Hohle Köpfe - Terry Pratchett - E-Book
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Hohle Köpfe E-Book

Terry Pratchett

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Beschreibung

Dichter Herbstnebel liegt über Ankh-Morpok, und in der Stadt geschehen seltsame Morde. Scheinbar grundlos werden ein Bäcker und ein Priester umgebracht. Auch auf den ansonsten unantastbaren Patrizier wird ein Giftanschlag verübt, den er glücklicherweise überlebt. Für Sir Samuel Mumm, den Kommandeur der Stadtwache, ergeben diese Verbrechen keinerlei Sinn. Die Spuren führen ihn schließlich zu den Golems, willenlosen Geschöpfen aus Lehm, die immer nur arbeiten und noch nie Ärger machten. Doch jetzt haben sie offenbar damit begonnen, sich selbst aus dem Weg zu räumen …

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Buch

Dichter Herbstnebel liegt über Ankh-Morpok, und in der Stadt geschehen seltsame Dinge. Scheinbar grundlos werden ein Bäcker und ein Priester umgebracht. Auch auf den ansonsten unantastbaren Patrizier wird ein Giftanschlag verübt, den er glücklicherweise überlebt. Für Sir Samuel Mumm, den Kommandeur der Stadtwache, ergeben diese Verbrechen keinerlei Sinn. Die Spuren führen ihn schließlich zu den Golems, willenlosen Geschöpfen aus Lehm, die immer nur arbeiten und noch nie Ärger machten. Doch jetzt haben sie offenbar damit begonnen, sich selbst aus dem Weg zu räumen …

Weitere Informationen zu Terry Pratchett sowie zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches.

Terry Pratchett

Hohle Köpfe

Ein Scheibenwelt-Roman

Aus dem Englischen neu übersetzt von Gerald Jung

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Feet of Clay« bei Victor Gollancz Ltd., London.Die vorliegende Ausgabe ist eine Neuübersetzung des erstmals 1998 im Wilhelm Goldmann Verlag auf Deutsch erschienenen Romans.1. AuflageTaschenbuchausgabe August 2018Copyright © der Originalausgabe 1995 by Terry & Lyn PratchettFirst Published by Victor Gollancz Ltd., LondonDiscworld ® is a trademark registered by Terry PratchettCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1998by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenUmschlaggestaltung und Gestaltung der Umschlaginnenseiten: UNO Werbeagentur, MünchenUmschlagmotiv: © Sebastian WunnickeRedaktion: Uta Rupprechtmb · Herstellung: kwSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN: 978-3-641-22524-7V002www.goldmann-verlag.deBesuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

Es geschah in einer warmen Frühlingsnacht, als eine Faust so heftig gegen die Tür klopfte, dass sich die Scharniere bogen.

Ein Mann öffnete und spähte hinaus auf die Straße. Vom Fluss stieg Nebel auf, der Himmel war von Wolken bedeckt. Der Mann hätte ebenso gut versuchen können, durch weißen Samt hindurchzublicken.

Im Nachhinein glaubte er, da draußen, jenseits des Lichtscheins, der sich auf die Straße ergoss, ein paar Schemen gesehen zu haben. Mehrere Gestalten, die ihn aufmerksam beobachteten. Vielleicht waren dort sogar, dachte er bei sich, schwach leuchtende Lichtpunkte gewesen …

Bei der Gestalt, die unmittelbar vor ihm stand, gab es allerdings kein Vertun. Sie war groß und dunkelrot und sah aus, als hätte ein Kind einen Menschen aus Lehm geformt. Ihre Augen waren zwei glühende Kohlen.

»Ja? Was willst du zu dieser späten Stunde?« Der Golem reichte ihm eine Schiefertafel, auf der geschrieben stand:

Wir haben gehört, dass du einen Golem suchst.

Denn Golems können, wie jeder weiß, nicht sprechen.

»Ha! Suchen schon. Aber leisten kann ich mir keinen. Ich habe mich schon umgehört, aber die Preise, die heutzutage verlangt werden, sind viel zu happig …«

Der Golem wischte die Worte von der Tafel und schrieb:

Für dich nur einhundert Dollar.

»Bist du zu verkaufen?«

Nein.

Der Golem torkelte zur Seite, und eine zweite Gestalt trat ins Licht.

Es handelte sich ebenfalls um einen Golem, das sah der Mann sofort. Aber der hier sah nicht wie die klobigen Lehmklumpen aus, denen man ab und zu begegnete. Er schimmerte wie eine frisch polierte Statue und war bis in die Details seiner Kleidung erstaunlich sorgfältig ausgeformt. Bei seinem Anblick musste der Mann an die alten Bilder von den Stadtkönigen denken, die sie in stolzer Haltung und mit gebieterischen Frisuren zeigten. Auf dem Kopf des Golems saß sogar ein kleines modelliertes Krönchen.

»Hundert Dollar?«, fragte der Mann misstrauisch. »Ist was nicht in Ordnung mit ihm? Wer will ihn denn verkaufen?«

Alles in Ordnung. Nichts auszusetzen. Neunzig Dollar.

»Hört sich an, als wollte ihn jemand ganz schnell loswerden …«

Golem muss arbeiten. Golem muss einen Meister haben.

»Ja, schon, aber man hört so einiges … Manche schnappen über, machen auf einmal viel zu viel und all so was.«

Nicht übergeschnappt. Achtzig Dollar.

»Er sieht … neu aus«, sagte der Mann und pochte gegen die schimmernde Brust. »Dabei werden doch gar keine Golems mehr hergestellt … genau deshalb bleiben sie für den Geldbeutel eines Kleinunternehmers ja auch unerschwinglich.« Er hielt inne. »Oder stellt sie jetzt doch wieder jemand her?«

Achtzig Dollar.

»Die Priester haben es doch schon vor Jahren streng verboten, oder? Damit kann man mächtig Ärger kriegen.«

Siebzig Dollar.

»Wer steckt dahinter?«

Sechzig Dollar.

»Verkauft er sie an Albertson? Oder an Spatz & Sperling? Man kann so schon schwer mit ihnen mithalten, und die haben genug Geld, um es in neue Betriebe zu stecken …«

Fünfzig Dollar.

Der Mann ging um den Golem herum. »Ich meine, man kann ja schließlich nicht einfach dabei zusehen, wie einem die eigene Firma wegen unfairen Preiswettbewerbs unter dem Hintern zusammenbricht …«

Vierzig Dollar.

»Na ja, Religion hin oder her, aber was versteht der Prophet schon vom Profit? Hab ich recht? Hm …« Er sah zu dem unförmigen Golem auf, der im Dämmerlicht stand. »Hast du da gerade ›dreißig Dollar‹ hingeschrieben?«

Ja.

»Ich war schon immer ein Freund von Sonderangeboten. Warte kurz.« Er ging hinein und kam mit einer Handvoll Münzen zurück. »Verkaufst du wirklich nicht an diese anderen Halsabschneider?«

Nein.

»Gut. Sag deinem Herrn und Meister, dass es ein Vergnügen ist, mit ihm Geschäfte zu machen. Na, dann komm mal rein, Sonnenscheinchen.«

Der weiße Golem betrat die Manufaktur. Der Mann sah sich noch einmal kurz um, dann folgte er dem Golem und machte die Tür hinter sich zu.

In der Finsternis rührten sich dunklere Schatten. Ein leises Zischen war zu hören. Dann machten sich die großen, schweren Gestalten leicht wankend davon.

Kurz darauf stellte zwei Ecken weiter ein Bettler, der hoffnungsvoll die Hand nach einem Almosen ausgestreckt hatte, verdutzt fest, dass er plötzlich um ganze dreißig Dollar reicher war.1

Vor dem schimmernden Hintergrund des Weltalls drehte sich die Scheibenwelt gemächlich auf den Rücken der vier riesenhaften Elefanten, die wiederum auf dem Panzer von Groß A’Tuin standen, der Sternenschildkröte. Kontinente schoben sich langsam vorbei, über denen sich ganze Wettersysteme träge gegen die Drehrichtung bewegten, wie Walzertänzer, die gegenläufig zum Wirbel des Tanzes kreisten. Milliarden Tonnen an Geografie kreisten bedächtig durch das Firmament.

Oft rümpfen die Leute über Geografie und Meteorologie die Nase, und nicht nur, weil sie auf dem einen stehen und vom anderen pudelnass werden. Es liegt eher daran, dass sie ihnen nicht wie richtige Wissenschaften vorkommen.2 Dabei ist Geografie nichts anderes als gebremste Physik mit ein paar Bäumen drauf, und Meteorologie ist voller aufregendem, elegantem Chaos und unglaublich komplex. Und der Sommer ist kein Zeitraum. Er ist auch ein Ort. Der Sommer ist ein Lebewesen, das sich im Winter gerne in den Süden verzieht.

Sogar auf der Scheibenwelt mit ihrer kleinen Sonne, die um die sich drehende Welt kreiste, wanderten die Jahreszeiten. In Ankh-Morpork, ihrer größten Stadt, wurde der Frühling vom Sommer weggeschubst, und der Herbst boxte schon bald dem Sommer unsanft in den Rücken.

Geografisch gesehen waren in der Stadt selbst kaum Unterschiede auszumachen, allerdings zeigte sich der Schaum auf dem Fluss im späten Frühjahr oft in einem hübschen Smaragdgrün. Aus dem Frühjahrsdunst wurde der Herbstnebel, der sich mit dem Rauch und Qualm aus dem magischen Viertel und den Werkstätten der Alchimisten mischte, bis er so beißend und dicht wurde, dass er ein Eigenleben zu haben schien.

Und die Zeit ging dahin.

* * *

Herbstnebel drängte gegen die mitternächtlichen Fensterscheiben.

Ein kleines Rinnsal aus Blut lief über die Seiten eines kostbaren Bandes mit frommen Abhandlungen, der in der Mitte entzweigerissen war.

Das wäre wirklich nicht nötig gewesen, dachte Pater Tubelcek.

Mit dem nächsten Gedanken kam ihm die Erkenntnis, dass es auch nicht nötig gewesen wäre, ihn zu schlagen. Aber wegen sowas hatte sich Pater Tubelcek noch nie groß gesorgt. Menschen heilten wieder, Bücher nicht. Mit zittriger Hand wollte er die Seiten aufsammeln, sackte aber sogleich wieder in sich zusammen.

Das Zimmer drehte sich um ihn.

Die Tür flog auf. Schwere Schritte knarrten auf dem Boden. Genauer gesagt, immer nur ein Schritt, jeweils gefolgt von einem schleifenden Geräusch.

Knarr. Schleif. Knarr. Schleif.

Pater Tubelcek kniff angestrengt die Augen zusammen. »Du?«, krächzte er.

Ein Nicken.

»Heb … die … Bücher auf.«

Der alte Priester sah zu, wie die Bücher aufgesammelt und sorgfältig übereinandergestapelt wurden. Von Fingern, die für diese Aufgabe nicht allzu gut geeignet waren.

Der Ankömmling zog einen Federkiel aus dem Durcheinander, schrieb sorgfältig etwas auf einen Fetzen Papier, rollte ihn zusammen und schob ihn Pater Tubelcek vorsichtig zwischen die Lippen.

Der sterbende Priester versuchte zu lächeln.

»So funktioniert das nicht bei uns«, murmelte er, wobei der kleine Papierzylinder wie eine letzte Zigarette auf und nieder wackelte. »Wir … machen … unsere … eigenen … W…«

Die kniende Gestalt betrachtete ihn eine Zeitlang, beugte sich dann ganz langsam und vorsichtig über ihn und drückte ihm die Augen zu.

* * *

Kommandeur Sir Samuel Mumm von der Stadtwache Ankh-Morpork musterte sein Spiegelbild mit skeptischem Blick und fing an, sich zu rasieren.

Das Rasiermesser war ein Schwert der Freiheit. Die Rasur ein Akt der Auflehnung.

Dieser Tage ließ ihm jemand das Badewasser ein (und zwar jeden Tag! Kaum zu glauben, dass die Haut eines Menschen so etwas aushielt.) Jemand legte ihm seine Kleider hin (und was für Kleider!). Ein anderer bereitete ihm die Mahlzeiten zu (und was für Mahlzeiten! Es war ihm nicht entgangen, dass er ordentlich zugenommen hatte). Und es gab sogar jemanden, der ihm die Stiefel wienerte (und was für Stiefel! Nicht die alten Treter mit den Pappdeckelsohlen, sondern hohe, gut sitzende Stiefel aus echtem glänzendem Leder). Für so gut wie alles gab es jemanden, der es für ihn erledigte, aber es gab ein paar Dinge, die ein Mann selbst tun sollte. Rasieren gehörte eindeutig dazu.

Er wusste, dass Lady Sybil in dieser Hinsicht nicht ganz mit ihm übereinstimmte. Ihr Vater hatte sich zeit seines Lebens nie selbst rasiert. Dafür hatte er einen Diener. Mumm hingegen hatte protestiert, er sei doch nicht all die Jahre durch die nächtlichen Straßen gestapft, um sich jetzt völlig sorglos von jemandem eine scharfe Klinge an den Hals setzen zu lassen. Der wahre Grund jedoch, der unausgesprochene Grund war, dass ihm schon der Gedanke an eine Welt, die in Rasierte und Rasierende unterteilt war, absolut gegen den Strich ging. Oder in solche, die glänzende Stiefel trugen, und solche, die sie putzen mussten. Jedes Mal, wenn er sah, wie der Butler Willikins seine, also Mumms, Kleidung ordentlich zusammenlegte, musste er das starke Verlangen unterdrücken, ihn wegen dieses Affronts gegen die Menschenwürde kräftig in sein glänzendes Hinterteil zu treten.

Das Rasiermesser glitt ruhig und gleichmäßig über die Bartstoppeln.

Am Abend zuvor waren sie zu irgendeinem feierlichen Essen eingeladen gewesen. An den Anlass konnte er sich nicht mehr erinnern. Es kam ihm vor, als verbrächte er mittlerweile sein ganzes Leben auf solchen Veranstaltungen. Geziert kichernde Frauen und lautstark herumschwadronierende junge Männer, die bei der Verteilung der energischen Kinnpartien in der Schlange ganz hinten gestanden hatten. Und wie üblich war er ausgesprochen schlechtgelaunt und mit sich selbst im Unfrieden durch die nebelverhangene Stadt nach Hause zurückgekehrt.

Weil er unter der Küchentür noch Licht gesehen und dahinter fröhliche Stimmen und Gelächter vernommen hatte, war er eingetreten. Da saßen Willikins und der alte Mann, der den Boiler anschürte, der Obergärtner und der Junge, der die Löffel putzte und die Kaminfeuer anmachte, und spielten Karten. Auf dem Tisch standen Bierflaschen.

Er hatte sich einen Stuhl herangezogen, ein paar Witze gemacht und gefragt, ob er mitspielen dürfe. Sie waren … zuvorkommend gewesen. Gewissermaßen. Aber während des Spiels wurde Mumm bewusst, wie das Universum um ihn herum kristallisierte. Er kam sich vor wie ein Zahnrad in einer gläsernen Uhr. Es wurde nicht gelacht. Sie redeten ihn mit »gnädiger Herr« an und räusperten sich ständig. Die Stimmung war sehr … reserviert.

Schließlich hatte er sich mit einer Entschuldigung verabschiedet. Auf dem Flur glaubte er, eine Bemerkung gehört zu haben, gefolgt von einem … na ja, womöglich war es nur ein leises Lachen gewesen. Es hätte aber auch ein verächtliches Kichern sein können.

Das Rasiermesser umkurvte vorsichtig die Nase.

Ha! Noch vor wenigen Jahren hätte ihn ein Mann wie Willikins in der Küche allerhöchstens geduldet. Aber nur, wenn er sich vorher die Stiefel ausgezogen hätte.

So sieht also dein neues Leben aus, Kommandeur Sir Samuel Mumm. Tja, in den Augen der adligen Snobs nur ein eingeheirateter Bulle und für alle anderen ein feiner Pinkel.

Wieder sah er sein Spiegelbild mürrisch an.

Ja, er war in der Gosse aufgewachsen. Heute gab es dreimal Fleisch am Tag, er besaß gute Stiefel, hatte in der Nacht ein warmes Bett und, was das betraf, obendrein ein Eheweib. Seine gute alte Sybil, die in letzter Zeit gelegentlich über Vorhänge gesprochen hatte. Aber Sergeant Colon meinte, so was komme bei Ehefrauen vor, es sei irgendwas Biologisches und von daher völlig normal.

Dabei waren ihm seine alten, billigen Stiefel durchaus lieb gewesen. Durch ihre dünnen Sohlen hatte er die Straßen lesen können. Selbst in stockfinsterer Nacht hätte er allein nach der Beschaffenheit des Pflasters sagen können, wo er sich gerade befand. Tja …

Sam Mumms Rasierspiegel besaß eine kleine Besonderheit. Er war leicht konvex und gab so mehr von dem Zimmer wieder als ein flacher Spiegel, ja, in ihm spiegelten sich sogar einige der Außengebäude und Gärten draußen vor dem Fenster.

Hm. Ganz oben wurde das Haar schon lichter. Die Stirn war eindeutig höher geworden. Also weniger Haare zu kämmen, dafür mehr Gesicht zu waschen …

Etwas blitzte im Spiegel auf.

Mumm duckte sich zur Seite.

Der Spiegel zersplitterte.

Von draußen unter dem kaputten Fenster hörte man schnelle Schritte, dann ein lautes Krachen und einen Schrei.

Mumm richtete sich auf. Er fischte das größte Stück vom Spiegel aus der Rasierschüssel und lehnte es gegen den Armbrustbolzen, der sich in die Wand gebohrt hatte.

Dann rasierte er sich fertig.

Schließlich klingelte er nach dem Butler. Willikins erschien wie aus dem Nichts. »Der Herr?«

Mumm spülte das Rasiermesser ab. »Schick den Jungen doch bitte rasch zum Glaser.«

Der Blick des Butlers wanderte vom Fenster zum kaputten Spiegel. »Sehr wohl. Die Rechnung dann wieder an die Assassinengilde?«

»Mit den besten Grüßen. Und wenn er schon unterwegs ist, soll er mir gleich aus dem Laden im Fünf-und-Sieben-Hof einen neuen Rasierspiegel mitbringen. Der Zwerg dort weiß, was für einen ich will.«

»Sehr wohl. Ich hole auch gleich Schaufel und Besen. Soll ich Ihre Ladyschaft von diesem Vorfall unterrichten?«

»Nein. Sie sagt immer, ich bin selbst dran schuld, wenn ich die Kerle dazu ermutige.«

»Sehr wohl, der Herr«, sagte Willikins und verflüchtigte sich.

Sam Mumm trocknete sich ab und ging nach unten ins Frühstückszimmer, wo er die neue Armbrust, die Sybil ihm zur Hochzeit geschenkt hatte, aus dem Wandschrank holte. Sam Mumm war an die alten Armbrüste aus der Stadtwache gewöhnt, die die hässliche Angewohnheit hatten, im unpassendsten Moment nach hinten loszugehen. Bei diesem Modell handelte es sich jedoch um eine maßgeschneiderte Waffe von Burlich-und-Starkimarm mit geöltem Walnussschaft. Angeblich gab es nichts Besseres.

Dann wählte er eine dünne Zigarre aus und begab sich in den Garten.

Aus dem Drachenhaus vernahm er eine gewisse Unruhe. Er ging hinein, schloss die Tür hinter sich und lehnte die Armbrust dagegen.

Das Jaulen und Fiepen wurde lauter. Kleine Stichflammen züngelten hinter den dicken Wänden der Brutboxen hervor.

Mumm beugte sich über die erstbeste, schnappte sich eine frisch geschlüpfte Dragonette und kitzelte sie unter dem Kinn. An der wohlig ausgestoßenen Flamme zündete er seine Zigarre an und sog den Rauch ein.

Dann blies er einen Rauchring zu der Gestalt hinauf, die von der Decke hing. »Guten Morgen«, sagte er.

Die Gestalt wand sich nervös hin und her. Durch schier unglaubliche Muskelkontrolle war es ihr gelungen, im Fallen einen Fuß an einem Deckenbalken einzuhaken, aber sie schaffte es nicht, sich wieder nach oben zu ziehen. Fallenlassen kam auch nicht in Frage, denn unten hüpfte ein Dutzend junger Drachen aufgeregt und feuerspeiend auf und nieder.

»Äh … guten Morgen«, erwiderte die baumelnde Gestalt.

»Soll ja wieder schön werden heute«, sagte Mumm und ergriff einen Eimer voller Kohlen. »Nur der Nebel dürfte später wohl wieder aufziehen.«

Er nahm ein Stückchen Kohle und warf es den Drachen zu. Sie balgten sich darum.

Mumm griff nach dem nächsten Brocken. Der junge Drache, der sich das erste Stück geschnappt hatte, brachte schon eine deutlich längere und heißere Flamme zustande.

»Ich kann Euch wahrscheinlich nicht dazu überreden, mich von hier oben runterzuholen, oder?«, fragte der junge Mann.

Der nächste Drache erwischte ein Stück Kohle und rülpste einen Feuerball. Der junge Mann schaukelte zur Seite, um ihm zu entgehen.

»Rate mal«, erwiderte Mumm.

»Ich hätte wohl lieber nicht das Dach nehmen sollen«, sagte der Assassine.

»Vermutlich«, sagte Mumm. Er hatte vor einigen Wochen mehrere Tage damit verbracht, Balken anzusägen und sie hinterher wieder sorgfältig mit den Ziegeln zu bedecken.

»Ich hätte von der Mauer runter ins Gebüsch springen sollen.«

»Womöglich«, sagte Mumm. Im Gebüsch hatte er eine Bärenfalle aufgestellt.

Er suchte noch ein paar Kohlebrocken aus. »Wahrscheinlich verrätst du mir nicht, wer dich beauftragt hat?«

»Bedaure. Ihr kennt die Regeln.«

Mumm nickte bedächtig. »Letzte Woche mussten wir Lady Selachiis Sohn zum Patrizier bringen«, sagte Mumm. »Der muss auch noch lernen, dass ›nein‹ nicht ›ja bitte‹ heißt.«

»Gut möglich.«

»Dann noch die Sache mit dem Sohn von Lord Rust. Man darf Diener nicht einfach erschießen, nur weil sie einem die Schuhe falsch hingestellt haben. Das macht viel zu viel Sauerei. Er muss einfach wie alle anderen rechts von links unterscheiden lernen. Beziehungsweise Recht von Unrecht.«

»Schon verstanden, Euer Lordschaft.«

»Tja, wir sind da wohl in eine Sackgasse geraten«, sagte Mumm.

»Sieht ganz so aus.«

Mumm zielte mit einem Kohlebröckchen auf einen kleinen grünlich bronzefarbenen Drachen, der es sich geschickt schnappte. Es wurde allmählich richtig heiß.

»Ich verstehe nur nicht recht«, sagte er, »warum ihr es immer hier oder im Büro probiert. Ich spaziere doch wirklich viel herum. Ihr könntet mich doch auf der Straße umlegen, oder?«

»Was? Wie hergelaufene Mörder?«

Mumm nickte. Auch die Assassinengilde besaß ihre Ehre, so finster und verdreht sie auch sein mochte. »Wie viel war ich wert?«

»Zwanzigtausend, Euer Lordschaft.«

»Hm. Müsste eigentlich mehr sein.«

»Stimmt.« Falls es der Assassine zurück zur Gilde schaffte, würde der Preis erhöht werden, dachte Mumm. Assassinen schätzten ihr eigenes Leben ziemlich hoch ein.

»Also mal sehen«, sagte Mumm und betrachtete das Ende seiner Zigarre. »Die Gilde nimmt fünfzig Prozent. Bleiben also zehntausend Dollar.«

Der Assassine überlegte kurz, dann langte er unter seinen Gürtel und warf Mumm etwas umständlich einen Beutel zu.

Mumm holte die Armbrust. »Ich glaube«, sagte er, »dass ein Mann, der laufengelassen wird, es mit ein paar leichten Verbrennungen bis zur Tür schaffen könnte. Wenn er schnell ist. Wie schnell bist du?«

Keine Antwort.

»Natürlich müsste er dazu fest entschlossen sein«, sagte Mumm, klemmte die Armbrust am Futtertisch fest und zog ein Stück Bindfaden aus der Tasche. Den Faden band er an einen Nagel und das andere Ende an die Sehne der Armbrust. Dann machte er einen Schritt zur Seite und löste den Abzug.

Die Sehne bewegte sich kaum merklich.

Der Assassine, der ihm kopfüber dabei zusah, schien das Atmen eingestellt zu haben.

Mumm zog an seiner Zigarre, bis das Ende ein rotglühendes Inferno war. Dann nahm er sie aus dem Mund und lehnte sie so an den Haltefaden, dass sie nur noch ein winziges Stück herabbrennen musste, bis der Faden zu glimmen anfing.

»Ich schließe die Tür nicht ab«, sagte er. »Mit mir konnte man schon immer reden. Ich werde deine weitere Karriere mit Interesse verfolgen.«

Dann warf er den Rest der Kohlen zwischen die Drachen und ging nach draußen.

Es sah ganz nach einem weiteren ereignisreichen Tag in Ankh-Morpork aus. Dabei hatte er gerade erst angefangen.

Als Mumm das Wohnhaus erreicht hatte, vernahm er hinter sich ein Fauchen, dann ein Klicken und das Geräusch von jemandem, der sehr schnell zum künstlich angelegten See hinunterrannte. Er lächelte.

Willikins wartete bereits mit seiner Jacke. »Vergesst nicht, dass Ihr um elf Uhr eine Verabredung mit Seiner Lordschaft habt, Sir Samuel.«

»Ja, ja«, brummte Mumm.

»Und um zehn sollt Ihr bei den Wappenherolden sein. Ihre Ladyschaft hat sich da sehr unmissverständlich ausgedrückt. Ihre genauen Worte lauteten: ›Sag ihm, er soll nicht wieder versuchen, sich da herauszuwinden‹.«

»Ja, schon gut.«

»Ihre Ladyschaft meinte auch, Ihr sollt auf keinen Fall irgendjemanden beleidigen.«

»Richte ihr aus, dass ich mir Mühe gebe.«

»Eure Sänfte steht schon bereit.«

Mumm seufzte. »Vielen Dank. Da unten im See ist ein Mann. Hol ihn raus und gib ihm eine Tasse Tee, ja? Ein vielversprechender Bursche, glaube ich.«

»Gewiss, Euer Lordschaft.«

Die Sänfte. Immer diese Sänfte. Ein Hochzeitsgeschenk des Patriziers. Lord Vetinari wusste, dass Mumm am liebsten zu Fuß durch die Stadt ging, deshalb war es geradezu typisch für ihn, dass er ihm etwas geschenkt hatte, was ihn genau daran hinderte.

Sie stand vor dem Haus bereit. Die beiden Träger richteten sich erwartungsvoll auf.

Sir Samuel Mumm, Kommandeur der Stadtwache, rebellierte zum zweiten Mal an diesem Morgen. Wenn er das verflixte Ding schon benutzen musste, dann …

Er sah den vorderen Träger an und richtete den Daumen auf die Tür der Sänfte. »Los, rein«, befahl er.

»Aber, Euer …«

»Was für ein herrlicher Morgen«, sagte Mumm und zog die Jacke wieder aus. »Ich fahre selbst.«

* * *

Liebste Muther und Pappa …

Hauptmann Karotte von der Stadtwache Ankh-Morpork hatte seinen freien Tag. Erst hatte er in einem nahe gelegenen Café gefrühstückt, dann seinen Brief an die Eltern geschrieben. Briefe an die Eltern fielen ihm nie ganz leicht. Briefe von den Eltern waren immer interessant, voll mit Bergbaustatistiken und aufregenden Neuigkeiten zu neuen Schächten und vielversprechenden Flözen. Er hingegen konnte immer nur über Morde und solche Sachen berichten.

Er kaute kurz an seinem Stift herum.

Also, es war mal wieder ne Interessante Woche [schrieb er]. Ich flitze überall Herum wie eine Fleige mit blauem Hinnerteil, aber eins steht fest! Wir eröfnen noch eine Wache in der Kröselstraße, was pracktisch ist für die Schatten, und jetzt haben wier nicht weniger als 4, also mit Tolle Schwestern und Lange Mauer, und ich bin der Einzige Hauptmann deshalb muss ich ständig da sien. Persönlich fehlt mir manchmal die Kumpanei, von früher, wo ich nur mit Nobby und Feldwebel Colon war, aber jetzt, ist das Jahrhundert des Flughunds. Feldwebel Colon geht Ende des Monats in ruhestand, er sagt, Frau Colon will das er einen Hof kauft, er sagt er freut sich auf dei Ruhe auf dem Land und die nahe zur Natur, ihr würdet es ihm bestimmt auch, wünschen. Mein Freund Nobby ist immer noch Nobby eher Noch mehr als vorher.

Karotte nahm geistesabwesend ein halbgegessenes Hammelrippchen von seinem Teller und hielt es unter die Tischkante. Ein Happs war zu hören.

Jedenfalls, wieder zur Arbiet, ich hab euch Bestimmt schon von der Sondereinhiet Ankertaugasse geschrieben obwohl die immer noch, am Pseudopolisplatz sitzen, die Leute mögen es Nicht, wenn Wachen keine Unieform tragen, aber Kommandeur Mumm sagt Verbrecher trahgen auch keine Unieformen und verfl*t solln sie alle sein.

Karotte hielt inne. Es verriet viel über Hauptmann Karotte, dass er auch nach fast zwei Jahren in Ankh-Morpork immer noch ein mulmiges Gefühl bei »verfl*t« hatte.

Kommandeur Mumm sagt man braucht geheime Polizisten weil es Auch, gehieme Verbrechen gibt …

Karotte hielt erneut inne. Er liebte seine Uniform. Er hatte gar keine anderen Sachen zum Anziehen. Allein die Vorstellung von verkleideten Wachen war … einfach undenkbar. So wie Piraten, die unter falscher Flagge segelten. Wie Spione. Trotzdem fuhr er pflichtbewusst fort:

… und Kommandeur Mumm wieß wovon er spricht da bin ich Sicher. Er sagt es ist nicht, wie früher wo man als Poliezist einfach die armen Teufel geschnappt hat die wo, schnell weggelaufen sind! Jedenfalls bringt das alles Viel mehr Arbeit und auch neue Gesiechter in Die Wache.

Während er darauf wartete, dass sich ein neuer Satz bildete, nahm Karotte ein Würstchen vom Teller und ließ die Hand sinken.

Wieder ertönte ein Happs.

Ein beflissener Kellner kam herbei.

»Noch einen Nachschlag, Herr Karotte? Geht aufs Haus.« Jedes Restaurant und jeder Imbiss in Ankh-Morpork bot Karotte kostenlos Essen an in der frohen Gewissheit, dass er ohnehin darauf bestand, alles zu bezahlen.

»Nein, es war wirklich sehr gut. Hier bitte … zwanzig Pennys, stimmt so«, sagte Karotte.

»Wie geht’s der jungen Dame? Hab sie heute noch nicht gesehen.«

»Angua? Ach, die ist … unterwegs. Aber ich richte ihr aus, dass Sie sich nach ihr erkundigt haben.«

Der Zwerg nickte zufrieden und trollte sich. Karotte schrieb noch ein paar pflichtbewusste Zeilen, dann sagte er sehr leise: »Steht das Pferdefuhrwerk immer noch vor der Bäckerei Eisenkruste?«

Unter dem Tisch winselte etwas.

»Tatsächlich? Merkwürdig. Es wurde doch schon vor Stunden angeliefert, und Mehl und Schrot kommen sonst erst am Nachmittag. Sitzt der Fahrer noch drauf?«

Etwas bellte leise.

»Das Pferd sieht für einen Lieferkarren auch ziemlich edel aus. Außerdem würde der Kutscher dem Tier einen Futterbeutel umhängen. Obendrein ist heute der letzte Donnerstag im Monat. Also Zahltag bei Eisenkruste.« Karotte legte den Stift hin und winkte die Bedienung freundlich heran.

»Eine Tasse Eichelkaffee, Herr Gimlet? Zum Mitnehmen?«

* * *

Herr Hopkinson, der Kustos des Zwergenbrotmuseums in der Kreiselgasse, war ziemlich aufgeregt. Von allem anderen einmal ganz abgesehen, war er gerade ermordet worden. Doch das betrachtete er vorerst noch als ein lästiges, vernachlässigenswertes Detail am Rande.

Er war mit einem Laib Brot erschlagen worden. Sogar in den schlechtesten Bäckereien der Menschen ist so ein Vorfall höchst unwahrscheinlich, aber Zwergenbrot eignet sich ganz hervorragend als Mordwaffe. Für Zwerge ist das Backen ein integraler Teil der Kunst der Kriegführung. Wenn sie Marmorkuchen oder Granatsplitter backen, dann ist das durchaus wörtlich zu verstehen.

»Nun sieh sich bloß einer diese Delle an!«, sagte Hopkinson. »Die Kruste ist völlig ruiniert!«

DEINSCHÄDELAUCH, sprach Tod.

»Ja, schon«, erwiderte Hopkinson mit der Stimme dessen, für den ein einzelner Schädel nicht viel zählt, der sich aber der Kostbarkeit eines seltenen Brotausstellungsstücks durchaus bewusst ist. »Was spricht eigentlich gegen einen ganz normalen Totschläger? Oder einen Hammer? Ich hätte auf Nachfrage sogar mit einem dienen können.«

Tod, von Natur aus selbst eine eher zwanghafte Persönlichkeit, erkannte, dass er es mit einem wahren Meister zu tun hatte. Der einstige Herr Hopkinson hatte eine Fistelstimme gehabt und seine Brille an einem schwarzem Band um den Hals getragen, sein Geist trug jetzt die entsprechenden spirituellen Gegenstücke – was stets ein sicheres Anzeichen dafür war, dass der Betreffende auch die Unterseite der Möbel sauberwischte und Büroklammern der Größe nach geordnet aufbewahrte.

»Es ist wirklich ein Jammer«, sagte Herr Hopkinson. »Und auch undankbar, wenn man bedenkt, wie ich ihnen mit dem Ofen geholfen habe. Am liebsten würde ich mich irgendwo beschweren.«

HERRHOPKINSON, SINDSIESICHDESSENBEWUSST, DASSSIETOTSIND?

»Tot?«, fistelte der Kustos. »Nein, das kann nicht sein. Jetzt noch nicht. Das passt mir überhaupt nicht. Ich muss doch noch die Kampfsemmeln katalogisieren.«

TROTZDEM.

»Nein, nein, tut mir leid, aber so geht das nicht. Sie müssen warten. Ich hab jetzt keine Zeit für derlei Nonsens.«

Tod staunte nicht schlecht. Nach der ersten Verwirrung waren die meisten Leute ziemlich erleichtert, dass sie tot waren. Eine unbewusste Last fiel von ihnen ab, es war vorüber. Sie hatten das Schlimmste hinter sich, jetzt konnten sie, im übertragenen Sinne, mit ihrem Leben fortfahren. Nur wenige sahen ihr Ableben als lästige Störung an, die womöglich wieder verging, wenn man sich nur gründlich genug beschwerte.

Herr Hopkinson langte mit der Hand durch eine Tischplatte hindurch. »Oha.«

SIEHSTDU?

»Das kommt jetzt äußerst ungelegen. Hätten Sie sich nicht eine weniger unpassende Zeit aussuchen können?«

NURNACHRÜCKSPRACHEMITDEINEMMÖRDER.

»Das Ganze scheint mir sehr schlecht organisiert zu sein. Ich möchte eine Beschwerde einreichen. Schließlich zahle ich Steuern.«

ICHBINTOD, NICHTDERSTEUEREINTREIBER. ICHERSCHEINENUREINMALIMLEBEN.

Herrn Hopkinsons Schatten verblasste allmählich. »Es ist nur so, dass ich immer sehr vorausschauend plane …«

ICHFINDE, MANSOLLTEDASLEBENAMBESTENIMMERSONEHMEN, WIEESKOMMT.

»Das halte ich für eine sehr unverantwortliche Einstellung …«

FÜRMICHHATSIEIMMERGANZGUTFUNKTIONIERT.

* * *

Die Sänfte kam vor der Wache auf dem Pseudopolisplatz zum Stehen. Mumm ließ die Träger einparken und ging, sich die Jacke überstreifend, schnurstracks ins Wachhaus.

Es hatte einmal eine Zeit gegeben – es kam ihm vor, als wäre es erst gestern gewesen –, da war die Wache so gut wie leer gewesen. Damals hatte der gute alte Feldwebel Colon auf seinem Stuhl gedöst, und Korporal Nobbs’ Wäsche hing zum Trocknen vor dem Ofen. Dann hatte sich auf einmal alles verändert …

Feldwebel Colon erwartete ihn mit einem Klemmbrett in der Hand. »Habe hier die Berichte der anderen Wachhäuser, Chef«, sagte er und trippelte neben Mumm her.

»Besondere Vorkommnisse?«

»Ein merkwürdiger Mordfall, in einem der alten Häuser unten an der Schlechten Brücke. Irgendein alter Priester. Mehr weiß ich auch nicht. Die Patrouille meinte nur, man sollte sich die Sache näher ansehen.«

»Wer hat ihn gefunden?«

»Der Obergefreite Besuch.«

»Alle Götter.«

»Genau.«

»Dann schaue ich dort heute Vormittag mal vorbei. Noch was?«

»Korporal Nobbs ist krank, Kommandeur.«

»Das ist nichts Neues.«

»Ich meine, er hat sich krankgemeldet.«

»Doch nicht schon wieder die Beerdigung seiner Oma?«

»Nein, Kommandeur.«

»Wie oft war die eigentlich schon in diesem Jahr?«

»Sieben Mal.«

»Sehr merkwürdige Familie, diese Nobbse.«

»Allerdings, Kommandeur.«

»Du musst mich nicht immer ›Kommandeur‹ nennen, Fred.«

»Wir sind nicht allein, Herr Kommandeur«, erwiderte der Feldwebel mit einem bedeutungsvollen Blick hinüber zu einer Bank im Hauptbüro. »Wegen dieser Alchimistenstelle.«

Ein Zwerg lächelte nervös zu Mumm herüber.

»Na gut«, sagte Mumm. »Schick ihn rauf in mein Büro.« Dann griff er in seine Jacke und zog den Geldbeutel des Assassinen hervor. »Legst du das bitte in den Witwen- und Waisenfonds, Fred?«

»Mach ich. Gut gemacht, Kommandeur. Noch so ein paar Glücksfälle, und wir können uns noch ein paar Witwen leisten.«

Feldwebel Colon ging zu seinem Schreibtisch, zog verstohlen die Schublade auf und nahm das Buch heraus, das er gerade las. Es hieß Viehzucht und Tierliebe. Der Titel hatte ihn anfangs verwirrt – man hörte ja so manche Geschichten über seltsame Zeitgenossen auf dem Land! Aber letztendlich hatte es sich doch als Aufklärungsbuch über die Fortpflanzung von Rindern, Schweinen und Schafen entpuppt.

Jetzt fragte er sich nur, wo man ein Buch herkriegte, mit dem man den Viechern das Lesen beibrachte.

Im Stockwerk darüber drückte Mumm vorsichtig die Tür zu seinem Büro auf. Die Assassinengilde hielt sich an die Regeln, das musste man diesen Mistkerlen zugestehen. Es galt als ausgemacht schlechter Stil, einen Unbeteiligten zu töten. Und bezahlt wurde man dafür auch nicht. Deshalb kam das Aufstellen von Fallen in seinem Büro nicht in Frage, weil dort jeden Tag zu viele Leute ein und aus gingen. Trotzdem schadete es nichts, grundsätzlich auf der Hut zu sein. Mumm machte sich immer wieder wohlhabende Feinde, die sich einen Assassinen leisten konnten. Und die Assassinen mussten nur einmal Glück haben, Mumm hingegen jedes Mal.

Er schob sich in den Raum und spähte aus dem Fenster. Er arbeitete gerne bei offenem Fenster, sogar wenn es kalt draußen war. Er mochte den Lärm der Stadt. Aber falls jemand versuchte, hier herauf- oder hinabzuklettern, bekam er es mit losen Ziegeln, trügerischen Haltegriffen und lockeren Fallrohren zu tun. Außerdem hatte Mumm unten spitze Zaungitter angebracht. Sie waren hübsch und dekorativ, aber vor allem spitz.

Bis jetzt hatte Mumm immer gewonnen.

Ein zaghaftes Klopfen an der Tür.

Es stammte von den Knöcheln des Zwergenbewerbers. Mumm bat ihn herein, schloss die Tür und setzte sich hinter den Schreibtisch.

»Sie sind also Alchimist«, sagte er. »Mit Säureflecken auf den Händen und ohne Augenbrauen.«

»Ganz recht, Herr Kommandeur.«

»Ziemlich ungewöhnlich, ein Zwerg in diesem Metier. Ihresgleichen schuftet doch eher in der Schmiede eines Onkels oder so.«

Das Ihresgleichen registrierte der Zwerg sehr genau. »Ich mach mir nichts aus Metall«, erwiderte er.

»Ein Zwerg, der sich nichts aus Metall macht? Das gibt’s nicht oft.«

»Stimmt. Aber ich war ziemlich gut in Alchimie.«

»Mitglied der Gilde?«

»Nicht mehr, Kommandeur.«

»Ach? Wie haben Sie die Gilde verlassen?«

»Durchs Dach. Aber ich glaube, ich weiß, was ich falsch gemacht habe.«

Mumm lehnte sich zurück. »Die Alchimisten jagen ständig irgendwas in die Luft. Seit wann wird man deswegen entlassen?«

»Bis jetzt hat noch keiner den Gildenrat in die Luft gejagt.«

»Was? Das ganze Gebäude?«

»Größtenteils. Jedenfalls sämtliche leicht löslichen Bestandteile.«

Mumm stellte fest, dass er automatisch die untere Schublade seines Schreibtischs aufzog. Er schob sie wieder zu und ordnete stattdessen die Blätter vor sich. »Wie heißen Sie, mein Junge?«

Der Zwerg schluckte. Genau davor hatte es ihn am meisten gegraut. »Kleinpo, Herr Kommandeur.«

Mumm blickte nicht einmal auf. »Ach ja, hier steht’s. Das heißt, Sie kommen aus der Bergregion von Überwald?«

»Äh … ja, richtig«, antwortete Kleinpo ein wenig überrascht. Normalerweise konnten Menschen die Zwergensippen nicht auseinanderhalten.

»Unsere Obergefreite Angua stammt von dort«, sagte Mumm. »Also, hier steht, Ihr Vorname lautet … ich kann Freds Klaue so schlecht lesen … äh …«

Es half alles nichts. »Grinsi, Herr Kommandeur«, sagte Grinsi Kleinpo.

»Grinsi, aha. Wie schön, dass die alten Namenstraditionen immer noch gepflegt werden. Grinsi Kleinpo. Gut.«

Kleinpo beobachtete ihn aufmerksam. Nicht der leiseste Hauch von Belustigung huschte über Mumms Gesicht.

»Genau. Grinsi Kleinpo«, sagte er. Auch jetzt zeigte sich kein zusätzliches Fältchen um den Mund des Kommandeurs. »Mein Vater hieß Fröhlich. Fröhlich Kleinpo«, fügte er hinzu, so wie man in einem kaputten Zahn herumbohrt, um zu probieren, wann es wehtut.

»Ach ja?«

»Und … dessen Vater hieß Heiter Kleinpo.«

Keine Spur, nicht der klitzekleinste Anflug eines Grinsens zuckte in Mumms Gesicht. Er schob einfach nur die Papiere beiseite.

»Also, wir arbeiten hier, um unseren Lebensunterhalt zu verdienen, Kleinpo.«

»Verstanden.«

»Wir jagen nichts in die Luft, Kleinpo.«

»Verstanden. Aber ich jage nicht alles in die Luft. Manchmal schmilzt es nur zusammen.«

Mumms Finger trommelten auf dem Schreibtisch. »Wie sieht’s mit Leichen aus?«

»Sie hatten nur leichte Prellungen, Herr Kommandeur.«

Mumm seufzte. »Wissen Sie, Polizist sein kann ich auch allein. Dafür muss man hauptsächlich viel herumlaufen und mit den Leuten reden. Aber es gibt so einiges, was ich nicht kann. Man kommt zum Beispiel an einen Tatort, und dort liegt ein graues Pulver auf dem Boden. Was ist das? Ich weiß es nicht. Aber ihr Burschen wisst, wie man alles Mögliche in Schüsseln zusammenmischt und so etwas herausfindet. Vielleicht hat der Tote keinerlei Spuren an sich. Wurde er vergiftet? Mir scheint, wir brauchen jemanden, der weiß, welche Farbe eine Leber normalerweise haben sollte. Ich brauche jemanden, der in den Aschenbecher schaut und mir sagt, welche Zigarren ich rauche.«

»Schnaufkrauts Dünne Panatellas«, sagte Kleinpo, ohne zu überlegen.

»Bei allen Göttern!«

»Das Päckchen liegt noch auf dem Tisch, Herr Kommandeur.«

Mumm sah nach unten. »Stimmt«, sagte er. »Manchmal ist die Antwort ganz einfach. Manchmal aber nicht. Manchmal wissen wir nicht mal, ob es die richtige Frage war.«

Er erhob sich. »Ich kann nicht behaupten, dass ich Zwerge mag, Kleinpo. Aber Trolle und Menschen mag ich auch nicht, von daher müssten wir miteinander auskommen. Außerdem sind Sie der einzige Bewerber. Dreißig Dollar im Monat, fünf Dollar Wohngeld. Ich erwarte, dass Sie nach Erfordernissen und nicht nach der Uhr arbeiten. Angeblich gibt es ein geheimnisvolles Wesen namens ›Überstunden‹, aber von dem haben wir bisher noch nicht mal Fußabdrücke gefunden. Wenn ein Trollkollege Sie Drecklutscher nennt, ist er draußen, wenn Sie ihn als elenden Steinbrocken bezeichnen, sind Sie draußen. Wir sind eine große Familie, und wenn Sie schon mal häusliche Auseinandersetzungen erlebt haben, Kleinpo, dann fällt Ihnen hier bestimmt bald eine gewisse Ähnlichkeit auf. Wir arbeiten im Team und werkeln uns von Fall zu Fall durch, und oft wissen wir nicht mal, wie die Rechtslage ist, deshalb kann es durchaus interessant werden. Sie haben den Rang eines Korporals inne, aber erteilen Sie bloß den richtigen Wachleuten keine Befehle. Ein Monat Probezeit, Sie bekommen auch eine gewisse Ausbildung, sobald wir Zeit dafür finden. Und jetzt suchen Sie sich einen Ikonographen und stoßen Sie an der Schlechten Brücke zu mir, und zwar in … Mist, sagen wir lieber in einer Stunde. Ich muss mich noch um dieses verflixte Wappen kümmern. Feldwebel Detritus!«

Draußen auf dem Korridor knackte und knarrte es, als etwas Schweres näher kam, dann machte ein Troll die Tür auf.

»Ja, Chef?«

»Das hier ist Korporal Kleinpo. Korporal Grinsi Kleinpo, dessen Vater Fröhlich Kleinpo war. Gib ihm seine Marke, nimm ihm den Eid ab und zeige ihm, wo alles ist. Alles klar, Korporal?«

»Ich will versuchen, der Uniform alle Ehre zu machen«, sagte Kleinpo.

»Gut«, brummte Mumm schroff und sah Detritus an. »Übrigens habe ich hier einen Bericht vorliegen, Feldwebel, angeblich hat ein Troll in Uniform letzte Nacht einen von Chrysopras’ Spießgesellen mit den Ohren an eine Mauer genagelt. Weißt du was davon?«

Der Troll runzelte die wuchtige Stirn. »Steht da auch was davon, dass er Tütchen mit Platte an Trollkinder verkauft hat?«

»Nein. Da steht, er war unterwegs, um seinem guten alten Mütterchen etwas Erbauliches vorzulesen«, antwortete Mumm.

»Hat Schotterkies gesagt, dass er die Marke von diesem Troll gesehen hat?«

»Nein, aber der Troll hat gedroht, sie ihm dorthin zu schieben, wo die Sonne nicht hinscheint«, antwortete Mumm.

Detritus nickte nachdenklich. »Das wär aber ganz schön weit, bloß um so ’ne feine Marke zu versauen«, sagte er.

»Aber deine Vermutung, dass es sich um Schotterkies handelt, war nicht schlecht«, sagte Mumm.

»Is mir grad so eingefallen. Dachte, welcher Drecksack, der wo Platte an Kinder verkauft, hätt es wohl verdient, dass er an den Ohren irgendwo angenagelt wird, und … Volltreffer. Einfach gut geraten.«

»Dachte ich mir.«

Grinsi Kleinpos Blick wanderte von einem ausdruckslosen Gesicht zum anderen. Die beiden Wachleute sahen einander die ganze Zeit in die Augen, aber die Worte schienen von weiter her zu kommen, als würden die beiden von einer unsichtbaren Vorlage ablesen.

Dann schüttelte Detritus langsam den Kopf. »Muss’n Betrüger gewesen sein. So’ne Helme, wie wir sie haben, kann man sich einfach besorgen. Von mein’ Trollen würde sowas keiner machen. Wär ja auch polizeiliche Willkür oder so.«

»Freut mich zu hören. Nur der Ordnung halber solltest du trotzdem mal die Spinde der Trolle kontrollieren. Sonst haben wir gleich die Liga gegen die Diffamierung von Siliziumleben auf dem Hals.«

»Jawoll. Und wenn’s doch einer von mein’ Trollen war, mach ich ihn so klein mit Helm.«

»Gut. Dann ab mit Ihnen, Kleinpo. Detritus weist Sie ein.«

Kleinpo zögerte. Konnte das sein? Der Mann hatte weder Äxte noch Gold erwähnt. Er hatte nicht mal sowas gesagt wie: »In der Wache können Sie ganz groß rauskommen.« Kleinpo war ziemlich verunsichert.

»Äh … Ich hab Ihnen doch gesagt, wie ich heiße, Herr Kommandeur, oder nicht?«

»Doch, doch. Hab mir alles aufgeschrieben«, erwiderte Mumm. »Grinsi Kleinpo, stimmt doch?«

»Äh … ja. Ist richtig. Dann vielen Dank, Herr Kommandeur.«

Mumm lauschte den sich entfernenden Schritten der beiden nach. Dann schloss er leise die Tür und zog sich die Jacke über den Kopf, damit ihn niemand lachen hörte.

»Grinsi Kleinpo!«

* * *

Grinsi rannte dem Troll namens Detritus hinterher. Das Wachhaus füllte sich allmählich. Allem Anschein nach kümmerten sich die Wachen um alles Mögliche, wozu offensichtlich meistens lautes Herumbrüllen gehörte.

Vor Feldwebel Colons Stehpult standen zwei Trolle in Uniform, zwischen ihnen klemmte ein nur unwesentlich kleinerer Troll mit bedrückter Miene. Er trug ein Tutu und auf dem Rücken ein Paar angeklebte Gaze-Flügelchen.

»… weiß ich zufällig, dass es bei Trollen überhaupt keine Zahnfeen gibt«, sagte Colon gerade. »Und schon mal gar keine namens …«, er schaute nach unten, »… namens Klinkerbell. Wie wär’s, wenn wir die Sache ganz einfach Einbruch und Diebstahl ohne Lizenz der Diebesgilde nennen?«

»Es ist rassistisch, wenn Trolle keine Zahnfee haben dürfen«, nuschelte Klinkerbell.

Einer der Trollwachen leerte einen Sack auf dem Pult aus. Über die Papiere ergoss sich eine wahre Kaskade aus Tafelsilber.

»Und das hast du wohl unter den Kopfkissen gefunden?«, fragte Colon.

»Mögen die Götter die kleinen Herzchen segnen«, sagte Klinkerbell.

Am Schreibtisch nebenan stritt ein müder Zwerg mit einem Vampir. »Verstehen Sie doch«, sagte er, »es handelt sich nicht um Mord. Sie sind doch längst tot, oder nicht?«

»Er hat mich mit den Dingern da durchbohrt!«

»Also, ich habe mich mit dem Geschäftsführer unterhalten, und der sagt, es war ein Unfall und dass er überhaupt nichts gegen Vampire hat. Er sagt, er hatte gerade drei Schachteln HB-Stifte mit Radiergummi in der Hand, als er über den Saum Ihres Umhangs stolperte.«

»Warum darf ich nicht arbeiten, wo ich will?«

»Muss es denn ausgerechnet … eine Bleistiftfabrik sein?«

Detritus blickte auf Kleinpo hinab und grinste. »Willkommen in der Großstadt, Kleinpo«, sagte er. »Int’ressanter Name, übrigens.«

»Ach?«

»Die meisten Zwerge ham eher Namen wie Steinheber oder Starkimarm.«

»Tatsächlich?«

Detritus war kein Troll der feinen Zwischentöne, aber die leise Schärfe in Kleinpos Stimme drang sogar bis zu ihm durch. »Is aber schon ein guter Name, doch«, sagte er.

»Was ist Platte?«, wollte Grinsi wissen.

»Ammoniumchlorid und Radium zusammengemixt. Kitzelt im Kopf, aber Trollhirne schmelzen mit der Zeit. Großes Problem droben in den Bergen, und ein paar Saukerle stellen es auch hier inner Stadt her. Ich bin grad dabei, so’ne« – Detritus konzentrierte sich – »Auf-klärungs-kam-pannje durchzuführn, da mach ich den Leuten klar, was mit den Drecksäcken passiert, die den Kindern das Zeug verkaufen …« Er zeigte auf ein großes und ziemlich grobschlächtig entworfenes Poster an der Wand. Darauf stand:

Platte: Sag einfach »AarrgaarghbitteneinneinneinAUUU«.

Er stieß eine Tür auf.

»Das is’ der alte Klo, den wo wir nich mehr benutzen, da drin kannst du deine Sachen mischen. Zurzeit ham wir kein anderen Ort für dich. Du musst aber erst saubermachen, weil da drin riecht’s wie inner Toilette.«

Er öffnete eine weitere Tür. »Hier is die Umkleide«, sagte er. »Du hast’n eigenen Kleiderhaken, und hinter diesem Paravang kannst du dich umziehn, weil wir wissen ja, wie verschämt ihr Zwerge seid. Der Job hier is gut, man darf aber nich schwach wern. Herr Mumm is in Ordnung, aber manchmal auch’n bisschen komisch, dann sagt er, unsre Stadt is’n Schmelztiegel, wo der Abschaum obendrauf schwimmt, und so’ne Sachen. Ich geb dir gleich dein Helm und deine Marke, aber zuerst« – er öffnete einen ziemlich großen Spind auf der anderen Seite des Raums, auf den jemand »DTRiTUS« gepinselt hatte – »muss ich diesen Hammer hier irgendwo verschwinden lassen.«

* * *

Zwei Gestalten kamen aus Eisenkrustes Zwergenbäckerei (»Das Brot mit Wumms«) gerannt, sprangen auf den Karren und riefen dem Kutscher zu, sofort loszufahren.

Er wandte ihnen ein bleiches Gesicht zu und deutete auf die Straße vor ihnen.

Dort saß ein Wolf.

Kein gewöhnlicher Wolf, sondern einer mit blondem Fell, das um die Ohren so lang war, dass es beinahe eine Mähne bildete. Außerdem saßen Wölfe normalerweise nicht mitten auf der Straße seelenruhig auf den Hinterläufen.

Dieser Wolf knurrte. Ein langanhaltendes, tiefes Knurren. Es war das akustische Gegenstück zu einer rasch abbrennenden Lunte.

Das Pferd war wie gelähmt – zu entsetzt, um einfach stehenzubleiben, aber zu verängstigt, um sich zu rühren.

Einer der Männer griff vorsichtig nach einer Armbrust. Das Knurren wurde ein bisschen lauter. Fast noch vorsichtiger zog er die Hand wieder zurück. Das Knurren wurde wieder leiser.

»Was ist das?«

»Ein Wolf.«

»Mitten in der Stadt? Wo soll er denn was zu fressen finden?«

»Musst du das ausgerechnet jetzt fragen?«

»Guten Morgen, die Herren!«, grüßte Karotte und löste sich von der Hauswand, an der er gelehnt hatte. »Sieht ganz so aus, als würde der Nebel bald wieder aufsteigen. Ihre Lizenzen der Diebesgilde, bitte.«

Sie drehten sich um. Karotte lächelte sie freundlich an und nickte aufmunternd.

Einer der Männer klopfte in gespielter Fahrigkeit seine Manteltaschen ab.

»Ach, Mist. Äh … Muss ich in der Eile heute Morgen zu Hause vergessen haben.«

»Paragraph Zwei Regel Eins der Satzung der Diebesgilde besagt, dass Mitglieder bei der Ausübung ihres Berufs ihre Ausweise stets mit sich zu führen haben«, zitierte Karotte.

»Er hat nicht mal sein Schwert gezogen!«, zischte der Dümmste der Dreierbande.

»Braucht er auch nicht. Er hat einen geladenen Wolf dabei.«

* * *

Jemand schrieb im Dämmerlicht. Nur das Kratzen der Feder war zu hören.

Bis sich knarrend eine Tür öffnete.

Schnell wie ein Vogel drehte sich der Schreibende um. »Du? Hab ich dir nicht gesagt, dass du dich hier nie wieder blicken lassen sollst!«

»Ich weiß, ich weiß. Aber es geht um dieses verdammte Ding! Das Fertigungsband ist stehengeblieben, da ist es abgehauen und hat einen Priester umgebracht!«

»Hat es jemand gesehen?«

»Bei dem Nebel letzte Nacht? Ich glaube nicht, aber …«

»Dann ist es also, ah-ha, nicht von Bedeutung.«

»Nicht? Eigentlich dürfen sie Menschen nicht umbringen. Na ja … das heißt … jedenfalls nicht, indem sie ihnen den Schädel einschlagen«, räumte der Sprecher ein.

»Mit den entsprechenden Anweisungen schon.«

»Ich habe ihm das nicht angewiesen! Und wenn er … es sich jetzt gegen mich wendet?«

»Gegen seinen Meister? Es kann sich nicht gegen die Worte in seinem Kopf wenden, Mann.«

Der Besucher setzte sich und schüttelte den Kopf. »Schon. Aber welche Worte? Also ich weiß nicht, das wird mir allmählich zu viel, ständig mit diesem verdammten Ding um mich herum …«

»Das dir einen fetten Profit beschert …«

»Ja, schon, aber dieses andere Zeug, dieses Gift, ich hätte niemals …«

»Sei still! Wir sehen uns heute Abend. Du kannst den anderen sagen, dass ich sehr wahrscheinlich einen Kandidaten habe. Und wenn du dich jemals wieder hierherwagst …«

* * *

Das Königliche Wappenamt erwies sich als grünes Tor in einer Mauer in der Mumpitzstraße. Mumm zog an der Klingel. Auf der anderen Mauerseite schepperte etwas, und von einem Augenblick auf den anderen brach ein wahres Tohuwabohu aus Heulen, Knurren, Pfeifen und Trompeten aus.

Eine Stimme rief: »Platz, mein Lieber! Hinlegen! Hinlegen, hab ich gesagt! Nein! Nicht so wild! Dann gibt’s auch ein Zuckerle! Ja, braver Junge. William! Hör sofort damit auf! Leg ihn wieder hin! Mildred, lass sofort Graham los!«

Der tierische Lärm beruhigte sich etwas, Schritte näherten sich. Im großen Tor öffnete sich eine kleine Klappe einen Spaltbreit.

Mumm erhaschte einen sehr begrenzten Blick auf einen sehr kleinen Mann.

»Ja? Sind Sie der Mann mit dem Fleisch?«

»Kommandeur Mumm«, erwiderte Mumm. »Ich habe einen Termin.«

Der Tierlärm wurde wieder lauter. »Hä?«

»Kommandeur Mumm!«, rief Mumm.

»Oh. Dann kommen Sie wohl besser rein.« Das Tor schwang auf. Mumm trat ein. Es wurde schlagartig still. Mehrere Dutzend Augenpaare musterten ihn ausgesprochen misstrauisch. Manche Augen waren klein und rot. Andere waren groß und spähten nur ganz knapp über der Oberfläche aus dem schlammigen Tümpel heraus, der einen Großteil des Hofes ausmachte. Wieder andere hockten auf Sitzstangen.

Der ganze Hof war voller Tiere, aber selbst die wurden fast von dem überwältigen Gestank beiseitegedrängt, den ein Hof voller Tiere produzierte. Die meisten waren augenscheinlich schon sehr alt, was den Gestank nicht unbedingt verbesserte.

Ein zahnloser Löwe gähnte Mumm an. Ein frei umherstreifender Löwe oder zumindest einer, der frei herumlungerte, war an sich schon sehr erstaunlich, aber nicht so erstaunlich wie die Tatsache, dass er von einem betagten Greif als Ruhekissen benutzt wurde. Von einem betagten Greif wohlgemerkt, der alle vier Krallen in die Luft streckte und tief und fest schlief.

Mumm sah Igel, ergraute Leoparden und Pelikane in der Mauser. Aus dem grünlichen Wasser des Tümpels tauchten ein paar Flusspferde auf und gähnten. Keines der Tiere befand sich in einem Käfig, und keines versuchte, eins von den anderen aufzufressen.

»Ja, beim ersten Mal sind die Leute immer ganz ergriffen«, sagte der alte Mann. Er hatte ein Holzbein. »Wir sind hier eine recht glückliche kleine Familie.«

Mumm drehte sich um und erblickte eine kleine Eule. »Bei den Göttern«, sagte er. »Ist das ein Morpork? Ein Kuckuckskauz?«

Das Gesicht des alten Mannes verzog sich zu einem glücklichen Lächeln. »Ah, wie ich sehe, versteht Ihr was von Wappenkunde«, krächzte er. »Daphnes Vorfahren kamen von irgendwelchen Inseln auf der anderen Seite der Nabe hierher zu uns.«

Mumm zog seine Dienstmarke von der Stadtwache hervor und betrachtete das eingeprägte Wappen.

Der alte Mann sah ihm über die Schulter. »Das ist natürlich nicht Daphne«, sagte er und zeigte auf die auf dem Ankh hockende Eule, »sondern ihre Urgroßmutter Olivia. Ein Morpork auf einem Ankh, versteht Ihr? Das ist ein Witz aus Wörtern, ein Wortspiel. Ich hätte fast lachen müssen. Aber viel lustiger wird es hier nicht. Ehrlich gesagt bräuchten wir dringend einen Partner für sie. Und ein Flusspferdweibchen wäre auch gut. Seine Lordschaft behauptet immer, wir hätten doch bereits zwei Flusspferde, was nicht ganz falsch ist. Ich sage nur, dass es unnatürlich für Roderich und Kimbert ist, ohne mir damit irgendein Urteil zu erlauben, aber richtig ist es nicht, mehr sage ich nicht. Wie war noch gleich der werte Name?«

»Mumm. Sir Samuel Mumm. Meine Frau hat einen Termin vereinbart.«

»Ha, so ist es meistens«, kicherte der alte Mann.

Dann führte er Mumm mit einer für sein Holzbein erstaunlichen Geschwindigkeit durch die dampfenden Multispezies-Häufchen zu dem Gebäude auf der anderen Hofseite.

»Ist wahrscheinlich nicht schlecht für den Garten«, sagte Mumm, um etwas zu sagen.

»Ich hab was davon an meinen Rhabarber getan«, erwiderte der Alte und schob eine Tür auf. »Der wurde zwanzig Fuß hoch und hat sich dann ganz spontan entzündet. Aufpassen, dort hat der Lindwurm hingemacht, er ist krank – oha, zu spät. Ist aber nicht so schlimm, das lässt sich wieder abkratzen, wenn’s getrocknet ist. So, herein mit Euch.«

Drinnen war es so still und dunkel, wie es im Hof lichtdurchflutet und laut gewesen war. Der trockene Grabsteingeruch nach alten Büchern und Kirchtürmen lag in der Luft. Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, bemerkte Mumm überall herabhängende Flaggen und Banner. Es gab zwar mehrere Fenster, doch die Spinnweben und die toten Fliegen färbten das bisschen Licht, das sie hindurchließen, matt und grau.

Der Alte schloss die Tür und ließ Mumm allein. Der sah ihm durch eines der Fenster zu, wie er wieder zurückhumpelte, um sich wieder mit dem zu beschäftigen, womit er vor Mumms Erscheinen beschäftigt gewesen war.

Er hatte gerade versucht, ein lebendes Wappen zusammenzustellen.

Auf ein großes Schild waren Kohlköpfe genagelt, echte Kohlköpfe. Der alte Mann sagte etwas, was Mumm nicht hören konnte. Die kleine Eule flatterte von ihrer Stange und landete auf einem großen Ankh, das auf die Oberkante des Schildes geleimt war. Die beiden Flusspferde wälzten sich aus ihrem Teich und stellten sich links und rechts neben dem Schild auf.

Davor baute der alte Mann eine Staffelei auf, stellte eine Leinwand darauf, nahm eine Palette und einen Pinsel in die Hand und rief laut: »Allez hopp!«

Die Flusspferde stellten sich ziemlich arthritisch auf die Hinterbeine, und die Eule breitete die Flügel aus.

»Bei allen Göttern«, murmelte Mumm. »Ich dachte immer, das hätte jemand frei erfunden!«

»Frei erfunden, der Herr? Frei erfunden?«, sagte eine Stimme hinter ihm. »Wenn wir einfach nur frei erfinden würden, hätten wir schon bald einen Riesenärger am Hals! Um Himmels willen, nein, wir erfinden nichts!«

Mumm drehte sich um. Hinter ihm war ein zweiter kleiner alter Mann erschienen, der vergnügt durch dicke Brillengläser zwinkerte. Unter einem Arm klemmten mehrere Schriftrollen.

»Tut mir leid, dass ich Sie nicht am Tor empfangen konnte, aber wir haben momentan schrecklich viel zu tun«, sagte er und streckte Mumm die freie Hand entgegen. »Croissant Rouge Pursuivant.«

»Äh … Sie sind ein kleines rotes Frühstücksbrötchen?«, erkundigte sich Mumm verdutzt.

»Nein, nein. Nein. Es bedeutet Unterherold Roter Halbmond. Das ist mein Titel. Ein sehr alter Titel. Ich bin ein Wappenherold. Und Sie müssen Sir Samuel Mumm sein, stimmt’s?«

»Stimmt.«

Roter Halbmond schaute auf einer Schriftrolle nach. »Schön. Gut. Wie stehen Sie zu Wieseln?«, fragte er.

»Wieseln?«

»Wir haben nämlich ein paar Wiesel. Sie sind streng genommen keine heraldischen Tiere, ich weiß, aber wir haben gerade welche im Bestand, und ehrlich gesagt glaube ich, dass wir uns von ihnen trennen müssen, wenn wir nicht jemanden dazu überreden können, sie zu übernehmen, was wieder Pardessus Chatain Pursuivant sehr verärgern würde. Er schließt sich immer in seinem Schuppen ein, wenn er sich zu sehr aufregt …«

»Pardessus … Sie meinen den alten Mann da draußen?«, fragte Mumm. »Warum macht er … also … Ich dachte immer … dass so ein Wappen einfach nur ein künstlerischer Entwurf ist. Sie müssen es doch nicht nach der Natur malen!«

Roter Halbmond sah ihn schockiert an. »Na ja, wenn man aus dem Ganzen lediglich eine Farce machen will, kann man natürlich alles einfach frei erfinden. Klar, das ginge auch«, sagte er. »Aber egal … also keine Wiesel?«

»Ich persönlich hätte ja kein Problem damit«, antwortete Mumm, »schon gar nicht mit einem Wiesel. Aber meine Frau meinte, dass Drachen eher …«

»Dazu wird es zum Glück nicht kommen«, meldete sich eine Stimme aus der Dunkelheit.

Es war eine Stimme, die man bei keiner Beleuchtung gerne vernehmen mochte. Sie war staubtrocken und hörte sich an, als entwiche sie einem Mund, der sich nie auch nur eines einzigen Tropfens Speichel erfreut hatte. Sie klang tot.

Das war sie auch.

* * *

Die Diebe vor der Bäckerei wägten ihre Möglichkeiten ab.

»Ich hab den Finger am Abzug meiner Armbrust«, flüsterte der Unternehmungslustigste der drei.

Der Realistischste sagte: »Im Ernst? Ich hab mein Herz in der Hose.«

»Uuh«, flüsterte der Dritte. »Also ich hab ein schwaches Herz …«

»Schön, aber ich sage nur, dass er nicht mal ein Schwert trägt. Wenn ich den Wolf übernehme, müsstet ihr zwei doch problemlos mit ihm fertigwerden.«

Derjenige, der ein bisschen wirklichkeitsnäher denken konnte, schielte zu Hauptmann Karotte hinüber. Seine Rüstung schimmerte. Ebenso wie die Muskeln an seinen nackten Armen. Sogar seine Knie glänzten.

»Sieht mir ganz so aus, als hätten wir uns ein bisschen festgefahren. Als steckten wir in einer Sackgasse«, sagte Hauptmann Karotte.

»Wie wär’s, wenn wir das Geld einfach runterwerfen?«, fragte der Klardenker.

»Das würde die Sache sicherlich vereinfachen.«

»Und Sie lassen uns gehen?«

»Nein. Aber es wird zu euren Gunsten ausgelegt, und ich lege dann bestimmt ein gutes Wort für euch ein.«

Der Kecke mit der Armbrust fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und ließ den Blick von Karotte zu dem Wolf wandern. »Wenn Sie den auf uns hetzen, muss jemand dran glauben, ich warne Sie!«, sagte er warnend.

»Das könnte durchaus passieren«, erwiderte Karotte traurig. »Deshalb würde ich es gern vermeiden.«

Er hob die Hände. In jeder Hand befand sich etwas Flaches, Rundes von ungefähr sechs Zoll Durchmesser. »Das hier«, sagte er, »ist Zwergenbrot. Von Herrn Eisenkrustes allerbester Sorte. Es ist natürlich kein klassisches Kampfbrot, aber es dürfte wohl reichen, um etwas in Scheiben zu schneiden …«

Karottes Arm wurde unscharf. Sägespäne stoben auf, und der flache Laib bohrte sich tief in eine dicke Holzstrebe des Karrens, ungefähr einen halben Zoll von dem Mann mit dem schwachen Herzen entfernt. Wie sich jetzt herausstellte, hatte er auch eine schwache Blase.

Der Mann mit der Armbrust löste seine Aufmerksamkeit erst dann von dem Brot, als er einen sanften, feuchten Druck rings um sein Handgelenk verspürte.

Dieses verdammte Vieh hatte sich unmöglich so schnell bewegen können! Trotzdem war der Wolf jetzt da und vermittelte ihm den so gelassenen wie unmissverständlichen Eindruck, dass er den Druck ganz nach Belieben sozusagen endlos verstärken könnte.

»Rufen Sie ihn zurück!«, sagte der Mann und warf mit der freien Hand den Bogen von sich. »Befehlen Sie ihm, er soll loslassen!«

»Nein. Ich befehle ihr nie etwas«, erwiderte Karotte. »Sie hat ihren eigenen Willen.«

Das Poltern eisenbeschlagener Stiefel wurde laut, und ein halbes Dutzend mit Äxten bewaffneter Zwerge stürmte aus der Bäckerei. Als sie neben Karotte abbremsten, stoben Funken aus dem Pflaster.

»Schnappt sie euch!«, rief Herr Eisenkruste. Karotte ließ eine Hand auf den Helm des Zwergs fallen und drehte ihn mitsamt dem Träger darunter zu sich um.

»Ich bin’s, Herr Eisenkruste«, sagte er. »Dann sind das wohl die besagten Männer?«

»Allerdings, Hauptmann Karotte«, antwortete der Zwergenbäcker. »Los, Jungs! Die hängen wir am bura’zak-ka3 auf!«

»Uuh«, jammerte der mit dem schwachen Herzen ziemlich feucht.

»Immer schön langsam, Herr Eisenkruste«, sagte Karotte geduldig. »So was ist in Ankh-Morpork nicht üblich.«4

»Sie haben Björn Kneifhose bewusstlos geschlagen. Und sie haben Olaf Starkimarm in die bad’dhakz5 getreten! Denen schneiden wir die …«

»Herr Eisenkruste!«

Der Zwergenbäcker zögerte und machte dann, zum großen Erstaunen und der nicht minder großen Erleichterung der Diebe, einen Schritt zurück. »Ja … na gut, Hauptmann Karotte. Wenn Sie meinen.«

»Ich habe noch woanders was zu erledigen, deshalb wäre ich sehr dankbar, wenn Sie die drei Spießgesellen der Diebesgilde übergeben würden«, sagte Karotte.

Der Schnelldenker wurde blass. »Nein, bitte nicht! Die spaßen nicht, wenn es um Diebstahl ohne Lizenz geht! Alles andere, nur nicht die Diebesgilde!«

Karotte wandte sich um. Das Licht spielte auf eine ganz besondere Weise auf seinem Gesicht. »Alles andere?«

Die unlizenzierten Diebe sahen einander an, dann redeten sie alle auf einmal.

»Die Diebesgilde. Einverstanden. Kein Problem.«

»Wir sind große Freunde der Diebesgilde.«

»Kann’s kaum erwarten. Gilde, wir kommen!«

»Feine Leute sind das.«

»Hart, aber herzlich.«

»Gut«, sagte Karotte. »Dann sind ja alle zufrieden. Ach ja.« Er suchte in seinem Geldbeutel. »Hier sind fünf Pennys für das Brot, Herr Eisenkruste. Das andere hab ich zwar auch benutzt, aber Sie können es bestimmt problemlos abschleifen.«

Der Zwerg sah die Münzen ungläubig an. »Sie wollen mich dafür bezahlen, dass Sie mir mein Geld gerettet haben?«

»Als ehrlicher Steuerzahler haben Sie ein Recht auf Schutz durch die Wache«, sagte Karotte.

Eine unangenehme Pause entstand. Herr Eisenkruste starrte auf seine Schuhspitzen. Ein oder zwei der anderen Zwergen fingen zu kichern an.

»Vorschlag zur Güte«, sagte Karotte mit freundlicher Stimme. »Wenn ich mal ein bisschen Zeit habe, komme ich vorbei und helfe Ihnen, die Formulare auszufüllen. Was halten Sie davon?«

Die peinliche Stille wurde schließlich von einem der Diebe unterbrochen: »Äh … wenn vielleicht … Ihr kleines Hündchen hier … meinen Arm wieder loslassen könnte?«

Der Wolf gab den Arm frei, sprang von der Kutsche und tapste zu Karotte, der grüßend die Hand zum Helm hob.

»Schönen Tag noch zusammen«, sagte er und schlenderte davon.

Die Diebe und ihre Opfer sahen ihm nach.

»Kneif mich mal«, sagte der Schnelldenker.

Der Bäcker stieß ein Knurren aus, dann rief er: »Ihr elenden Sauhunde! Ihr Sauhunde!«

»Was … was haben Sie denn? Sie haben Ihr Geld doch wieder, oder nicht?«

Zwei seiner Angestellten mussten Herrn Eisenkruste festhalten.

»Drei Jahre!«, schrie er. »Drei Jahre lang hat es keinen gejuckt! Drei verdammte Jahre, und es hat nicht mal einer an die Tür geklopft! Aber er muss natürlich davon anfangen! Und ganz nett und freundlich obendrein! Wahrscheinlich bringt er mir die richtigen Formulare noch persönlich vorbei, dabei es mir keine Umstände macht! Warum seid ihr Trottel nicht einfach weggerannt?«

* * *

Mumm spähte in den dunklen, muffigen Raum. Die Stimme hätte ohne Weiteres aus einem Grab kommen können.

Ein Anflug von Panik huschte über das Gesicht des kleinen Herolds. »Vielleicht wäre Sir Samuel so freundlich, hier herüberzukommen?«, sagte die Stimme. Sie klang frostig und sprach jede Silbe mit äußerster Präzision aus. Eine Stimme, die nicht blinzelte.

»Das ist unser, äh … Dragon«, sagte Roter Halbmond.

Mumm griff zum Schwert.

»Dragon Wappenkönig«, ergänzte der Mann.

»Wappenkönig?«, fragte Mumm.

»Ist bloß ein Titel«, sagte die Stimme. »Bitte, treten Sie doch näher.«

Aus irgendeinem Grund klangen die Worte in Mumms Hinterkopf verdächtig nach: »Beute, treten Sie doch näher«.

»König der Wappen«, sagte Dragons Stimme, als Mumm das Zwielicht des Allerheiligsten betrat. »Ihr Schwert brauchen Sie hier nicht, Kommandeur Mumm. Ich bin zwar schon seit über fünfhundert Jahren Dragon Wappenkönig, aber ich speie kein Feuer. Versprochen, ah-ha, ah-ha.«

»Aha«, wiederholte Mumm. Er konnte die Gestalt nicht genau ausmachen. Das wenige Licht kam von ein paar sehr hohen und schmuddeligen Fenstern und den schwarzumrandeten Flammen mehrerer Dutzend Kerzen. Womöglich hatte die Gestalt vor ihm einen leichten Buckel.

»Bitte setzen Sie sich doch«, sagte Dragon Wappenkönig. »Außerdem wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie den Kopf nach links drehen und das Kinn anheben würden.«

»Und den Hals freilegen, meinen Sie?«, erkundigte sich Mumm.

»Ah-ha. Ah-ha.«

Die Gestalt nahm einen Kerzenleuchter und kam näher. Eine Hand, so dürr wie die eines Skeletts, packte Mumms Kinn und schob es sanft hin und her.

»Ah, ja. Sie haben eindeutig das Mumm-Profil. Aber nicht die Mumm-Ohren. Kein Wunder, denn Ihre Großmutter mütterlicherseits war eine gebürtige Kluppe. Ah-ha …«

Die Mumm-Hand legte sich wieder auf das Mumm-Schwert. Es gab nur eine Sorte Wesen, die in einem scheinbar so gebrechlichen Körper so viel Kraft hatte.

»Hab ich mir’s doch gleich gedacht! Sie sind tatsächlich ein Vampir!«, sagte er. »Ein elender Blutsauger!«