seiner ungewöhnlich hohen Stimme.
Paula nickte.
»Und du bist das Tiefseepferd Lahme Schnecke?«
Lahme Schnecke nickte.
»Angenehm«, sagte der Eber, stand auf, lüftete seinen Hut, legte ihn umgedreht auf den Tisch. Der Anzug des Schweins war ein Frack mit einem langen Schoß im Rücken, wie bei einem Dirigenten. »Gestattet bitte«, fuhr der Eber fort. »Mein Name ist Professor Doktor Picco Bello, Edelschwein ober-übereberster Provenienz.«
»Provenienz?«, fragte Paula.
»Das bedeutet: Herkunft. Ich entstamme dem uralten und hochwohlgeborenen Schweine-Adel der Edelschweine von Grunzhold-Kobental. Erlaubt mir, euch meine Karte zu geben!«
»Karte?«
»Meine Visitenkarte!«
Und der Professor reichte Paula eine kleine weiße Karte, auf der sein Name stand und: Leiter des Büros für Ausgesprochene Wünsche.
»Also ein Edelschwein?«, fragte Paula.
»Ja?«
»Gehören Sie zu den Glücks- und Edelschweinen?«
»Weshalb?«
»Nur so«, sagte Paula. Auch Anna Bella, die coolste Sau im ganzen Land, war ein Glücks- und Edelschwein. Doch Paula beschloss, dies erst mal für sich zu behalten.
Der Eber ergriff wieder das Wort: »Ich frage dich, Paula Lola Carlotta Kruse: Wie seid ihr hierhergekommen? Mit einem Wunschtrunk oder einer Wunschrute?«
»Mit einem Wunschstein.«
Picco Bello lachte und sagte: »Das ist leider nicht möglich! Schau mal, von den drei Wunschsteinen gibt es nur noch zwei. Diese Steine sind gut gesichert auf der Schwimmenden Insel Chronossos. Auf die Schwimmende Insel Chronossos kann aber kein Schwein einen Fuß setzen! Und auch kein Mensch! Grunz. Krrchh. Weil die Insel nämlich immer rechtzeitig wegschwimmt. Ehe man sie betreten kann. Deshalb kenne auch ich die Insel nur vom Hörensagen. Auch ich war noch nie dort. Und ich bezweifle daher stark, dass ihr einen solchen Stein ergattert habt, wie du behauptest, nicht wahr?« Ehe Paula antworten konnte,