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Tillmann Bendikowski

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Beschreibung

Eine erzählerische Zeitreise in den Alltag der NS-Diktatur

Der Feldzug für eine gesunde Lebensweise, der Kult um den Körper, der Ruf nach der Gemeinschaft – so manches, was den Alltag im »Dritten Reich« prägte, erscheint uns heute erschreckend vertraut, wie Tillmann Bendikowski in diesem Buch zeigt. Aber konnte es damals überhaupt so etwas wie ein »normales« Leben inmitten der Diktatur geben? Der Autor begibt sich auf eine erzählerische Zeitreise in die (auch zeitliche) Mitte der NS-Herrschaft, indem er das Alltagsleben der Deutschen während einer Spanne von zwölf Monaten erkundet: zwischen Dezember 1938 und November 1939, als schon der Zweite Weltkrieg tobte und auch das missglückte Attentat im Münchener Bürgerbräukeller das Regime nicht mehr stürzen konnte. Ein neuer, ungewöhnlicher Blick auf das Leben der Deutschen im Alltag der Diktatur.

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Seitenzahl: 661

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BUCH

Der Feldzug für eine gesunde Lebensweise, der Kult um den Körper, der Ruf nach der Gemeinschaft – so manches, was den Alltag im »Dritten Reich« prägte, erscheint uns heute erschreckend vertraut, wie Tillmann Bendikowski in diesem Buch zeigt. Aber konnte es damals überhaupt so etwas wie ein »normales« Leben abseits von Zwängen der Diktatur geben? Der Autor begibt sich auf eine erzählerische Zeitreise in die (auch zeitliche) Mitte der NS-Herrschaft, indem er das Alltagsleben der Deutschen während einer Spanne von zwölf Monaten erkundet: zwischen Dezember 1938 und November 1939, als schon der Zweite Weltkrieg tobte und auch das missglückte Attentat im Münchener Bürgerbräukeller das Regime nicht mehr stürzen konnte. Ein neuer, ungewöhnlicher Blick auf das Leben der Deutschen zwischen Alltag und Diktatur.

AUTOR

Dr. Tillmann Bendikowski, geb. 1965, Journalist und Historiker, promovierte 1999 bei Prof. Hans Mommsen an der Ruhr-Universität Bochum. Als Gründer und Leiter der Medienagentur Geschichte in Hamburg schreibt er Beiträge für Printmedien und Hörfunk und betreut die wissenschaftliche Realisierung von Forschungsprojekten und historischen Ausstellungen. Seit 2020 ist er als historischer Kommentator im NDR Fernsehen zu sehen, wo er in der Reihe »Das! historisch« Geschichte zum Sprechen bringt. Bei C. Bertelsmann erschienen von ihm u. a. »Der Tag, an dem Deutschland entstand. Geschichte der Varusschlacht« (2008), »Friedrich der Große« (2011), »Sommer 1914« (2014), »Der deutsche Glaubenskrieg: Martin Luther, der Papst und die Folgen« (2016), »Ein Jahr im Mittelalter« (2019) und zuletzt »1870/71: Der Mythos von der deutschen Einheit« (2020).

TILLMANN BENDIKOWSKI

Hitler

wetter

Das ganz normale Leben in

der Diktatur: Die Deutschen und

das Dritte Reich 1938/39

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

© 2022 C. Bertelsmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Bildredaktion: Annette Baur

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-27548-8V002

www.cbertelsmann.de

Inhalt

Einleitung: Ein gutes Leben?

1  Friede auf Erden

Weihnachten 1938: Ein Fest in banger Hoffnung

2  Begeisterung und Angst und Schrecken

30. Januar 1939: Adolf Hitler spricht vor dem Reichstag

3  Die Pflicht, gesund zu sein

17. Februar 1939: Das Heilpraktikergesetz

4  Woran die Deutschen glauben

25. März 1939: Die »Godesberger Erklärung«

5  Hitler feiert 50. Geburtstag

20. April 1939: Ein Tag Sonderurlaub für die Deutschen

6  Muttertag

21. Mai 1939: Frische Blumen und neue Kreuze

7  »Arbeit adelt«

19. Juni 1939: Aufruf zum »Ernteeinsatz« der »Hitler-Jugend«

8  Das Versprechen einer guten Zeit

21. Juli 1939: »Kraft durch Freude«-Reichstagung in Hamburg

9  Verzweiflung im Exil

14. August 1939: Schanghai schränkt die Einwanderung ein

10  Wieder in den Krieg

1. September 1939: Deutsche Soldaten überfallen Polen

11  Kluge Deutsche – dumme Deutsche

10. Oktober 1939: Sorge über den Rückgang der Bildung

12  Jeder Einzelne

8. November 1939: Das Attentat in München

Bilanz: Die eigene Geschichte

Anmerkungen

Literatur

Zeitungen, Zeitschriften und Periodika

Bildnachweis

Es ist typisch wenigstens für die ersten Jahre der Nazizeit, daß die ganze Façade des normalen Lebens kaum verändert stehen blieb: volle Kinos, Theater, Cafés, tanzende Paare in Gärten und Dielen, Spaziergänger harmlos flanierend auf den Straßen, junge Leute glücklich ausgestreckt an den Badestränden.

Sebastian Haffner in seinen 1939 verfassten Erinnerungen Geschichte eines Deutschen1

Einleitung: Ein gutes Leben?

Können die Menschen in einer Diktatur tatsächlich glücklich an einem Badestrand liegen? Frisch verliebt durch die Straßen schlendern, in ein Café oder ins Kino gehen? Können sie ausgelassen tanzen, lachen und zufrieden sein, Fußball spielen und in den Urlaub fahren, eine Familie gründen und ihre Zukunft planen? Solche Vorstellungen scheinen auf den ersten Blick nicht zu unserem Bild vom »Dritten Reich« zu passen. Denn diese zwölf Jahre sind schließlich das finsterste Kapitel der deutschen Geschichte, geprägt von unfassbaren Verbrechen. Konnte es in dieser Zeit so etwas wie ein »normales« Leben abseits von Mord und Totschlag geben, ein Leben mit seinen alltäglichen Freuden, Nöten und Hoffnungen?

Dieser Frage will das vorliegende Buch nachgehen und einen Blick auf den Alltag in der NS-Diktatur werfen – in Reaktion auf die eigentümlich zweigeteilte Erinnerung an die Diktatur, die bis heute das Geschichtsbild der meisten Deutschen prägt: Da gibt es einerseits die immer umfangreicher werdende wissenschaftliche Forschung über die Zeit zwischen 1933 und 1945, die ein beeindruckendes Wissen über die Strukturen und Ereignisse zutage gefördert hat. Und andererseits gab und gibt es eine lange Tradition der Familiengeschichten, in der die individuelle Erinnerung der Eltern- und Großelterngeneration vorherrscht. Das Erinnern und das Wissen standen und stehen sich dabei konkurrierend gegenüber: Ist das »Album der Familiengeschichte« vor allem mit den Themen Krieg und Heldentum, mit persönlichem Leiden, Verzicht und Opferbereitschaft gefüllt, finden sich im »Lexikon des Wissens« in vielen Details die Kapitel Verbrechen, Ausgrenzung und Vernichtung. Dieses »Lexikon« bietet einen kognitiven Zugang zur NS-Zeit, das »Album« einen emotionalen.2

Ein Buch über das alltägliche Leben in der Diktatur kann einen Beitrag dazu liefern, diese Teilung der Erinnerung zu überwinden. Denn es verknüpft das Wissen um die Strukturen der Diktatur mit den Erlebnissen der Menschen in diesen Strukturen – Alltag und Verbrechen kommen hier gleichermaßen vor. So mag es gelingen, die Jahre zwischen 1933 und 1945 den Nachgeborenen ein wenig »näher« zu rücken und damit letztlich nachvollziehbarer zu machen, weshalb so viele Menschen in diesem Land mit der NS-Herrschaft sympathisiert und das »Dritte Reich« über so viele Jahre hinweg unterstützt haben – und andere nicht. Denn das ist bis heute die zentrale Frage in der Auseinandersetzung mit dieser Zeit: Weshalb konnte diese Diktatur funktionieren?

Damit hat das Buch zugleich ein denkbar aktuelles Motiv. Seit Jahren nehmen die Attacken auf die zivilisatorischen Errungenschaften unserer freiheitlichen Demokratie zu. Parlamentarier und Amtsträger werden diffamiert, der Staat oft genug verächtlich gemacht und seine Ansprüche an die Bürgerinnen und Bürger nicht erfüllt, Populisten erhalten für ihren Kampf gegen das Recht und die Freiheit erschreckend viel Applaus. Ist die Wertschätzung für das Leben in einer Demokratie noch groß genug? Wissen die Deutschen denn nicht mehr, wie sich ein Leben ohne Demokratie anfühlt? Die Erinnerung an die SED-Diktatur kann da augenscheinlich nicht helfen, denn längst hat eine als »Ostalgie« verniedlichte Haltung im Umgang mit der DDR-Geschichte im öffentlichen Raum die Behauptung möglich gemacht, damals sei »auch nicht alles schlecht gewesen«. Das mag als tröstende Verklärung für die eigene Biografie menschlich nachvollziehbar sein, aber für einen gesellschaftlichen Lernprozess angesichts der Katastrophen deutscher Diktaturen taugt so eine Aussage indes nicht. Kann es denn ein gutes Leben in einer Diktatur geben? Die nachwachsenden Generationen dürfen erwarten, auf diese Frage eine klare Antwort zu erhalten – und die Geschichtsschreibung trägt hier ihren Teil der politischen Verantwortung.

Wie ein Leben ohne Demokratie aussieht, davon berichtet dieses Buch, indem es eine erzählerische Reise in die NS-Diktatur unternimmt: Betrachtet wird ein Jahr im »Dritten Reich«, und zwar zwischen Dezember 1938 und November 1939. Diese Phase markiert – was die Menschen damals noch nicht wissen konnten – in zeitlicher Hinsicht zugleich die Mitte der NS-Herrschaft: 1939 dauert sie bereits sechs Jahre an, und sie hat noch sechs weitere Jahre vor sich. Während die ersten sechs Jahre von der Stabilisierung der Diktatur geprägt sind, werden die zweiten sechs Jahre mit Beginn des Zweiten Weltkriegs schließlich ganz im Zeichen des Niedergangs, des entfesselten Massenmords und der totalen Niederlage stehen.

In dem hier gewählten Zeitabschnitt von zwölf Monaten werden zwölf Themen unter die Lupe genommen, die jeweils mit einem konkreten Datum verknüpft sind: Vom Wunsch nach »Friede auf Erden« wird beispielsweise im ersten Kapitel über das Weihnachtsfest 1938 berichtet, von »Angst und Schrecken« hingegen anlässlich des 30. Januar 1939, als Adolf Hitler im Reichstag die »Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa« ankündigt. Andere Kapitel beschreiben, wie sich der Arbeitsalltag verändert hat, wie sehr die Intellektuellen verachtet werden, welche religiösen und spirituellen Angebote diese Zeit bereithält oder weshalb die Deutschen angehalten werden, auf ihre Gesundheit zu achten und beispielsweise auf Zigaretten und Alkohol zu verzichten. Auch wird daran erinnert, dass viele Menschen Urlaub machen und nicht nur in dieser Hinsicht dem offiziellen Versprechen auf eine »gute Zeit« vertrauen – dies zeigt beispielsweise der 21. Juli 1939, an dem Tausende zur »Kraft durch Freude«-Reichstagung nach Hamburg kommen. Dass es dann doch keine gute Zukunft gibt, wird spätestens mit dem 1. September 1939 klar, als wieder ein Krieg beginnt – gerade erst haben die Deutschen des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs 25 Jahre zuvor gedacht …

Die Bedingungen für das alltägliche Leben dieser zwölf Monate stecken die Diktatur und ihre Strukturen ab. Was in der Schule gelehrt wird, warum Jugendliche freiwillig auf »Streife« gehen und politische Abweichler anzeigen, in welchem Maß die Deutschen Altpapier und sorgfältig gewaschene Knochen sammeln, warum ihnen hochoffiziell die Haltung von Angorakaninchen nahegelegt wird oder weshalb sich frisch verheiratete Frauen bei eigens errichteten »Gaubräuteschulen« zu Mütterkursen anmelden sollen – das geben Partei und Staat vor. Und die Menschen richten sich ein. Die historische Forschung hat längst herausgearbeitet, dass das vorherrschende Lebensgefühl der Deutschen zu dieser Zeit keineswegs die Angst vor persönlicher Verfolgung war. Ebenso wenig folgten sie einer wie auch immer gearteten Lust zur Unterwerfung unter eine Diktatur, die sie ablehnten. Vielmehr waren die meisten Deutschen mit der herrschenden Politik durchaus zufrieden, entweder in Gänze oder über weite Strecken, und sie trugen ihren Teil zum Funktionieren des Systems bei.3

Diese Gefolgschaft bedurfte weder permanenter Kontrolle noch der Manipulation durch die NS-Propaganda: Gerade in dem hier betrachteten Zeitabschnitt, sowohl in den letzten Monaten des Friedens als auch noch in den ersten Monaten des Weltkriegs, konnte die Diktatur in einem hohen Maß auf die Kooperation der Menschen im Land setzen. Die übergroße Mehrheit der Deutschen unterstützte weiterhin Adolf Hitler und machte ihn damit noch mächtiger. Das ist politisch von Bedeutung, denn auch ein Diktator ist auf Zustimmung angewiesen und wäre ohne Gefolgschaft letztlich ohnmächtig: »Wenn ich den Gesetzen eines Landes gehorche«, so hat mit Blick auf die NS-Zeit die Philosophin Hannah Arendt erklärt, dann »unterstütze ich in Wirklichkeit dessen Verfassung.« Wer also einer Diktatur seine Gefolgschaft verweigern wolle, dürfe nicht am öffentlichen Leben mitwirken und müsse deshalb auch all jene »Orte der Verantwortung« meiden, wo die Unterstützung des politischen Systems unter Berufung auf das Prinzip des Gehorsams gefordert wird.4

Dass es so wenigen Deutschen gelang, diese »Orte der Verantwortung« im Alltag auszumachen und ihnen in einem Akt des zivilen Ungehorsams fernzubleiben, ist heute nur allzu bekannt. Die Mehrheit der Deutschen organisierten während der Diktatur ihren Alltag, vermieden für sich und ihre Familien mögliche Nachteile, nutzten dafür aber nach Möglichkeit die sich bietenden Vorteile. Für die meisten von ihnen ging das Leben nach 1933 zunächst einmal in einem ganz praktischen Sinne weiter, wenngleich unter anderen politischen Vorzeichen: Es gab neue Organisationen und neue Verpflichtungen, jede Menge großer und kleiner »Führer«, und auf den Straßen begrüßten sich die Menschen mit »Heil Hitler«. Doch auch weiterhin fuhren die Straßenbahnen und Ferienzüge, die Kinder gingen zur Schule, die Väter zur Arbeit, die Mütter sorgten für den Haushalt und die Organisation des familiären Alltags. Vieles hatte sich unter den Nationalsozialisten verändert – das allermeiste im Leben der Deutschen blieb indes über lange Zeit gleich. Was war das für ein »normales Leben«, in dem längst auch das Verbrecherische zum Alltag gehörte? In dem zugleich Rechtlosigkeit und Willkür, Mord und Totschlag längst »normal« geworden waren? Lässt sich – ebenfalls in Anlehnung an Hannah Arendt – von einer bizarren »Normalität des Bösen« im Alltag sprechen, die dazu beitrug, dass das »Dritte Reich« funktionieren konnte?

Dieses vermeintlich »Normale« macht uns Nachgeborenen die NS-Zeit zugleich verstörend vertraut: So fremd ist dieses Leben dann vielleicht doch nicht, wie es auf den ersten Blick scheint – und wie wir es gerne hätten. Und so beginnt die erzählerische Zeitreise auch bewusst mit einem uns heute noch wohlvertrauten Fest: Weihnachten. Das Land liegt in diesem Dezember 1938 tief verschneit da, Glocken läuten, Kerzen brennen, Kinder schauen mit großen Augen auf ihre Geschenke …

Das alte, schöne Weihnachtslied »Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen« zieht uns in seinen Bann und läßt uns das Glück erkennen, wie wohlgeborgen wir im deutschen Vaterland sind unter einer Führung, um die uns die Welt beneidet.

Leitartikel der Dortmunder Zeitung am 24. Dezember 19385

1

Friede auf Erden

Weihnachten 1938: Ein Fest in banger Hoffnung

Deutschland ist schön: Im ganzen Land setzt vor den Festtagen ausgiebiger Schneefall ein – es wird also doch noch die ersehnten weißen Weihnachten geben! Schon seit Tagen hat es gefroren, sodass die weiße Pracht liegen bleibt und damit die idealen Voraussetzungen für jegliche Art von Wintervergnügen bietet. In den Mittelgebirgen türmt sich rasch eine Schneedecke von über 20 Zentimetern auf. Die Kinder schnappen sich ihre Schlitten, und viele Erwachsene nutzen, wo möglich, die Chance zu einem ausgedehnten Spaziergang. Gerade entlang der Flüsse bieten sich außergewöhnliche winterliche Ansichten: Auf der Donau wie auf dem Rhein treiben Eisschollen, und auf der langsam fließenden Mosel sind sie inzwischen an einigen Stellen zum Stehen gekommen und zusammengefroren. »Die Eisdecken sehen einem gepflügten Acker gleich«, heißt es dementsprechend in einem Zeitungsbericht, »und bieten ein prächtiges Winterbild.«6

Rund um Honnef bei Bonn freuen sich die Kinder über einen zugefrorenen Rheinarm, weil der zum Eislaufen einlädt. Wird das Vergnügen von Dauer sein? Wenn der Frost weiter anhält, so zumindest der wohlmeinende Ratschlag der örtlichen Zeitung, »weiß das Christkind, was es bringen soll: Schlittschuhe, Rodelschlitten, mollige Handschuhe und Shawls.«7 Aber auch ohne weitere Ausrüstung nutzen die meisten Kinder schon vor der Bescherung die Gunst der Stunde: Schneebälle fliegen umher, Schneemänner werden gebaut, und in manchen Städten kann zur Freude der Kleinen der Schnee gar nicht so schnell weggeräumt werden, wie neuer fällt. Auch die Brauereien im Land freuen sich übrigens über die anhaltende Kälte: Sie schicken ihre Mitarbeiter zur »Eisgewinnung« hinaus, bei der sie aus geeigneten Weihern und Seen größere Eisschollen herausbrechen und mit Lastwagen in die hauseigenen Kühlkeller transportieren. Bier muss schließlich gekühlt werden, und mit dieser »Ernte« vor der eigenen Haustür sparen vor allem kleinere und mittlere Betriebe die Ausgaben für das ansonsten benötigte Kunsteis.8

Teilnehmer eines 1100 Jungen umfassenden Wintersportlagers der »Hitler-Jugend« im Glatzer Bergland in Niederschlesien wachsen im Dezember 1938 ihre Skier und freuen sich auf die Abfahrt.

Aber die Minustemperaturen und der viele Schnee führen nicht nur zur Einstellung des Schiffsverkehrs, sondern in zahlreichen Regionen auch zu Störungen im Eisenbahnverkehr. Für die Mitarbeiter der Deutschen Reichsbahn bedeutet dies, dass der schon lang genehmigte Weihnachtsurlaub wieder gestrichen ist, weil jeder verfügbare Mann zur Arbeit zurückgerufen wird. Die Bahn plant, zumindest in größeren Bahnhöfen, an jeder Weiche einen Mann zu postieren, der diese dann beständig von Schnee und Eis befreien soll.9 Abseits der Gleise führt die Wetterlage zudem dazu, dass die Zahl der Verkehrsunfälle zunimmt, weil immer wieder Fahrzeuge auf den glatten Straßen ins Rutschen geraten. Auch die Fährverbindungen zu den meisten Ostfriesischen Inseln sind inzwischen eingestellt. Notgedrungen lässt die Lufthansa in einer spektakulären und landesweit beachteten Aktion zwei Flugzeuge auf provisorischen Pisten am Strand von Juist landen, um Mütter und Kinder rechtzeitig zum Weihnachtsfest wieder ans Festland zu holen.10

Deutschland ist schön? Das denken fraglos viele im Land angesichts der winterlichen Idylle. Doch der Eindruck täuscht: Das Land hat sich massiv verändert in den vergangenen sechs Jahren, seitdem die Regierung Hitler die politischen Geschäfte führt. Mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler begann am 30. Januar 1933 jene Umgestaltung des politischen Systems, die sämtliche Reste der Demokratie in Deutschland beseitigte: Gewaltenteilung und freie Wahlen sind abgeschafft, oppositionelle Parteien und freie Gewerkschaften zerschlagen, und seit dem Tod des ehemaligen Reichspräsidenten Paul von Hindenburg vor mehr als vier Jahren agiert Hitler als unumstrittener »Führer« über Deutschland. Diesen eigentümlichen Titel hat der Diktator aus seiner Partei mitgebracht – eine Bezeichnung für ein staatliches Amt war dieser bislang noch nie.

Die NSDAP und ihre Organisationen haben sich in den vergangenen Jahren fest im Alltag der Deutschen verankert: Die Kinder sind im »Jungvolk« oder dem »Jungmädelbund«, die Jugendlichen in der männlichen »Hitler-Jugend« (HJ) und dem »Bund Deutscher Mädel« (BDM) organisiert, die Berufsverbände arbeiten jetzt unter nationalsozialistischen Vorzeichen, Polizei und Justiz sind nahezu vollständig zu willfährigen Instrumenten der Diktatur verkommen. Eine viel beschworene »neue Zeit« hat begonnen, die viele Deutsche in der Wortwahl der Propaganda als eine »nationale Wiedergeburt« ihres Landes begrüßen. Denn die Niederlage von 1918, die politischen Kämpfe der Weimarer Zeit und die große wirtschaftliche Not sind ihnen noch in bester Erinnerung. Aber geht es ihnen jetzt, in dieser »neuen Zeit«, wirklich besser?

Zum Alltag dieser Zeit gehört auch, dass seit 1933 so manche Nachbarn, Arbeitskollegen oder Freunde regelrecht »verschwunden« sind. Zunächst einmal haben Hunderttausende in den vergangenen Jahren Deutschland verlassen: viele Sozialdemokraten und Kommunisten, die schon in der Weimarer Republik die entschiedensten politischen Gegner der NS-Bewegung waren, und vor allem Deutsche mit jüdischer Religion, die mit einem fanatischen rassistischen Antisemitismus überzogen werden. Wer von ihnen im Land geblieben ist, muss erleben, wie sie zusehends ihre bürgerlichen Rechte verlieren und Mord und Totschlag fürchten müssen. Erst im vergangenen Monat ist die Gewalt unfassbar eskaliert, und die Schutzlosigkeit dieser Menschen in Deutschland wurde aller Welt dramatisch vor Augen geführt: Am 9. November 1938 provozierte die NS-Führung einen noch nie dagewesenen Pogrom gegen die jüdische Bevölkerung. Hunderttausende Deutsche, zunächst allen voran Gruppierungen der Partei, übten in den Abend- und Nachtstunden überall im Land rohe Gewalt aus: Schätzungsweise 1300 Juden starben während und in Folge der Übergriffe, rund 27 000 wurden in Konzentrationslager verschleppt.11 Auf den deutschen Straßen bot sich ein Bild der Verwüstung: Tausende Geschäfte und Wohnhäuser wurden demoliert, und an den anschließenden Plünderungen beteiligten sich dann nicht mehr nur die organisierten Schläger, sondern viele gar nicht so ehrbare Mitbürger, die jetzt die günstige Gelegenheit zur persönlichen Bereicherung nutzten. Wie Mahnmale stehen seit diesen Pogromen Hunderte niedergebrannte Synagogen und jüdische Gebetshäuser im Land, mitten in den Städten und Dörfern: Jüdisches Leben in Deutschland ist offenem Terror ausgesetzt. Die deutsche Mehrheitsbevölkerung hat zwar nur zu einem kleineren Teil aktiv bei diesen Übergriffen mitgemacht, aber zu einem größeren Teil zu- und weggeschaut. Und nur wenige Menschen kamen ihren Mitbürgern tatsächlich zu Hilfe.

Wer das Land bereits vor dem Novemberpogrom verlassen konnte – 1938 gelingt das allein über 40 000 Juden12 –, mag in Frankreich oder England, in der Schweiz, in Polen oder in den Vereinigten Staaten von Amerika vorerst in Sicherheit sein und die nahenden Weihnachtstage nutzen, um an die alte Heimat oder die noch zurückgebliebenen Weggefährten oder Angehörigen zu denken. Wer indes daheim geblieben ist und in diesem Deutschland verfolgt wird, verbringt die Feiertage womöglich im Gefängnis oder in einem der vielen neuen Lager. Zu den dort Eingesperrten gehören neben anderen viele Zeugen Jehovas, Sinti und Roma, Homosexuelle, Pfarrer oder jene, die ihre Kritik an diesem System öffentlich geäußert haben. Sozialdemokraten, denen die Flucht ins Ausland gelungen ist und die nun von Paris aus mit ihrer Exilorganisation auf die Vorgänge in Deutschland schauen, sorgen sich zu Weihnachten 1938 zu Recht um die Genossen, die im Land geblieben sind. Für sie, ihre Frauen und Kinder sammeln in Berlin sozialdemokratisch gesinnte Anhänger anlässlich des Weihnachtsfests im Kreise von Freunden sogar heimlich Geld für eine Unterstützung.13 Die Exil-SPD weiß, dass in vielen deutschen Familien gerade in diesen eigentlich besinnlichen Tagen Trauer und Sorge herrschen:14

»Welche Familie denkt beim Lichterglanz am Heiligenabend nicht an einen Verwandten, guten Freund oder lieben Bekannten, der in der Zelleneinsamkeit einer politischen oder in ihren Gründen nicht einmal erkennbaren Haft sitzt oder aus religiösen oder rassischen Gründen im Konzentrationslager schmachtet und leidet?«

Weihnachten im Konzentrationslager – das ist seit 1933 ebenfalls ein Teil deutscher Realität. Schon unmittelbar nach Beginn der NS-Herrschaft 1933 haben die Schlägertrupps der Partei in sogenannten »Sturmlokalen« der SA, in Kellern und Hinterhöfen Menschen gefangen gehalten und misshandelt. Rasch entstanden die frühen Konzentrationslager, zuweilen in stillgelegten Fabriken, in Turnhallen oder Jugendherbergen, in aufgelassenen Zuchthäusern, in Burgen und Schlössern.15 Bis 1938 sind die großen Konzentrationslager unter nunmehriger Hoheit der gefürchteten SS eingerichtet: vor allem Dachau, das nach 1933 früh zum »Modell« für solche Lager wurde, 1936 Sachsenhausen nahe Berlin, 1937 Buchenwald bei Weimar, 1938 das oberpfälzische Flossenbürg oder Mauthausen bei Linz.16

Die Zahl der Eingesperrten in diesen Lagern steigt nach dem Novemberpogrom 1938 kurzzeitig auf über 50 000. Vor allem die neu eingelieferten jüdischen Häftlinge werden vom Wachpersonal besonders brutal behandelt. Dennoch wird ein Großteil von ihnen bis Ende des Jahres mit der Auflage entlassen, umgehend das Land zu verlassen.17 Andere Verschleppte bleiben indes auch zu Weihnachten 1938 in den Lagern. Zu ihnen zählt Rudolf Larsch, der nach dem Machtantritt der Regierung Hitler als Mitglied der Kommunistischen Partei ebenso verfolgt wurde wie seine Ehefrau Käthe, die inzwischen aufgrund massiver Körperverletzungen, die ihr bei Verhören durch die Gestapo zugefügt wurden, gestorben ist. Der Witwer kann sich nicht um die vier gemeinsamen Kinder kümmern, weil er selbst im Konzentrationslager Buchenwald festgehalten wird. Ihm bleibt zu Weihnachten nur, einem seiner Söhne auf einem vorgedruckten Briefformular einige Zeilen mit Grüßen und der Bitte um Sorge für die Geschwister zu schicken:18

»Halte auch bitte ein Auge auf Deine Geschwister und bleib eingedenk, daß Euer Vater, wenn auch fern, doch stets Eurer in Liebe gedenkt. Möge das Fest Euch Freude bereiten und gute Wünsche Eures Vaters Euch begleiten.«

Der Briefbogen des Konzentrationslagers Weimar-Buchenwald bringt die Rechtlosigkeit der Häftlinge auf demonstrative Weise zum Ausdruck: »Der Tag der Entlassung«, so der entsprechende Aufdruck, »kann jetzt noch nicht angegeben werden.« Und: »Besuche im Lager sind verboten, entsprechende Anfragen grundsätzlich zwecklos.«19

Beklemmende Weihnachtsgrüße von Rudolf Larsch an seine Kinder aus dem Konzentrationslager Buchenwald.

So erleben die Deutschen das Weihnachtsfest 1938 in vielerlei Hinsicht gespalten. Während einige diese Tage in Gefängnissen und Lagern verbringen oder sich vor drohender Verfolgung fürchten, können die allermeisten anderen das Fest weitgehend unbeschadet und durchaus glücklich im Kreise ihrer Lieben begehen. Diese Menschen haben sich mit dem Leben in der Diktatur arrangiert, sie haben einen festen Arbeitsplatz und ein geregeltes Einkommen, genießen womöglich Privilegien oder sind als kleine und große Nazis regelrecht glücklich über die Entwicklung, die ihr Land in den zurückliegenden Jahren genommen hat. Für sie steht in diesen verschneiten Dezembertagen tatsächlich Weihnachten im Vordergrund: Im ganzen Land wird gebacken und gekocht, die Verwandtschaft will eingeladen und bewirtet sein, Geschenke für die Lieben müssen her. Unmittelbar vor dem Fest sind die Innenstädte wie in Breslau »voll von Menschen, die noch die letzten Käufe zu Weihnachten machen«.20 Wer allerdings gut vorbereitet ist und an diesen Tagen etwas Zeit hat, kann allein oder mit der Familie auch ins Kino gehen: Rechtzeitig zu den Weihnachtstagen wird der neue Film mit Heinz Rühmann gegeben: »Nanu, Sie kennen Korff noch nicht!« zeigt den beliebten Schauspieler in einer seiner großen Rollen. »Er erlebt alle 3 Minuten ein neues Abenteuer«, so preisen die Bonner Lichtspiele den Film an, »er gerät fürchterlich in Bedrängnis, aber er gewinnt das Rennen und damit uns.«21

Die Werbung der Geschäfte läuft derweil auf Hochtouren. In den Tageszeitungen finden sich noch kurz vor dem Fest zahlreiche Kaufempfehlungen für Schallplatten oder Mundharmonikas,22 für Briefpapier (»ein schönes und praktisches Weihnachtsgeschenk«) oder eine ordentliche Flasche Kräuterlikör.23 Und der Völkische Beobachter, das zentrale Organ der NSDAP, wünscht sich für die Volksgenossen »auf den Weihnachtstisch die Bücher der Bewegung«: allen voran den Bestseller der Nazi-Literatur, Hitlers autobiografisch eingefärbte Kampfschrift Mein Kampf, Reden und Aufsätze von Hermann Göring, der als Generalfeldmarschall und Beauftragter für den Vierjahresplan als der zweitmächtigste Mann im Staat gilt, oder die gesammelten Leitartikel des Propagandaministers Joseph Goebbels. Für die Jugend werden unter anderem das Lesebuch Kampf um Deutschland oder das große HJ-Buch Jungen – eure Welt empfohlen.24

Passanten beim Weihnachtsbummel (1938) über die Königsallee in Düsseldorf.

Auch der Kauf eines Rundfunkgeräts zum Fest ist durchaus im Sinne von Staat und Partei: Dank eines solchen Geräts – oft »Volksempfänger« genannt – werde das Land »in den großen Lebensstrom der Nation lebendiger als bisher einbezogen und kann am kulturellen und politischen Geschehen unserer Zeit unmittelbar teilhaben«. Deshalb lautet die Empfehlung: »Jetzt, wo die letzten Weihnachtseinkäufe gemacht werden, denkt auch an den Rundfunk.«25 Tatsächlich stehen bis 1939 bereits über elf Millionen Radiogeräte in deutschen Haushalten, womit ein Vielfaches an Zuhörern erreicht wird – ein ideales Propagandainstrument, dessen sich besonders der zuständige Reichspropagandaminister Joseph Goebbels gern bedient.26 Der Preis für den »Deutschen Kleinempfänger«, der in diesen Tagen ausdrücklich als ein Gerät »von überzeugender Leistung« angepriesen wird, beträgt im Dezember 1938 übrigens 35 Reichsmark.27 Ein zwar kostspieliges, aber doch erschwingliches Weihnachtsgeschenk: Diese Summe entspricht etwa dem Brutto-Wochenlohn eines Industriearbeiters.28 Zum Vergleich: Ein Kilogramm Möhren kostet auf dem Markt gut 10 Pfennige, ein Kilogramm Apfelsinen – wenn es sie denn gerade gibt – rund 50 Pfennige.29

So laufen die Geschäfte im Einzelhandel zu Weihnachten gut. Einer der wirtschaftlichen Gewinner gerade in diesem Jahr sind die Hersteller der traditionellen Aachener Printen. Sie freuen sich über eine Verzehnfachung des Umsatzes, weil sie von den gewaltigen Arbeiten am sogenannten »Westwall« entlang der Grenze profitieren: Für den Bau dieser Hunderte Kilometer langen Verteidigungsanlage an der deutschen Westgrenze sind Tausende Arbeitskräfte eingesetzt – und augenscheinlich haben die Männer dieses traditionsreiche Gebäck schätzen gelernt. Jedenfalls nehmen sie die Printen vor den Weihnachtstagen »jetzt in Massen mit in ihre Heimat«,30 zur Freude der Hersteller – und hoffentlich auch der Lieben daheim.

Die Menschen schenken sich also passende – und fraglos zuweilen auch unpassende – Dinge zum Fest. Aber alle sind sich einig, dass solche Überraschungen und Aufmerksamkeiten nicht nur für die Kinder unerlässlich sind. Doch abgesehen von den Geschenken sind sich die Deutschen zunehmend uneinig über den Charakter dieses Weihnachtsfests. Denn in den zurückliegenden Jahren sieht sich das traditionelle christliche Weihnachtsfest, anlässlich dessen die Gläubigen die Menschwerdung Gottes in Gestalt der Geburt Jesu Christi und damit die Ankunft des Erlösers feiern, einer massiven Konkurrenz ausgesetzt: Das nationalsozialistische Deutschland setzt der christlich geprägten Familienweihnacht eine völkische Variante entgegen, die Staat und Partei für ihre Politik und ihre Propaganda nutzen wollen. Zu den genauen Beobachtern dieser Veränderung gehört der Romanist Victor Klemperer, der schon vor Jahren seine Stelle als Professor in Dresden verloren hat, weil er trotz seines Übertritts zum Protestantismus in diesem Land als »Jude« gilt. Der 57-Jährige notiert in seinem Tagebuch, dass nach seiner Wahrnehmung 1938 zum ersten Mal während der NS-Diktatur »die Weihnachtsbetrachtung der Zeitung gänzlich dechristianisiert« sei. Jetzt gehe es der deutschen Seele offensichtlich vor allem um die »Neugeburt des Lichts« und die »Auferstehung des deutschen Reiches«, aber nicht um den zum Juden abgestempelten Jesus oder christlich-religiöse Momente.31

Mit oder ohne Aachener Printen im Gepäck: Vergnügte Bauarbeiter vom »Westwall« feiern kurz vor den Feiertagen ihr Eintreffen am Lehrter Bahnhof in Berlin.

Klemperer hat recht. Weihnachten ist inzwischen nicht mehr das, was es vor Jahren noch war. Mehr und mehr steht nicht mehr die alte biblische Geschichte im Mittelpunkt, sondern das angebliche »germanische« Erbe der »Ahnen« – was immer jeder Einzelne darunter auch verstehen mag. Auf jeden Fall werden jetzt die Vorfahren und ihre vorchristlichen Riten und Glaubensvorstellungen zum Vorbild erhoben. Ein Beispiel dafür ist eine Weihnachtsfeier, zu der in diesen Tagen die Zivilangestellten einer Flakeinheit in einer Dortmunder Kaserne zusammenkommen. Zwischen dem gemeinsamen Gesang (»O Tannenbaum«), Kaffee, Kuchen und einem offensichtlichen humoristischen Auftritt eines »Weihnachtsmanns« hält der Betriebsobmann die offizielle Ansprache, in der er die aktuelle Bedeutung des »schönsten Festes im ganzen Jahr« unter dem Vorzeichen des Hakenkreuzes erläutert:32

»Weihnachten ist ein Fest, geboren im deutschen Lebensraum. Nach dunklen Wochen sehnten sich unsere Vorfahren nach helleren Tagen und kürzeren Nächten, und wenn das Jagdglück gelächelt hatte, so gab es zum Fest einen ganzen gebratenen Eber oder Hirsch. Ein sternenklarer Himmelsdom spricht zu uns in der Weihenacht und wir finden zurück zu den heiligen Sitten unserer Ahnen, die wir weder verleugnen noch entstellen lassen. Auch der Weihnachtsbaum entspricht altgermanischem Brauch und der Schmuck an ihm, die Äpfel und Nüsse, sind Symbole der Fruchtbarkeit des neuen Jahres.«

Hinter der schwülstigen Rhetorik von jagenden und Eber bratenden Vorfahren steht die politische Absicht, Weihnachten so weit wie möglich zu einem rein nationalsozialistischen Fest zu machen. Kein Jesus, keine Hirten auf dem Felde und kein Wort von der »Frohen Botschaft«. Denn Weihnachten, so behauptet eine amtliche Zeitschrift des nationalsozialistischen Lehrerbundes, »hat seinen Ursprung niemals in jenem Stall von Bethlehem«, sondern als Fest der »nordischen« Völker »allein am Firmament des nördlichen Himmels«.33 In diesem Sinne mutiert auch der Christbaum im offiziellen Sprachgebrauch mehr und mehr zum »Lichtbaum«, und so ist bei den Männern der SS inzwischen besonders das Lied von der »Lichtbaumweihe« beliebt, in dem die »heilige Erde«, ein »freies Geschlecht« und ein angeblich aus dem Norden erstrahlender »Siegglanz« besungen werden.34

Diese Umdeutung des traditionellen christlichen Familienfests ist allerdings keineswegs nur eine Sache der NSDAP und einiger Ideologen. Keinen geringen Anteil daran haben auch die Volkskundler – also Wissenschaftler und solche, die sich dafür halten. Sie haben es sich zum Ziel gesetzt, vermeintlich »artfremdes«, also durch das Christentum in die »deutsche« Kultur hineingetragenes Brauchtum zu bekämpfen. Diese Suche nach dem »Germanischen« an Weihnachten gibt es schon seit Jahrzehnten, doch unter den Vorzeichen des NS-Staats fühlen sich die Vertreter dieses »germanischen« Erbes in ihrer antichristlichen Agitation jetzt am Ziel ihrer weltanschaulichen Träume angelangt.35 In der konkreten Umsetzung heißt dies für das Weihnachtsfest 1938 auch, dass die Kinder beispielsweise möglichst »germanisches« Gebäck zubereiten sollen: sogenannte »Gebildebrote« mit den »mythischen Gestalten der zwölf heiligen Nächte«, beispielsweise mit dem Schimmelreiter oder Frau Holle (obwohl die bekanntermaßen keineswegs »germanischen« Ursprungs sind). »Der Eber aus Lebkuchen«, so heißt es in einer Backempfehlung weiter, »gemahnt an den Festbraten der Heiligen Nacht und die westfälischen ›Wowölfe‹ erinnern auch dem Namen nach an Wotan.«36

Das ursprüngliche Weihnachtsfest soll nach den Vorstellungen der NSDAP in Zukunft »Deutsche Weihnacht« heißen und drei Einzelfeste umfassen: das Fest der Wintersonnenwende in der Nacht vom 21. auf den 22. Dezember, die »Volksweihnacht« möglichst am 23. Dezember sowie die »Nationalsozialistische Weihnachtsfeier« an den Tagen vor Weihnachten. Vor allem die Sonnwendfeier dient dazu, Weihnachten zu einem »Fest der nordischen Völker« umzudeuten und den Kult um die Sonne und die Flammen zu beleben. In der völkischen Ideologie gibt die Sonne »Kraft zum Leben«, an diesem Tag feiern die Anhänger eines sich »germanisch« gebenden Glaubens das sogenannte »Julfest«. Dazu versammeln sich vor allem die uniformierten Einheiten von SS und SA im Freien um ein großes Feuer und huldigen zugleich der NS-Führung. Um das Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen an diesem Abend des 21. Dezember 1938 zu beschwören, wird daran erinnert, dass just in diesen Stunden an den verschiedensten Orten des Landes zeitgleich solche Feuer entzündet werden. Gesungen werden bei diesen Feiern selbstverständlich keine Advents- oder Weihnachtslieder, sondern Kampflieder der NS-Bewegung wie »Flamme empor«, das »Horst-Wessel-Lied« oder das Deutschlandlied – selbstredend alle drei Strophen.

Allerdings lassen sich augenscheinlich nicht viele Deutsche zu diesem Zweck kurz vor dem Heiligen Abend aus ihren warmen Wohnungen in den kalten Dezemberabend hinauslocken. Das öffentliche Interesse jedenfalls ist begrenzt. Aus dem ostfriesischen Jever wird etwa berichtet, dass sich zwar die Mitglieder der Parteiorganisationen zur Wintersonnwendfeier einfinden, sich aber »nur wenig Zivilbevölkerung hinausgewagt« habe. Die örtliche Zeitung entschuldigt dies mit dem strengen Winterwetter – aber offensichtlich passen solche Veranstaltungen für die meisten Familien nicht recht in die vorweihnachtliche Stimmung.37 Aber für die Partei ist das kein großes Problem: Das stärkste Erlebnis geht nach Ansicht der Reichspropagandaleitung ohnehin gerade von solchen Sonnwendfeiern aus, »die einen nicht allzu großen Kreis von Menschen um das Feuer scharen«, wie es geradezu entschuldigend heißt. Es reiche aus, wenn sich einzelne Kameradschaften versammelten, die sich aus dem »täglichen Kampf und Dienst« kennten; manche Feier werde womöglich gerade deshalb besonders würdig gefeiert, weil sie eben keine Massenveranstaltung sei. Darum sollten sie auch nicht mehr – wie zuweilen vorgeschlagen – auf das nächstmögliche Wochenende verschoben werden, um auf diese Weise mehr Teilnehmer anzulocken.38

Der Weihnachtsmann ist trotz aller Umdeutung des Festes geblieben – zumindest auf dem Berliner Weihnachtsmarkt im Dezember 1938.

Auf möglichst zahlreiche Teilnahme ist hingegen das zweite Element der »Deutschen Weihnacht« ausgelegt, die sogenannte »Volksweihnacht«. Diese ist eine Art Leistungsschau der nationalsozialistischen Politik, weil hier die sozialen Leistungen der Diktatur für viele greifbar werden sollen: Deshalb – und nicht wegen der Geburt eines christlichen Heilands – gibt es Geschenke! »Volksweihnacht« wird als »Fest der Gemeinschaft« bezeichnet, bei dem die einen mit Freude materielle Hilfe empfangen, während die anderen mit frohem Herzen und aus innerer Verpflichtung diese Geschenke machen. »Umsorgt und umhegt von der Liebe und Treue der vielen Millionen« sollten sich gerade diejenigen Deutschen fühlen, die vor 1933 in wirtschaftlich so schwerer Not gelebt hätten, dass ihnen »jede Weihnachtsfreude versagt« gewesen sei.39 Zu Weihnachten 1938 sollen alle sehen, dass sich Deutschland zum Besseren verändert hat. Die NSDAP wünscht sich deshalb bei dieser »Volksweihnacht« keine »ernst-schwere Feier«, sondern ein frohes Fest. Die »Nationalsozialistische Volkswohlfahrt« (NSV), die offizielle und an allen Orten präsente Wohlfahrtsorganisation der NSDAP, sorgt dafür, dass vor allem die Kinder beschenkt werden und dass es dazu einen passenden Rahmen aus Musik, gemeinsamem Gesang und nach Möglichkeit einem kleinen Schauspiel gibt.40

Allerdings wird auch bei dieser »Volksweihnacht« deutlich, dass es der Partei bis 1938 offensichtlich noch nicht gelungen ist, die christlichen Fundamente des Weihnachtsfests vollends durch eine völkische Deutung zu ersetzen. Vor allem im Hinblick auf die Lieder und die schauspielerischen Darbietungen werden die Veranstalter solcher »Volksweihnachten« deshalb vom Propagandaministerium daran erinnert, dass sich das Fest nicht »in den weltanschaulichen Bahnen kirchlicher Vereinsveranstaltungen bewegen soll«. So dürften bei den Bühnenbeiträgen nicht der Stall von Bethlehem samt Maria und Josef und selbstverständlich auch keine Schar von Engeln präsentiert werden. Stattdessen sei ein solides Märchenspiel das Gebot der Stunde, wenngleich auch hierbei nach Ansicht der Partei allergrößte Vorsicht bei der Auswahl der Stücke angebracht ist:41

»Eine Reihe von konfessionellen Verlegern hat nämlich in letzter Zeit Märchenspiele herausgebracht, in denen jeweils am Schluß das Schneewittchen, das Dornröschen und die Pechmarie peinlich-dumme Verbrüderungsszenen mit den immer rechtzeitig kommenden Engeln und ›heiligen Nikolausen‹ (in Bischofstracht!) feiern.«

Das fehlte noch, dass am Ende dieser NS-Bescherung ein Bischof auftritt und der ganzen Veranstaltung sozusagen seinen christlichen Segen gibt! Im Gegensatz zu den Veranstaltern und dem Reichspropagandaministerium mag es vielen Kindern allerdings letztlich gleich sein, ob es nun Engel, das Märchen vom tapferen Schneiderlein oder »König Drosselbart‹« geboten bekommt – das Geschenk dürfte auch hier im Mittelpunkt des Interesses stehen. Doch auch die Erwachsenen, die zu diesen Feiern geladen sind, können eine konkrete materielle Unterstützung gut gebrauchen. Tatsächlich gibt es zwar Deutsche, die sich etwas leisten und ihren Lieben besondere Dinge schenken können (auch wenn es in der Regel dann doch noch kein Radiogerät ist), aber viele andere sind zunächst einmal froh, jetzt zusätzlich etwas Kleidung oder Lebensmittel zu erhalten. Hilfsbedürftige Zeitgenossen gibt es auch fast sechs Jahre nach Beginn der NSDAP-Herrschaft noch viele: Allein im Gau Westfalen-Süd werden zu diesem Weihnachtsfest von der »Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt« (NSV) 300 000 Menschen versorgt. In den Ortgruppen des NSV-nahen »Winterhilfswerks des Deutschen Volkes« werden Tausende Pakete mit Grundnahrungsmitteln wie Mehl und Zucker, aber auch mit Gemüse- und Fleischkonserven, Margarine, Butter und weihnachtlichem Gebäck gepackt – allein diese Gaben summieren sich nach offiziellen Angaben auf einen Wert von über einer Million Reichsmark. Hinzu kommen noch Kleidungsstücke, Schuhe und materielle Spenden wie Spielzeuge für die Kinder.42 In Berlin sind am 23. Dezember 1938 bei insgesamt 200 Veranstaltungen allein 120 000 Kinder zu solchen »volksweihnachtlichen« Bescherungen eingeladen. Stolz rechnet die Propaganda vor, dass seit 1933 für die »Volksweihnachtsfeiern« 5,7 Millionen Weihnachtspakete, über 4 Millionen Kinderspielzeuge und 350 000 Bücher ausgegeben wurden. Überdies seien Unmengen von Kohlegutscheinen sowie Zigarren, Zigaretten und Wein verteilt worden.43

Was die Partei als Zeichen der Solidarität preist, lässt sich allerdings auch als unfreiwilliger Beleg einer mangelnden Versorgungslage interpretieren. Der Sicherheitsdienst der SS dokumentiert für seinen geheimen Bericht für das Jahr 1938 »anhaltende Versorgungsschwierigkeiten« im Handel mit Lebensmitteln, Textilien und Eisenwaren. Lebensnotwendige Produkte aus Baumwolle fehlten, allein der Bedarf an Berufskleidung könne demnach zu fast 80 Prozent nicht gedeckt werden, bei Bettwäsche zu fast 70 Prozent. »Teilweise katastrophal« sei die Versorgung des Eisenwarenhandels, vor allem an Drahtmaterial oder Schrauben herrsche besonders großer Mangel. In diesem Winter träten zudem erhebliche Probleme bei der Versorgung mit Kohle auf, vor allem weil keine geeigneten Transportmittel vorhanden seien. Deshalb sähen sich »eine große Anzahl Kohleneinzelhändler gezwungen, ihre Betriebe vorübergehend zu schließen«.44 Kurzum: Die »Volksweihnacht« im Jahr 1938 ist also eine gute Gelegenheit, persönliche Versorgungslücken mit praktischen Geschenken zu schließen.

So kann die nationalsozialistische Weihnacht kommen: Festlich geschmückte Kantine einer Wehrmachtskaserne in Düsseldorf.

Das dritte Element der »Deutschen Weihnacht« bilden die zahlreichen »nationalsozialistischen Weihnachtsfeiern«. Mit diesen will die Partei einerseits das weit verbreitete Bedürfnis nach geselligen Zusammenkünften befriedigen, dabei aber andererseits ihren Anspruch geltend machen, das Gemeinschaftsleben in Deutschland maßgeblich zu prägen. Ideen dazu gibt es viele, doch der Partei sind diese Veranstaltungen noch viel zu wenig durchorganisiert. Vor allem dem Propagandaministerium in Berlin gefällt es so gar nicht, wie die Deutschen bisher ihre nationalsozialistischen Weihnachtsfeiern gestalten. Die Mitarbeiter von Reichspropagandaminister Goebbels haben sich deshalb einen gründlichen Einblick in zahlreiche solcher Veranstaltungen verschafft – »in viel gute und in noch mehr schlechte«, wie es anschließend aus dem Ministerium heißt. Aufgrund dieser Erfahrungen scheine es tatsächlich dringend geboten, nunmehr klarere Vorgaben zu machen, wie solche Zusammenkünfte würdevoll und im Sinne der Partei gestaltet werden sollten, damit die notwendige »nationalsozialistische Grundhaltung« auch wirklich erkennbar werde. So gelte es nicht nur die richtigen Redner, die passenden Texte und Lieder auszuwählen, sondern auch die technischen Vorbereitungen peinlich genau zu beachten: Zunächst müsse ein anständiger Saalschmuck her (vor allem eine große Hakenkreuzfahne an der Stirnseite), links und rechts des Podiums zwei Tannenbäume mit brennenden Weihnachtslichtern (»der Feuersicherheit wegen elektroinstalliert!«), auf dem Podium zudem sechs etwa 20 Zentimeter lange Wachskerzen (»keine Stearinkerzen«) sowie auf einem weiteren Podest eine flache Schale von ein bis zwei Meter Durchmesser, in der während der Veranstaltung ein Feuer entzündet werden solle. Zudem sei darauf zu achten, dass eine gute nationalsozialistische Weihnachtsfeier niemals länger als eine Stunde dauern solle und keineswegs der Unterhaltung diene: Sie solle vielmehr »Erlebnis sein und an Empfindung und Gemüt appellieren«.45 Gelacht werden soll bitte bei anderer Gelegenheit …

In diesem Rahmen finden sich also 1938 die Menschen zu Weihnachtsfeiern der Partei zusammen: gemeinsam mit der Belegschaft, in den Kasernen oder eben im Kreise der alten und neuen Kämpfer für diese Diktatur. So setzen sich beispielsweise die Mitglieder der SA im norddeutschen Cloppenburg an weiß gedeckte Tische, freuen sich über kleine Geschenke und die reichlich gefüllten Kuchenschüsseln, die von BDM-Mädchen hereingetragen werden. Dazu spielt eine Musikkapelle, und ein SA-Truppführer sorgt mit seinen offensichtlich selbst erdachten Liedbeiträgen für große Erheiterung. »Lachende Gesichter, fröhliche Stimmung«, so berichtet die örtliche Zeitung, »allen mundete es vorzüglich.«46 Lachende Gesichter? Ob der Reichspropagandaminister im fernen Berlin diese Feier als zu »unterhaltsam« bezeichnen würde? Vermutlich schon.

Bei allen weihnachtlichen Veranstaltungen der Partei und ihrer Organisationen sollen selbstverständlich möglichst keine kirchlichen Weihnachtslieder angestimmt werden. Statt der so vertrauten Weisen wie »Stille Nacht, Heilige Nacht« sollen vielmehr neue Lieder gesungen werden, die seit einigen Jahren verbreitet werden und inzwischen einen beachtlichen Erfolg haben.47 Zu diesen zählt allen voran »Hohe Nacht der klaren Sterne«, 1936 von Hans Baumann geschrieben, dem der NS-Staat auch das populäre Lied »Es zittern die morschen Knochen« verdankt. Landauf, landab singen seit Jahren vor allem die Mitglieder der »Hitler-Jugend« begeistert den darin formulierten Anspruch auf die neue Zeit – »denn heute gehört uns Deutschland, und morgen die ganze Welt!«.

»Hohe Nacht der klaren Sterne« ist im Dezember 1938 längst zu einem der populärsten Lieder geworden. In allen parteiamtlichen Veröffentlichungen zu Weihnachten und in den zahllosen Richtlinien für die Abhaltung von Weihnachtsfeiern der »Hitler-Jugend«, des NS-Lehrerbundes, der SA oder der SS wird dieses Lied propagiert. Die »Heilige Nacht« aus dem ursprünglichen christlichen Kontext wird darin zur »Hohen Nacht«, statt von der christlichen Mutter Gottes ist von den (deutschen) »Müttern« die Rede, die selbstverständlich nicht den einen Sohn Gottes zur Welt bringen, sondern möglichst viele Kinder gebären sollen – damit sich »die Erd’ erneuern« kann. Damit ist in einer völkischen Rhetorik die »Erneuerung« und »Wiedergeburt« Deutschlands in Form des NS-Staates gemeint. In diesem Sinne wird also fleißig gesungen:48

»Hohe Nacht der klaren Sterne,

die wie weite Brücken stehn

über einer tiefen Ferne,

drüber unsre Herzen gehen.

Hohe Nacht mit großen Feuern,

die auf allen Bergen sind,

heut’ muß sich die Erd’ erneuern

wie ein junggeboren Kind.

Mütter, euch sind alle Feuer,

alle Sterne aufgestellt;

Mütter, tief in euren Herzen

schlägt das Herz der weiten Welt.«

Das Lied ist gerade bei der Jugend ein selbstverständlicher Bestandteil der Weihnachtszeit. Das zeigt der Bericht eines BDM-Mädchens, das 1938 in einem Hamburger Krankenhaus mit anderen »Jungmädel« an einer Weihnachtsfeier für frisch entbundene Frauen teilnimmt. Es gibt nicht nur Tannenbäume, Blumen und kleine Geschenke – sondern eben auch die »richtigen« Lieder:49

»Wir stellten uns in einem Raum auf, von dem aus wir am besten zu hören waren und sangen und erzählten vom Fest der Mütter und der Familie, vom Fest des Lichtes und der Freude … Bevor wir das Haus verließen, stellten wir uns noch einmal auf dem Flur auf und sangen das Lied, das wohl wie kein anderes hier paßte: Hohe Nacht der klaren Sterne.«

Auch die Größen von Staat und Partei laden in diesen Tagen zu nationalsozialistischen Weihnachtsfeiern – und die offizielle Propaganda ist selbstverständlich zur Stelle, um die vermeintliche Verbundenheit der Nazi-Führer mit der Bevölkerung zu dokumentieren. Vor allem, wenn sie sich dabei so volkstümlich geben wie Hermann Göring. Der 45-jährige Multifunktionär, der schon 1923 an der Seite Hitlers am gescheiterten Putsch in München beteiligt war, hat sich seit Beginn der NS-Herrschaft zum wichtigsten Mann hinter dem Diktator entwickelt. Er gilt als rücksichtslos und brutal bei der Verfolgung von Gegnern und Kritikern und sorgt als Beauftragter für den Vierjahresplan für die radikale Ausrichtung der deutschen Wirtschaft auf einen kommenden Krieg. Dass er von Hitler einige Monate zuvor zudem zum Generalfeldmarschall und damit zum ranghöchsten Offizier im Land ernannt wurde, schmeichelt Göring ohne Frage. Seine Eitelkeit und seine Prunksucht sind in ganz Deutschland bekannt: Der übergewichtige Mann, der seit Jahren morphinabhängig ist, trägt leidenschaftlich gern Uniformen mit möglichst vielen Orden und lebt bekanntermaßen auf großem Fuß. Bereits legendär ist seine luxuriöse Residenz »Carinhall« in der brandenburgischen Schorfheide.

Göring gibt sich aber gern auch volkstümlich und jovial. So auch bei seiner Weihnachtsfeier, zu der er 1938 über 400 Kinder aus Holz- und Waldarbeiterfamilien aus der Schorfheide sowie aus armen Berliner Arbeiterfamilien einlädt. Hier kann er wieder einmal den guten »Onkel Hermann« geben – wie ihn die Zeitungen gern nennen –, der die Kinder »glücklich« macht. Gemeinsam mit seiner Frau Emmy hat der brutale Nazi-Führer seinen Gästen bunt bedruckte Karten geschickt, um damit die Mädchen und Jungen »nach Rücksprache mit Knecht Ruprecht« zu einer Weihnachtsbescherung einzuladen. Nach reichlich Kuchen, verführerisch duftender Schokolade und weihnachtlicher Musik tritt der zumindest den Erwachsenen gut bekannte Filmschauspieler Albert Florath als Weihnachtsmann auf und eröffnet schließlich auch den »Sturm auf die Gabentische«.50 Doch zuvor richtet Göring noch weihnachtliche Worte an die Kinder. Dabei geht es selbstverständlich nicht um das Christkind, sondern um das Glück, in diesem Deutschland, in dieser Zeit und in dieser politischen Ordnung zu leben:51

»Zum Teil seid ihr schon in dem Alter, meine lieben Kinder, um zu verstehen, was um euch hier vorgeht. Später, als Erwachsene, werdet ihr gerade an diese Weihnacht 1938 zurückdenken, die wir feiern konnten in den Spannungen eines Friedens, in dem glücklichen Bewußtsein, ein starkes Vaterland zu besitzen.«

Lächeln für die Propaganda: Hermann Göring beschenkt am 23. Dezember anlässlich der »Volksweihnacht«1938 in Berlin Kinder.

Das ist beileibe keine kindgerechte Ansprache, und viele der kleinen Besucher werden die Bedeutung der Worte kaum nachvollziehen können, sondern ihre gesamte Aufmerksamkeit eher dem Kuchen und der baldigen Bescherung als einem »starken Vaterland« schenken. Doch zumindest die anwesenden Erwachsenen werden »Onkel Hermann« sicherlich zustimmen, dass dies in nationaler Hinsicht in der Tat ein besonderes Weihnachtsfest ist. Schließlich hat sich Deutschland in den Monaten zuvor in seinen Grenzen erheblich erweitert – oder in den Worten Hermann Görings:52

»Wir haben in diesem Jahr vom Führer ein herrliches Geschenk erhalten: Deutsche Menschen aus dem gleichen Blut wie wir brauchen nicht mehr mit sehnenden Augen zu uns herüberblicken, auch sie dürfen als freie Menschen die deutsche Weihnacht feiern. Eine gewaltige Großmacht ist aus Deutschland geworden.«

Man mag Göring für ein ausgemachtes Großmaul halten – aber mit seiner Prahlerei von der Großmacht liegt er weitgehend richtig: Im März dieses Jahres 1938 hatte Adolf Hitler den Einmarsch der Wehrmacht in Österreich befohlen und damit die schon länger anhaltende innenpolitische Krise des Nachbarlands ausgenutzt. Die deutschen Soldaten wurden dabei von der Mehrheit der Österreicher nicht als Besatzer abgelehnt, sondern regelrecht bejubelt, und der gebürtige Österreicher Hitler feierte stolz und medienwirksam den »Eintritt meiner Heimat in das Deutsche Reich«. Nunmehr war vom »Anschluss« der sogenannten »Ostmark« die Rede, und in der deutschen Bevölkerung erfuhr Hitler für diesen außenpolitischen »Erfolg« große Zustimmung. Diese wurde noch gesteigert durch ein politisch sehr viel riskanteres außenpolitisches Manöver, nämlich die Zerschlagung der Tschechoslowakei: Deren Regierung musste nach einer Übereinkunft der Regierungschefs von Großbritannien, Frankreich, Italien und Deutschland das grenznahe Sudetenland abtreten – am 1. Oktober 1938 rückten deutsche Truppen dort ein. Ein europäischer Krieg war in diesen Wochen in greifbarer Nähe, wurde aber durch das Nachgeben der anderen europäischen Staaten verhindert. Die Reichsregierung stellt dies selbstverständlich anders dar, feiert demonstrativ ihre Erfolge, lobt Adolf Hitler als Wahrer des Friedens und gleichzeitig als nationalen Helden, der Deutschland wieder zu Größe und Ansehen in der Welt verholfen habe.

Dabei ist es Hitler, der seit Jahren immer wieder unverhohlen mit Krieg droht, wenn die außenpolitischen Forderungen Deutschlands nicht von den anderen europäischen Mächten erfüllt werden. Deutschland ist deshalb nicht erst 1938 nur knapp einem Krieg entgangen, sondern bereits schon 1936. Damals hatte Hitler sogar gegen die Bedenken der militärischen Führung deutsche Soldaten in das Rheinland einmarschieren lassen, das nach dem Weltkrieg entmilitarisiert worden war, um so dem Sicherheitsbedürfnis Frankreichs zur Verhinderung eines deutschen Angriffs zu entsprechen. Dass dieser Verstoß gegen den Versailler Vertrag und den Vertrag von Locarno aus dem Jahr 1925 von den anderen Staaten lediglich mit Protesten beantwortet wurde, stärkte in Deutschland die innenpolitische Position der Regierung Hitler. Zugleich erschien es jetzt plausibel, dass die Forderungen Deutschlands nach Rückgabe der nach dem Weltkrieg verlorenen Territorien nicht nur legitim, sondern dass deren Erfüllung auch möglich war. Der Einmarsch in das Rheinland macht in weiten Kreisen der Bevölkerung Appetit auf mehr, und allseits populär ist der Stolz auf das »Großdeutsche Reich«. Deshalb, so heißt es zu Weihnachten 1938 in der Dortmunder Zeitung, solle »manches Dankgebet« in diesen Tagen »dem Führer gewidmet sein«:53

»Wenn 80 Millionen Deutsche sich jetzt dem Weihnachtsfrieden hingeben können, so verdanken wir das unserem unermüdlichen Führer, wir verdanken es aber auch unserer starken Wehrmacht – ein Werk des Führers. Deutschland ist nicht mehr ein Spielball in der Weltpolitik, nein, es wird wieder gefürchtet. Und das ist die beste Friedensgarantie, wofür wir dem Führer auch in diesen geruhsamen Weihnachtstagen danken wollen.«

Adolf Hitler, dem hier gedankt werden soll, richtet ganz nach dem Kurs der offiziellen Propaganda in diesen Tagen ebenfalls eine Weihnachtsfeier aus. Dazu hat er in Berlin für den 22. Dezember 1938 allerdings nicht – wie Hermann Göring – die Kinder armer Waldarbeiterfamilien eingeladen, sondern eine Auswahl jener Arbeiter, die ihm die neue Reichskanzlei in der Wilhelmstraße erbauen. Das riesige Gebäude mit seinen monumentalen Räumen soll zur Schaltzentrale der Macht werden. Hitler, der sich selbst für einen begabten Architekten hält, hat schon seit der Auftragserteilung an seinen Lieblingsarchitekten Albert Speer fast zwei Jahre zuvor den Fortgang der Arbeiten stets mit größtem Interesse verfolgt. Sein Dank an die Bauarbeiter bei dieser Weihnachtsfeier dürfte deshalb durchaus ernst gemeint sein. Deshalb gibt es neben den obligatorischen Worten des Bauherrn, dem Dank für die Mitwirkung an diesem symbolträchtigen Gebäude und den besten Wünschen für ein frohes Weihnachtsfest heute für jeden ein Bild von Hitler mit dessen Unterschrift und – sehr viel praktischer – ein großzügig bemessenes Lebensmittelpaket.54

Konkrete Gaben gibt es auch tags darauf am 24. Dezember 1938, als Hitler sich zur Mittagszeit im Löwenbräukeller in München mit den »alten Kämpfern« aus der Frühzeit der NS-Bewegung trifft. Zwar sind die nahezu 1 300 Männer fraglos stolz, dass der Diktator heute zu ihnen spricht, sicherlich sind sie aber auch gespannt, ob sie bei der erstmals zu diesem Anlass veranstalteten Tombola etwas gewonnen haben. Die Stimmung steigt, als schon vor Hitlers Ankunft die Gewinner der Verlosung bekanntgegeben werden; ein Münchner SA-Scharführer freut sich über den Hauptgewinn, ein nagelneues Automobil aus dem Volkswagenwerk. Andere Nazi-Kämpfer erhalten als Gewinne Rundfunkgeräte, finanzielle Zuschüsse zum Kauf von Motorrädern, KdF-Fahrten oder Lebensmittel.55

Adolf Hitler feiert sich dann nach der Ankunft vor seinen alten Kameraden für seine vermeintlich welthistorischen Verdienste um die »Volksgenossen in der befreiten Ostmark und im Sudetenland, die nun zum erstenmal nach Jahren der Not und Unterdrückung das Weihnachtsfest im Großdeutschen Reich feiern können«.56 Obwohl es erst früher Nachmittag ist, haben die »alten Kämpfer« auf den mit Tannengrün geschmückten Tischen schon einige große Bierkrüge stehen. Hitler trinkt als Antialkoholiker auch in diesem Kreise selbstverständlich keinen Tropfen – aber sicher wird noch reichlich getrunken, als er die Veranstaltung wieder verlässt.57 Ein weihnachtliches Prosit der Bewegung!

Weihnachten mit dem »Führer«: »Alte Kämpfer« (u. a. Robert Ley und Adolf Wagner) mit Adolf Hitler am 24. Dezember 1938 im Münchner Löwenbräukeller.

Hitler ist fraglos zufrieden: Außenpolitisch kann er das Jahr 1938 als Erfolg werten, und auch die regelrechte Treibjagd auf die Juden samt ihrem vorläufigen Höhepunkt bei den Novemberpogromen gefällt dem fanatischen Antisemiten. Er hat auch bei der Verfolgung der Juden alle Fäden in der Hand und ist die entscheidende Instanz, von der in dieser Frage alles abhängt58 – und er kann sich aufgrund des weit verbreiteten Antisemitismus bei diesem Vorgehen der Zustimmung der Deutschen sicher sein. Der 49-Jährige ist der unumstrittene »Führer« und Reichskanzler eines »Großdeutschlands«, das in dieser Form bei seiner Regierungsübernahme vor fast sechs Jahren kaum jemand für möglich gehalten hatte. Eine Familie, mit der er dieses Weihnachtsfest begehen kann, hat Adolf Hitler allerdings nicht. So verbringt er nach seinem Treffen im Löwenbräukeller den Abend des 24. Dezember vermutlich wieder allein in seiner Wohnung am Münchner Prinzregentenplatz.

Während die einen möglichst miteinbezogen werden sollen in die feierliche Stimmung dieses Weihnachtsfests 1938, bleiben andere konsequent ausgeschlossen. Vor allem die Deutschen mit jüdischem Glauben empfinden diesen Tag in diesem Jahr als besonders bedrückend. Die Ausschreitungen und Morde vom November sind erst wenige Wochen her, die Angst vor weiteren Attacken ist mit Händen zu greifen. Die Erfahrung völliger Rechtlosigkeit in den Momenten entfesselter Gewalt hat das Leben für sie nochmals verändert. Seit über fünf Jahren werden die Juden nun schon ausgegrenzt, entrechtet und verfolgt. Sie dürfen ihre Arbeit nicht mehr ausüben, egal, ob sie Beamte, Wissenschaftler oder Einzelhändler sind, und auf der Grundlage des sogenannten »Reichsbürgergesetzes« wurden ihnen die Rechte, die allen anderen nichtjüdischen Deutschen zustehen, entzogen.

Zur wachsenden Rechtlosigkeit kommen für diese Menschen im Alltag Demütigungen und Verfolgungen jeder Art. Wer als Jude gilt, muss sich seit dem 5. Oktober 1938 ein »J« in seinen Pass stempeln lassen59 und befindet sich im Grunde bereits in einem Verteidigungskrieg um Leben und Tod. Das erkennt auch die BDM-Führerin Melita Maschmann: »Wir sind im Krieg!« Diese Wahrnehmung entspricht der Politik der vergangenen Jahre, mit der die Juden offen als »Feinde« des Deutschen Reiches stigmatisiert wurden.60 Der junge Emigrant Ulrich Alexander Boschwitz, der in seinem Pariser Exil den Roman Der Reisende verfasst hat, teilt diese Wahrnehmung von einem »Krieg«. Er lässt seinen Protagonisten darin über den 9. November 1938 sagen:61

»Mir ist der Krieg erklärt worden, mir persönlich. Das ist es. Eben ist mir nun endgültig und wirklich der Krieg erklärt worden, und jetzt bin ich allein – in Feindesland.«

Für die jüdischen Gläubigen in Deutschland ist der 24. Dezember 1938 der letzte Tag des achttägigen Chanukka-Festes, mit dem an die Wiedereinweihung des Tempels in Jerusalem im Jahr 164 v. Chr. erinnert wird. In Breslau, wo die Hauptsynagoge beim Novemberpogrom in Brand gesteckt wurde und die meisten anderen jüdischen Gotteshäuser demoliert wurden, trifft sich der Historiker Willy Cohn mit anderen Gläubigen zum Gebet. In seinem Tagebuch notiert er:62

»Die gläubigen Christen wünschen heute das ›Friede auf Erden‹; aber wie weit ist die Menschheit noch davon entfernt! Täglich liest man in der Zeitung von Vollstreckungen von Todesurteilen in Deutschland. Friede auf Erden! Wie viele Juden sind in Buchenwald oder an den Folgen davon gestorben. Friede auf Erden!«

Andere Gefangene haben das Glück, zum christlichen Weihnachtsfest wieder daheim zu sein. Zu ihnen zählt Ludwig Feuchtwanger (ein Bruder Lion Feuchtwangers) aus München, der nach dem Novemberpogrom in das Lager Dachau verschleppt wurde. Am 20. Dezember 1938 kehrt er zu seiner Familie zurück, die in der bayerischen Hauptstadt in der Grillparzerstraße unmittelbar am Prinzregentenplatz lebt. Zu ihren Nachbarn gehört ausgerechnet Adolf Hitler, der dort zehn Jahre zuvor eine Wohnung bezogen hat. Die jüdische Familie musste also in den vergangenen Jahren die fortschreitende und demütigende Entrechtung der deutschen Juden in permanenter Nähe zum privaten Wohnsitz des Diktators hinnehmen. Bis zu diesem Moment. Feuchtwangers Sohn Edgar, damals 14-jährig, erinnert sich, wie sein Vater wenige Tage nach seiner Rückkehr aus Dachau diese räumliche Nähe zu Hitler und die Verfolgung im Land nicht länger ertragen will und sich für die Emigration der Familie entscheidet:63

»Wir werden weggehen, Bürschi, sagte er eines Abends im Schein des siebenarmigen Leuchters, der nur dieses Mal angezündet war. Du wirst sehen, wir verlassen diese Hölle, und dann werden wir nicht mehr vor den Augen dieses Dreckskerls wohnen. Nie habe ich ihn so reden hören. Es war der Weihnachtsabend.«

Weihnachten 1938 ist kein »normales« Weihnachten, Deutschland ist bei diesem Fest geteilt. Ob die Menschen nun »Deutsche Volksweihnachten« oder ein traditionelles christliches Weihnachtsfest feiern – in beiden Fällen sind zunächst einmal die jüdischen Deutschen ausgeschlossen, zudem alle Andersdenkenden und Verfolgten. Doch gleichermaßen lastet auf allen Menschen in Deutschland die Angst vor einem Krieg. Noch sind sie erleichtert, dass bislang kein Schuss gefallen ist. Aber in die Erleichterung hat sich aufgrund der Ereignisse der vergangenen Monate eine gehörige Portion Skepsis gemischt. Laut tönt die Propaganda, dass es ausgerechnet Adolf Hitler und seine Regierung gewesen seien, die den Frieden gerettet hätten. »Und das schlimmste ist«, so notiert der 53-jährige Friedrich Kellner verzweifelt in seinem Tagebuch, »das Volk betet es nach.« Kellner arbeitet als Justizinspektor an einem hessischen Amtsgericht, hat sich konsequent dem Beitritt zur NSDAP verweigert und zeigt sich privat von der Gefolgschaftstreue der Deutschen schockiert.64 »Gegen Dummheit«, so notiert er verbittert, »kämpfen Götter selbst vergebens.«65

Das Weihnachtsgeschenk der Stunde ist deshalb im Grunde genommen kein spannendes Buch, keine modische Krawatte oder auch keine schmucke Kette für die Frau Gemahlin. Wer seine Familie liebt, sollte besser in die private Verteidigung seiner Lieben investieren. Nicht umsonst findet sich just in diesen Tagen folgende dringende Mahnung in den Tageszeitungen: »Der Erwerb einer Volksgasmaske ist nationale Pflicht!«66 Eine Gasmaske unterm Weihnachtsbaum ist ein schauriges Bild, würde aber zur Erwartung des Krieges passen. In einem Bericht der verbotenen SPD, die aus dem Exil die Vorgänge in Deutschland beobachtet, heißt es:67

»Das deutsche Volk lebt in Erwartung des Krieges. Nicht dass die Leute glaubten, dass dieser Krieg morgen oder übermorgen ausbrechen werde. Aber sie können sich nicht vorstellen, dass das Ganze anders als in einem Kriege enden könne.«

Tatsächlich sind die kriegerischen Vorbereitungen für jedermann deutlich zu erkennen, etwa in den Fabriken. Es sei doch offensichtlich, dass dieses Regime den Krieg wolle, heißt es Ende 1938 in einer illegalen Gewerkschaftszeitschrift: »Fünf Jahre ununterbrochene Aufrüstung, das Aus-dem-Boden-Stampfen einer starken mechanisierten Landarmee, der an Zahl von Flugzeugen mächtigsten Luftwaffe Europas und der Bau einer beachtenswerten Flotte« hätten der deutschen Arbeiterschaft dies doch wohl deutlich vor Augen geführt. Der Nationalsozialismus führe Deutschland letztlich in den Krieg, so die Schlussfolgerung. Auch wenn dieser im Jahr 1938 noch einmal verschoben worden sei, so werde die Regierung diese Atempause letztlich doch nur dazu nutzen, »um sich besser für die militärische Auseinandersetzung zu präparieren«.68

Tatsächlich sind die Vorzeichen eines Krieges vor allem in Form der Bemühungen um den Luftschutz für alle offensichtlich. Und ausgerechnet zu den Weihnachtstagen werden in den deutschen Städten neue und umfangreiche Luftschutzübungen angekündigt. Dabei habe sich in der Vergangenheit allerdings gezeigt, dass Verdunkelungsübungen, die nur einen einzigen Tag dauerten, keinen bleibenden Wert hätten, heißt es am 24. Dezember 1938 in der Oberkasseler Zeitung. Deshalb werde vom 17. bis 19. Januar im gesamten Regierungsbezirk Köln der Ernstfall geprobt, damit die Bevölkerung lerne, es »sich so einzurichten, wie es im Kriege während einer langen Dauer tragbar ist«.69 Die Propaganda schwört die Menschen auf eine Notgemeinschaft ein, deren Mitglieder früher oder später in einem schützenden Keller aufeinander angewiesen sein werden. Um in jeder »Not und Gefahr« in einem solchen Keller überleben zu können, scheint auch eine gewisse Behaglichkeit hilfreich zu sein. Es sei durchaus sinnvoll, eine kleine Kinderecke mit Spielzeug zur Beschäftigung der Kleinen einzurichten, wird in einer Illustrierten eine Luftschutzwartin zitiert – »denn Kinder werden leicht unruhig …«.70

Aus Bonn kolportiert der dort erscheinende General-Anzeiger eine – vermutlich fiktive – Geschichte aus einem Mietshaus, in dem sich die Parteien seit geraumer Zeit in den Haaren liegen: Mal soll eine Familie die Treppe nicht geputzt haben, mal stehen im Keller einfach liegen gelassene Gegenstände im Weg, kurzum: der ganz normale Kleinkrieg in einem Mehrfamilienhaus. Doch die Zeiten sind eben nicht normal. Weil nämlich auch der gemeinsame häusliche Luftschutz und eine Hausfeuerwehr wegen der Streitereien nicht zustande kommen wollen, wird der zuständige Reviergruppenführer persönlich in dem Haus vorstellig und erinnert an den Ernst der Lage:71

»›Volksgenossen‹, sagte er, ›wenn einmal die Bomben über uns krachen, dann gibt es keinen Hader und keinen Streit, dann müssen wir alle uns für unser Leben und für das Leben der anderen einsetzen, dann heißt es wirklich ›Einer für alle und alle für einen!‹ Stellen Sie sich einmal vor, was das im Ernstfall geben soll, wenn Sie sich dann auch so wenig einig sind wie jetzt!‹«

Wenn erst einmal die Bomben fallen – das ist in den deutschen Städten eine reale Perspektive zum Jahreswechsel 1938/39. Zahlreiche Übungen sollen die Bevölkerung auf den Ernstfall vorbereiten, damit sie beim Aufheulen der Sirenen umgehend die bestehenden Schutzräume oder zumindest behelfsmäßig hergerichtete Kellerräume aufsucht. Zuvor müssen beim Verlassen der Wohnung allerdings noch die Fenster geöffnet und arretiert werden, denn bei einem Bombenangriff würden die Scheiben ansonsten durch den Luftdruck leichter zerspringen. Bei einer Großübung in Dortmund Anfang Mai 1939 verzichtet der Polizeipräsident indes großzügig auf das Einhalten dieser Vorschrift. Weil es noch recht kalt ist, dürfen die Fenster diesmal geschlossen bleiben, wenn die gute Absicht der Bewohner trotzdem erkennbar wird: »Dafür ist ein Schild mit der Aufschrift ›Fenster geöffnet‹ an einem Fenster anzubringen.«72

»Verdunklungspapier hier zu haben« – Auslage in einem Berliner Geschäft für die bevorstehende Luftschutzwoche im September 1938.

Doch allen Kriegsvorbereitungen zum Trotz – viele Deutsche sind zufrieden. »Wir leben in einer großen, ja bisher wohl größten Zeit unseres Volkes«, so lässt etwa der Landesbauernführer im Rheinland, Kuno von Eltz-Rübenach, zum Jahreswechsel 1938/39 verkünden, eine Zeit, »um die unsere Nachfahren uns einst beneiden werden.«73 Tatsächlich verbreitet sich ein regelrechtes »großdeutsches« Gefühl des Stolzes der Zugehörigkeit zu einer Nation, die territorial noch nie so groß war wie in diesen Monaten. »Großdeutschland« schlägt sich in einer eigentümlichen Haltung nieder, wonach sich jeder Deutsche ein bisschen als Sieger fühlen kann. Reichspropagandaminister Joseph Goebbels spitzt das in seiner Rundfunkrede zum Jahresende in gewohnter Weise zu:74

»Dieses Volk ist seines Lebens wieder froh geworden. Noch niemals hat es ein so glückliches Weihnachten verlebt wie vor einer Woche, und niemals hat es einem anbrechenden Jahr so mutig und vertrauensvoll entgegengeschaut wie dem Jahr 1939.«

Das zu Ende gehende Jahr 1938 wird nach Ansicht der NS-Propaganda wegen der außenpolitischen Ereignisse »einst zu den bedeutungsvollsten in der ganzen deutschen Geschichte gezählt werden«. So behauptet es Wilhelm Weiß, Hauptschriftleiter des Völkischen Beobachters. Die gesamte deutsche Geschichte der vergangenen Jahrhunderte habe in nationaler Hinsicht erst jetzt das eigentliche Ziel erreicht, nämlich durch die »Wiedervereinigung« mit den Sudetendeutschen und den Österreichern alle Deutschen in einem Reich zu vereinen. In militärischer Hinsicht werde dieses neue Reich von der erstarkten Wehrmacht mit ihren Panzern und Flugzeugen garantiert, doch »die Stärke des politischen Großdeutschland liegt in seiner Einheit und Geschlossenheit«.75