Hollywell Hearts - Der Strickladen am Meer - Jennifer Wellen - E-Book + Hörbuch

Hollywell Hearts - Der Strickladen am Meer Hörbuch

Jennifer Wellen

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Beschreibung

Single-Mum trifft Kleinstadt-Arzt zum Verlieben Mit ihrem Umzug nach Hollywell Heaven will Grace ihrer kleinen Tochter ein ganz neues Leben bieten, frei von Schatten und dunklen Erinnerungen. Sie träumt davon, einen Strickladen zu eröffnen und regionale Produkte aus Ziegenwolle anzubieten. Das kleine leerstehende Cottage am Meer scheint dafür geradewegs perfekt. Doch um das Haus zu bekommen, muss Grace an einem irrwitzigen Wettbewerb teilnehmen. Die Konkurrenz scheint mit allen Wassern gewaschen – hat Grace mit ihren Ideen für Häkelkurse und nachhaltige Babykleidung da noch eine Chance? Zumal der verflixt attraktive Neffe der alten Hausbesitzerin sie ständig aus dem Konzept bringt. Denn Elliot ist Arzt und mit Weißkitteln wollte Grace nie wieder etwas zu tun haben … Der warmherzige dritte Band der Cornwall-Reihe, in der jeder Roman unabhängig gelesen werden kann. Cosy Romance für alle Fans von Jenny Colgan und Susanne Oswald!

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Zeit:12 Std. 8 min

Sprecher:Lisa Rauen
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Über dieses Buch:

Mit ihrem Umzug nach Hollywell Heaven will Grace ihrer kleinen Tochter ein ganz neues Leben bieten, frei von Schatten und dunklen Erinnerungen. Sie träumt davon, einen Strickladen zu eröffnen und regionale Produkte aus Ziegenwolle anzubieten. Das kleine leerstehende Cottage am Meer scheint dafür geradewegs perfekt. Doch um das Haus zu bekommen, muss Grace an einem irrwitzigen Wettbewerb teilnehmen. Die Konkurrenz scheint mit allen Wassern gewaschen – hat Grace mit ihren Ideen für Häkelkurse und nachhaltige Babykleidung da noch eine Chance? Zumal der verflixt attraktive Neffe der alten Hausbesitzerin sie ständig aus dem Konzept bringt. Denn Elliot ist Arzt und mit Weißkitteln wollte Grace nie wieder etwas zu tun haben …

Über die Autorin:

Jennifer Wellen lebt mit ihrer Familie im Ruhrgebiet und arbeitet als Dozentin im Pflegebereich. Wenn sie neben ihrer Tochter, den drei Katzen und ihrem Hund noch Zeit findet, schreibt sie mit Begeisterung witzige Romane für Frauen, die wissen, wie das Leben spielt.

Die Autorin im Internet:

www.jenniferwellen.com

www.instagram.com/jenniferwellen_autorin/

Ihre »Hollywell Hearts«-Reihe erscheint bei dotbooks im eBook und bei Saga Egmont als Printausgaben und Hörbücher:

»Hollywell Hearts – Die kleine Farm am Meer«

»Hollywell Hearts – Die Glückspension am Meer«

»Hollywell Hearts – Der Strickladen am Meer«

Ihr Roman »Drei Küsse für ein Cottage« erscheint bei dotbooks als eBook- und Printausgabe und bei Saga Egmont als Hörbuch.

Ihre »Schottische Herzen«-Trilogie ist bei dotbooks im eBook erhältlich und bei Saga Egmont im Hörbuch:

»Das Rosencottage am Meer«

»Das Veilchencottage am Meer«

»Das Magnoliencottage am Meer«

Bei dotbooks veröffentlichte Jennifer Wellen auch ihre Liebesromane »Honigkuchentage«, »Sternschnuppenwünsche« und »Kiss me like a Star«.

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Originalausgabe November 2024

Copyright © der Originalausgabe 2024 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Redaktion: Katrin Scheiding

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-98952-406-4

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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!

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Jennifer Wellen

Hollywell HeartsDer Strickladen am Meer

Roman

dotbooks.

Kapitel 1Grace – Wenn dir das Leben Zitronen gibt, mach Limonade draus

Lynda Gow sah aus wie eine weiße Klobürste. Eine explodierte wohlgemerkt. Jetzt wusste ich auch, warum die Fernsehserie Tüll und Tränen hieß.

Kopfschüttelnd ließ ich meinen Blick über den Rest des Brautkleides huschen. Schrecklich war noch ein harmloser Ausdruck für dieses Monstrum aus Rüschen und Stofflagen. Wer bitte hatte ihr dazu geraten? Grandma?

»Hast du die Riesenschleife auf ihrem Hintern gesehen? Sieht doch aus wie ein Propeller, oder?«, flüsterte mir meine Mutter ins Ohr.

Nun musste ich ein Kichern unterdrücken. »Wer weiß, vielleicht will sie ja damit in die Flitterwochen fliegen.« Im Gegensatz zu mir lachte Mom unverhohlen auf, was ihr einen strafenden Blick von Dad und Tante Marie aus der Sitzreihe vor uns einbrachte.

Auch wenn das Geläster über Lyndas Kleid nicht wirklich nett war, so war es das erste Mal seit Monaten, dass ich wenigstens etwas wie Belustigung empfand. Seit Joes Tod waren düstere Gedanken an der Tagesordnung gewesen und zum ersten Mal konnte ich sie ein wenig beiseite drängen. Wenn auch auf Kosten anderer – sprich Lynda.

»Ganz ehrlich? Da hat mir dein Kleid aber tausendmal besser gefallen.« Autsch. Mitten ins Herz.

Im Bruchteil einer Sekunde japste meine Mutter auf. »O mein Gott, Gracie-Schatz, tut mir leid. Ich hab einfach nicht nachgedacht.« Das wusste ich natürlich. Auch, wie schwer es den meisten Leuten fiel, nichts zu sagen, was mich an meinen verstorbenen Mann erinnerte. Dennoch tat es weh. Sehr sogar, und dies, obwohl sich bereits der erste Jahrestag seines Todes näherte.

Ich seufzte auf und griff zu Moms Hand, um sie aufmunternd zu drücken. Ihr konnte ich noch am allerwenigsten böse sein. Sie war die ganze Zeit für mich und Charly dagewesen. »Alles gut, Mom. Es wird Zeit für mich, endlich damit klarzukommen.« Auch wenn ich noch nicht wusste, wie. Alles erinnerte mich doch an Joe. Unser Haus in Notting Hill, das wir gekauft, renoviert und zu unserem Zuhause gemacht hatten; der Einkaufsladen um die Ecke, wo wir einst mit den Einkaufswagen zusammengerappelt waren und damit den Grundstein für unsere Liebe gelegt hatten; selbst die Krönung eines jeden Pärchens – der Nachwuchs – erinnerte mich jeden Tag an den Mann, den ich mehr als mein Leben geliebt und geehrt hatte. Charly hatte genau dieselben braunen Augen und das aschblonde Haar wie Joe. Jedes Mal, wenn ich die Kleine ansah, sah ich ihn.

In diesem Moment musste ich schwer schlucken und hastig die aufkommenden Tränen wegblinzeln. Ich wollte nicht heulen. Nicht jetzt. Nicht hier und schon gar nicht heute. Heute war ein Freudentag. Immerhin heiratete meine Cousine. Verdammt!

»Und? Glaubst du, sie kriegt im letzten Moment noch die Kurve und sagt Nein?«, krächzte ich, um die aufkommende Verzweiflung zu überspielen.

»Also ich hätte eher den attraktiven Trauzeugen genommen. Mortimer hat schon einen ganz ordentlichen Hubschrauberlandeplatz bekommen, was?« Mom zwinkerte mir zu. Es war nur ein kurzer Blickkontakt, doch dieser genügte, dass meine Mutter den Arm um meine Schultern legte und mich mit ernstem Gesichtsausdruck zu sich heranzog. »Du weißt doch, Schatz, hinter allem, was uns so passiert, steckt ein Sinn. Auch wenn wir ihn nicht immer sofort entdecken.« Ich bettete seufzend meinen Kopf auf ihre Schulter und sah wieder nach vorn zum Altar, wo Lynda ihrem Mortimer gerade das Ja-Wort gab. »Dein Wort in Gottes Ohr, Mom«, flüsterte ich. Denn bis jetzt machte nichts um Joes Tod Sinn für mich.

***

Eine Stunde später befanden wir uns alle im Festzelt an unseren zugewiesenen Plätzen. Ich saß wie vermutet am Singletisch, einen Witwentisch gab es wohl nicht, während meine Eltern am Tisch von Lyndas Eltern Platz genommen hatten. Mit gefüllten Sektgläsern prosteten wir alle dem frisch vermählten Ehepaar zu, das am Kopf einer pompös geschmückten Tafel thronte. Danach kam, wie vermutet, eine Reihe von langweiligen Reden, denen ich jedoch nur halbherzig folgte. Unterdessen huschte mein Blick von Tisch zu Tisch, und ich musterte ausführlich die Gäste. Angefangen bei unserem, an dem fünf Leuten saßen. Drei Frauen und zwei junge Männer. Alle ignorierten mich, wahrscheinlich, weil sie meine Vergangenheit kannten und nicht ins Fettnäpfchen treten wollten. Was mir in diesem Moment aber ziemlich recht war, denn mir war sowieso eher nach Alkohol anstatt einer guten Unterhaltung. Vielleicht hätte ich auch auf mein Bauchgefühl hören und gar nicht erst zur Hochzeit kommen sollen. Aber Lynda hatte mich förmlich angefleht und ich schlussendlich zugesagt. Immerhin konnte ich mich nicht für den Rest meines Lebens verstecken. Oder?

Verlegen trank ich einen Schluck Sekt. Mein Blick huschte derweil einfach weiter. Die Leute an den folgenden Tischen kannte ich, da sie zur buckeligen Verwandtschaft gehörten. Darunter entfernte Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen diverser Grade. Grandma Aberton, die Mutter meines Vaters, war wirklich fleißig gewesen. Sie hatte neun Kinder geboren und großgezogen, die wiederum sehr viele Kinder und Enkelkinder produziert hatten. Somit füllten die Abertons nun fast allein den größten Konferenzsaal des Millennium Gloucester Hotels hier in Kensington aus. Dad war als Einziger ein wenig aus der Reihe getanzt. Er und Mom hatten tatsächlich nur mich bekommen.

Apropos Grandma … Mit ihrem Gehstock zwischen den Beinen hockte das Familienoberhaupt wie ein Fels in der Brandung am Brauttisch und ließ den ernsten Blick über ihr familiäres Gefolge wandern. Mittlerweile war sie über 90 und hatte vor zwei Jahren Grandpa zu Grabe tragen müssen, es sich jedoch nicht eine Sekunde anmerken lassen. Weder war eine Träne geflossen noch hatte sie ihre erhabene Körperhaltung geändert. Ich dagegen war bei Joes Beerdigung am Grab zusammengebrochen.

Um nicht wieder daran denken zu müssen, sah ich mich hastig weiter um. An einem Tisch blieb mein neugieriger Blick schließlich hängen. Dort waren überwiegend Pärchen in meinem Alter zu sehen, die aber definitiv nicht zur Familie gehörten, weil ich sie nicht kannte. Vielleicht waren es Arbeitskollegen oder Freunde von Mortimer und Lynda. Wie auch immer. Ein Pärchen stach besonders heraus, weil sie an seinem Arm hing und ihn anhimmelte, als sei er Jason Momoa, der sexy Aquaman-Darsteller, höchstpersönlich. Seine Haare waren allerdings kurz und dunkel und seine Figur eher schlank durchtrainiert. Und obwohl er gerade lachte, sah er alles andere als amüsiert aus. Das Lachen erreichte nämlich seine Augen nicht.

Die einsetzende Musik beendete schließlich die langweiligen Reden und meine Gästemusterung. Lynda und Mortimer begannen ihren ersten Tanz als Ehepaar. Nach und nach stürmten schließlich auch alle anderen die Tanzfläche. Ich leerte stattdessen mein Glas und tauschte es bei einem vorbeilaufenden Kellner gegen ein volles neues aus. In diesem Moment sah ich, wie Grandma Aberton sich hochquälte und zu mir an den Tisch kam. Ächzend ließ sie sich auf den Stuhl neben mir fallen.

»Gracie-Darling, wie schön, dich zu sehen.«

Ich lächelte ihr verhalten zu. »Hey, Grandma, schön, auch dich zu sehen.« Das letzte Mal war auf Joes Beerdigung gewesen.

Sie nickte. »Was macht Charlotte? Du hast sie heute ja gar nicht mitgebracht.« Auch das fand ich faszinierend. Jeder andere verlor den Überblick bei der Menge an Familienmitgliedern. Jedes Mal bei Feiern hatte ich Joe erklären müssen, wer zu wem gehörte. Und selbst ich musste dazu manchmal noch bei meinen Eltern nachfragen. Grandma Aberton dagegen kannte jeden. Sie wusste genau, wie wer hieß, wann wer Geburtstag hatte und was wer beruflich machte. Vermutlich kannte sie sogar Kontostände und Schuhgrößen. Ihr Verstand war somit trotz der 90 scharf wie ein Rasiermesser.

»Ich hab Charly lieber bei einer Freundin gelassen. Sie kränkelt schon wieder, weißt du?« Mein Kind spürte meine Trauer mit jeder Faser seines Körpers mit. Aber im Gegensatz zu mir, die sich jeden Abend in den Schlaf heulte, wurde Charly ständig krank. Die Ärzte schoben ihre Anfälligkeit auf ein schlechtes Immunsystem bedingt durch den seelischen Stress.

Grandma nickte beipflichtend. »Da würde ich sie dann auch nicht einer Schar von Verwandten aussetzen wollen, die das süße Kind durchknuddeln.« Sie sah mich an und ihr Lächeln verschwand. »Und wie geht es dir?«

Die Art und Weise, wie sie die Worte betonte, deutete mir die Ernsthaftigkeit hinter der Frage an. Da ich vor Grandma aber nicht in Tränen ausbrechen wollte, straffte ich die Schultern und schob das Kinn vor.

»Sagen wir so, es wird von Tag zu Tag besser.«

Grandma seufzte leise auf. »Und wie geht es dir wirklich?«

Für einen Moment hielten sich unsere Blicke fest, dann senkte ich meinen und sah zu dem Sektglas, an dem ich mich die ganze Zeit über schon krampfhaft festgehalten hatte. »Frag besser nicht«, flüsterte ich. »Ich habe das Gefühl, meine Welt hat aufgehört zu existieren.«

Nicht heulen, Grace!

»Immer noch so schlimm?« Grandma griff nach meiner Hand und drückte sie. »Der Verlust eines geliebten Menschen ist immer schwer, Grace. Aber wenn dir das Leben Zitronen gibt, dann mach Limonade draus.«

Verdutzt sah ich hoch. »Ähm … was soll mir das jetzt sagen?«

Sie lächelte. »So wie ich es gesagt habe, wenn dir das Leben Zitronen gibt, mach Limonade draus. Zitronenlimonade, du verstehst?«

»Ähm … okay?« Meinte sie das wirklich ernst? Verglich sie den Tod meines geliebten Mannes tatsächlich gerade mit Zitronen?

Grandma zog ihren Arm weg und stützte sich mit beiden Händen wieder auf ihren Stock. »Wenn ich eines im Leben gelernt habe, Gracie-Darling, dann, dass du das, was dir zustößt, nicht verhindern kannst. Du kannst nur das Beste daraus machen. Vielleicht suchst du dir nun endlich mal einen reichen Mann und genießt das unbeschwerte Leben.«

Das schlug dem Fass doch gerade den Boden aus. Gut, Joe war »nur« Automechaniker gewesen, aber er hatte sich mit einem Freund zusammen selbstständig gemacht und durchaus genügend Geld nach Hause gebracht, um mich und unser Kind mehr als gut zu ernähren sowie das Haus zu finanzieren.

Fassungslos schüttelte ich den Kopf. Dass Grandma recht nüchtern und rational war, wusste ich ja. Aber so kaltschnäuzig hatte ich sie nicht in Erinnerung.

»Grandma, Joe ist erst knapp ein Jahr tot, wie kannst du so etwas nur sagen?«, empörte ich mich. Von hinten rief Lynda nach Grandma.

»Ein Jahr ist durchaus eine angemessene Trauerzeit«, gab sie zurück und quälte sich vom Stuhl hoch. »Danach kann eine Frau sich ruhig wieder auf die Suche nach einem neuen Mann machen.«

Ich schnaubte auf. »Danke, aber ich habe ehrlich gesagt nicht vor, noch mal zu heiraten.« Ich konnte mir nicht einmal vorstellen, auch nur mit einem anderen Mann zusammen zu sein. Joe war immerhin die Liebe meines Lebens gewesen, und die Wahrscheinlichkeit, dass mir dies ein zweites Mal passierte, war doch genauso gering wie ein Lottogewinn.

Grandma legte mir eine Hand auf die Schulter und tätschelte sie. »Nichts für ungut, Gracie-Darling. Charlotte sollte aber nicht ohne ein männliches Vorbild aufwachsen. Und denk auch mal an dich. Jeder braucht doch eine starke Schulter, um sich mal anzulehnen, auch wenn man noch so selbstständig ist.« Daraufhin ging sie rüber zu Lynda. Ich sah ihr erbost nach und kippte den Inhalt meines Sektglases mit einem Zug hinunter. Neuer Mann? Nie im Leben!

***

Zwei Stunden später musste ich erschrocken feststellen, dass ich ganz schön beschwipst war. Nun gut, ich hatte mir drei Gläser Sekt schon vor dem Essen auf nüchternen Magen gegönnt, und der Rotwein zum Filet Mignon hatte dann wohl sein Übriges getan. Zudem wollte die ganze Flüssigkeit wieder raus, weshalb ich mich nach langem Zögern endlich auf den Weg zur Toilette machte, bevor es noch ein Unglück gab. Allerdings gestaltete sich der Weg dahin schwierig. Zu viel Alkohol und Monster-High-Heels erwiesen sich als denkbar ungünstige Kombination. Bei mir ganz besonders, da ich sonst nie High Heels trug. Ich war ja eher der bequem legere Jeans-, Strickpulli- und Sneakers-Typ und hatte mir dieses Paar unbequemer Schuhe nur für die Hochzeit angeschafft. Nicht einmal im nüchternen Zustand konnte ich auf den Dingern gut laufen. Geschweige denn mit mehr als ein Promille Alkohol im Blut. Dennoch eierte ich darauf irgendwie durch den Gang. Kurz vor der Tür mit dem Women-Schild kam es, wie es kommen musste. Ich schwankte leicht zur Seite, verlor dabei das Gleichgewicht und knickte um. In diesem Moment sah ich mich bereits wie ein gefällter Baum auf die Nase fallen und mit dem Kopf die Schwingtür zur Küche aufstemmen. Doch bevor mein Freiflug Richtung Boden abhob, schnappten mich zwei starke Arme von hinten an der Hüfte und hoben mich hoch.

»Vorsicht, junge Frau! Ein Sturz aus dieser Höhe kann lebensgefährlich sein.« Jemand lachte, während ich durch mein schwarzes Etuikleid eine muskulöse Brust an meinem Rücken spürte. Dazu drang ein herbes Aftershave in meine Nase, das mir einen wohligen Schauer über den Rücken laufen ließ. Es klang seltsam, aber diese Situation erinnerte mich sehr an Joe. Wenn ich abends vor dem Badezimmerspiegel gestanden hatte, war er oft von hinten an mich herangetreten, um seine Arme um meine Hüften zu schlingen und zärtlich an meinem Nacken zu knabbern.

Als der Kerl mich vorsichtig absetzte und ich mich zu ihm umwandte, zuckte ich erschrocken zusammen. Es war tatsächlich der Nicht-Jason-Momoa mit dem unechten Lächeln.

»Oh … ähm … danke«, stammelte ich verlegen los. Mein Herz revoltierte ein wenig. Vermutlich vor Aufregung. »Ich kann auf den Dingern echt nicht laufen.«

Er sah abschätzend auf meine Schuhe hinab und schmunzelte. »Nun ja, wenn Ihre Absätze nun mal höher sind als Ihr Alter, wird das eben zum Problem.« Es dauerte ein wenig, bis mein alkoholgetrübtes Gehirn den versteckten Witz verstanden hatte, doch dann musste ich schüchtern grinsen.

»Sie haben recht.« Ich zog mir entschlossen den ersten Schuh aus. Dann den zweiten. Dabei schwankte ich wieder verdächtig. Seine Hände fassten mich an den Armen und stützten mich.

»Ehrlich gesagt, verstehe ich ohnehin nicht, warum Frauen so auf diese riesen Absätze stehen. Nicht nur, dass sie schlecht für die Füße sind, weil sie den Hallux valgus fördern, auch der restliche Bewegungsapparat leidet darunter. Das Becken kippt zu stark ab, die Wirbelsäule gerät ins Hohlkreuz, herrje, ich könnte vermutlich noch hundert weitere Folgeschäden aufzählen.« Er schüttelte unverständig den Kopf. Recht hatte er. Deshalb trug ich ja meist auch nur Sneakers.

Ohne Schuhe war ich leider ein ganzes Stück kleiner als er, so dass ich zu ihm aufschauen musste. »Was bitte ist denn ein Hallux valgus? Eine besondere Form von Fußpilz?« Von Problemen mit der Wirbelsäule oder dem Becken hatte ich schon einiges gehört. Aber von Hallux valgus noch nie.

Mein Retter in der Not runzelte die Stirn und sah mir in die Augen. Sie waren tiefgrün mit kleinen braunen Sprenkeln. Faszinierend. Mein Herz schlug nun etwas aufgeregter.

»Ein Hallux ist eine Hammerzehe. Das ist im Grunde eine Fehlstellung. Tatsächlich sehr häufig bei Frauen zu finden, die zu enge und zu hohe Schuhe tragen.« Er nickte bestätigend. »Aber Sie scheinen eher selten unbequeme Schuhe zu tragen. Sie haben normal geformte Zehen und wirklich sehr schöne Füße, wenn ich bemerken darf.« Mein Blick huschte gemeinsam mit ihm hinab. Außer den rötlichen Abdrücken von den High Heels war wirklich nichts Unansehnliches an meinen Füßen zu sehen. Und zum ersten Mal war ich froh, dass ich mir meine Füße regelmäßig selbst pedikürte.

»Oh … ähm … danke für das Kompliment.« Meine Wangen wurden etwas warm.

»Und jetzt wollen Sie so den ganzen Abend barfuß herumlaufen?« Er richtete seinen Blick wieder auf mich. Ich hob den Kopf und sah ihn an. »Ehrlich gesagt, habe ich vorgebeugt und mir noch flache Ballerinas mitgebracht.«

»Schlau, und unterm Tisch fällt es ohnehin nicht auf.« Im Gegensatz zu vorhin, als ich das Gefühl hatte, sein Lächeln wäre nicht echt gewesen, zeigten mir die auftauchenden Fältchen um seine Augen jetzt etwas anderes. In diesem Moment erinnerte er mich so stark an Joe, dass die Sehnsucht nach ihm ihre Arme nach mir ausstreckte und mich in das Meer des Verlangens zog. Der Alkohol verstärkte dies vermutlich noch exponentiell, und plötzlich kam es einfach über mich.

Es war ein bisschen wie in einem dieser Horrorfilme, wo der Hauptdarsteller trotzdem in den Keller geht, obwohl er von der dortigen Gefahr genau weiß. Auch meine innere Stimme schrie in diesem Moment: Nein, tu das nicht!

Aber zu spät! Meine Arme schlangen sich bereits um seinen Hals und mein Mund suchte seinen. Doch anstatt dass der Kerl mich nun überrascht von sich wegstieß, wie es wohl zu erwarten gewesen wäre, legte er unvermittelt seine Arme um meine Hüfte, zog mich enger an sich heran und erwiderte meinen Kuss, so, als wäre es das Normalste auf der Welt. Mein Herz schlug noch schneller, und in meinem Unterleib machte sich eine quälend süße Erregung breit. Die Tatsache, dass er mir keinen Einhalt gebot, ließ mich auch den letzten Funken Vernunft über Bord werfen. Meine Hände fuhren durch sein kurzes Haar und krallten sich dort fest. Er stöhnte leise auf, was mich tatsächlich anmachte. Als seine Hände zu meinem Po hinabwanderten, um mich ganz fest an sich zu drücken, und ich seine eigene Erregung spürte, entfuhr mir ein zufriedener Seufzer. Ehrlich gesagt, konnte mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal so hemmungslos gewesen war. Die Küsse mit Joe waren immer liebevoll und innig gewesen. Nicht so heiß und leidenschaftlich wie mit dem Unbekannten hier. Und genau weil er unbekannt war, ließ ich mich plötzlich richtig fallen.

Wie lange dort vor der Toilette gestanden und rumgeknutscht hatten, konnte ich im Nachhinein nicht einmal sagen. Nur, dass ich mich am Ende völlig erschrocken und atemlos von ihm löste, da sich jemand neben uns laut und deutlich räusperte. »Ähm … du solltest langsam wieder reinkommen. Gleich wird der Brautstrauß geworfen, und Grandma sagt, du sollst unbedingt dabei sein.« Es war Esther, meine Großcousine, die mir verschmitzt zuzwinkerte. Brautstrauß? Ich? Ich hatte gerade erst meinen Mann verloren. Was dachte sich Grandma nur?

Mein Blick wanderte von Esther zu dem Unbekannten. Sein Haar war völlig verstrubbelt. Er atmete schwer. Meine Lippen brannten. Sah ich womöglich genauso lädiert aus?

In diesem Moment durchfuhr es mich wie der Blitz und ich trat einen Schritt zurück. Dann strich ich mir verlegen die Haare hinter die Ohren. »Okay, ich komme sofort.«

Herrgott, was hatte ich bloß getan? Ich hatte Joe hintergangen. Mit einem wildfremden Kerl auf eine total unangebrachte Art und Weise.

Esther nickte. »Alles klar.« Sie ging weiter und ließ uns allein. Ich war die Erste, die das peinliche Schweigen brach.

»Es … tut mir leid. Ich weiß nicht, was da in mich gefahren ist«, haspelte ich los. Gelogen! Eigentlich wusste ich es genau. Aber ihm nun zu erklären, dass mein Mann vor knapp einem Jahr gestorben war und mir seine Nähe fehlte wie die Luft zum Atmen, würde nicht nur den Rahmen sprengen, sondern mich auch extrem bemitleidenswert erscheinen lassen.

»Du musst dich nicht entschuldigen …«, setzte er zur Erwiderung an, »ich habe ja mitgemacht.« Er lächelte und wollte noch etwas sagen, doch ich unterbrach ihn gleich, indem ich die Hände hob und heftig den Kopf schüttelte. »Stopp, sag bitte nichts mehr. Das alles ist mir nicht nur extrem peinlich, ich verstehe mich auch selbst nicht mehr.« Genau. Wie hatte ich mich bloß einfach einem wildfremden Mann an den Hals werfen können? Und dann auch noch so schamlos?

Er schwieg tatsächlich. Schien vielleicht sogar ein wenig enttäuscht. Deshalb senkte ich peinlich berührt den Blick, drängte mich wortlos an ihm vorbei und lief zurück zu meinem Tisch, um mir meine Jacke und meine Tasche zu schnappen. Ohne mich von irgendjemandem zu verabschieden, nicht einmal von meinen Eltern, verließ ich den Festsaal und nahm mir draußen vor dem Ausgang ein Taxi.

Als ich auf der Rückbank saß und der Fahrer mich nach Notting Hill fuhr, schrie mir das schlechte Gewissen permanent ins Ohr, ich hätte Joe betrogen. Somit wunderte es mich nicht, dass mir die Tränen übers Gesicht liefen. Dabei hatte ich mir fest vorgenommen, heute mal nicht zu heulen!

***

Nachdem ich den Fahrer bezahlt hatte, stieg ich aus und lief auf das kleine frei stehende Einfamilienhaus zu, mit dem Joe mich damals einfach überrascht hatte. Der Fernseher dudelte durchs Fenster, während Charlotte vergnügt die Melodie Unter dem Meer von Arielle mitsang. In mir sträubte sich alles. Eigentlich wollte ich noch nicht nach Hause. Doch so aufgelöst, wie ich war, wusste ich auch nicht, wohin sonst.

Ehe ich hineinging, wischte ich mir hastig die Tränen aus dem Gesicht, lockerte meine Haare auf und atmete ein paarmal tief durch, um mich wieder zu beruhigen. Meine Tochter sollte keinesfalls ihre Mutter so sehen. Ich fand, sie hatte im letzten Jahr ohnehin schon viel zu viele Tränen von mir mitbekommen, und auch für sie wurde es Zeit, die Trauer um ihren Vater hinter sich zu lassen.

Als ich nur Sekunden später unerwartet im Wohnzimmer stand, ruckten zwei Köpfe zu mir herum. Charly überwand ihre Überraschung als Erste, hüpfte von der Couch und kam auf ich zugerannt.

»Mami, habe dich ganz doll misst.« Ich hockte mich mit dem engen Kleid so gut es ging hin und öffnete meine Arme, damit die Kleine sich hineinstürzen konnte. Am liebsten hätte ich ja gleich wieder losgeheult, aber ich schluckte den Kloß herunter und seufzte nur leise auf.

»O mein Schatz, das habe ich auch.« Ich schnappte mir Charly und stand auf. Sie schlang ihre Arme bereits um meinen Hals und drückte so fest zu, wie sie konnte. Diese Geste tröstete mich, auch wenn mir plötzlich wieder der unbekannte Kerl von der Hochzeit in den Sinn kam. Vor nicht mal einer halben Stunde hatte ich meine Arme genauso fest um seinen Hals geschlungen. Und wer weiß, was passiert wäre, wenn Esther uns nicht gestört hätte.

Ava erhob sich nun ebenfalls von der Couch. Sie war extra aus Cornwall angereist, um auf Charly aufzupassen. Und natürlich, um uns mal wieder zu besuchen. Seit sie zu Tamy nach Hollywell gezogen war und dort die Glückspension führte, sahen wir uns viel seltener, was ich sehr bedauerte.

»Was machst du denn schon hier? Es ist gerade mal acht. Hat Lynda womöglich doch noch die Hochzeit platzen lassen?« Sie grinste spitzbübisch.

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, ich hatte nur einfach keine Lust mehr auf das ganze Trara. Das Kleid war der Horror, die Reden langweilig und das Essen so lala.« Hastig drückte ich meinem Kind einen Kuss auf den Scheitel. »Außerdem taten mir die Füße weh, und da habe ich gedacht, ich komme einfach schon nach Hause. Gibt’s noch Eis?« Für den geplanten Babysitter-Filmabend hatte ich im Vorfeld zwei schöne Disneyfilme und jede Menge Süßkram besorgt. Warum also nicht meinen Kummer mit Cookie Dough von Ben und Jerry’s weglöffeln?

Nun runzelte Ava die Stirn. Leider kannte sie mich schon viel zu lange und viel zu gut, um zu wissen, dass die Banalität in meinen Worten nur gespielt war. »Okay, dann wirf dich schnell in bequemere Klamotten, und ich hole in der Zeit das Eis aus dem Gefrierfach.«

Mit einem verhaltenen Lächeln setzte ich Charlotte wieder auf dem Boden ab. »Guck schon mal weiter, Schätzchen. Mami kommt gleich nach.« Das ließ sich die Kleine natürlich nicht zweimal sagen. Sie rannte umgehend zurück und krabbelte auf die Sitzfläche der Couch. Derweil ging ich nach oben und zog mich im Schlafzimmer um.

In Jogginghose, T-Shirt und selbst gestrickten Socken ging ich wenig später wieder hinunter. In der Zwischenzeit hatte Ava tatsächlich das Eis und zwei Löffel herausgeholt. Den Film hatte sie wieder angestellt, damit Charly weitergucken konnte. Faszinierend, wie gebannt kleine Kinder auf die Flimmerkiste starren konnten. Meine Tochter schien dann jedes Mal wie in einer anderen Welt. Im Moment war es die der kleinen rothaarigen Meerjungfrau und ihres Freundes Sebastian.

»Hier ...« Ava hielt mir einen Löffel hin »Jetzt erzähl, warum du wirklich schon zurück bist.«

Für einen Moment sah ich zu Charly, die auf der Couch saß und uns vollkommen ausgeblendet hatte. Dann stützte auch ich mich auf den Tresen, der die Küche vom Wohnzimmer trennte, und seufzte leise.

»Ach, ich habe Mist gebaut und wollte mir den restlichen Abend und die Peinlichkeit einfach ersparen.« Mein Löffel glitt in das Eis und ich hob einen Happen heraus.

»Mist gebaut? Inwiefern? Hast du nackt auf dem Tisch getanzt oder doch eher das Büfett ungewollt abgeräumt?«

Bei der Vorstellung musste ich schmunzeln. »Ganz kalt.« Ich schob den Löffel in den Mund.

Ava zog die Stirn kraus. »Dann bist du auf die Schleppe getreten und Lynda hat plötzlich mit blankem Hintern vorm Altar gestanden?«

Mir entfuhr ein Kichern. »Auch wenn der blanke Hintern sicher hübscher als das schreckliche Puffkleid anzusehen gewesen wäre, aber nein. Immer noch ganz kalt.«

Ava nahm nun ebenfalls etwas Eis, steckte sich den Löffel in den Mund und riss plötzlich die Augen auf. »Ach, ich weiß, du hast dich bei deiner Rede verplappert und erzählt, dass Lynda mal was mit dem Trauzeugen hatte.«

»Nicht ganz, aber es wird schon wärmer«, gab ich grinsend zurück.

Nun schnaubte Ava. »Komm, spann mich nicht auf die Folter. Was war es denn jetzt?«

Für einen Moment hielt ich kurz inne. Aber dann fasste ich mir ein Herz und erzählte Ava, was vorhin passiert war. Sie war neben Tamy meine beste Freundin, und bei ihr wusste ich, sie würde dieses Geheimnis mit ins Grab nehmen, wenn ich sie darum bat.

Aufmerksam, wie sie war, unterbrach sie mich nicht und schenkte mir ihre volle Aufmerksamkeit. Erst als ich geendet hatte, sagte sie: »Na ja, du bist seit beinahe einem Jahr verwitwet. Warum hast du dann Mist gebaut? Nur weil du einen wildfremden Kerl geküsst hast?«

Ich stutzte. »Na, weil ich Joe mit dem Kuss betrogen habe.«

Ava sah mich einen Moment durchdringend an. »Du kannst Joe nicht mehr betrügen, Schätzchen. Und auch wenn deine Treue dich ehrt, das Leben geht weiter.«

Nun gut. Für mich war das nicht ganz so einfach. Es hieß doch nicht umsonst – bis das der Tod uns scheidet. Doch kaum hatte ich den Gedanken zu Ende gesponnen, da wurde mir klar – der Tod hatte uns ja wirklich geschieden.

»Trotzdem. Was muss der Kerl jetzt von mir denken?«

Ava zuckte mit den Schultern. »Scheiß drauf, vermutlich wirst du ihn ohnehin nie wiedersehen. Und wer weiß, vielleicht war er auch nicht mehr ganz nüchtern und kann sich morgen gar nicht mehr an dich erinnern. Ich weiß bei so einigen Hochzeiten nicht mehr, wie ich nach Hause gekommen bin.« Auch das war ein Argument. Kein Kerl würde sich doch nüchtern von einer fremden Frau abknutschen lassen, oder? Obwohl, nach Alkohol hatte er nicht geschmeckt.

In diesem Moment musste ich an Grandma Aberton denken. Was hatte sie noch gesagt? Ein Jahr sei eine angemessene Trauerzeit. Hatte mir mein Körper mit dieser Aktion womöglich was sagen wollen? Dachte er genauso wie Grandma?

Ava schien meine innere Zerrissenheit zu spüren. »Gracie, das alles tut mir wirklich leid. Du weißt, ich habe Joe sehr gemocht, und ihr zwei wart füreinander bestimmt. Aber ich weiß auch, er hätte nicht gewollt, dass du dich von allem abkapselst oder den Rest deines Lebens als eiserne Jungfer verbringst.«

Tränen traten mir in die Augen und das Eis wollte nicht wirklich in meiner zugeschnürten Kehle hinabrutschen. Ava legte den Löffel auf den Tresen und kam zu mir, um mich in den Arm zu nehmen. Dadurch wurden jedoch die Schleusen geöffnet. Träne um Träne rann nun meine Wange hinab.

»Gracie, es wird wirklich langsam Zeit für dich, dein Leben wieder aufzunehmen. Im Moment vegetierst du eher dahin und vergisst völlig, wer du bist. Oder sagen wir besser: gewesen bist. Seit Joes Tod bist du einfach nicht mehr du selbst.«

»Ich … ich weiß, nur das … das ist so schwer«, schluchzte ich auf. »Alles erinnert mich an ihn.« Ava ließ mich los und ging hinüber zur Anrichte, um mir ein Stück von der Küchenrolle abzureißen. Als Taschentuchersatz. Ich nahm es und wischte mir die Tränen ab. Anschließend schnäuzte ich hinein.

»Dann versuch doch das, was dich ständig an ihn erinnert, loszuwerden und etwas seelischen Ballast abzuwerfen.«

Nun lachte ich trocken auf. »Dann müsste ich aber das Haus verkaufen, das Kind zur Adoption freigeben und die Stadt verlassen.« Meine zitternde Stimme triefte vor Ironie.

Ein paarmal wiegte Ava den Kopf hin und her. »Das Haus und die Stadt sind machbar, nur das mit der Adoption ist natürlich keine Möglichkeit.« Sie machte eine kurze Pause. »Also dann los! Wo fangen wir an?«

Ich hielt mit dem Naseputzen inne. »Ähm … bitte was?«

Ava lächelte. »Nicht: Bitte was? Auf geht’s. Packen wir es an. Verkauf das Haus, schnapp dir deine Tochter und komm zu mir und Tamy nach Cornwall. Das ist für uns auf jeden Fall einfacher, als uns jedes zweite Wochenende mit den Besuchen hier in London abzuwechseln.« Da musste ich ihr recht geben, seit Joes Tod war ich kein Wochenende mehr allein gewesen. Dafür war ich den beiden wirklich sehr dankbar. Immerhin waren Cornwall und London beinahe 500 Kilometer voneinander entfernt und die beiden auf Hollywell Heaven recht eigespannt. Dennoch …

»Herrgott, Ava, ich kann doch nicht einfach das Haus verkaufen und nach Cornwall ziehen. Wie stellst du dir das vor?«

Ava runzelte kurz die Stirn. »Warum nicht? Es heißt nicht umsonst: neues Heim, neues Glück. Und bestimmt finden wir auch in Cornwall einen attraktiven Typ, mit dem du rumknutschen kannst.« Das Stirnrunzeln verschwand, und sie grinste mir verschwörerisch zu. »Außerdem könnten wir etwas Unterstützung auf der Farm wirklich gut gebrauchen. Du weißt, dass Tamy mit den Führungskräfteseminaren und ich mit der Pension sowie der Ausbildung zur Alltags- und Trauerbegleiterin arg eingespannt sind.«

Ich schüttelte den Kopf. »Trotzdem, das geht nicht. Wirklich nicht!«

Ava schürzte die Lippen. Dann sprach sie weiter. »Ich hätte aber noch ein weiteres Argument. Charly würden die Landluft und die Ziegen wirklich guttun.« Ich wusste sofort, worauf sie hinauswollte.

»Du immer mit deiner blöden antidepressiven Ziegentherapie. Trauerbewältigung in allen Ehren, aber wir sind nicht deine Versuchsobjekte«, echauffierte ich mich.

Nun schnaubte sie auf. »Darum ging es mir gar nicht. Eher um die Stärkung der Abwehrkräfte. Charly ist alle naselang am Rotzen. Das kann auf Dauer auch nicht gut für den Körper sein. Und du weißt selbst, wie wohltuend die Seeluft ist. Das Meer und die ganzen Keime werden Charlys Immunsystem wieder ordentlich ankurbeln.« Sie schüttelte den Kopf. »Zudem müsst ihr ja auch nicht für immer bleiben. Nur so lange, bis ihr zwei euch ein wenig von allem erholt habt. Neue Energie für ein neues Leben ohne Joe getankt habt.«

Erholt. Getankt. Skeptisch warf ich Ava einen Blick von der Seite zu. Natürlich hatte sie recht. Eine Luftveränderung wäre wirklich für uns beide gut. Quasi wie eine Art längerer Urlaub oder eine Kur. Was sprach denn dagegen?

»Aber wenn ich das Haus verkaufe, gibt es kein Zurück mehr. Also kommt das nicht in Frage.«

Mit einem Kopfnicken tauchte Ava noch mal mit dem Löffel in das Eis. »Dann vermiete es einfach.« Vermieten klang schon weniger radikal. Und vielleicht könnte ich mir und Charly wirklich ein paar Wochen Auszeit gönnen. Weder musste ich arbeiten noch war das Kind an eine Kita oder Schule gebunden. Also was hielt mich hier? Die Grabpflege? Die könnte ich notgedrungen eine Zeit lang meinen Eltern aufs Auge drücken.

Ava legte ihren Löffel auf den Tresen und ging zum Kühlschrank. »Also, was ist? Lust auf eine Auszeit am Meer? Dann rufe ich Tamy und Abby an und sag ihnen, du würdest eine Weile bei uns wohnen. Ich bin sicher, die beiden freuen sich auf euch.«

Die Gedanken wirbelten in meinem Kopf herum. Sollte ich das wirklich tun? Mir einen Time-out von allen Sorgen und dem ganzen Kummer nehmen? Sicher hätte Joe das unterstützt. Er hatte mich immer dazu gedrängt, meine Freundinnen mehr zu besuchen und mit dem Kind aus dem Krankenhausumfeld zu fliehen. Aber ich hatte ihn in seinem Zustand nicht allein lassen wollen. Also was sollte ich nun tun? Ja sagen?

Mit einem Ruck öffnete Ava die Kühlschranktür und nahm eine Flasche heraus. Dann wandte sie sich zu mir um und lächelte. »Und? Willst du auch ein bisschen Zitronenlimonade?« Und in diesem Moment musste ich an Grandma denken. Wenn dir das Leben Zitronen gibt, mach Limonade draus.

Kapitel 2Elliot – Burn-out ist was für Anfänger

Montag früh quälte ich mich förmlich aus dem Bett. Die Hochzeit von Mortimer, einem unserer Buchhalter, hatte mich am Wochenende doch etwas aus der Bahn geworfen. Zum einen, weil ich viel zu viel getrunken, zum anderen, weil mich der passende Kater dazu ausgeknockt hatte. Dermaßen ausgeknockt, dass ich mich nicht einmal gegen Paydens Fürsorge wehren konnte. An sich war es wirklich nett von ihr, sich um mich zu kümmern, aber eigentlich führten wir eher eine körperliche Beziehung ohne Verpflichtungen – und dabei sollte es für mich auch bleiben.

In diesem Moment ergriff mich dennoch das schlechte Gewissen. Payden war wirklich nett. Und hübsch. Und intelligent.

Leider wollte ich derzeit nichts Festes. Zudem arbeiteten wir zwei zusammen. Sie als OP-Schwester, ich als Arzt, was einer ernsthaften Beziehung in meinen Augen leider im Wege stand. Denn würde da nicht bei jedem Streit sprichwörtlich das Damoklesschwert über dem OP-Tisch schweben? Ich hatte mich schon viel zu weit hineingewagt, und das Wochenende hatte zu einer angemessenen Distanz nicht wirklich beigetragen. Verdammt! Also musste ich endlich mit ihr reden.

In diesem Augenblick schoss mir ein Bild durch den Kopf. Die hübsche Dunkelhaarige von der Hochzeit, die mir beinahe vor die Füße gefallen wäre, wenn ich sie nicht aufgefangen hätte. Seltsamerweise hatte mich ihr leidenschaftlicher Kuss nicht nur überrascht, sondern auch in meinem Innersten berührt. Er hatte mich erregt und so eine seltsame Sehnsucht in mir ausgelöst, die sich für mich ein wenig wie Heimweh angefühlt hatte. In diesem Augenblick wurde mir erst recht klar, dass ich mit Payden reden musste. Ihre Küsse ließen mich nie so verwirrt zurück. Leider war die Dunkelhaarige kurz vor Mitternacht verschwunden, ehe ich sie nach ihrem Namen oder ihrer Telefonnummer hatte fragen können. Auch Mortimer wusste nicht, wer die dunkelhaarige Schönheit mit den hellgrünen Augen war. Vielleicht, weil 90 Prozent seiner angeheirateten Familie, die Abertons, dunkelhaarig und mit grünen Augen ausgestattet waren. Deshalb hatte ich der Unbekannten heimlich den Namen Cinderella gegeben. Nur hatte ich keinen gläsernen Schuh, mit dem ich mich jetzt in London auf die Suche nach ihr begeben konnte. Leider!

Gähnend erhob ich mich und setzte einen Fuß vor den anderen.

Auf dem Weg ins Bad bemerkte ich allerdings, wie sehr mich das Wochenende wirklich mitgenommen hatte. Meine Beine waren wackelig, in meinem Kopf schien nur Watte zu sitzen, und der schale Nachgeschmack von zu viel Alkohol hielt sich tapfer in meinem Mund.

Beim Anblick meines lädierten Ichs im Spiegel zuckte ich erschrocken zusammen. Die Augenringe waren noch tiefer als sonst, und zum ersten Mal fand ich sogar die Linien um meine Augen viel extremer. Selbst an den Schläfen zeigten sich mehr graue Haare als noch Anfang des Jahres. Himmel, was war denn da passiert?

Klar, die letzten Monate waren stressig gewesen. Eine OP hatte die nächste gejagt. Doppelschichten waren aufgrund von Personalmangel mittlerweile Klinik-Alltag. Aber dass es körperlich so sehr an mir zehrte und mich gleich zehn Jahre älter aussehen ließ, war wirklich hart. Was in mir wieder den leisen Wunsch aufkommen ließ, dem Ganzen vielleicht endlich ein Ende zu setzen. Noch weitere zehn Jahre als Hauptakteur im OP, und ich könnte mir vermutlich schon mal einen präventiven Rehaplatz reservieren lassen.

Leider zehrte der Job nicht nur äußerlich an mir. Immer öfter konnte ich nachts nicht mehr richtig schlafen, regte sich gleich morgens mein gastritischer Magen, oder mein Puls schnellte im Sekundenbruchteil von null auf 200. Vielleicht hätte ich doch besser eine Ausbildung in einem chilligen Nine-to-five-Job machen sollen. Aber für diese Einsicht war es etwas zu spät. Nun verdiente ich meinen Lebensunterhalt eben als Arzt, und ich würde lügen, wenn ich nicht gewusst hätte, mit wie viel Stress, Druck und Verantwortung das Ganze einherging. Doch als ich jünger war, war ich tatsächlich frischer und motivierter gewesen.

Ich schüttelte den Kopf. Meine Güte, ich klang ja beinahe wie meine Eltern. War es wirklich schon so weit mit mir gekommen? Vielleicht sollte ich mir statt eines Rehaplatzes direkt einen Sarg aussuchen gehen.

Während mein Alter Ego seufzend das Wasser an der Dusche aufdrehte, klingelte mein Handy im Schlafzimmer. Ich schlich zurück und sah die Kliniknummer auf dem Display aufleuchten. Es war fünf in der Früh, demnach musste es ein Notfall sein.

»Davies?« Mit dem Handy am Ohr ging ich zurück ins Bad und zog mir bereits hastig das zerknitterte T-Shirt mit dem Oxford-Emblem über den Kopf.

»Dr. Davies, hier ist Milly von der Neuro 1. Wir haben einen chirurgischen Fall für Sie. Wann sind Sie genau hier?«

»Was ist mit Weaver? Der hat doch Nachtdienst.«

»Ja, aber er steht schon im OP und ist derzeit nicht verfügbar. Ebenso wie Nowell. Schwerer Autounfall auf der A5 mit zwei Unfallopfern.« Wahrscheinlich handelte es sich um Fahrer und Beifahrer.

»Verstehe.« Dass zwei Co-Chirurgen nachts im OP standen, war nämlich tatsächlich eher ungewöhnlich. »Worum geht es?«

»Schlaganfall durch Blutgerinnsel.«

»Was ist mit Thrombolytika?«

Milly seufzte auf. »Bekommt der Patient bereits, spricht aber nicht darauf an. Deshalb die Thrombektomie.« Häufig wurde bei einem Schlaganfall erst der medikamentöse Weg gewählt. Es gab einige Wirkstoffe, die das Blutgerinnsel, welches das Gefäß verstopfte, auflösen konnten. Half das aber nicht, musste schnellstmöglich anderweitig die Blutversorgung wiederhergestellt werden. Im Zweifel durch einen chirurgischen Eingriff, bei dem das Gerinnsel mit Hilfe eines Katheters entfernt wurde.

»Alles klar. Ich mach mich sofort auf den Weg. Bereitet den Patienten schon mal vor.« Dann drückte ich das Gespräch weg, ließ die Boxershorts auf den Boden fallen und sprang schnell unter die Dusche, um meinen müden Körper mit kaltem Wasser in den Arbeitsmodus zu versetzen.

***

Auf dem Parkplatz angekommen, machte ich mich zuerst auf den Weg in den Personalraum, wo ich in frische OP-Kleidung schlüpfte. Von dort aus eilte ich rüber in den Trakt mit den Operationssälen. Hier herrschte bereits geschäftiges Treiben. Die Privatklinik St George in Kensington verfügte über sechs topmoderne und gepflegte OPs. Drei davon waren bereits durch andere Chirurgen besetzt. Ich sah durch eines der Bullaugen an den Türen Tom Weaver, meinen Chef. Mit der Schulter drückte ich sie kurz auf.

»Hey, Tom, hast du noch genauere Infos zum Apoplex für mich?«

Er nickte, ohne hochzusehen. Seine Stimme kam durch die OP-Maske vor dem Mund sehr gedämpft herüber. »Patient männlich, 53 Jahre alt, übergewichtig und starker Raucher. Klagte wohl schon seit einigen Tagen über taube Finger. Gestern Abend hatte er Ausfallerscheinungen im Gesichtsbereich und eine verwaschene Sprache. Seine Frau hat ihn dann sofort hergebracht.« Es folgten einige medizinische Details und ich nickte. Das reichte mir völlig an Hintergrundinfos.

»Und bei dir? Sieht nach einem offenen SHT aus.«

Tom stierte düster auf den OP-Tisch. »Allerdings. Autounfall. Der junge Kerl hat sich alkoholisiert mit seiner Freundin um einen Brückenpfeiler gewickelt.«

»Und?«

Tom seufzte auf. »Stacey eruiert gerade, ob beide Organspender sind.« Das war leider die andere Seite der Medaille. Nicht immer konnten wir den Patienten helfen. Deshalb war es wichtig, sich einen nüchternen Blick anzutrainieren und nichts zu nah an sich heranzulassen.

»Okay, dann wasche ich mich jetzt und zieh das Ding durch.«

Tom nickte mir zu und fuhr zusammen. »Hui, was ist denn mit dir passiert? Du siehst extrem scheiße aus.«

»Danke für das Kompliment. Gibt es sonst noch was Nettes, was du mir sagen möchtest?«

»Klar, nimm endlich mal deinen Urlaub.« Weaver zog die Augenbrauen zusammen. »Denn so, wie du aussiehst, ist ein Burn-out nur einen Steinwurf entfernt.«

Ich schnaubte auf. »Burn-out ist was für Anfänger«, parierte ich. »Außerdem warst du derjenige, der meinen Urlaub immer wieder verschoben hat, erinnerst du dich?«

Mein Chef sah zur OP-Schwester hoch. »Lupe bitte.« Die junge Frau klappte das Vergrößerungsglas an seinem Kopf hinab. Mit der Lupe vorm Auge sah er wieder zu mir. Ein merkwürdiges Bild, weil das Auge mit dem Glas so extrem vergrößert war. Mad Eye Moody par excellence.

»Jetzt ist Nowell aber wieder fit und im Einsatz, und das Management hat sogar noch Geld für einen weiteren Chirurgen bereitgestellt.«

»Du verarschst mich doch, oder? Bekommen wir wirklich Unterstützung?«

Mein Chef betrachtete bereits wieder intensiv den Patienten vor ihm. »Entweder du legst mir bis heute Nachmittag deinen Urlaubsantrag auf den Schreibtisch, oder ich reiche endlich mal Urlaub ein.« Statt einer Antwort verließ ich nickend den OP, damit er in Ruhe arbeiten konnte. Außerdem ließ ich mir Urlaub ja auch nicht zweimal sagen, was?

***

Im Anschluss an die Operation setzte ich mich an den Schreibtisch, schrieb den Bericht, las meine Mails und checkte kurz die Lage bezüglich Urlaub. Allerdings ging mir auf, dass ich erst übernächste Woche frei machen konnte. Kommendes Wochenende war ich nämlich zu einem wichtigen Kongress in Washington eingeladen, und danach standen noch fünf geplante OPs auf dem Programm, die ich niemandem aufs Auge drücken wollte. Aber nun hatte ich so lange auf Urlaub gewartet, da kam es auf eine weitere Woche auch nicht mehr an. Die Frage wäre nun nur noch, wohin? Last minute was zu buchen, war nicht mein Ding, und eigentlich wollte ich auch einfach nur mal etwas ausspannen. Dafür müsste ich nicht weit weg. Und da hatte ich plötzlich eine Idee.

Während ich den Urlaubsantrag unterschrieb, rief ich meine Mutter an. Sie hob auch direkt ab. »Elliot, mein Schatz. Wie schön, von dir zu hören. Wie geht es dir?«

Ihre Stimme in meinem Ohr zauberte mir ein Lächeln aufs Gesicht. »Sagen wir so, Mom, kannst du mir vielleicht euer Gästezimmer herrichten? Am 30.9. ist mein erster Urlaubstag, und ich dachte, ich komme einfach zu euch und besuche das Meer, statt in die Karibik zu fliegen und an der Cocktailbar viel zu süße Drinks mit zu wenig Alkohol zu schlürfen.« Meine Eltern lebten schon seit einigen Jahren an der Küste Cornwalls. Ihnen war London für den Ruhestand etwas zu hektisch gewesen.

»Du veräppelst mich doch, oder? Du hast wirklich Urlaub?«, war Moms Reaktion auf meine Frage. Ich musste grinsen, denn ich hatte so was Ähnliches ja noch wenige Stunden zuvor zu meinem Chef gesagt. Vielleicht etwas rüder im Ton, aber mit gleicher Bedeutung.

»Tatsächlich! Unser Team ist nicht nur wieder vollständig, sondern wir bekommen angeblich sogar noch jemanden dazu. Egal, jedenfalls hat Weaver gesagt, ich solle endlich mal Urlaub machen.« Ich ließ den Stift fallen und lehnte mich euphorisch in meinem Chefsessel zurück.

»Gut, aber wie kommt es, dass deine Ortsauswahl gerade auf uns fällt? Du könntest auch woanders ans Meer.«

Meine Gedanken glitten nach Cubert. Es war ein Örtchen, nicht weit von der rauen Küste entfernt. Schon jetzt freute ich mich darauf, früh morgens am Strand zu joggen oder mich einfach in eine der kleinen Strandbars zu setzen, mir ein Bier zu bestellen und den Wind um die Nase wehen zu lassen, während mein Blick in die Ferne aufs offene Meer schweifte. Auch der Gedanke an meine Eltern ließ mein Herz hüpfen. Vielleicht sollte ich mir vorher noch einen guten Thriller besorgen. Etwas von Tess Gerritsen?

»Weil wir uns so lange nicht gesehen haben, ich einfach ein paar Tage Ruhe brauche und weiß, dass ich bei dir all inclusive buchen kann und es mir schmeckt. Also, was ist? Kann ich mich für ein paar Tage bei euch einnisten?«

Mom jauchzte auf. »Oh, aber natürlich! Wir freuen uns, dich endlich mal wiederzusehen. Es ist doch schon wieder ewig her.« Da hatte sie recht. Bestimmt ein halbes Jahr. Plötzlich fiel mir meine Tante ein, die auch in Cubert lebte. In einem kleinen Cottage etwas außerhalb. »Tante Martha freut sich bestimmt auch. Meint ihr, wir schaffen es vielleicht, gemeinsam essen zu gehen, ohne dass ihr zwei euch gleich die Augen auskratzt?«

Dies war ein altbekanntes Problem. Meine Tante und meine Mutter waren wie Hund und Katze. Jedes Mal, wenn sie aufeinandertrafen, flogen die Fetzen. Was der Grund dafür war, wusste ich leider nicht. Dass meine Eltern damals überhaupt nach Cubert gezogen waren, war dem Umstand geschuldet, dass meine Mutter dort geboren und aufgewachsen war, bis sie Dad kennengelernt hatte.

»Na, noch bist du ja nicht hier. Wahrscheinlich kommt dir am Ende ohnehin wieder etwas Wichtiges dazwischen.« Auch hier musste ich meiner Mutter recht geben. Mehr als einmal hatte ich einen Besuch bei ihnen aufgrund wichtiger Arbeitstermine aufgeschoben. Doch ich brauchte dringend eine Auszeit. Von der Klinik, von London und streng genommen auch von einem Teil von mir – nämlich dem gestressten Elliot.

»Mom, ich verspreche dir, dieses Mal nicht. Ich komme wirklich.« Und das meinte ich auch so. Nichts und niemand würde mir diesen Urlaub verwehren.

Dennoch ließ meine Mutter es sich nicht nehmen, leise Zweifel in mir zu säen. »Das sagst du jedes Mal, mein Lieber, und dann kommst du doch nicht.«

Kapitel 3Grace – Was man mit Geld nicht kaufen kann

Meine Eltern waren natürlich nicht begeistert über meine Entscheidung, mir einige Wochen Auszeit in Cornwall zu nehmen. Wahrscheinlich, weil sie dann Charly nicht mehr jeden Tag sehen konnten. Trotzdem … Es musste sein. Für mich, für mein Kind und auch für alle anderen um mich herum, die ich mit meinem schweren Depressionsanker womöglich mit in die Tiefe zog.

»Bist du dir auch wirklich sicher?« Das Zittern in Moms Stimme war deutlich. Vermutlich spürte sie, wie ernst es mir war. Dass ich mit einem wildfremden Mann betrunken vor einer Toilette herumgeknutscht hatte, hatte mir meinen Tiefpunkt deutlich gezeigt und mich letztlich dazu bewogen, Ja zu Avas Vorschlag zu sagen. Davon wusste Mom aber nichts.

Entschlossen warf ich den Kofferraumdeckel zu und wandte mich zu meinen Eltern um. Charly saß bereits angeschnallt im Kindersitz und schaute auf meinem Tablet einen Barbie-Film.

»Herrje, Mom, nun mach doch kein Drama draus. Ich werde einfach nur einen etwas längeren Urlaub machen.« Ich lächelte ihr aufmunternd zu. »Und wer weiß, vielleicht habe ich schon nach einer Woche Heimweh und kehre mit wehenden Fahnen von meinem Selbstfindungsprojekt wieder zurück.« Auch wenn ich dann ein Problem hätte. Das Haus war nämlich für die nächsten drei Monate vorübergehend an eine Journalistin aus Deutschland vermietet, die hier etwas Auslandserfahrungen sammeln wollte.

Dad holte laut hörbar Luft. »Wie auch immer, Grace. Hauptsache, es tut dir und Charly gut. Also mach dich endlich auf den Weg, damit du noch vor Anbruch der Dunkelheit da bist.« Mein Vater war im Gegensatz zu meiner Mutter etwas rationaler eingestellt. Deshalb war er auch der Erste, den ich zum Abschied umarmte. »Vielleicht kommt ihr uns einfach mal besuchen. Ava hat bestimmt ein Zimmer in der Glückspension für euch frei.« Ich ließ Dad los und umarmte danach Mom. »Ein bisschen Meeresluft und frischer Fisch tun euch nach allem, was in den letzten Monaten so war, sicher auch sehr gut.« Ein leises Seufzen entwich ihrer Brust, als ich mich wieder von ihr löste.

»Warum nicht? Wir waren schon lange nicht mehr am Meer, oder, Nevis?«, sagte sie und trat zurück. »Vielleicht können wir auch länger als nur für ein Wochenende bleiben. Einfach mal ein paar Tage ausspannen. Für uns war die letzte Zeit, wie du schon sagst, auch nicht gerade erholsam.« Für keinen in meinem Umfeld, aber für meine Eltern besonders. Sie hatten mich emotional auffangen und dafür ihre eigene Trauer um Joe, den sie wie einen eigenen Sohn geliebt hatten, hintanstellen müssen.

Dad legte den Arm um Moms Schulter und zog sie lächelnd zu sich heran. »Das klingt wirklich gut, Holly. Gleich morgen frag ich meinen Chef nach Urlaub.« Das Versprechen, uns in Cornwall zu besuchen, machte mir den Abschied ein wenig erträglicher.

»Und ihr denkt an das Grab?«

Dad nickte. »Jeden Samstag Unkraut zupfen und die Chrysanthemen gießen.« Chrysanthemen waren Joes Lieblingsblumen gewesen. Orange seine Lieblingsfarbe.

»Danke, Dad. Das hilft mir sehr.« Ich lächelte und seufzte leise. »Dann macht’s gut, ihr beiden. Ich melde mich, wenn wir angekommen sind.« Mit einem letzten sehnsüchtigen Blick auf meine Eltern stieg ich schließlich ein und fuhr los. Im Rückspiegel sah ich Mom und Dad verloren in der Einfahrt stehen. Da übermannte mich wieder das schlechte Gewissen. Aber Ava hatte recht. Ich musste erst an mich und mein Kind denken. Und es war ja nur für drei Monate. Das war nun wirklich keine Ewigkeit.

Also lenkte ich entschlossen das Auto aus Notting Hill heraus auf die Warwick Road Richtung Brompton. Denn statt direkt von meinen Eltern aus zur Autobahn zu fahren, wollte ich noch schnell einen kleinen Abstecher zum Friedhof machen. Immerhin konnte ich nicht fahren, ohne mich ordentlich von Joe zu verabschieden und ihm zu versprechen, an seinem Todestag wieder zurück zu sein.

***

Gegen fünf am späten Nachmittag fuhr ich in Devon von der M5 auf die A30. Von dort aus waren es nur noch knapp anderthalb Stunden bis Hollywell. Zum Glück war Charly heute wirklich pflegeleicht. Sie hatte erst zwei Barbie-Filme geguckt und war dann nach der letzten Pipi-Pause in den Tiefschlaf gefallen. Die eintretende Ruhe sowie das monotone Surrgeräusch der Autoreifen auf dem Asphalt führten allerdings dazu, dass meine Gedanken ein wenig in die Ferne abdrifteten.

Joes Tod war für uns alle völlig unerwartet gekommen. Der Gehirntumor war gutartig und die Chemotherapie nur nötig gewesen, um ihn so weit schrumpfen zu lassen, damit dieser gut entfernt werden konnte. Dass der Chirurg bei der Operation jedoch ein großes Blutgefäß verletzt hatte und die Blutung nicht mehr gestoppt werden konnte, damit hatte nun wirklich niemand gerechnet. Am wenigsten ich. Ich hatte auf die Ärzte vertraut.

Nachdem ich den ersten Schock verdaut hatte, war ich wütend zu einem Anwalt gegangen und hatte den Operateur verklagt. Im Prozess konnte der Kunstfehler des Arztes sogar bewiesen werden. Somit war dieser verwarnt und mir und Charly Schadenersatz zugesprochen worden. Ums Geld war es mir dabei aber wirklich nicht gegangen. Vielmehr um den Wunsch, denjenigen, der mir meinen Mann genommen hatte, zu bestrafen. Der Neurochirurg war nämlich nicht nur übermüdet gewesen, sondern wohl auch noch recht jung und unerfahren. Also hätte Joes Tod durchaus verhindert werden können, wenn ihn jemand anderes operiert hätte. Das machte es noch viel schwerer für mich, das alles zu akzeptieren.

Da ich mit dem Geld meinen Mann nicht zurückkaufen konnte, hatte ich es nie angerührt, sondern auf einem Tagesgeldkonto liegen lassen. Für mich war es Blutgeld. Deshalb hatte mich Grandma Abertons Bemerkung bezüglich des reichen Ehemanns auf der Hochzeit auch so empört. Es gab Dinge im Leben, die man mit Geld nicht kaufen konnte. Zum Beispiel Gesundheit oder die wahre Liebe.

Seit Joes Tod mied ich daher die Halbgötter in Weiß. Selbst den Kinderarzt suchte ich nur zu den vorgeschriebenen Untersuchungen auf. Schulmediziner waren mir lange schon suspekt gewesen, allein, weil sie alternative Behandlungsverfahren ständig als Scharlatanerie abtaten. Aber für mich galt der Grundsatz: Wer heilt, hat recht. Bei Charly hatte ich bereitsoft mit Homöopathie oder Phytotherapie Erfolg gehabt. Bei ihrem Windelausschlag zum Beispiel hatte die Ziegenbutter von Tamy ihn vollkommen verschwinden lassen, während der Arzt gleich mit der chemischen Keule kommen wollte.

»Mami?« Erschrocken zuckte ich zusammen. Charly hatte mich unvermittelt aus meinen Gedanken gerissen.

»Alles in Ordnung, Schatz?« Durch den Rückspiegel sah ich, wie sie meinen Blick suchte. Ihrer war müde und verwirrt. Die Wangen gerötet.

»Wann Daddy zurück?«

Mir wurde schwer ums Herz. »Daddy kommt nicht zurück, das hatte ich dir aber schon erklärt. Erinnerst du dich? Daddy ist jetzt im Himmel bei den Engeln.«

Meine Tochter zog die Stirn kraus. »Will da auch hin, wenn Daddy da ist.« Ihre Worte trafen mich wie ein Faustschlag in die Magengrube. Charly schloss die Augen und schlief gleich weiter.

Ava hatte recht. Hollywell Heaven würde Charly bestimmt guttun. Die Ziegen würden sie ablenken und die Seeluft würde ihr Immunsystem ankurbeln. Somit trat ich das Gaspedal wieder etwas tiefer durch für den Endspurt auf Cornwall.

***

Die letzten Meter führten uns einen Feldweg mit einigen Schlaglöchern entlang. Nun bekam ich eine Ahnung, warum Tamy einen SUV fuhr. Wir wurden im Auto so durchgeschüttelt, dass Charly vergnügt in die Hände klatschte und zu lachen begann. Für sie war das gerade vermutlich wie der Ritt auf einem wilden Karussell. Ihre Freude ließ mich trotz der Schmerzen in meinem Hintern verhalten lächeln. Wenn doch nur alles im Leben so einfach und amüsant wäre wie eine schlaglochreiche Straße.

Konzentriert sah ich wieder nach vorn. Am Ende des Weges konnte ich bereits die Farm erkennen. Das neue Dach des Stalles, der vor zwei Jahren beinahe abgebrannt war, leuchtete in der untergehenden Sonne rot auf. Dahinter sah ich die grünen Wiesen, auf denen die Ziegen normalerweise weideten. Vermutlich waren die Tiere bereits für das Abendbrot in den Stall getrieben worden. Vielleicht konnte ich mich auf der Farm tatsächlich etwas nützlich machen und von meinem eigenen Schmerz ablenken. Wie weit waren Tamy und Ava denn eigentlich mit dem Onlineshop? Ich wusste es gar nicht. Über meine Trauer in den letzten Monaten waren solche Dinge für mich eher in den Hintergrund gerückt. In diesem Moment wurde mir klar, dass ich im letzten Jahr wie in einer einsamen Seifenblase gelebt und alles andere ausgeblendet hatte. Jegliche Freude oder Interesse für andere war an mir abgeprallt. Doch jetzt wurde es Zeit, dies zu ändern. Mich wieder mehr für andere und ihre Belange zu interessieren. Mit der Nadel der Ablenkung die isolierende Seifenblase quasi zum Platzen zu bringen. Mit einem überzeugten Kopfnicken steuerte ich das Auto neben Tamys SUV vor der Scheune.

Ich hatte das Auto auch noch nicht ganz geparkt, da kamen bereits Tamy, Ava und Elisa aus dem Anbau gelaufen, um uns wild winkend und mit einem riesigen Hallo zu begrüßen. In diesem Moment vergaß ich völlig, was Charly gesagt hatte, vergaß meine Trauer um Joe und genoss einfach nur die Freude, meine Freundinnen wiederzusehen. Tamy fiel mir nach dem Aussteigen als Erste um den Hals.