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Auf einmal ist es da: ein Schwarzes Loch in Nevada. Von Physikern erschaffen. Ein Unding, das die Erde Stück für Stück verschlingt. Und jetzt? Vielleicht kann Omega Zacharias helfen. Immerhin ist sie der erste Mensch mit drei Hirndritteln und verfügt über spektakuläre telekinetische Fähigkeiten. Obwohl sie eigentlich lieber über Laufstege schwebt und Tennis spielt, stürzt sie sich in den Kampf. Mit von der Partie sind ihr Bruder Alpha und einige kuriose Helden: der reichste Mann der Welt, ein fliegender Magier und Spiele-Erfinder, ein schwuler Buddha, ein fußballbegeisterter Müllmann und seine esoterisch bewanderte Frau, eine sexbesessene Teilchenphysikerin und ein mutiger Performancekünstler.Erzählt und aufgezeichnet wird Omegas Geschichte von Elias Zimmermann, der aus dem Jahr 2525 in unsere Gegenwart reist. Er begleitet Omega und ihre Freunde auf ihrem irren Trip und blickt zugleich auf die absurden Auswüchse der heutigen Zeit.In seinem zehnten Buch zieht Markus Orths meisterhaft alle Register seines Könnens: Alpha & Omega ist eine grandiose Erlöser- und Wissenschaftsparodie, die immer schwindelerregendere Kapriolen schlägt.»Markus Orths demonstriert, wie Sprache verführen kann, wie sie vergiften kann, wie sie retten kann, und wie sie eben auch vernichten kann.« Sylvia Schwab / Hessischer Rundfunk
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Seitenzahl: 742
Inhalt
[Cover]
Titel
Pikosekundenprolog
Teil 1: Gustav H. Winter alias Gusto
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
Teil 2: Kolja J. Zacharias alias Kolja und Birte M. Winter alias Bitch
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
Teil 3: Escher alias Hohler Hund
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
Teil 4: Tashi Tengrit alias Schwuler Buddha
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
Teil 5: Buzz Monster alias Reichster Mann der Welt und Sabrina Steward alias Morlocks Tochter
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
Teil 6: Matthias Schamp alias Der Schamp und Henry Lamarque alias Triple Screener
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
Teil 7: Sybille Zacharias alias Omega
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
Teil ∞: Ferdinand Zacharias alias Alpha
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
Ewiger Epilog: Elias Zimmermann (also ich) alias Phantomenergie
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
∞. Kapitel
Zitatnachweis
Autorenporträt
Über das Buch
Impressum
[Leseprobe – IRGENDWANN IST SCHLUSS]
Wir setzen der Verrücktheit der Welt unsere eigene Verrücktheit entgegen.Wir bilden uns nicht ein, mit unserer Verrücktheit irgendwen heilen oder ändern zu können.
Max Ernst
Pikosekundenprolog
AmAnfangwarderOrt–AmEndeisterfort
Teil 1 Gustav H. Winter alias Gusto
1
Eigentlich bin ich Gott. Dazu später mehr.
2
Es wurde wärmer, je tiefer ich stieg. Unten folgte ich einem tunnelartigen Gang. Der Boden glänzte blau, kein Staubkorn, keine Weben, nichts. Ich tastete mich voran und kam rasch ans Ende: Eine Metalltür sprang auf, noch ehe ich hätte klopfen können. Vor mir stand der Bibliothekar. Er maß zwei Meter sechzig, hatte vier Ohren und einen scharfen Blick. Ich trat vorsichtig ein und sah mich um: hohe Decken, gedämmtes Licht, zehn Schlafgeräte und jede Menge Kühlschläuche an den Wänden. Hinter mir fiel die Tür ins Schloss. Der Bibliothekar machte eine Willkommensgeste und sagte, ich sei der erste Besucher seit ewigen Jahren. Tagein, tagaus habe er auf jemanden gewartet, doch keiner interessiere sich mehr für Vergangenes. Jetzt aber stehe er zu meiner Verfügung. Ich wusste nicht, wovon er sprach, und so fragte ich ihn. Die Menschen, so seine Antwort, hätten das Gefühl verloren für das, was zurückliege, sowie den Schlüssel zu dem, was bevorstehe. Er aber sei kein Mensch, wie ich hören könne, sondern eine Maschine.
Es entstand eine Pause.
»Eine Maschine«, wiederholte er nach einiger Zeit, und er betonte jedes Wort. »Um genau zu sein, eine Bibliothekarsmaschine. Jimmy McGovern mein Name.« Und als er mich jetzt fragte, was ich wünschte, entgegnete ich ihm, ich hätte gelernt, nichts zu wünschen, und betete die ersten Zeilen unserer Verfasstheit herunter: dass ich geboren sei, um nichts zu erstreben und zu leben im Gedankenspiel mit den anderen und den Orgien des Körpers, der Idee und des Flusses. Ich fügte hinzu, dass ich am heutigen Morgen nicht wie üblich in die Arena gegangen, sondern an ihr vorbeigelaufen sei, in den Schnee, diesen Hügel hinauf, immer weiter, immer höher.
»Und dann?«
»Bin ich über einen Griff gestolpert, der unterm Schnee aus dem Boden ragte. Ich habe den Griff freigefegt und die Luke geöffnet, ich bin die Treppe hinabgestiegen, ins Loch, ins Loch.«
»Zu mir?«
»So war es.«
Er fragte: »Warum gerade heute?«
Ich sagte: »Ich weiß es nicht.«
Jimmy McGovern fuhr langsam seinen Arm aus. Die Fingerspitzen legten sich mir auf die Stirn, und er las meinen Namen. »Elias«, murmelte er. »Elias Zimmermann. Du möchtest gern wissen, was sich hier unten verbirgt, in der Bibliothek?«
»Ja«, sagte ich.
»Du möchtest gern wissen, was das überhaupt ist, eine Bibliothek?«
Ich nickte.
»Dafür, Elias«, sagte er, »bin ich ja da. Aber viel Zeit bleibt uns nicht!«
Mit diesen Worten ging er voraus, ohne sich umzublicken.
Bei der Bibliothek handelte es sich um den angeblich – aber das ist nicht zu prüfen (weil unterirdisch errichteten) – überaus imposanten Bau namens Kalladabs Transition Spacetime Wonderland La Capra di Mentati. Die Bibliothekarsmaschine nannte das Gebäude ein Rekursives Spiralisk: Um wieder hinauszugelangen, so Jimmy, müsse man jeden einzelnen Raum des Spiralisks durchqueren. Dann komme man von allein zum Ausgangspunkt zurück – weswegen der Ausgangspunkt eben Ausgangspunkt heiße und nicht Eingangspunkt.
Zunächst führte mich Jimmy McGovern zur Peripalen Sanduhr, die unaufhörlich Zahlen malmte. Zwei Kegel, die sich an den Spitzen berührten, jeder von ihnen so groß wie der Bibliothekar, was darauf schließen ließ, dass die Raumhöhe hier etwa sechs Meter betragen musste. Im oberen Kegel wimmelten blaue peripale Zahlen, die langsam in den unteren Kegel tropften, wo sie zu Peripalsand zerstoßen wurden. Der untere Kegel der Sanduhr war beinahe voll. Ich fragte, was diese Zahlen zu bedeuten hätten. Jimmy antwortete: »Die Peripale Sanduhr befindet sich seit siebzig Jahren hier. Die Zahlen zielen auf die Restlebenszeit der Erde. Ihr werdet alle sterben. Euch bleiben noch« – er blickte nach oben – »vierundzwanzig herkömmliche Tageseinheiten plus siebzehn Stunden, siebenunddreißig Minuten und – jetzt noch – acht Sekunden.«
Sieben.
Sechs.
Fünf.
»Aber warum?«, fragte ich.
»Ein Koloss, der auf die Erde fällt. Es ist weder möglich, ihn zu zerstören, noch, die Erde mittels Schutzschild zu ummanteln.«
»Und dann?«
»Hört alles auf.«
»Wie, alles?«
»Die Welt, die Erde, die Maschinen, die Menschen, alles.«
»Ich auch?«
»Du auch«, sagte Jimmy.
Diese Nachricht war alles andere als erfreulich.
3
Aber bevor wir aufhören, fangen wir endlich an. Und zwar mit Gusto. Natürlich. Mit wem sonst. Gusto. Gusto Winter. Gusto Humphrey Winter. Wenn Gusto einen Raum betritt, wird der Raum bedeutend kleiner. Gusto schluckt Raum, er vernichtet Raum, schaut sich um im Raum, trinkt eher, als dass er schaut, sein Schauen hat etwas Schlürfendes. Er ist immer aufmerksam. Er wischt mit dem Handrücken Schweiß von der Stirn (Gusto leidet unter leichter Hyperhidrose), mit der anderen Hand krault er den Bart, der nie wild wuchert, sondern immer gestutzt ist, darauf legt er Wert, einmal im Monat steht Barttrimmen beim Friseur im Kalender. Ist schon vierundsechzig Jahre alt am Tag von Omegas Geburt, um genau zu sein, am Tag von Omegas Erscheinen. Guter Pokerspieler. Sehr guter Pokerspieler. Brillanter Pokerspieler. Beherrscht den Bluff, den Doppelbluff, den Tripelbluff, weiß manchmal selber nicht, wann er blufft und wann nicht, immer dann, wenn er gar nicht erst in die Karten schaut, die vor ihm liegen beim Texas Holdem. Das macht ihn unberechenbar. Für sich und für andere. Ein gefährlicher Gegner, der daraus seine Kraft zieht, dass ihm das Verlieren egal ist. Denn wenn man nichts zu verlieren hat, gewinnt man oft genug. Sollte Gusto also ein Ass brauchen, um zu gewinnen, und nicht wissen, ob tatsächlich ein Ass vor ihm liegt, weil er wieder mal nicht in seine beiden Karten geschaut hat, dann klopft er dreimal mit seinem Knöchel der Karte auf den Rücken, schließt die Augen, dreht die Karte um und wundert sich nicht, wenn es – oft genug – tatsächlich ein Ass ist, das ihm dort entgegenleuchtet, und wenn nicht, flucht er laut und wirft sich vor, nicht fest genug an das Erscheinen des Asses geglaubt zu haben. Sein Leben: ein Spiel. Der Einsatz: die Zeit, die einem bleibt. Er hat das durchgerechnet, genauestens kalkuliert. Die Existenz: ein einziger, langer Selbstmord auf Raten. Wie bei einem Auto kann man mal Teile austauschen, aber irgendwann fährt es nicht mehr, und wenn Gusto eine Sache verstanden hat, dann die, dass es darum geht, Gas zu geben, bis zum Anschlag.
Gusto Winter war suchtsüchtig. Tabak. Wein. Süßigkeiten. Er konnte wochenlang zwei Päckchen Zigaretten am Tag rauchen (sagte in solchen Phasen immer: »Ich esse nur noch, damit ich anschließend rauchen kann!«) oder zwei Flaschen Wein am Abend trinken, dann aber, wenn er sich wieder in einer anderen Phase befand, war es auch möglich, dass er Rauchen und Saufen einfach so vergaß, wochenlang. Dieser Gusto Winter, so unwahrscheinlich es klingt – doch daran wird man sich gewöhnen müssen, denn im Grunde klingt alles, was ich zu erzählen habe, unwahrscheinlich –, Gusto Winter also, Vater von Birte Zacharias, die Bitch genannt werden will, wurde durch Verkettung bislang unaufgeklärter Umstände zum Adoptivgroßvater Ihrer Nichtigkeit Omega Zacharias und damit zu einer maßgeblichen Figur im Spiel der Welt, das im Jahr 0 begann, also im Jahr 2000 nach Christus, jener uralten Zeitrechnung, auf die ich später zwangsläufig eingehen muss, wenn von der Religion, von den Religionen die Rede sein wird, dieser Gusto Winter also sollte einen Monat nach Omegas Auftauchen etwas erleben, das ihn auf immer an Omega ketten und ihn zum ältesten Menschen machen würde, der je auf unserem – dem zügigen Untergang geweihten – Planeten gelebt haben wird.
4
»Elias«, sagte die Bibliothekarsmaschine. »Du weißt nicht, wie du hergekommen bist. In die Bibliothek. Du weißt nicht mal, in welchem Jahr wir uns befinden, oder?«
»Zeit ist nichtig«, zitierte ich, »Vergangenheit fort und Zukunft zu.«
»Wir leben im Jahr 525 nach Omega. Oder, gemäß überkommener Zeitrechnung, im Jahr 2525 nach Christus. Man hat euch letzten Menschen implantiert, das Jetzt zu lieben und nicht nach vorn zu sehen.«
»Warum?«
»Sähet ihr nach vorn, sähet ihr das fest umrissene Ende eures Lebens und der Welt. Aus Gründen der Schonung, damit ihr nicht verzweifelt an dem, was kommen wird, das Ende nämlich, nur deshalb, Elias, hat man euch das Zukunftsgefühl genommen.«
»Wie das?«, fragte ich.
»Kanakanalnadeln.«
»Ich versteh nicht.«
»Komm mit.«
Er führte mich zu einer Scheibe, in der ich – matt – mich selber sehen konnte.
»Schau mal hier rein, bitte!«, sagte der Bibliothekar.
Ich tat es. Er rief ein Wort, das klang wie ein Niesen, der Spiegel blitzte hell auf, und ich spürte einen fürchterlichen Schmerz im Kopf. »Was war das?«, schrie ich.
»Die Kanakanalnadel in deinem Kopf ist verglüht.«
Aber dann.
Dieses Gefühl.
Als wäre ein Staudamm gebrochen.
Überflutet von Dingen, gesehen, erlebt, gerochen, gespürt, gedacht, meine kleine Arbeitsbiene Humbo, die Arena, die Vereinigung, die Gedankenspiele der letzten Tage, Wochen, Monate, die Orgien, meine Freunde, die Zeit, die ich mit ihnen verbracht habe, in ihnen, in ihren Köpfen, das Rindenschnitzen, unser geliebtes Rindenschnitzen, und plötzlich wusste ich: Das Lebenswerte, all die wunderbaren vergangenen Dinge, sie waren nichts als Spiegel des Künftigen, Spiegel all des Lebenswerten, das mir noch bevorstehen könnte. Mein Hals wurde eng, so ein komisches Gedankengefühl war mir unbekannt bislang.
Angst.
Und diese Frage.
Diese simple Frage, ein Reflex, anders kann ich es nicht ausdrücken, eine Frage, die mein Leben auf den Kopf stellen sollte, und diese Frage mischte sich in das Klagen der hinabfallenden peripalen Zahlen, die ohne Unterlass zermalmt wurden, ein Klagen, das ich jetzt erst, von der Kanakanalnadel befreit, ver-, wahr- und annahm, diese Frage durchdrang das blaustichige Licht der Bibliothek, und erst, als die Frage in Raum und Zeit stand, merkte ich, dass ich selber sie gestellt hatte, die Frage: »Kann man das wirklich nicht ändern?«
»Was?«, fragte die Maschine.
»Das mit dem Ende der Welt?«
Ich sah zum Bibliothekar. Etwas stieg in ihm auf. Von tief unten. Ein Geräusch. Wie ein Gurgeln. Es dauerte, ehe ich merkte, dass die Maschine neben mir lachte, dass sie mich auslachte, und nachdem sie sich langsam wieder beruhigt hatte und der mächtige Brustkorb nicht mehr bebte, sah mich die Maschine lange und durchdringend an, und dann sagte sie etwas, mit dem ich nicht im Mindesten gerechnet hatte, sodass ich jenes herbe Maschinenlachen nicht mehr als Auslachen, sondern als befreiendes Lachen deutete, Jimmy sagte also, indem er mich mit gekrümmtem Zeigefinger zu sich heranholte und mir feinster Ölschweiß in die Nase schwebte: »Eigentlich nicht, Elias. Uneigentlich aber doch. Vielleicht. Eventuell. Es gäbe da eine – sagen wir – eine Möglichkeit, lieber Elias. Eine ziemlich unwahrscheinliche Möglichkeit. Aber, Elias, dies sei sogleich gesagt, selbst die unwahrscheinlichste aller Möglichkeiten ist immerhin noch – eine Möglichkeit.«
5
Man hat nichts zu verlieren, so Gusto Winters schlichtes Credo. Und Gusto wusste, dass ihm diese Einsicht nicht als erstem Menschen auf Erden gekommen war, nenn es Hedonismus, sagte er, sprich von Epikureern, aber in Gustos Worten klang alles prägnanter. Seine Rede kannte er auswendig. Am 2. Februar des Jahres 2000 nach Christus hielt er sie zum vierundzwanzigsten Mal in seinem Leben. In dieser Nacht musste er babysitten. Wollte das nicht, nein, auf keinen Fall, aber er hatte keine Wahl, wie man sehen wird. Diese Angst, etwas falsch zu machen. Diese Unruhe. Er griff zu seinen Jonglierbällen – Gusto war von Kindesbeinen an begeisterter Jongleur –, stellte sich ins Wohnzimmer, jonglierte zwanzig Minuten lang. Um sich zu beruhigen. Das half immer. Das gab ihm Kraft und Konzentration auf das Nebensächliche. Das gab ihm Ablenkung. Das brauchte er. Dieses Zirkulieren der Bälle. Dieses ewige Ovalieren. Da vernahm er ein Geräusch aus dem Zimmer der schlafenden Enkelkinder, und sofort war die Angst wieder da. Babys! Diese Wesen, die nichts konnten, denen man alles abnehmen musste, die vollkommen ohne jede Eigenständigkeit … Gusto legte die Bälle beiseite, schlich ins Kinderzimmer, trat zunächst ans Bett seines wirklichen Enkelsohns Alpha Ferdinand Zacharias, der am Schnuller schnorchelte. Von dort beäugte Gusto aber auch das Bett des anderen Babys, ein Wesen, das sich mittels Adoption Zugang verschafft hatte in den inneren Zirkel der Familie, wie Gusto sagte, er trat ans Bettchen und sah, dass Omega Sybille Zacharias ruhig in ihrem Schlafsack lag, die Augen geschlossen, schwarz ihre Haut, eine Schlafmütze über dem stahlkahlen Köpfchen. Alles in Ordnung hier drinnen. Aber was war das für ein Geräusch gewesen? Dieses Knacken? Gusto wusste es nicht. Er wollte schon wieder gehen. Stattdessen tat er das Gegenteil. Hatte nicht die leiseste Ahnung, warum. Er zog einen Stuhl ans Bett und setzte sich vor Omegas Stubenwagen. »Du glaubst also«, sagte Gusto flüsternd, »du kannst dich hier einschleichen? Tauchst einfach auf und bist da? Du bist schuld, dass ich hier sitze! Ohne dich wäre alles leichter. Vor allem für mich. Das da«, sagte Gusto und deutete auf Alphas Bett, »das da ist mein Enkel, und ein Kindhätten Bitch und Kolja allein gemeistert, aber zwei, verstehst du, zwei ist eins zu viel, für zwei braucht man Hilfe. Und egal, was deine … deine neuen Eltern sagen, ich werde …« Ehe Gusto seinen Satz beenden konnte, schlug Omega die Augen auf und blickte ihn an. Gusto zuckte zusammen. Obwohl er wusste oder zu wissen glaubte – weil es der gängigen Auffassung damaliger Wissenschaft entsprach –, dass kein Kind in diesem Alter etwas oder jemanden fixieren oder sehen kann, nur Schleier, Schemen etc., hatte er das Gefühl, dass Omega ihn nicht nur ansah, sondern fragend ansah, ihn mit diesem Blick daran hindern wollte, weiterzusprechen, und Gusto wusste nicht, was er tun sollte. Ihn drängte danach, den Raum zu verlassen. Er legte das Kuscheltier zurecht, wollte die Hand schon zurückziehen, aber in Sekundenschnelle packte Omega – im Alter von vier Wochen! – seinen Zeigefinger und hielt ihn umklammert. Mit einem Ruck hätte Gusto den Finger aus der Hand reißen können, aber er hatte Angst, Omega würde erschrecken und schreien und Alpha wecken. Gusto konnte dem Blick nicht standhalten, mit dem Omega ihn musterte, er schaute weg, auf die gegenüberliegende Wand, auf das Fenster, auf die Rollos, auf das schwache Licht der Laterne, er dachte, jetzt bin ich in der Falle, muss hocken hier, bis sie schläft. Um sich zu beruhigen, um irgendwas zu sagen, um voran- und aus dem Kinderzimmer herauszukommen – denn, so dachte Gusto, wenn ich rede, wird sie vielleicht eindösen, mich aus dem Blick entlassen, Handmuskeln werden schlaff, und sie wird mich freigeben –, nur deshalb – so Gusto im Interview mit dem Internetforum Inquirer vom 19.9.2028 nach alter Zeitrechnung – hatte er ihr seine Rede gehalten, die er nun schon dreiundzwanzigmal zuvor dem einen oder anderen Menschen gehalten hatte, ob man sie hören wollte oder nicht.
Er hatte also gesagt, dass er nur das tue, was ihm gefalle. Dass er nach Gusto lebe. Und dass er, als ihm dies klar geworden sei, seinen hässlichen Geburtsnamen Gustav abgelegt und sich für den Namen Gusto entschieden habe. Man könne, so Gusto, das verbleibende Leben, das Restleben einer jeden Existenz, anhand der verschiedensten Maßstäbe bemessen. Üblicherweise anhand der Jahre, Monate, Wochen, Tage, Stunden, die bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung von achtzig Jahren blieben, vom Zeitpunkt des Restlebensbeginns an gerechnet. Man könne das Restleben auch anhand der verbleibenden Atemzüge ermitteln, anhand der Lidschläge oder aber, und darauf laufe seine Philosophie der Exkremenz hinaus, anhand der noch zu bewerkstelligenden Ausscheidungsmenge. Um diese zu errechnen, müsse man nur die durchschnittliche tägliche Fäkalproduktion an die Anzahl der Tage koppeln, die einem aller statistischen Voraussetzung nach blieben. »Nimm zum Beispiel mich«, sagte Gusto, durch Omegas Griff an ihr Bett gekettet, nicht fähig, der Stille die Stirn zu bieten. »Ich werde dieses Jahr fünfundsechzig, gehe davon aus, dass ich die achtzig noch schaffe. Damit bleiben mir – grob überschlagen – noch fünftausend Tage. Was wird in dieser Zeit geschehen? Wissen wir es? Wir wissen es nicht. Natürlich weiß ich auch nicht, ob ich gleich aufstehen und von einem Infarkt niedergestreckt werde oder morgen in einem Anflug von Depression von der Brücke springe oder mich übermorgen ein besoffenes Arschloch zu Tode fährt oder ob ich nicht vielleicht doch fünfundneunzig Jahre alt werde, das weiß ich alles nicht, aber weil ich es nicht weiß, bleibt mir als Bezugspunkt nur die Statistiknorm, kennst du den Witz vom Statistiker, der beweist, dass jede zweite Statistik falsch ist?, ich schweife ab, wo war ich? Fünftausend. Man weiß nicht, was geschieht. Ich weiß nur, dass ich tagtäglich, falls beschwerdefrei, meinen Darm entleeren werde. Stoffwechsel bedeutet Leben. Hab ich mal gehört. Gehen wir davon aus, dass die durchschnittliche Fäkalproduktion ausgewachsener Menschenaffen pro Tag circa dreihundert Gramm beträgt, und multiplizieren wir diese Zahl mit der erwarteten Tageszahl, so errechnet sich das, was ich noch vom Leben zu erwarten habe: rund dreißig Zentner Scheiße. Ein Riesenberg ist das. Stell ihn dir mal vor. Ich weiß, du machst noch nicht so viel in deine Windeln, aber was ich sagen will, Mädel, ist Folgendes: Wenn es dir beschissen geht, irgendwann mal, noch kannst du dir das nicht vorstellen, noch kannst du dir überhaupt nichts vorstellen – denk ich jedenfalls – wenn es dir also richtig dreckig geht, wenn dich eine Sorge oder ein unüberwindbar scheinendes Problem so in den Klauen hält, dass du nicht weiterweißt, dann mal dir einfach den riesigen Haufen Mist aus, der dich noch erwartet, diesen ganzen Haufen, wie er jetzt schon in seiner Gemachtheit vor dir läge, schönes Wort, Gemachtheit, was? Dann stellst du dir deine Probleme vor, deine Sorgen, deine bösen Gedanken, und du schiebst sie alle tief in den riesigen braunen Berg hinein, und du atmest auf. Oder wenn du eines Tages Angst vorm Tod haben solltest, dann schau dir ruhig diesen Berg an und sag: Alles, was ich verlieren kann, sind bloß ein paar Zentner Schiss. Oder wenn du eines Tages Angst vorm Leben hast, dann schau dir diesen Berg an und sag: Es ist alles egal, es ist alles erlaubt, ich lass mich nicht in Normen und Korsette pressen, nein, ich tue, was ich will, mein ganzes Leben lang hau ich einfach richtig auf die Kacke. Das, liebes Fräulein, ist meine Philosophie der Exkremenz. Die Gedanken haben schon andere vor mir gedacht und etwas eleganter ausgedrückt, ich weiß, ich weiß, aber auf meine Art macht’s einfach mehr Spaß, finde ich, und würdest du mich jetzt bitte loslassen?«
Aber Omega ließ noch nicht los, im Gegenteil. Statt müder zu werden, war sie wacher geworden, sie gluckste sogar, und Gusto hatte das seltsame Gefühl, dass Omega seine Worte ganz genau verstanden hatte.
Und er schluckte.
Und er wurde bleich.
Und dann geschah die Sache mit der Spinne.
Also genau die Sache, die, wie ich bereits angedeutet habe, die beiden, Omega und Gusto, auf ewig aneinanderschweißen sollte. Doch wenn man die Sache mit der Spinne verstehen will, muss man zunächst wissen, wie die Spinne, die fette, eklige, fiese, widerwärtige schwarze Spinne ins Zimmer kam zu den beiden in dieser Nacht.
6
Die Maschine rollte eher, als dass sie ging, es sah jedenfalls so aus, als würde sie rollen, und sie trug ein langes, rotes Gewand, eine Robe, die ihre Räder verbarg.
Wir gelangten zu den ersten Büchern.
Jetzt fragt ihr zu Recht, Freunde aus dem Jahr 525: Was sind Bücher?
Bücher sind rechteckige Gebilde, die, in harte oder lasche Einbände gefasst, entweder harte oder lasche Gedanken ihrer Verfasser zu irgendwelchen Themen oder aber allerhand Geschichten beherbergen und die von den Menschen jener weit, weit zurückliegenden Epoche, in die ich reiste, konsumiert, sprich, gelesen wurden. Alles, was wir, Freunde, ohne stimmliches Hilfswerk zu begreifen in der Lage sind, allein durch unsere unmittelbare Gedankenverbindung, war den Menschen im Jahr 0 nicht möglich. Sie verfügten lediglich über zwei Hirnhälften. Und suchten verzweifelt nach Mitteln und Wegen, sich den anderen verständlich zu machen. Es scheiterte, das sei gleich gesagt. Um einen anderen Menschen zu verstehen, musste man zuhören; um sich einem anderen Menschen zu offenbaren, musste man sprechen, jene veraltete Kommunikationsweise also, die wir, Freunde, nur noch mit unseren Maschinen pflegen. Weil der Mensch aber keine Maschine ist, schlugen Sprechen und Zuhören oft genug fehl, und daher griff man zum Mittel des Schreibens und Lesens. Nur schnitzten jene Menschen eben nicht wie wir, Freunde, die Buchstaben in die Rinden der Bäume, sondern setzten sie in Bücher aus Papier, das man übrigens aus (ha!) Holz herstellte, oder aber, so eröffnete mir der Bibliothekar, die Buchstaben wurden in sogenannte Dateien überführt, die man öffnen konnte in einem Apparat, den Jimmy McGovern mit dem Wort Kindchen bezeichnete. Ein solches Kindchen haltet auch ihr nun in Händen, Freunde aus dem Jahr 525. (Aber wenn ihr jetzt glaubt, dass ich jedes Fitzeldetail auf derart ausführliche Weise beschreibe wie gerade eben, habt ihr euch geschnitzt. Dann käme ich niemals weiter. Ihr könnt allen fremd klingenden Wörtern und Konzepten, die ihr nicht versteht, auf den Grund gehen und im von mir verfassten, mit dieser Schrift hier gut verknüpften achttausendseitigen Lexikon des Barbarismus nachschlagen, indem ihr rätselhafte Begrifflichkeiten auf dem Kindchen-Bildschirm einfach antippt – ich finde das rührend, diesen altehrwürdigen Touchscreen –, und eine kurze Definition und Erklärung erscheint unmittelbar über oder neben dem Text. Besser noch, ihr geht – vor Lektüre meines Buchs – in die Bibliothek und lest alles über die Barbaren, was auch ich las.) Weiter! Jimmy schien erleichtert, dass ich – nach Entdeckung der elektronischen – die gedruckten Bücher in Ruhe ließ, zu kostbar, wie er immer wieder betonte, ich solle ja keins fallen lassen.
»Aber«, sagte ich, »in drei, vier Wochen sind sie ohnehin Schutt und Asche.«
Der Bibliothekar nickte und rieb sich das Kinn. »Schon«, sagte er, »aber der Reflex zum Bücherschutz ist uns Bibliothekaren eingestanzt.«
»Uns?«
»Ja, es gibt viele.«
»Wo sind die anderen?«
»Verstreut. Jede Bibliothek hat ein Motto. Jede Bibliothek hat einen Kern.«
»Und wie lautet das Motto dieser hier?«
Der Bibliothekar sagte: »Omega!«
»Wer oder was ist Omega?«
7
»In die nassen Sättel!«, rief Bitch Winter, als Schülerin, 1985, sechzehn Jahre jung. Es hatte geregnet, und die anderen trauten sich nicht aufzusteigen oder wischten mit Taschentüchern ihre Sättel ab, Bitch aber, mit schwarzen feuchten Haaren, wuchtete ihren Hintern auf den klatschnassen Sattel und grinste. Mit ihrem Vater Gusto teilte sie den Hass auf den eigenen Namen. So, wie Gustav Gustav hasste, hasste Birte Birte. Sie ließ sich aber nicht nur Bitch nennen, weil sie den Namen Birte hasste, sondern auch, weil sie zu gern eine Bitch gewesen wäre. Alles, was sie tat, tat sie mit verführerischem Augenaufschlag. Aber sosehr Bitch sich auch bemühte, sie war alles andere als eine Schlampe. Zwar verschliss sie schon früh eine Reihe von Freunden. Ihre Beziehungen-kann-man-das-nicht-nennen hielten nicht sonderlich lange und endeten meist damit, dass ihre Typen, die allesamt älter waren als sie, mit Birte ins Bett wollten. Nur machte Bitch das nicht mit. Sie war einfach noch nicht so weit. Doch keiner ihrer Freunde wollte sich eine Blöße geben, alle prahlten sie damit, Bitch tatsächlich gevögelt zu haben – rutsch ich hier mehr und mehr in die Diktion der Barbaren? Ich glaub, das ist ansteckend! –, jedenfalls gelangte Bitch auf diese Weise zu einem Ruf, der ihrem Namen entsprach. In Wahrheit dagegen: Jungfrau noch bis zweiundzwanzig. Bitch liebte das Dämmerlicht, in dem ihr Leben glomm, sie, die Verruchte, die Erfahrene, die mit allen Wassern Gewaschene, das verfluchte Objekt der Wollust. Bitch zerstreute die Gerüchte nie, im Gegenteil, von Freundinnen angesprochen, goss sie mit zweideutigen Blicken Öl ins Feuer kollektiver Phantasie.
Sie war biegsam und beugsam. Passte sich allen und allem an. Einer schleifte sie zum Fußball – sie warf sich einen Schal um; einer lebte als Ökofreak – Bitch zwängte ihren Hintern in hautenge Zebrahosen und trug Palästinensertücher; einer war deutlich älter und Klassikfan – Bitch kaufte ein kurzes Seidenkleid. So ging es weiter bis zum siebten Freund, der, mit dem sie am längsten zusammenblieb, schon achtzehn, kurz vorm Abi. Dieser Siebte war ein Esoteriker namens Henry Lamarque, ein Deutsch-Franzose, sein Vater stammte aus Marseille. Henry Lamarque glaubte an alles, was nicht niet- und nagelfest war. Er schleppte Carlos Castaneda ein wie eine ansteckende Krankheit. Und Bitch schluckte begierig, was Henry ihr vorkaute. Von diesem Siebten sollte sich Bitch nie wieder erholen, zeit ihres Lebens, im Gegenteil, dieser Siebte, obwohl er nach einem halben Jahr den Abflug machte – erstmals war es aber übrigens so, dass Bitch mit ihm hatte schlafen wollen, aber er nicht mit ihr, weil Henry sowohl Bitchs Aura als paarungsunreif erachtete als auch ihr Sakralchakra kritisierte –, dieser Siebte also übte einen derart starken Einfluss auf Bitch Winter aus, dass sie seiner im weitesten Sinne als esoterisch zu bezeichnenden Gedankenwelt verfiel und nicht mehr von ihr abließ. Henry haute irgendwann einfach ab, weil er, wie er sagte, das alles nicht mehr aushielt, wobei fraglich ist, was er mit das alles genau meinte –die Gesellschaft, das westliche Denken, die eindeutigen sexuellen Avancen, die Bitch ihm machte, oder die Tatsache, dass sich im Beisein der Bitch sein dafür vorgesehenes Zeugungsorgan nicht entsprechend vergrößerte, obwohl (oder vielleicht gerade weil) er Bitch über alle Maßen liebte. Henrys Verschwinden stürzte Bitch in eine welt- und ichumspannende Krise. Sie wusste nicht weiter. Mehr als Liebeskummer: existenzieller Notstand. An so was Profanes wie Abitur war nicht zu denken. Ohne Henry Lamarque – er hatte sich, nachdem ihn wie aus dem Nichts ein Heißhunger auf buddhistische Philosophie befallen hatte, nach Nepal abgesetzt –, brach Bitch entzwei, es war, als fehle ihr eine Hälfte ihres Körpers, als humpele sie nur noch auf einem Bein, mit halbem Kopf, mit einer Hand und mit zerhacktem Herzen durch die Welt.
Ihr Vater Gusto war keine wirkliche Hilfe. Er hatte sich nie mehr als nötig für Bitch interessiert. Obwohl er als allein erziehender Vater – Bitchs Mutter starb bei der Geburt – die Verantwortung in Gänze trug, vertrat er seit jeher die Auffassung, der Mensch solle sich aus sich selbst entwickeln, man dürfe nicht zu viel vorgeben, jeder, so Gusto Winter, lebe ohnehin irgendwann so, wie er selber es für richtig halte, eine Erziehung verderbe nur den Eo-ipso-Charakter, wie er es nannte. Gusto, mein Gott! Kurz, Bitch war auf sich selbst zurückgeworfen. Durchschritt das Tal der Finsternis. Sie schmiss die Schule – wenn du es für richtig hältst, war alles, was Gusto dazu sagte –, machte sich auf nach Nepal, schlug sich dort durch auf der Suche nach Henry, reiste weiter nach Indien, suchte auch halb Indien ab, fand aber Henry nicht. Wen sie fand, war Mama Aga, eine Frau, die allerhand Dinge konnte, die von westlichen Wissenschaftlern massiv in Zweifel gezogen wurden, also beispielsweise aus nichts etwas machen, materialisieren nennt sich das, oder kranke Organe mit bloßen Händen aus dem Körper entfernen, ohne Operationsnarben zu hinterlassen, und so weiter. Diese Mama Aga nahm Bitch im Verlauf eines, ich weiß nicht, wie sie es dort nennen, sagen wir Happenings, in die Arme, Bitch ließ die Mama nicht mehr los und klammerte sich mit all ihrer Kraft an sie, minutenlang, und Bitch sollte später erzählen, dass diese Frau sie gerettet, ihr einen Lichtpilz ins Innere gesetzt und dafür gesorgt hatte, dass dieses Leben, so finster und ausgeglüht es auch gewesen war, neu erleuchtet wurde, sprich, Energie-Übertragung, also quasi Akku-Auffüllung.
Bitch kehrte zurück in den Westen und ergatterte einen Job in einem Esoterikshop, letzte Konsequenz ihres bisherigen Lebensgangs, etwas, was sie konnte und kannte. Und zwar in Freiburg: fort aus dem Henry-losen Geburtsort Karlsruhe. Zu Beginn frequentierten nur wenige Kunden den Laden, und so nutzte Bitch die Zeit, um sich weiterzubilden. Sie las, was ihr in die Finger fiel. Alle Bücher, die auf den Verkauf warteten. Mehr noch: Ein Buch führte zum nächsten, eine Literaturangabe zur zweiten, dritten, und sie bestellte die Bücher irgendwann nicht mehr, um sie an die Kunden weiterzuverkaufen, sondern um sie selber zu verschlingen. Ihre Chefin Helen war dennoch zufrieden, weil sie immer seltener im Laden stehen musste und sich voll und ganz auf Bitchs Kenntnisse verlassen konnte. Innerhalb eines Jahres eignete sich Bitch ein ordentliches esoterisches Wissen in allen möglichen Bereichen an, vom Engel-Tarot bis zu den keltischen Ritualen. Die Arbeit verlieh Bitch einen festen Stand: die intellektuelle Beschäftigung mit den einzelnen esoterischen Richtungen; der persönliche Kontakt zum Kundenstamm, der sich im Lauf der Zeit ständig vergrößerte; aber auch das Materielle, Geschäftliche, das Kassieren und Geldzurückgeben oder der monatliche Anruf beim Esoterikgroßhandel plus Verlesen der Einkaufsliste. Es erfüllte sie mit einer gewissen Erdungskraft, wenn sie es aussprechen musste: Vier Schwarze Madonnen bitte, zwei Engelpendel aus Messing, eine Wahrsagekugel mit Halter im Schmuckkarton, ein Runenset Amethyst, drei Packungen Rider-Waite-Tarot, sieben keltische Pentagramme (die standen für Willensstärke und Erfolg), zwei Athame (Zeremonienmesser der Hexen und eine Sonderbestellung der alten Schwestern Belten, die sich selbst als Hexen bezeichneten, was von den Menschen ihrer Umgebung bestätigt wurde, wenn auch in anderer Konnotation), Aquamarin, Onyx, Unakit, zwei Sets tibetische Klangschalen und so weiter. Wenn die Stimme am anderen Ende dann noch sagte, Rosenweihrauch und Räucherstäbchen seien gerade im Angebot, bestellte Bitch auch Rosenweihrauch und Räucherstäbchen, ehe sie die Liste mit den Buchtiteln durchgab.
Und jetzt stolperte eines Tages ein junger Mann in den Laden, kaum jünger als sie selbst, magerer Kerl mit wirren Haaren, nachdem er die Mütze vom Kopf gezogen hatte, ein Dreitagemilchbart, er knetete die Mütze in seinen Händen und schrie: »Hallo!«, viel zu laut, worüber er selber am meisten erschrak, sodass er – leiser diesmal – das »Hallo!« wiederholte. Bitch legte ihr Buch zur Seite (Die Kraft der vier Erzengel) und nickte dem jungen Mann zu. Der stand einfach nur da. Vor ihr. Wusste nicht, was tun. Hätte am liebsten gesagt: »Ich bin Kolja. Kolja Zacharias. Ich schleiche hier seit zwei Wochen um den Laden, ich hab mich nicht rein getraut, bin rettungslos verloren, hab noch nie eine Frau angesprochen, einundzwanzig, aus dem katholischen Elternhaus geflüchtet, weil ich es nicht mehr ausgehalten hab, so weit weg wie möglich, bin gerade auf dem Weg zu mir selbst, ich weiß nicht, wie ich diesen Weg finden soll, aber deshalb bin ich nicht hier, nicht, um mir durch esoterischen Firlefanz den Weg zu mir selbst zeigen zu lassen, nein, ich bin hier, um dich anzusprechen, ich bin hier, weil ich noch nie mit einer Frau im Bett war und genau das jetzt nachholen will, sofort, auf der Stelle, mit dir, ich weiß nicht, wie du heißt, ich weiß nicht, wer du bist, aber ich beobachte dich seit zwei Wochen, jetzt hab ich mich reingetraut, und ich bin hier, um mit dir zu schlafen, ich bin hier, weil ich mein Leben lang nie an Sex denken durfte, in meiner katholisch verpesteten Scheißjugend, aber jetzt bin ich draußen und hab der Vergangenheit den Rücken gekehrt, der Vergangenheit und der Kindheit und der Jugend und dem Schein und der Doppelmoral und der psychischen Vergewaltigung, jetzt bin ich hier!« Aber Kolja sagte das alles nicht, weil er nie viel sprechen würde, Kolja, ein Schweiger, ein bärbeißiger Schweiger sollte er werden, der zeit seines Lebens die meisten seiner Worte ungesagt im Innern versickern ließ, er schwieg und stand mit zerstrubbeltem Haar und gesenktem Kopf und hochroten Wangen vor Bitch.
»Was willst du?«, fragte Bitch, und das selbstverständliche Du, die raue Stimme, die rauchige Stimme, Bitch rauchte zwei Packungen gesunde indianische Zigaretten am Tag, all das verwirrte Kolja noch viel mehr, sodass er in seiner Not einfach die Hand hob und auf irgendeinen Gegenstand zeigte, im Regal hinter Bitch Winter. Die drehte sich um und fragte ihn: »Die Kristallkugel?«
Kolja nickte.
Bitch angelte die Kugel (sechsundvierzig Mark fünfzig) aus dem Regal. »Weißt du, wie man die bedient?«, fragte sie.
Kolja schüttelte den Kopf.
»Ist eigentlich was für Hexen. Bist du mit den Zaubersprüchen vertraut?«
»Hokuspokus?«, flüsterte Kolja.
Bitch verdrehte die Augen. »Wenn du die Zaubersprüche nicht kennst, nimm das hier mit.« Bitch reichte ihm das Buch der Zaubersprüche und eine Bedienungsanleitung für die Wahrsagekugel aus Kristall. Kolja nickte, und Bitch packte alles in einen Jutebeutel. Die Kasse klingelte, Kolja reichte sein gesamtes Geld für diese Woche über den Tresen und hätte sich beinah verbrannt, weil er nur Augen für Bitch hatte und das Schälchen mit der Sakralchakraräucherung übersah, das neben der Kasse stand und vor sich hin glimmte, sodass er einen Hitzestich spürte, die Hand zurückzog und ein Geldstück verlor, das in das Schälchen mit der Sakralchakraräucherung plumpste, und in Bitch zischte zugleich ein heftiges Verlangen nach dem jungen Mann vor ihr auf, denn eine Sakralchakraräucherung erhitzt, wie sie wusste, die sexuelle Energie.
Doch Kolja hatte sich schon umgedreht.
Bitch rief: »Weißt du eigentlich, was Hokuspokus bedeutet?«
Kolja blickte noch einmal zurück und schüttelte stumm den Kopf.
»Katholische Kirche«, sagte Bitch. »Die Wandlung. Bist du katholisch?«
Kolja nickte.
»Dann kennst du das lateinische Hoc est enim corpus meum?«
»Ja.«
»Hocestenimcorpusmeum. Wenn du das nuschelst, wird das zu Hokuspokus.«
Kolja sperrte den Schnabel auf. Bitch hatte, ohne auch nur ein Gramm seiner inneren Nöte zu kennen, Koljas Unbehagen über seine ritualverseuchte Vergangenheit auf einen Nenner gebracht. Alles, woran Kolja in Kindheit und Jugend geglaubt hatte, wurde mit diesem einen Wort plötzlich als das entlarvt, was es jetzt für ihn war: ein ungeheurer Hokuspokus in abenteuerlicher Sinnlosigkeit.
8
Fortan ging Kolja jeden Montag – er jobbte beim City-Blitz und ließ sich freitags den Wochenlohn auszahlen – in Bitchs Laden und deutete auf ein neues Produkt in den Regalen, was dazu führte, dass er meist schon zu Beginn der Woche pleite oder erheblich gerupft war und sich die nächsten Tage durchschnorren musste. Er kaufte also – ohne irgendwas von dem, was er kaufte, wirklich zu wollen oder zu brauchen oder an das, was er da ergatterte, auch nur annähernd zu glauben – ein Auramessgerät, eine 12ml-Flasche Liebestinte mit echtem Rosenöl, den Regenbogenkristall Drachenträne sowie das Gargoyle Set, und er ließ sich, da Bitch gerade in ihrer Engelphase war, das schweineteure Erzengelsiegel des Schutzengels Michael andrehen, mit den Inschriften Michael, Saday, Athanatos und Sabaoth. In dieser Woche nahm Kolja zwei Kilo ab, da ihm nichts mehr zum Leben blieb und er seine Eltern nicht um ein Almosen bitten wollte. Und Bitch? Eine Weile spielte sie kalt lächelnd mit Kolja wie ein Orca mit der Robbe. Sie wusste, der Kerl würde wiederkommen. Jeden Montag. Sie wusste genau, was er wollte. Seine Augen verrieten ihn. Bitch dagegen dachte, ihre eigene Lust auf diesen Kolja würde mit der Zeit nachlassen. Doch das Gegenteil war der Fall: Ihr Verlangen wuchs mit jeder neuen Begegnung.
Endlich, am fünften Montag, nahm Kolja all seinen Mut zusammen und stammelte: »Harry und Sally.«
»Bitte was?«, fragte Bitch.
»Harry und Sally«, wiederholte Kolja, als würden diese Worte blitzhell seinen Wunsch durchleuchten.
»Hör zu«, sagte Bitch. »In puncto Telepathie stehe ich erst am Anfang. Also entweder, du sagst mir klipp und klar, was Sache ist, oder du kommst in drei Monaten wieder, wenn ich Gedanken lesen kann.«
Kolja murmelte: »Kino.«
Bitch schwieg.
Da nahm Kolja einen Atemzug der esoterischen Luft, die nach Räucherstäbchen und indianischen Zigaretten schmeckte und leichten Schwindel erwirkte, wann immer er den Laden betrat – er wusste aber nicht, ob der Schwindel nicht doch eher von Bitchs Anwesenheit herrührte –, schloss die Augen, öffnete sie wieder, zückte zwei Kinokarten, die er in einem Anflug von Mutwahn gekauft hatte, zeigte sie Bitch, indem er zum ersten Mal in seinem Leben eine Frau zu etwas einlud: »Kommst du mit?«
»Wann?«, fragte Bitch.
Kolja erstickte seinen Jubel mit dem internen Kissen zum Ersticken jeglicher Gefühle, das ihm die Erziehung angezüchtet hatte, und sagte ruhig: »Morgen Abend um zwanzig Uhr.«
Bitch lächelte. »Du meinst acht?«
Kolja nickte.
»Also dann«, sagte Bitch und nahm ihm beide Karten ab.
Kolja machte die Nacht über kein Auge zu, weil er sich einerseits immer wieder vorstellte: mit Bitch im Kino, Betreten eines dunklen Saals, andererseits aber auch Angst hatte, Bitch könnte beide Karten an sich genommen haben, um ihn, Kolja, zu verarschen und beim Kino vielleicht mit ihrem eigenen Lover auftauchen. Tat sie aber nicht. Bitch kam allein, hakte sich unter, sodass Koljas Ellbogen sacht Bitchs Brust berührte, was ihm Schweiß auf die Stirn trieb, doch zum Glück bemerkte Bitch davon nichts, sonst hätte sie sofort das Bild ihres Vaters Gusto vor Augen gehabt, dessen Ausdünstungen sie nicht nur wegen des Geruchs, sondern auch wegen der tropenartigen Atmosphäre hasste, die sich ausbreitete, wenn man ihm zu nah kam. Die beiden begleiteten Harry und Sally bei ihren ungelenken Versuchen, befreundet zu bleiben, gingen danach noch was trinken, und in der Kneipe wiederholte Bitch gleich zu Beginn die entscheidende Frage des Films, fragte Kolja also, ob Harry vielleicht recht habe, wenn er sage, dass eine Freundschaft zwischen Männern und Frauen unmöglich sei, weil immer der Sex dazwischen komme.
»Ich weiß nicht«, sagte Kolja. »Wie ist es bei uns?« Und wurde knallrot. Merkte erst, als die Worte schon wie Lemminge von den Lippenklippen gestürzt waren, was genau er da gefragt hatte. So war das nicht gemeint, hätte er am liebsten hinzugefügt, hoffe, du verstehst das nicht falsch, das war jetzt keine plumpe Anmache, ich wollte nur, weiß auch nicht, was ich wollte, hoffe, ich …
»Gehst ganz schön ran«, sagte Bitch, deutete eine Ohrfeige an und bestellte einen Feldsalat mit Croutons, obwohl sie viel zu aufgeregt war, um Hunger zu haben. Bitch war endlich bereit. Ihr Sakralchakra blühte. (Tut mir leid, aber so dachte sie nun mal.)
Und es geschah noch im Auto. Kolja hatte an diesem Morgen seine Chefin gefragt, ob er ausnahmsweise den roten Flitzer mit der Aufschrift City-Blitz ausleihen könne, nach Dienstschluss. Seine Chefin hatte in einem Anflug von Milde ihre Erlaubnis erteilt, was sie aber im Lauf des Tages bereute, denn Kolja war an diesem ganzen Tag, der auf den Kinobesuch mit Bitch Winter hinauslaufen sollte, dermaßen aufgeregt, dass er sich ständig verfuhr, weil er an nichts anderes mehr denken konnte als an den Abend mit Bitch, sodass seine Chefin durchs Funkgerät das eine oder andere Mal heftig fluchte. Kolja also wollte den Sitz umlegen und griff an Bitch vorbei auf die Seite – sie standen auf dem abgewrackten Parkplatz gegenüber dem Cräsh, nah den Schienen –, und bei diesem Manöver klemmte sich Kolja den Finger, was er sich aber nicht anmerken ließ, denn Bitch löste jetzt ihre Lippen von Koljas Mund und reichte ihm – er hatte nicht sehen können, woher sie das Ding nahm – ein Kondom. Nun wusste Kolja zwar, wozu man ein Kondom brauchte, zu dieser Zeit trug auch jedermann die Dinger in der Tasche, aber eins aufgesetzt hatte er sich noch nie. Als er, um die Plastikpackung zu öffnen, sein Zahnwerk benutzen wollte, und Bitch ihn anmotzte, ob er verrückt sei, er könne mit den Zähnen ein Loch in den Gummi beißen, erinnerte er sich daran – froh darüber, dass Bitch die Sache, ohne weitere Peinlichkeiten zu verbreiten, selber in die Hand nahm –, erinnerte sich Kolja also an eine Stunde im Religionsunterricht, die sich ihm ins Hirn geteert und gefedert hatte, eine Stunde, in der die Lehrerin Brigitte Walter sich progressiv geben wollte und einen Text mit in den Unterricht gebracht hatte, in dem es um Sexualität ging und das Wort Kondom wie eine Haiflosse das Buchstabenwasser durchschnitt. Kolja war vierzehn damals und hatte das Wort nie gehört. Wie es der Zufall wollte, musste ausgerechnet Kolja die fragliche Zeile vorlesen, und er las, er wollte lesen, er wollte nicht stocken, er wollte nicht stecken bleiben, und so las er das Wort Kondom schnell heraus, aber statt das O, wie es sich gehört hätte, schwanzlang zu betonen, entschied er sich betonungstechnisch für ein Doppel-M, sagte also nicht, wie er es besser hätte tun sollen, Kondohm, sondern Kondomm. Die Klasse brach in Gewieher aus. Die Lehrerin wurde rot, denn dieser Schuss war nach hinten losgegangen: Sie hatte einem ihrer Schüler, und zwar ausgerechnet demjenigen, unter dessen Stirn ohnehin schon Minderwertigkeitsgefühle wie Pilze aus dem Boden schossen, ein lebenslanges Trauma eingepflanzt. Jetzt aber, während Kolja Zacharias und Bitch Winter auf dem Beifahrersitz loslegten, kam Kolja noch einmal diese Szene in den Sinn, und er hielt die Schreie, die Bitch ausstieß, für Schreie der Lust, was aber nicht (nur) der Fall war, denn Bitch dachte, da müsse sie durch, verschaffte sich Luft, indem sie einfach nur schrie, jedoch so laut, dass einige trübe, schwarz gekleidete Gestalten – soeben aus dem Cräsh gestolpert – auf den schaukelnden City-Blitz-Wagen aufmerksam wurden, hinüber schlenderten, durchs Fenster blickten und Bitch und Kolja mit Anfeuerungsrufen bejohlten. Die beiden hielten sofort inne, Kolja zog die Hose hoch, kletterte auf den Fahrersitz, ließ den Wagen an, die Reifen drehten durch, spritzten jede Menge fatalen Kies in die Luft, und so fing es an, das gemeinsame Leben der Eheleute Bitch Winter und Kolja Zacharias, Adoptiveltern von Sybille Zacharias, genannt Omega. Ich war noch nicht dabei, ich weiß das nur aus den Büchern, die ich inhalierte, in Vorbereitung auf meinen Trip. Aber egal. Ich wollte eigentlich etwas anderes erzählen. Gusto. Wollte erzählen, was geschah an jenem Abend, an dem er bei Omega saß und Omega ihn nicht losließ. Wollte von der Spinne erzählen. Doch bevor ich dies tue, muss ich erst das Spiel erwähnen. Anstrengend, dieses Eins-nach-dem-anderen.
9
Es gefiel mir in der Bibliothek. Jede Menge Wirbelsäulensessel. Kaminhologramme. Exquisite Speisen. Megansaft. Orchideenpulver. Ich vermisste nichts. Und ich las. Ich las pausenlos. Wie angenehm, dieses Am-Stück-lesen. Ohne fürs Lesen von Rinde zu Rinde hechten zu müssen, wie wir es gewohnt sind. Ich verschlang zunächst zig Bücher über den Barbarismus, verfasst von mehr oder weniger nüchtern auf jenes düstere Zeitalter blickenden, der reinen Geschichtsschreibung verhafteten späteren Autoren. Die Kriege, die sich zerfleischenden Kulturen, die Hungergenozide, die scham- und rücksichtslose Ausbeutung: Ich konnte kaum glauben, dass die damaligen Menschen alldem nichts oder nicht genug entgegengesetzt hatten. Obwohl sie genau Bescheid wussten. Zum Beispiel darüber, dass täglich dreitausend Menschen allein an den Folgen von Durchfallerkrankungen starben. Nein – sie ließen es geschehen. Mich fröstelte.
Bald schon wandte ich mich daher dem Kern der Bibliothek zu: ein Saal, in dessen Mitte eine uralte Omega-Statue stand (eine Statue, die Omega selber verabscheut hätte und die aus dem frühen Zeitalter des Omegismus stammte, wie Jimmy mir mitteilte), und um sie her haufenweise Bücher, die sich mit dem Leben, Denken und Handeln der Weltretterin namens Omega Sybille Zacharias befassten sowie mit Leben, Denken und Handeln all jener Menschen, die – auf welche Art auch immer – bei ihrem Kampf eine Rolle gespielt hatten: Omegas geliebter Adoptivbruder Alpha, ihr Adoptivgroßvater Gusto Winter, ihre Adoptiveltern Kolja und Bitch, der reichste Mann der Welt (Buzz Monster), der Projektkünstler Matthias Schamp, der Neurologe Henry Lamarque, der schwule Buddha Tashi Tengrit samt Maha-So-Lati, die Teilchenphysikerin Sabrina Steward sowie die am Rand auftauchenden Heidi Klum, James Cameron, Sabine Lisicki, Weaver Wallace, Harry Schmelzer und Denise Wanda Lager. Um ein Buch von etwa vierhundert Seiten zu lesen, benötigte ich eine halbe Stunde. Ich las aber nicht nur zahlreiche Omega-Biografien, sondern auch einige Bände der Gestammelten Schriften Gusto Winters (der achtmal zum Doktor honoris causa ernannt wurde), las dessen weltbekannte Philosophie der Exkremenz I–III(sein dreitausendseitiges Hauptwerk), die perfide Essaysammlung Spielen, die Aphorismen Cräsh, die überaus populären 700 Schüttelreime zur Entstehung und Vernichtung der Welt mit einem Motto von Wilhelm Busch (Oft ist das Denken schwer, indes / das Schreiben geht auch ohne es), ich kämpfte mich durch das kryptisch anmutende Spätwerk Sinnentiere versus Spinnentiere, verschlang seine Dramolette mit dem Titel Die Geburt des Sinns aus dem Unsinn, die Pamphlete und Essays Vom überfälligen Untergang der Religion und Vom überfälligen Wandel in der Wissenschaft sowie die ausführlichen Memoiren, und in den Memoiren natürlich vornehmlich die Darstellung jener Jahre, die Gusto mit seiner Adoptivenkelin Omega verbracht hatte. Je mehr ich las und verstand und hinter die Kulissen blickte, je mehr ich mich mit der Vergangenheit beschäftigte, etwas, was wir – da hat Jimmy recht – irgendwie aus den Augen verloren haben in unserer Jetzt-Obsession, umso mehr wurde ich regelrecht entzündet, inspiriert, beflügelt! Es gibt sie, Freunde, es gibt die Vergangenheit! Und wenn es eine Vergangenheit gibt, warum sollte es nicht auch eine Zukunft geben? Weshalb sich mit der Gegenwart begnügen? Weshalb nicht kämpfen? Und alles, alles tun, was möglich ist! Alles versuchen! Alles, was man uns beigebracht hat, gründlich überprüfen!
Omega hat es uns vorgemacht.
Omega!
Ihre Kraft, Geschmeidigkeit, Ausstrahlung.
Ihre Energie, ihre Fähigkeit, ihre Gabe.
Nur durch sie, Ihre Nichtigkeit, leben wir heute.
Nur durch sie gibt es diesen Planeten (noch).
Sie hat schon einmal die Erde gerettet.
Im Jahr 2021 nach Christus.
Vor dem sicheren Untergang.
Vor dem absolut sicheren Untergang!
Vor einem Untergang, der – genau wie heute – auch damals unabwendbar schien.
Ihr zu Ehren war die Zeitrechnung umgestellt worden.
Ihr zu Ehren war Jesus Christus abgeschafft worden.
Sie, Omega Zacharias, das Leitbild.
Die Orientierung.
Der Strohhalm, an den man sich klammern konnte.
Sie, die schöne Omega!
Die Erlöserin!
Omega Sybille Zacharias!
The Wizard of Oz.
Black Female Messiah.
Victoria’s True Secret.
Und, so mein blitzlichter Gedanke, der mir plötzlich kam, nachdem ich wahre Scheiterhaufen von Büchern über Omegas Leben und Wirken gelesen hatte: Wäre Omega nicht in der Lage, es noch einmal zu tun? Die Welt zu retten? Heute? Jetzt? Hier? Für uns? Mit uns? Egal, wie groß der Meteorit auch sein mochte! Ja. Keine Frage! Sie würde ihn zermalmen! In Ketten legen! Sie würde es schaffen! Mit ihr … Wenn sie nur hier wäre! Es kann doch nicht alles verloren sein! Gewiss, ich kannte Omega nur aus Büchern. Aber ihr Wesen strahlte mir aus jedem einzelnen Buchstaben entgegen. Je mehr ich über sie las, umso mehr sehnte ich mich nach ihr. Ich träumte von ihr. Hatte dieses Bild in meinem Herzen, in meinem Hirn, in meinem verzweifelten Quadrupelhirn, dieses Bild, das unmöglich wahr werden konnte: das Bild, wie sich die Tür öffnet, die metallene Tür des Eingangsraums, wie Omega Zacharias hineinschwebt, luftfüßig, in einem dunklen Kleid, mit ihrem kahlen Kopf, und ihr Blick und ihre Bewegungen und ihre Stimme: »Elias. Elias Zimmermann. Alles wird gut.«
Am zwölften Morgen nach Betreten der Bibliothek wachte ich auf (somit blieben der Erde nur noch rund zwölf Tage) und griff mit der Rechten ins zerbröselnde Bild meines Omega-Traums, und ich sagte murmelnd und noch im Halbschlaf zum Bibliothekar: »Ich wünschte, sie wäre jetzt hier.«
»Wer?«, fragte der Bibliothekar, der meinen Schlaf stets sorgsam überwachte, ich hatte mich daran gewöhnt.
»Wer!?«, rief ich. »Omega!«
»Wieso?«
»Sie weiß, wie man die Welt vorm Untergang rettet.«
»Das stimmt allerdings!«, sagte er.
»Sie hat es schon einmal getan!«
Er nickte.
»Vielleicht könnte sie es wieder tun!«
»Sie ist tot«, sagte er.
»Egal!«, rief ich.
Der Bibliothekar schwieg. Nachdenksimulation. Nach ein paar Minuten sagte er: »O Elias!«
»Ja?«
»Es gäbe da eine Möglichkeit, sie kennenzulernen.«
»Wen?«, fragte ich.
»Wen!?«, rief Jimmy. »Omega!«
Ich schwieg und kroch zu ihm.
»Ich denke«, sagte der Bibliothekar, »du bist jetzt bereit für die Kalladabs-Oboren.«
»Aha«, sagte ich. »Kann man die essen?«
10
In seinem ganzen Leben hatte Gusto Winter viele gute Ideen. Aber nur eine einzige grandiose Idee, wie er selbst sagte, wobei ich mich eines Kommentars zu diesem Urteil enthalte. Also gut. Die Idee für ein Spiel. Ein Gesellschaftsspiel. Das Spiel sollte Crashkurs heißen. Gusto hielt die Anhäufung von materiellen Gütern für ein Grundübel seiner Zeit. Er wollte mit seinem Spiel eine Art Weckruf in die Welt setzen: Haut das Geld raus oder tut was Vernünftiges damit! Er war so überzeugt von seiner Idee, dass er ewig an dem Spiel bastelte, immer neue Figuren und Bretter herstellte, immer genauere und klarere Aktionskärtchen und Aufgabenstellungen ersann, immer spannendere Kniffe und Wendungen. Er berauschte sich über ein Jahr lang an diesen Verbesserungen, bis er das Gefühl hatte, gewappnet zu sein für die Präsentation des Spiels. Im Alter von fünfzig Jahren schrieb er die wichtigsten Spieleverlage an, musste aber einsehen, dass man nicht das geringste Interesse an Gesprächen mit ihm aufbrachte, sondern ihn abwimmelte mit dem Hinweis darauf, er solle die Idee auf maximal einer -A4-Seite zusammenfassen. Was er zunächst auch tat. Er hörte aber nichts von den Verlagen. Einige Zeit verstrich. Gusto wurde unruhig. Es konnte nicht sein, dass alle Welt die Genialität dieses Spiels übersah! Es musste sich doch einer finden, wenigstens ein Einziger, der freudig anrufen und Gusto in sein Büro laden und ihn bitten würde, das Spiel zu präsentieren. Aber das geschah nicht. Irgendwann verlor Gusto die Geduld, machte sich auf den Weg zu einem der größten Spieleverlage und verschaffte sich Zutritt mit dem Vorwand, er wolle ein Paket abgeben, das an den Chefredakteur persönlich adressiert sei und folglich auch nur vom Chefredakteur persönlich entgegengenommen werden dürfe. Dazu hatte sich Gusto knallgelbe Klamotten gekauft und komische Posthörner an die Schultern genäht. Tatsächlich funktionierte seine klägliche Verkleidung, und man führte ihn ins Büro des Chefredakteurs, der staunte, als Gusto die Tür schloss, seine Mütze abnahm und ihm offenbarte, weswegen er in Wahrheit hier sei und wie er sich Einlass verschafft und dass er jetzt und sofort und unbedingt mit ihm, Herrn Doktor Lemmert, zu sprechen habe, da es sich um eine geniale Idee für ein Spiel handele.
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