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Enemies to Lovers trifft Small Town Romance! Eiskunst-Star Mila kann es kaum erwarten: Endlich geht es auf Welttournee! Vorher will sie nur noch schnell in der heimischen Eishalle ein paar Runden drehen … doch dabei geschieht das Unvorstellbare: Bei einem Sprung verletzt sie sich und ihr großer Traum zerplatzt wie eine Seifenblase. Aber Mila will sich nicht unterkriegen lassen – noch dazu braucht der Besitzer der Eishalle dringend ihre Hilfe: Eine Benefizgala mit Mila als Showact soll die Halle vor dem Aus retten. Unterstützung erhält Mila ausgerechnet von Finn, dem ruppigen Eishockeyspieler, der sie doch eigentlich gar nicht leiden kann. Dabei hütet er ein Geheimnis, das Milas Welt auf den Kopf stellen könnte ... »Kiss me like a Star« von Bestsellerautorin Jennifer Wellen ist vorab bereits unter dem Titel »Traumtänzerküsse« erschienen und wird Fans von Elle Kennedys »Off Campus«-Reihe sowie des TikTok-Hits »Icebreaker« begeistern.
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Seitenzahl: 446
Über dieses Buch:
Eiskunst-Star Mila schwebt wie auf Wolken – endlich geht es auf Welttournee! Vorher will sie aber ein letztes Mal ihre Eltern besuchen, in der heimischen Eishalle ein paar Runden drehen und ihrem ehemaligen Tanzpartner aus der Klemme helfen. Doch das Unvorstellbare geschieht: Bei einem Sprung verletzt sie sich, die Tournee scheint gestrichen und ihr großes Glück Geschichte … Doch Mila will sich nicht unterkriegen lassen – noch dazu braucht der Besitzer der Eishalle dringend ihre Hilfe. Eine Spendenaktion mit Mila als Showact soll die Halle vor dem Aus retten. Aber wird sie rechtzeitig wieder fit sein? Hilfe erhält Mila ausgerechnet von Finn, dem ruppigen Eishockeyspieler. Dabei hütet er ein Geheimnis, das ihre Welt auf den Kopf stellen könnte ...
Über die Autorin:
Jennifer Wellen, Jahrgang 1974, studierte nach ihrem Abitur Biologie und arbeitet derzeit als Dozentin in der Erwachsenenbildung. Wenn sie neben ihrer Tochter, den drei Katzen und ihrem Hund noch Zeit findet, schreibt sie mit Begeisterung witzige Romane für Frauen, die wissen, wie das Leben spielt.
Die Website der Autorin: www.jenniferwellen.com
Bei dotbooks veröffentlichte Jennifer Wellen auch ihre Liebesromane:
»Honigkuchentage«
»Sternschnuppenwünsche«
»Drei Küsse für ein Cottage«
Sowie ihre »Schottische Herzen«-Trilogie mit den Bänden:
»Das Rosencottage am Meer«
»Das Veilchencottage am Meer«
»Das Magnoliencottage am Meer«
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Originalausgabe Mai 2020, April 2023
Dieses Buch erschien bereits 2020 unter dem Titel »Traumtänzerküsse« bei dotbooks
Copyright © der Originalausgabe 2020, 2023 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: dotbooks GmbH, München
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)
ISBN 978-3-98690-785-3
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Jennifer Wellen
Kiss me like a Star
Roman
dotbooks.
Aufgeregt huschte mein Blick über die Tribüne. Die Halle war leer. Nicht ein Mensch saß dort. Nicht einmal Preisrichter waren zu sehen, was ich recht merkwürdig fand. Ich drängte die Gedanken beiseite, betrat die Eisfläche und stieß mich ab. Dies genügte völlig, um mich von der Bande weg in Richtung Mitte zu treiben.
Dieses Gefühl, als Erste das frisch abgezogene Eis zu befahren, war jedes Mal unglaublich. Kein Ruckeln, kein Kratzen. Lediglich ein sanftes lautloses Dahingleiten der Kufen. Wahrlich, so musste sich Schweben anfühlen.
Am Anspielpunkt im Mittelkreis angekommen, drehte ich mich um. Die Schlängelspuren verrieten mir, wo meine Schienen das Eis berührt hatten. Mein Blick erfasste in diesem Moment aber noch etwas anderes – einen Mann. Er nahm kraftvoll Anlauf. Der schwarze Jersey-Stoff seiner Hosenbeine flatterte im Fahrtwind, und seine Kufen schnitten knirschend ins Eis. Ein kleiner seitlicher Schwenker, und schon bremste er scharf vor mir ab. Etwas Eisschnee stob an meine Strumpfhose, was mich insgeheim ärgerte. Ich hätte ihm gern gesagt, wie unhöflich das war, konzentrierte mich dann aber doch lieber auf die Kür.
Somit nahmen wir wortlos Aufstellung. Wir knieten uns direkt gegenüber auf das Eis, streckten das jeweils linke Bein nach hinten und positionierten unsere Oberkörper schräg voreinander. Unsere Gesichter waren sich nun so nahe, dass ich seine Körperwärme spüren konnte. So verharrten wir, jeder den Blick nach unten gerichtet, und warteten auf das Einsetzen der Musik.
Erst erklang ein sanftes, rhythmisches Trommeln, das sich stakkatoartig steigerte. Schließlich folgte der Singsang einer Klarinette.
An diesem Punkt des Liedes begannen wir gleichzeitig mit dem Eistanz. Wir zogen das ausgestreckte Bein heran, spreizten die Arme seitlich ab und wiegten unsere Oberkörper wie eine Schlange, die beschworen wird, ein paarmal von rechts nach links. Wir hoben synchron die Arme gen Decke, wobei ich zusätzlich meine Unterschenkel in Richtung Po zog, sodass die Kufen zur Hallendecke zeigten. Mein Tanzpartner umfasste mit einem Arm meine Hüfte, schob den anderen unter meine Schienbeine und stemmte mich vorsichtig hoch, um mich nach einer eleganten Drehbewegung über seine Schulter wieder auf dem Eis abzusetzen.
Als Nächstes griff ich nach seinen Händen und drehte eine kleine Runde im Flieger um ihn herum. Er sah dabei ehrfürchtig zu mir hoch. Als ich in sein Gesicht blickte, stoppte ich ab und ließ mein Bein sinken. Mein Herz schlug schneller. Sein Gesicht – es war nicht zu sehen. Keine Augen, keine Nase, kein Mund. Was bitte hatte das zu bedeuten?
»Was ist?«, fragte er, als er mein Zögern bemerkte.
Ich ließ seine Hand los. »Ähm … ich bin nur überrascht.«
»Darüber, dass ich eislaufen kann?« Er stand auf und klopfte sich den Schnee von den Knien. Seine Frage verwirrte mich. Deshalb drehte ich mich abrupt um und lief in Richtung Bande.
Der Kerl folgte mir. »Oder ist es wegen Roman? Keine Sorge, ich werde ihm schon nichts von uns verraten.«
Von uns? Mich durchzuckte es heiß und kalt, und ein Schaudern lief über meinen Rücken.
»Weißt du, Mila«, der Kerl räusperte sich, während er neben mir herlief, »manchmal wünsche ich mir, wir hätten uns unter anderen Voraussetzungen kennengelernt.« Er seufzte leise auf. »Denn ich mag dich«, flüsterte er schließlich mit heiserer Stimme. »Sehr sogar.«
»Lass einfach gut sein«, wiegelte ich ab und griff zu meinen Schonern. Mit zitternden Händen stülpte ich sie über meine Schienen.
Er jedoch griff nach meinem Arm und hielt mich zurück. Ich sah ihm ins Gesicht. Nun bemerkte ich, dass es zwar Konturen aufwies, diese jedoch ziemlich unscharf waren.
»Oder hast du ein Problem damit?« Die Konturen begannen im Scheinwerferlicht zu glitzern.
Ich löste meinen Arm aus seiner Umklammerung und stieg hastig vom Eis. »Womit sollte ich ein Problem haben?«
Er folgte mir. »Dass ich kein Eiskunstläufer bin? Oder Roman oder Leon?«
Erstaunt verschränkte ich die Arme vor der Brust. Mir fiel in diesem Augenblick jedoch auf, dass die Musik sich in ein merkwürdiges, monotones Piepen verwandelt hatte.
»Mila?«
Der Kerl ohne Gesicht fasste mich an den Schultern und schüttelte mich kräftig. »Sag schon, hast du ein Problem damit?«
Erschrocken schlug ich die Augen auf. Das schwache Mondlicht, das durch die Jalousien fiel, ließ mich die Umrisse meines Schlafzimmers erkennen. Der Kerl ohne Gesicht war nicht mehr da. Stattdessen hatte sich Roman über mich gebeugt, um mich wach zu rütteln. Mein Herz machte einen kleinen Hüpfer.
»Morgen«, murmelte ich verschlafen, setzte mich auf und brachte den Wecker, der bereits fünf Uhr zeigte, zum Verstummen.
»Selber Morgen!« Mein Freund gab mir einen flüchtigen Kuss und ließ sich anschließend wieder zurück in die Kissen sinken. »Was bitte hast du geträumt? Du hast die ganze Zeit was von Konturen gefaselt.«
Gähnend setzte ich mich auf den Bettrand.
»Ach, ich hatte so einen merkwürdigen Traum von konturlosen, glitzernden Gesichtern«, wiegelte ich ab und stand auf.
Roman schmunzelte. »Vielleicht hätten wir gestern Abend nicht mehr Twilight anschauen sollen, was?«
»Vermutlich.« Ich öffnete meinen Kleiderschrank und betrachtete meine Garderobe. Für die Fahrt wollte ich etwas möglichst Bequemes anziehen.
»Wann kommt dein Zug?«
»Um sieben. Ich will vorher noch duschen und den letzten Rest im Trolli verstauen. Bringst du mich gleich zum Bahnhof?« Ich angelte nach frischen Anziehsachen.
»Selbstverfreilich.« Roman grinste und sprang ebenfalls aus dem Bett. »Und so wie ich das sehe, haben wir zumindest noch Zeit für eine letzte gemeinsame Dusche.« Er kam auf mich zu und zog mich an sich. »Du schmutziges Mädchen, du.«
Ich musste unweigerlich grinsen. Roman war nicht der Typ, der Dirty Talk mochte, geschweige denn beherrschte. Dennoch fand ich es süß, dass er es immer wieder versuchte, weil ich es mochte. Vorsichtig streckte ich die Hand aus, um meinem Freund mit den Händen durch sein blondes, viel zu langes Haar zu fahren. In meinen Augen war er definitiv der attraktivste Kerl aus unserer Eistanztruppe. »Dann schwing deinen Astralkörper doch schon mal unter die Dusche, du scharfer Kater. Du darfst mir auch gerne gleich den Rücken einseifen.« Liebevoll verpasste ich ihm einen Klaps auf den Po.
Roman schmunzelte. Er mochte es, wenn wir zwei so herumfrotzelten. Natürlich mochte ich es auch, denn es zeigte die tiefe Verbundenheit zwischen uns.
Plötzlich stieg ein sehnsüchtiges Gefühl in mir auf. Eigentlich hatte ich überhaupt keine Lust, ins Ruhrgebiet zu fahren. Lieber wäre ich hier in München geblieben bei Roman. Aber meine letzten freien Tage vor der Welttournee bei meiner Familie zu Hause zu verbringen war eigentlich Pflichtprogramm. Beinahe ein Dreivierteljahr hatte ich sie nicht mehr gesehen, und den Besuch noch ein Dreivierteljahr aufschieben, bis ich von der Tour wieder zurück war, wollte ich schon gar nicht.
Schweren Herzens lief ich ins Bad und freute mich auf die letzten gemeinsamen Stunden mit meinem Schatz. Doch schon musste ich wieder an diesen seltsamen Traum denken. Wieso hatte der Kerl eigentlich kein Gesicht?
Eiskunstlauf war schon 1908 olympisch, also ganze sechzehn Jahre, bevor erstmals Olympische Winterspiele stattfanden.
Knapp neun Stunden später bezahlte ich den Taxifahrer, stieg aus dem Auto und warf einen Blick auf mein Elternhaus: ein graues Einfamilien-Reihenhaus im Herzen von Borbeck.
Borbeck als Essener Stadtteil ist eigentlich ganz schön. Fast wie ein kleines Dorf mitten in der Großstadt. Mit einem kleinen Schloss, dem grünen Schlosspark drum herum und einer winzigen Innenstadt, die alles hat, was frau braucht – Parfümerien, Schuhläden und Buchläden. Aber das Beste an diesem Stadtteil ist, dass die Eishalle in Essen-West nur circa zehn Minuten Fahrt entfernt ist.
Mein Finger schwebte bereits über der Klingel, an der auf einem Messing-Schild Antonovsky stand, als die Tür aufgerissen wurde.
»Mila-Schatz, ich habe das Taxi gesehen. Ach, wat schön, datte endlich da bis.« Meine Mutter, eine kleine, beleibte Person mit Monsterbusen, den ich Gott sei Dank nicht geerbt hatte, riss mich schwungvoll in ihre Arme. »Wir haben uns ja so lange nich mehr gesehen.« Ich japste überrascht. Ihr Klammergriff hätte jeden Sumoringer vor Neid erblassen lassen. »Wie war die Zugfahrt?«
Aus dem Hintergrund hörte ich Paps brüllen. Seine Stimme war immer schon bölkend gewesen, was sicher auch daran lag, dass er sie seit Jahren als regelmäßiger Besucher im Rot-Weiß-Stadion an der Hafenstraße trainierte. »Nu lass dat Kind doch erst mal rein, Merlinde. Außerdem müssen de Nachbarn doch nich allet mitkriegen, oda?«
Meine Mutter ließ mich los. »Papsch hat recht, komm rein.« Ich holte tief Luft, streifte mir die Füße an der Matte ab und betrat zögerlich mein ehemaliges Zuhause. Mittlerweile wohnte ich schon seit knapp neunzehn Jahren nicht mehr bei meinen Eltern, da ich mit zehn Jahren nach Oberstdorf ins Trainingsinternat gezogen war. Fünfzehn Jahre später hatte ich die Wettbewerbskarriere an den Nagel gehängt und war von Oberstdorf nach München übergesiedelt, wo ich von der berühmten Eisrevue Skate Dreams engagiert worden war. Seitdem lief ich dort gegen eine verdammt gute Bezahlung.
Meine Mutter schloss die Tür hinter mir und lief in die Küche voran. »Hasse Hunger, Püppi? Ich kann schnell Pommes Currywurst machen, wennse wills. Die Fritteuse ist, glaube ich, noch heiß von vorhin.«
Ich dachte kurz an meinen speziellen Sporternährungsplan, der so etwas eigentlich nicht vorsah. Viel zu viele Kalorien und kaum gesunde Nährstoffe. Allerdings kam ich dabei relativ schnell zu dem Entschluss, dass ich ja auf Urlaub und mir damit meine Ernährung gerade schnurzpiepegal sein konnte. »Gern!«
Mit wenigen Handgriffen bereitete meine Mutter die Fritteuse vor und stellte die Pfanne auf den Herd. Vorsichtig setzte ich mich auf die rustikale Eckbank und sah schweigend eine Zeit lang dabei zu, wie Mutti so vor sich hin brötschelte. Irgendwann wurde mir die Stille allerdings unangenehm.
»Wo ist eigentlich Mats? Noch arbeiten?«
Mutter nahm zwei Bratwürstchen aus der Verpackung und ließ sie in die heiße Pfanne fallen. Es brutzelte laut. »Quatsch. In der Halle, wo sonst?« Sie grinste. »In der Beziehung ist er doch genau wie du. Hauptsache, Kufen anne Füße.«
Mein großer Bruder spielte Eishockey. Eiskunstlauf war ihm immer zu weibisch gewesen. Er war eines dieser Raubeine, die auf ordentliche Bodychecks standen, die er schon als Kind mit besonderer Vorliebe an mir geprobt hatte. Seit Jahren spielte er bei den Essener Moskitos, wenn auch mehr als Hobby, sprich: Amateurspieler. Denn er hatte es sich nicht nehmen lassen, im Gegensatz zu mir nach der Schule noch eine ordentliche Ausbildung zum Kfz-Mechaniker zu machen.
Meine Mutter drehte sich zu mir um und lächelte. Mein Herz zog sich zusammen, weil mich in diesem Moment die Sehnsucht ergriff. Aber nicht nach meiner Familie, was in mir umgehend wieder das schlechte Gewissen anheizte – mich ergriff vielmehr die Sehnsucht nach der Halle. Nach dem Eis. Der Geruch, das gleißende Licht, das knarzende Geräusch, das meine Kufen machten, wenn sie hineinschnitten …
Schon früher war ich am liebsten morgens vor der Schule zum Training auf dem Eis gewesen. War im Halbdunkel der Halle meine Kür gänzlich ohne Musik gelaufen. Aber mal ehrlich, was bitte stimmte nicht mit mir, dass ich mich von Kindesbeinen an tatsächlich mehr zu gefrorenem Wasser als zu menschlichen Lebewesen hingezogen fühlte?
»Vielleicht gehe ich ihn gleich mal besuchen«, erwiderte ich beiläufig. Die Aussicht, nach der Zugfahrt etwas Eishallenluft schnuppern zu können, war himmlisch. Immerhin war ich schon seit beinahe zwei Tagen auf Entzug.
Meine Mutter griff in die Pommes-Verpackung und holte eine Handvoll Fritten hervor, um sie in die Fritteuse zu werfen. Es sprudelte, als das Fett heiß über die Kartoffelstreifen schwappte. Der Geruch erinnerte mich an eine Pommesbude.
»Nee, is klar, kaum hier und schon willste wieder weg, was?« Ich drehte den Kopf zur Seite und sah meinen Vater, der unbemerkt in die Küche getreten war. In seiner dunkelbraunen Jogginghose und dem Schießer-Feinripp-Unterhemd hatte er ein bisschen was von Hausmeister Krause. »Und warum kommst du überhaupt, wenne am liebsten doch gleich wieder weg wills?« Seine verkniffene Miene drückte pures Missfallen aus.
»Dann fahre ich eben nicht«, beschwichtige ich ihn. Dabei musterte ich ihn genauer. Er hatte tiefe Augenringe und sah abgemagert aus. Vielleicht war er deswegen gerade so krabbitzig.
»Nee, nee, nee, lass dich von uns nicht aufhalten. Wir wollen doch dem berühmten Eissternchen nicht im Wege stehen.« Er ging zum Kühlschrank und holte eine Tablettenpackung hervor. Hastig drückte er eine heraus, legte die Verpackung zurück ins Fach und schloss mit Nachdruck den Schrank. Meine Mutter reichte ihm ein Glas Wasser an. »Hier, Boris.«
»Danke, Mutsch.« Wortlos verzog er sich dann schlurfend zurück ins Wohnzimmer.
»Is was mit Paps? Er sieht extrem schlecht aus.«
Meine Mutter warf mir einen uneindeutigen Blick zu. »Bisschen Husten und Schnupfen. Du weißt doch, wie Männer sind, wenn se de Grippe haben.« In der Zwischenzeit hatte sie einen Teller aus dem Schrank geholt, auf dem sie nun die Bratwürstchen drapierte. Dann hob sie das Sieb mit den Fritten an. »Fahr ruhig, du weißt doch, wie Papsch ist. Er meint es nicht so. Kannst auch gerne mein Auto nehmen.«
Wenn ich ehrlich war, war der Gedanke, eine Eishalle zu betreten, für mich bei Weitem verlockender, als meinen miesepetrigen Vater den ganzen Abend ertragen zu müssen. Aber Streit wollte ich auch nicht provozieren. Schon gar nicht direkt am Anfang meines Besuchs. Dennoch …
»Ich bleib auch nicht lange«, versicherte ich ihr. »Versprochen!«
Mutter stellte lächelnd den Essensteller vor mir ab und strich mir mit einer Hand über den Schopf. So wie sie es schon früher immer gemacht hatte. »Und wenn schon, Hauptsache, du bist überhaupt mal wieder zu Hause. Kommt ja schließlich nicht so oft vor, was?«
Der Geruch der würzigen Currysauce ließ mir das Wasser im Munde zusammenlaufen. Herrgott, wann hatte ich das letzte Mal ein Essen, das aus mehr als zweihundert Kalorien, Salatblättern oder gedünstetem Gemüse bestand, zu mir genommen? Ehrlich gesagt konnte ich mich nicht dran erinnern.
Wie ein ausgehungerter Wolf stürzte ich mich auf die Pommes und schob mir zwei Fritten gleichzeitig in den Mund. Mutti sah mir freudestrahlend dabei zu. »Lasset dir schmecken, Püppi, du kannst es vertragen, du bis ja spindeldürr geworden.«
Mit vollem Mund nuschelte ich: »Mutti, du weißt doch, wenn ich zu fett bin, kann Roman mich bei den Hebefiguren nicht mehr halten.«
Sie lächelte versonnen. »Ach ja, Roman. Wann lernen wir ihn denn eigentlich mal kennen? Ihr seid ja schon wat länger zusammen.«
Schnell schob ich mir eine weitere Pommes in den Mund. »Mal sehen. Vielleicht nach der Tournee oder so«, nuschelte ich.
Mutti seufzte leise auf, als sei sie enttäuscht. »Und wann fährst du wieder zurück?«
Gedanklich überflog ich meinen Terminplan. Sollte ich sie belügen und sagen, dass der Flieger nach Hongkong viel eher startete als ursprünglich geplant? Damit könnte ich die Zeit hier dramatisch verkürzen. Aber meine eigene Mutter anzulügen brachte ich einfach nicht fertig. Also murmelte ich nur, ehrlich wie ich war: »Heute in zwei Wochen, Mutti. Zwei Tage später geht dann der Flieger.«
Nach dem Essen bezog ich mein altes Kinderzimmer im ersten Obergeschoss, in dem sich seit meinem Weggang rein gar nichts verändert hatte. Immer noch stand darin ein buchefarbenes Jugendzimmer mit Kastenbett; immer noch hingen an den rosa gestrichenen Raufasertapeten Poster von Alexei Yagudin, dem mehrfachen Welt- und Europameister im Herreneiskunstlauf und meinem heimlichen Kindheitsschwarm; und immer noch zierten etliche Pokale sowie Medaillen das Regal direkt über dem Bettkasten, in dem sich vermutlich das mit Schneeflockenbettwäsche bezogene Federbett befand. Ebenso wie auf dem Bett immer noch alle meine Monchichis saßen, die ich einst als Kind gesammelt hatte. Mein liebster Monchichi Karla trug sogar kleine Schlittschuhe an den Pfoten, die Mutti aus weißem Stoff genäht und bemalt hatte.
Hastig griff ich nach ihr, um sie an meine Brust zu drücken. Wenn ich mich in vierzehn Tagen zur Tournee aufmachen würde, würde ich das Äffchen auf jeden Fall als Maskottchen mitnehmen.
Es war das erste Mal, dass ich so eine Welttournee vor der Brust hatte und ganze neun Monate nicht in Deutschland sein würde. Bislang war ich mit Skate Dreams immer nur in Deutschland getourt. Trotzdem freute ich mich auf die neue Erfahrung. Wir würden in der langen Zeit vierundzwanzig Länder auf drei verschiedenen Kontinenten bereisen. Inklusive Sotchi in Russland, wo ich 2014 bei den Olympischen Winterspielen aufgrund einer Grippe nach dem Kurzprogramm zwangsläufig zurückziehen musste. Das waren dann auch meine letzten olympischen Spiele gewesen. Kurz danach waren Leon, mein Partner, und ich von Skate Dreams als Pärchen angeworben worden.
Ich setzte Karla vorsichtig zurück aufs Bett, warf mich schnell in ein bequemes dunkelgraues Sweatshirt und tauschte die Bundfaltenhose sowie die Schnürstiefel gegen eine dicke Strumpfhose, Jeans und Turnschuhe aus. Mit der Skate Bag, in der sich meine Schlittschuhe befanden, hüpfte ich schließlich immer zwei Stufen auf einmal nehmend die Treppe wieder hinab. Ohne meine Schlittschuhe ging ich nirgendwo hin, denn in meinen Augen war jede Minute ohne Eis eine vertane Minute, sodass ich jede Gelegenheit eiszulaufen wahrnahm. Deswegen konnte ich es auch kaum erwarten, endlich zur Eishalle zu fahren. Vielleicht könnte ich dort tatsächlich ein paar Ründchen auf dem Eis drehen.
In der Diele angekommen, empfing mich mein Vater. Sein angesäuerter Gesichtsausdruck sprach Bände. »Komm aber nicht so spät zurück, mein Fräulein.«
Fassungslos über seine anmaßenden Worte schüttelte ich den Kopf. »Papa, du kannst mir doch keine Vorschriften mehr machen. Schon gar nicht, wann ich nach Hause kommen soll.«
Er runzelte die Stirn noch eine Spur stärker. Ich wusste, was das bedeutete. »Dann kannst du dir ja beim nächsten Mal einfach ein Hotel buchen.«
Wortlos drückte ich ihm einen Kuss auf die stoppelige Wange und ließ die Sache auf sich beruhen. Auf einen Streit direkt am ersten Abend hatte ich keine Lust, und ich fand auch, dass ich die Situation durch rotziges Verhalten ihm gegenüber nicht noch verschärfen müsste. Aber ich wusste bereits jetzt, dass die vierzehn Tage hier verdammt lang werden würden. Wie gut, dass es die Eishalle in Essen-West gab.
Als Kind wäre Angela Merkel gerne Eiskunstläuferin geworden, fiel aber bei der Frühsichtung durch.
Zehn Minuten später lief ich stramm auf die graue Metallhalle zu, die sich neben dem Bahnhof Essen-West befand. Beim ersten Besuch der Halle war ich erst vier Jahre alt gewesen. Erstaunlicherweise erinnerte ich mich noch sehr gut daran. Während Mats beinahe sofort eislaufen konnte, hatte ich mit meinem Hintern zunächst die gesamte Eisfläche geputzt. Dies wiederum hatte jedoch meinen immensen Ehrgeiz aktiviert und meine Karriere in Gang gebracht. Schon nach dem ersten Mal hatte ich meine Eltern angebettelt, Stunden bei einem Trainer nehmen zu dürfen. Drei Monate später hatte ich bereits den Freiläufer in der Tasche.
Von Monat zu Monat hatte ich mich gesteigert. Genau wie mein Trainingspensum. Es folgten der Figurenläufer, der Kunstläufer und alle Prüfungen in den Kür- und Pflichtklassen. Kurz bevor ich in das Sport-Internat gegangen war, hatte ich hier in der Halle an sieben Tagen die Woche trainiert. Manchmal sogar bis zu fünf Stunden täglich. Bis meine Trainerin kundtat, sie könne mir nichts mehr beibringen und ich wäre in Oberstdorf vermutlich besser aufgehoben.
Zunächst hatten sich meine Eltern mit Händen und Füßen gegen das Internat gewehrt. Verständlich. Zum einen, weil sie mich nicht so weit weg wissen wollten, zum anderen, weil sie die knapp tausend D-Mark Gebühr pro Monat gar nicht aufbringen konnten. Schon allein das Extratraining, die Kleider sowie die regelmäßigen Schliffe meiner zwei Paar Schlittschuhe hatten sie oft genug an ihre finanzielle Grenze gebracht. Immerhin war Papa nur Hausmeister an einer Grundschule und Mama Hausfrau.
Aber ein Leben ohne Eislaufen hatte ich mir nicht mehr vorstellen können. Es war in all der Zeit zu meinem Lebensinhalt geworden. Deshalb hatte ich alles drangesetzt, meine Eltern davon zu überzeugen, dass Oberstdorf genau das Richtige für mich war. Irgendwann war schließlich die rettende Lösung in Form eines Sport-Stipendiums gekommen. Von da an war klar: Ich würde gehen. Korrigiere – ich würde laufen!
Dennoch hatten meine Eltern mir die Entscheidung übel genommen. Insbesondere mein Vater, der seither jede Gelegenheit nutzte, um mir mit seinen Sticheleien ein schlechtes Gewissen zu machen. So wie vorhin. Von Jahr zu Jahr waren darum die Besuche bei meinen Eltern immer seltener geworden.
Mit Schwung zog ich die blaue Metalltür neben der Garage mit der Eismaschine auf. Da gerade keine offizielle Laufzeit war, wurden die Sportler stets über den Hintereingang eingelassen. Sekunden später fand ich mich in der Halle wieder, die von grellem Flutlicht erleuchtet war.
Die Skate Bag geschultert, marschierte ich seitlich an der Bande entlang in den vorderen Bereich der Halle, wo sich auf dem Eis zahlreiche Spieler in bunt durcheinandergewürfelten Trainingsdresses tummelten. Unweigerlich glitt ein Grinsen über mein Gesicht. Wenn ich früher keine Lust auf Zirkeltraining gehabt hatte, hatte ich mit der hinteren Spitze der Schiene ein Stück Eis heraus gehackt und damit Eishockey gespielt. Nur eben nicht mit dem Schläger, sondern mit der Kufe, was mir dann allerdings Ärger mit meiner Trainerin eingebracht hatte.
Freudestrahlend lief ich an der Tribüne vorbei und ließ meinen Blick über die Eisfläche wandern. Es dauerte nicht lange, da hatte ich meinen Bruder erspäht. Er nahm gerade Kurs auf das Tor. Immer wieder ließ er den Puck mit dem Schläger von rechts nach links switchen und drückte sich mit den Kufen am Eis ab, um die Geschwindigkeit zu halten.
Von hinten schrie ihm jemand etwas zu, was ich aufgrund des allgemeinen Lärms nicht verstand. Mats hob schließlich den Schläger hoch, um zum Schuss anzusetzen, wurde in diesem Moment jedoch durch einen zweiten von links kommenden Spieler mit einem Bodycheck gegen die Bande gedrückt. Es knallte, als der Plastikhelm meines Bruders gegen das durchsichtige Plexiglas über der Bande im Torbereich donnerte. Er rutschte mit den Schuhen weg und schlug mit einem dumpfen Knall mit dem Rücken aufs Eis. Ich zuckte zusammen, doch zum Glück waren solche Rempler aufgrund der Schutzklamotten meist vollkommen harmlos.
Der Gegenspieler hielt meinem Bruder lachend die Hand hin und half ihm beim Aufstehen. Mats grinste ihn an, was mich selbst amüsierte. Wenn mein Bruder eines nicht war, dann nachtragend.
Ich suchte mir hastig einen Platz auf der Tribüne, von dem aus ich das Training verfolgen konnte. Anschließend griff ich in meine Skate Bag, holte Mütze und Handschuhe hervor und sah mich neugierig um. Ehrlich gesagt hatte sich die Halle in den letzten Jahren kaum verändert. Links neben dem Haupteingang gab es immer noch den offenen Kiosk, wo man sich zwischen den Eispausen auf Schlittschuhen schnell einen Kaffee, Glühwein oder ein paar Pommes holen konnte, und direkt darüber befand sich das obligatorische Hallenrestaurant, von dessen Balkonage sich ein Superblick auf die Eisfläche bot. Mutti hatte oft dort oben gesessen und während des Trainings Anzüge für mich gestrickt. Meine Eltern hatten sich die teuren Marken-Anzüge bekannter Sportmarken nie leisten können. Deshalb war ich stets belächelt worden. Selbst gestrickte Jogger waren eben nicht hipp genug, doch mir war es schlichtweg egal gewesen. Was ich wollte, war eiszulaufen. Und der Erfolg gab mir Recht. Ich war die Einzige aus unserem Verein, die so weit gekommen war. Trotz Muttis Strickanzügen. Wie oft ich den Welt- und Europameistertitel für Deutschland gewonnen sowie olympische Goldmedaillen eingefahren hatte, konnte ich nicht mehr an einer Hand abzählen.
Ich nahm meine Schlittschuhe aus der Tasche und betrachtete sie flüchtig. Das Leder an der Ferse war mittlerweile ganz vermackt. Auch die Schienen hatten so einige Kratzer. Vorsichtig löste ich einen der Schoner und rieb mit dem Daumennagel prüfend über die Klinge. Es wäre mal wieder ein Schliff fällig.
Ohne Umschweife schlüpfte ich schließlich in meine Schuhe und schnürte sie. Wenn das Training beendet war, dauerte es meist noch ein paar Minuten, bis der Eismeister mit der Maschine kam. Diese paar Minuten wollte ich dazu nutzen, einfach einige Runden zu drehen.
Als ich gerade die Jeans über die Schuhe zog, hörte ich den gellenden Abpfiff, der von den Hallenwänden widerhallte. Nach und nach zog es die Spieler von der Eisfläche. Währenddessen hüpfte ich von meinem Sitz herunter und lief zur offenen Bandentür. Drei bullige Typen kamen mir entgegen, die lautstark diskutierten und mich deshalb gar nicht wahrnahmen. Sie verließen die Eisfläche und zogen den Geruch von Schweiß hinter sich her.
Hastig streifte ich die Schoner ab, legte sie auf die Holzablage der Brüstung und stieg vorsichtig aufs Eis. Dabei fiel mein Blick auf meinen Bruder, der direkt neben dem Trainer stand, der wiederum auf ihn einredete. Einmal rechts, einmal links drückte ich mich mit der Kufe ab und glitt über das Eis.
Nun hatte mich auch Mats entdeckt. Er breitete seine Arme aus und kam kreischend auf mich zu gefahren. »Prinzessin Glitzerkufe!«
»Hey, Rammbock, lange nicht gesehen und doch wiedererkannt, was?«, frotzelte ich.
»Boah, der Spruch hat so einen Bart.« Mats verdrehte die Augen.
Der Trainer drehte sich zu mir um und musterte mich. Sein Schnauzer und das lichte graue Deckhaar erinnerten mich an Jean Pütz, während die gerunzelte Stirn mir deutlich signalisierte, dass er von meinem Auftauchen nicht gerade begeistert war.
Trotzdem fiel ich meinem Bruder lachend in die Arme. Er hob mich hoch und wirbelte mich herum, was mich zum Kichern brachte. Anschließend setzte er mich ab und drückte mir einen dicken Schmatzer auf die Lippen.
Das war das Einzige, was ich wirklich bereute. Wenn das Verhältnis von Paps und mir besser gewesen wäre, wäre ich sicher öfter gekommen, weil ich meinen großen Bruder liebte und ihn vermisste, trotz all der kindlichen Bodychecks und Kopfnüsse. Seiner Aufgabe, mich vor den bösen Jungs zu beschützen, war er mit Bravour nachgekommen. Er war damals sogar mein Fürsprecher für Oberstdorf gewesen. Wenn er nicht meine Eltern überredet hätte, hätten sie sicher nie dem Stipendium zugestimmt. Und obwohl er es nie ausgesprochen hatte, wusste ich, dass er meinen Fortgang damals notgedrungen hingenommen hatte, weil er die gleiche Liebe teilte. Die Liebe zum Eis.
Ich musterte meinen Bruder, den ich seit knapp einem Dreivierteljahr nicht mehr gesehen hatte. Sein schwarz gelocktes Haar und die eisblauen Augen entsprachen genau den meinen, womit wir nicht nur die Leidenschaft fürs Eislaufen teilten. Eine von Papas Lieblingssticheleien war, wir seien womöglich gar nicht von ihm, sondern vom Schneemann. Denn weder er noch Mutti hatte schwarze Locken oder blaue Augen. Paps war von Natur aus rotblond und Mutti straßenköterbraun, beide mit eher glatten Haaren.
Mats setzte mich wieder ab. »Pass auf, Schwesterherz, ich geh nur schnell duschen. Sollen wir dann irgendwo was trinken gehen?«
Ich nickte ihm zu. »Alles klar, ich laufe so lange ein paar Runden.«
Er grinste. »Jede Minute ohne Eis ist eine vertane Minute, was?«
Ich boxte ihm mit der Faust freundschaftlich in die Rippen und schmunzelte. »Du sagst es, Rammbock. Also lass dir ruhig Zeit.«
Mein Bruder riss mir die Mütze vom Kopf und verwuschelte schnell meinen schulterlangen Haarschopf. Schließlich hielt er mir die Mütze grienend wieder hin und verließ das Eis in Richtung Herrenumkleide.
Ein paarmal musste ich mich mit den Kufen abdrücken, bis ich genügend Geschwindigkeit hatte, um mich über die Außenkante beim Laufen umzudrehen. So fuhr ich eine ganze Zeit lang gemütlich nur rückwärts. Letztlich nahm ich wieder etwas Geschwindigkeit auf und legte mein ganzes Gewicht auf die Außenkante des rechten Fußes, um mich beim Fahren erneut umzudrehen. Anschließend lief ich ein paar Zirkel und übte mich in einer einfachen Pirouette im Stand.
Als Nächstes nahm ich rückwärts Anlauf, drehte mich kurz vorher um und stieß mich mit dem linken Bein über die Außenkante des Schuhs in die Luft ab. Meine Arme befanden sich dabei für zweieinhalb Umdrehungen vor meiner Brust, um dann kurz vor der Landung auf dem rechten Bein wieder zu öffnen. Mein Herz floss über vor Freude, weil beim doppelten Axel alles glattgelaufen war. Eigentlich durfte ich nicht springen, ohne vorher ein spezielles Aufwärmprogramm absolviert zu haben. Doch mir war gerade danach.
So fuhr ich weiter, übte noch eine komplizierte Kurzschrittfolge des Tournee-Programms und probierte mich danach an ein paar Lutz und Flips.
Zu guter Letzt drehte ich einfach so einige Runden, bis das Eis und ich miteinander verschmolzen. Noch immer fand ich es wahnsinnig faszinierend, dass wir Eisläufer eigentlich gar keinen richtigen Kontakt zu dem Eis haben. Das Eis wird unter dem Druck des Schuhes nämlich flüssig, wodurch wir ständig auf einer dünnen Schicht Wasser dahingleiten. Sagt zumindest die Physik.
So lief ich entspannt Runde um Runde, gänzlich in Gedanken versunken, bis ich mit der Kante des rechten Schuhs in eine tiefe Spurrille geriet und es mich äußerst unelegant von den Füßen haute. Dies wertete ich als göttliches Zeichen.
Als ich vom Eis ging und mir mit den Fingern erst den Schnee von der Jeans klopfte und dann mit den Fingern von den Schienen schob, sah ich aus den Augenwinkeln heraus, wie ein großer Kerl auf mich zu schlenderte. Er musste an die zwei Meter groß sein. Mit meinen ein Meter siebzig war ich auch nicht gerade klein, aber als er direkt vor mir stand, musste ich ein gutes Stück zu ihm aufschauen.
Mein Herz schlug schneller, und meine Knie wiesen urplötzlich nicht mehr dieselbe Stabilität wie vorher auf. Der Kerl war nicht nur groß, sondern auch recht attraktiv. Sein Haar war vorne länger als hinten, womit ihm einige Strähnen seiner dunklen, leicht gewellten Pracht störrisch in die Stirn fielen. Die völlig gerade Nase zierte ein markantes Gesicht mit ausgeprägten Wangenknochen, das durch den leichten Bartschatten noch männlicher wirkte. Seine Lippen waren voll, aber nicht zu voll. Das Kinn stach deutlich hervor. Es wies sogar ein kleines Grübchen auf. Seine Augen waren dunkelbraun, beinahe schwarz, und er musterte mich von oben bis unten.
»Hey, was war das denn gerade für ein Kunstlaufelement? Der dreifache Bauchklatscher?«, scherzte er. Seine Augen funkelten belustigt. Ich bildete mir ein, einen leichten Akzent zu vernehmen. Vielleicht einen englischen. Hm, nein, zu unkonventionell. Doch eher amerikanisch?
Da ich mich wegen des Sturzes über mich selbst ärgerte – immerhin war ich nicht einmal gesprungen – und es gegenüber dem attraktiven Kerl auch noch immens peinlich fand, kam mir nur ein verlegenes »Äh … keine Ahnung« über die Lippen.
Hastig setzte ich mich draußen auf die Bank, um mir die Schlittschuhe auszuziehen. Das aufgeregte Herzklopfen in meiner Brust versuchte ich dabei geflissentlich zu ignorieren.
Der Hüne folgte mir und hielt mir unvermittelt die Hand hin. »Hi, ich bin Finn. Finnley McClair.«
Aha! Dies erklärte dann wohl den Akzent. Dem Namen nach zu urteilen, würde ich McClair amerikanische Wurzeln zuschreiben. Sein Händedruck war kräftig, und der kurze Hautkontakt verunsicherte mich, weil es mich dort, wo er mich berührte, kribbelte. Ich zog die Hand weg und gab schnell mit dünner Stimme zurück: »Mila … ähm … Antonovsky.«
Plötzlich riss er die Augen auf. »Ach was. Du bist also Antonovsky zwei, der berühmte Eiskratzer.«
Ich stutzte. Was hatte er da gesagt? Eiskratzer? Verwirrt strich ich mir eine widerspenstige Haarlocke zurück unter die Mütze. »Ich verstehe nicht ganz.«
Er grinste. »Ich meinte, du bist also Mila, Mats Schwester? Dein Bruder hat gesagt, du läufst bei Skate Dreams. Deswegen Eiskratzer. You know?«
Ich sah zu ihm auf und runzelte die Stirn. Den Ausdruck Eiskratzer hatte ich noch nie gehört.
»Gehen die jetzt nicht auf Tournee?«
Wieder nickte ich und zog mir dabei den rechten Schuh vom Fuß. Mit einem Mikrofasertuch begann ich die Schiene trocken zu reiben, damit sie in der Tasche keinen Rost ansetzte. »In zwei Wochen geht’s los. Erster Stopp ist Hongkong.« Mein Gesicht wurde etwas warm. Ich mochte es nicht zu prahlen.
McClair grinste. »Dann bist du wohl nicht dabei, was?«
Ich hielt kurz inne und sah zu ihm hoch. Seine Augen waren wirklich fast schwarz – so wie Ebenholz. In meinem Bauch zog es. »Doch, wieso sollte ich nicht dabei sein?«
»Weil du hier bist!« Er zwinkerte mir zu.
Insgesamt fand ich sein Verhalten etwas provokativ. »Stell dir vor, ich bin sogar die Erstbesetzung. Zusammen mit meinem Freund. Ich mache nur noch ein paar Tage Urlaub hier.« Zwar musste ich mich nicht vor ihm rechtfertigen, aber degradieren lassen musste ich mich ja nun auch nicht.
Er neigte den Kopf. »Soso. Du und dein Freund, ihr seid also beide Eiskratzer?« Er lehnte sich mit verschränkten Armen an die Bande und beobachtete mich dabei, wie ich die andere Schiene zum Teil verlegen, zum Teil angefressen heftig trocken rubbelte.
»Wo ist er denn jetzt?« Seine Frage kam unerwartet.
»Wer?«
»Der, der auch seinen Namen auf dem Eis tanzt!«
Unmut kroch in mir hoch. Seine blöden Kommentare über Eiskunstläufer gingen mir schon jetzt gehörig auf die Nerven, dabei kannte ich ihn noch nicht einmal fünf Minuten.
Etwas heftiger als gewohnt zog ich den Reißverschluss meiner Tasche zu. Dabei versuchte ich mir von dem Wechselbad der Gefühle in mir nichts anmerken zu lassen. Der Kerl war zwar attraktiv und brachte mich völlig aus dem Lot, gleichzeitig war er total nervig und unhöflich.
»Sich mit Mitspielern um eine kleine Gummischeibe in der Größe eines Cremepöttchens zu prügeln ist natürlich viel besser, was?«
»Sich um eine Gummischeibe zu prügeln ist immerhin männlicher, als nach schnulziger Musik auf dem Eis herumzuhüpfen.«
Vor lauter Empörung stand ich auf, griff energisch nach meiner Tasche und warf ihm einen bitterbösen Blick zu. Dennoch konnte ich nicht verkennen, dass es in meinem Bauch leise kribbelte, was mich enorm ärgerte. Deshalb ließ ich ihn ohne weiteren Kommentar stehen. Manche Menschen waren es einfach nicht wert, dass man ihnen Aufmerksamkeit schenkte oder auch nur ein weiteres Wort an sie verschwendete. Und dieser McClair gehörte für mich definitiv dazu. Da konnte er so attraktiv sein, wie er wollte.
Denise Bielmann war die erste Frau, die den dreifachen Lutz springen konnte.
»Was ist los, Schwesterherz?« Mats griff nach seinem Radler und nahm einen großzügigen Schluck. Wir zwei waren zum Quatschen in einer Kneipe in der Nähe der Eishalle eingekehrt.
»Ach, Paps ist los«, gab ich beiläufig zurück und betrachtete, wie die Kohlensäurebläschen in meinem Mineralwasser nach oben stiegen und an der Oberfläche platzten. Seltsamerweise fühlte ich mich plötzlich genauso labil wie diese Bläschen.
Mats stutzte. »Was ist das Problem mit Paps?«
Ich zögerte. »Na, was soll schon sein? Er hat mich gleich wieder angemault. Willste schon wieder aufs Eis, geh nicht so lange … blablabla!«
Natürlich ging es nicht nur um Mats. Auch die Begegnung mit diesem McClair hatte mich verwirrt. Immer wieder sah ich ihn in Gedanken vor mir, hallte das Wort Eiskratzer in mir nach.
Mein Bruder unterbrach mich. »Du weißt doch, wie Papsch ist. Den änderst du nicht mehr. Er war immer schon ein kleiner Muffelkopp mit Kontrollzwang.« Er trank schnell einen Schluck, bevor er weitersprach. »Aber Mutti, die freut sich wirklich riesig, dass du da bist. Sie hat tagelang nichts anderes von sich gegeben als Mila kommt, Mila kommt.« Mit einem kleinen Seufzer stellte er das Glas ab. »Jeder in der Nachbarschaft weiß Bescheid, selbst alle hundertneununddreißig Angestellten im Gewerbegebiet am Wolfsbankring.«
Er sah mich wieder an und grinste verschmitzt. »Übrigens ist für morgen um drei eine Autogrammstunde angesetzt. Hast du deinen pinken Glitzerstift dabei?« Amüsiert zwinkerte er mir zu.
Seine Übertreibung entlockte mir tatsächlich ein Schmunzeln. Mutti war die Beste und nicht einmal das Problem. Wirklich nicht. Eher Paps und seine miese Laune. »Die Gegend hat sich ganz schön verändert …«
Mein Bruder griff nach meiner Hand und hielt sie fest. »Klar hat sich hier einiges verändert. Aber meist bleibst du doch eh nicht lange. Also was soll’s? Sieh’s locker.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Vielleicht bin ich auch nur so mies drauf, weil mir Roman fehlt.« Zack, und da war er wieder in meinem Kopf –- Blödian McClair. Insgeheim hatte ich sogar so langsam ein schlechtes Gewissen. Mein Körper war bei der Begegnung mit ihm ein wenig außer Kontrolle geraten. Das war doch nicht okay, wenn man in festen Händen war, oder?
Mats Miene verdüsterte sich. Umgehend zog er seine Hand wieder weg.
Ich stutzte. »Was ist los?«
Mein Bruder trank einen weiteren Schluck. »Nix.«
»Du guckst aber wie sieben gesperrte Auswärtsspiele«, scherzte ich. Doch es entlockte Mats kein Lächeln. Nicht einmal ein kleines Schmunzeln.
»Tue ich gar nicht.«
»Äh … doch?«
Er setzte eine verschlossene Miene auf. »Können wir einfach das Thema wechseln?«
Ich runzelte die Stirn. »Warum?«
»Weil ich sonst etwas sagen würde, was ich sicher bereue und dich verletzt.«
»Egal! Sag schon … Du weißt doch, unter Geschwistern keine Geheimnisse.«
Mein Bruder stellte sein Glas ab. Der Rest seines Radlers schwappte hin und her. »Schwesterchen, du bist seit anderthalb Jahren mit diesem Typen zusammen und kommst nur einmal im Jahr vorbei. Meinst du nicht, es wäre schön für uns, den Kerl, mit dem du mehr Zeit verbringst als mit deiner eigenen Familie, endlich mal kennenzulernen? Warum hast du ihn nicht mitgebracht?«
Ich schluckte schwer. Mats hatte ja recht. Ich kam nur einmal im Jahr, wenn überhaupt. Am ehesten noch zu Weihnachten, weil ich musste. Und bislang hatte ich Roman noch nicht wirklich davon überzeugen können, mich zu begleiten. »Er wollte seine eigene Familie vor der Tournee besuchen, das ist doch verständlich oder?«
»Tournee hin oder her. Ich finde, ihr könntet wenigstens mal so viel Anstand besitzen, ein Wochenende zu opfern, und zusammen zu Besuch kommen.« Mit verkniffener Miene schüttelte mein Bruder den Kopf. »Wir als deine Familie sind nämlich total außen vor. Du wohnst Hunderte Kilometer weit weg und führst ein ganz anderes Leben als wir. Manchmal denke ich, ich kenne dich gar nicht mehr, dabei bist du meine Schwester.« Er seufzte leise auf. »Als du noch in Oberstdorf warst, bist du wenigstens immer in den Ferien da gewesen. Aber jetzt, seit du bei Skate Dreams läufst, kommst du nur noch, wenn du unbedingt musst.«
Seine Worte stimmten mich nachdenklich. Er hatte ja recht. Aber ich war nun mal auch nicht mehr im Internat. Deshalb wand ich mich unter seinem strengen Blick.
»Okay, lassen wir das«, murmelte Mats, als er meine Reaktion bemerkte. »Hauptsache, du bist jetzt da. Also sag bitte nicht, Paps’ Gemaule geht dir auf den Keks. Ich kann ihn leider voll verstehen.«
Ich verkniff mir eine Antwort. Was hätte ich auch groß sagen sollen? Ich gehörte nun mal auf das Eis, verdiente damit mein Geld, und dazu waren auch Opfer nötig.
Schnell lenkte ich das Gespräch in eine andere Richtung. »Und was läuft bei dir so? Immer noch keinen Schnief, zu Hause auszuziehen?« Mein Bruder wohnte immer noch in seinem alten Kinderzimmer. Eine Zeit lang hatte er mal eine feste Freundin gehabt, sodass es so aussah, als würde er endlich flügge werden. Doch als Sarah mit ihm Schluss gemacht hatte, war alles wieder beim Alten gewesen.
»Bist du verrückt? So billig kann ich doch nirgendwo anders wohnen.« Er zwinkerte mir zu.
Plötzlich schwang die Tür auf, und ein älterer, recht schick gekleideter Herr kam herein. Was mir direkt ins Auge stach, war die braune Samtfliege, die wunderbar mit dem dunkelbraunen Cord Blazer harmonierte, den er trug. Ehe er sich mit dem Rücken zu uns auf einen Barhocker an die Theke setzte, zog er kurz die Fliege zurecht.
»Ehrlich gesagt habe ich mir zwar mal ein paar Wohnungen angeschaut, aber da war nie was dabei«, erzählte Mats weiter.
»Wahrscheinlich wohnst du noch dann in deinem Zimmer, wenn Mama und Papa längst gestorben sind«, witzelte ich. Prompt sah Mats betreten ins Glas.
»Alles in Ordnung? Habe ich was Falsches gesagt?«
Mein Bruder griff nach seiner Jacke und dem Bierdeckel. »Quatsch. Alles in Ordnung. Komm, lass uns gehen, du weißt, dass Papsch sonst wieder meckert. Wir wollen ihn nicht unnötig aufregen.«
Mats sprang auf und lief zur Theke, um den Deckel zu bezahlen. Als er den Fliegenträger bemerkte, wechselte er schnell ein paar Worte mit ihm. Daraufhin warf der ältere Herr einen Blick über die Schulter zu mir herüber. Er winkte mir sogar zu.
Ich stand nun ebenfalls auf, raffte meine Sachen zusammen und lief meinem Bruder hinterher.
»Mila, das ist Walter Koselowski. Der Besitzer der Eishalle. Er trinkt hier ab und zu sein Feierabendbier.«
Herr Fliege drehte sich zu mir um und hielt mir die Hand hin. Er war mir auf Anhieb sympathisch. Aus einem beinahe faltenlosen Gesicht strahlten mir freundliche, verwaschen blaue Augen entgegen, und mit Hemd, Sakko und Fliege erweckte er den Eindruck eines Uni-Professors.
»Gestatten, Koselowski«, brummte er. »Ich bin hocherfreut, Sie kennenzulernen, Fräulein Antonovsky.« Flüchtig hauchte er mir einen Kuss auf den Handrücken. Dann drückte er meine Hand an sein Herz und sah mich ehrfurchtsvoll an. »Als Sie 2006 bei der Weltmeisterschaft in Calgary beim dreifachen Rittberger gestürzt sind, habe ich wahrlich mit Ihnen gelitten.« Seine Worte mitsamt der schmerzverzerrten Miene machten mich verlegen. Tagelang hatte mein Schädel gebrummt wie ein Kompressor – Gehirnerschütterung.
Wir betrieben ein bisschen Small Talk. Ich erfuhr, dass er ein großer Fan von mir war, vor ein paar Jahren die Halle von seinem Vater geerbt hatte und seine Frau Helena nicht gerade begeistert davon gewesen war.
In meinen Gedanken tauchte plötzlich ein schrulliger alter Kauz auf, den ich schon als Kind immer durch die Halle hatte huschen sehen. Nun war mir klar – dies war wahrscheinlich Koselowski Senior gewesen. Seitdem kümmerten Helena und Walter sich um die Einrichtung. Helena um den Kiosk und das Hallenrestaurant im ersten Stock, Walter um den Rest.
Schließlich verabschiedeten wir uns von Herrn Koselowski, den ich in den wenigen Minuten bereits in mein Herz geschlossen hatte. Er schien einer dieser liebenswürdigen Gutmenschen zu sein, die nichts und niemandem etwas Böses wollten.
Doch zu Hause wartete bereits das Gegenteil auf uns. Paps stand in der Tür und verfolgte uns wie Sauron mit intensiven Blicken. »Könnt ihr mir mal sagen, wo ihr zwei jetzt herkommt? Es ist halb elf.«
Halb elf? Verdammt! In der ganzen Aufregung hatte ich glatt vergessen, mich bei Roman zu melden und ihm zu sagen, dass ich gut angekommen war.
Mutter kam dazu. »Nun lass die Kinder doch mal, Papsch. Immerhin sind sie schon volljährig. Da dürfen sie selbst entscheiden, wann sie kommen und gehen.« Sie bedachte ihn mit einem mahnenden Blick, dem er nichts entgegenzusetzen hatte.
Leise vor sich hin brummelnd verzog er sich in seinen Sessel an der Terrassentür im Wohnzimmer.
»Ich finde, du könntest dir langsam selbst eine Bleibe suchen«, zischte ich meinem Bruder zu und zückte mein Handy. »Dann kann ich wenigstens bei dir pennen, wenn ich komme.«
Mats grinste nur. »Lohnt nicht, kommst ja sowieso nie.« Daraufhin boxte ich ihm spielerisch auf den Oberarm. Er grinste nur noch breiter.
Schließlich sagte ich allen brav Gute Nacht und zog mich in mein Zimmer zurück, um Roman anzurufen.
Nach dem sechsten Klingeln ging er auch endlich ran. Im Hintergrund hörte ich Schlagermusik und Stimmengewirr.
»Hey, Baby«, rief er ins Telefon. »Alles klar?«
»Äh … hi. Natürlich, und bei dir? Bist du etwa schon bei deinen Eltern?« Genau wie ich hatte er seine Eltern vor der Tournee noch besuchen wollen, weshalb ich allein in den Ruhrpott gefahren war.
»Schmarrn. Ich habe mir überlegt, ich fahre doch erst nächste Woche Samstag. Länger als eine Woche halte ich es bei denen ohnehin nicht aus.«
»Wo bist du dann?« Ich versuchte, meine Stimme nicht allzu pikiert klingen zu lassen. Denn dann hätte er mich doch für ein paar Tage begleiten können. Zudem hatte er mich bis jetzt scheinbar nicht wirklich vermisst.
»Auf dem Oktoberfest.« Ich verzog das Gesicht. Oktoberfest war meiner Meinung nach nur was für Promis mit Aufmerksamkeitsdefizit.
»Seit wann gehst du denn aufs Oktoberfest?«
»Jana hat mich überredet. Schade, dass du nicht hier bist. Es ist echt lustig.« Prompt fühlte ich einen heftigen Stich im Herzen.
Jana – meine Zweitbesetzung. Sie war immer schon um Roman herumscharwenzelt. Dass er mit ihr auf dem Oktoberfest war, wo reichlich Alkohol floss, fand ich nicht toll.
»Bist du allein mit ihr dort?« Seltsamerweise klang meine Stimme völlig normal, obwohl ich mir gerade vorstellte, wie Jana schmachtend an Romans Arm hing.
»Mit ihr und einigen anderen aus dem Team. Nächstes Jahr gehen wir zwei mal zusammen aufs Oktoberfest, gell?« Seine Worte beruhigten mich etwas, dennoch konnte ich nicht verkennen, dass ich einen Knoten im Bauch hatte.
Da ich ihn kaum verstand und mich das Schallalalalalala im Hintergrund nervte, verabschiedete ich mich kurz darauf von ihm.
In diesem Moment musste ich wieder einmal an McClair denken. Er war verglichen mit Roman ein ganz anderer Typ. Schon rein körperlich gesehen. Groß, breit und kräftig, mit dunklen Haaren. Roman dagegen war schmal, feingliedrig und blond. Und auch sonst war McClair anscheinend eher der penetrante Bauer, während mein Freund sich durch eine zurückhaltende und annähernd kultivierte Art auszeichnete. McClair war der Typ fürs Oktoberfest, aber doch nicht Roman.
»Gut, Süße, wir hören uns die Tage. Ich kann es kaum abwarten, dich wieder in meine Arme zu schließen.« Dies besänftigte mein aufgewühltes Gemüt um tausend Prozent. Roman liebte mich. Und das war das Wichtigste für mich.
Das Kurzprogramm darf maximal zwei Minuten und fünfzig Sekunden betragen und besteht aus sieben geforderten Eiskunstlaufelementen wie Pirouetten und Sprüngen.
Mittlerweile war ich schon fünf Tage in Essen und megagenervt. Mein Vater ließ keine Gelegenheit aus, mir einen dummen Spruch nach dem anderen reinzuwürgen, sodass ich häufiger in die Eishalle floh, als ich die Toilette benutzte. Doch in der Eishalle gab es Schlusszeiten. Wenn ich also nicht auf einer Parkbank im benachbarten Westpark nächtigen wollte, musste ich notgedrungen nach Hause, wo mich aber direkt wieder mein Vater abfing. Denn die Frequenz seiner Maßregelungen nahm exponentiell zu meinen Fluchtversuchen zu. Somit sehnte ich den Tourneebeginn immer stärker herbei und zählte bereits die Millisekunden bis zu meiner Abfahrt.
Wie beinahe jeden Abend sah ich mir gerade mit Paps und Mats das bildungsbewusste Vorabendprogramm im Fernsehen an, als mein Handy klingelte. Verdammt, was war ich dankbar über die Unterbrechung. Wenn ich noch ein weiteres Sprichwort hätte erraten müssen, wäre ich sicherlich Amok gelaufen.
Mats hob den Blick und zwinkerte mir zu. Schon die ganze Zeit tatschte er wie gebannt auf seinem Display herum und lächelte immerzu, was mich vermuten ließ, dass er mit einem Mädel chattete. Und dies ließ mich hoffen, vielleicht in Zukunft bei Mats nächtigen zu können, wenn er auszog.
Paps dagegen warf mir einen dermaßen stechenden Blick zu, dass ich auf Zehenspitzen den Raum in Richtung Küche verließ, wo meine Mutter das Essen für den nächsten Tag vorbereitete. Sauerkraut mit Kasseler. Lecker!
Aufatmend ließ ich mich auf die Eckbank sinken und nahm das Gespräch mit der mir unbekannten Nummer an.
»Milaschatz, ich bin’s. Sorry wegen der fremden Nummer, aber das ist die Büroleitung.« Augenblicklich glitt ein Strahlen über mein Gesicht. Die Stimme war mir mehr als bekannt. Sie gehörte meinem alten Eistanzpartner Leon, der vor knapp zweieinhalb Jahren von einem Freizeitpark in der Nähe von Köln engagiert worden war. Dort lief er nun jeden Tag kleine Eis-Shows für die Besucher.
»Meine Güte, Leon. Wie lange ist das denn her?«
Leon lachte in den Hörer. »Jetzt hör aber auf. Ich erinnere mich noch gut daran, wie du im letzten Sommer zwei Nächte bei uns auf der Couch gepennt hast. Du sagst zwar immer, du schnarchst nicht, aber, Schätzchen, glaub mir, du tust es. Sogar die Wände haben gewackelt.«
Leon hatte sich damals in Alexandra aus unserer Skate Dreams-Truppe verliebt, die kurz darauf ungewollt schwanger geworden war. Deshalb hatte es die beiden nach Köln gezogen, wo sie geheiratet hatten und in der Nähe von Alex’ Familie sesshaft geworden waren. Daraufhin war mir Roman als neuer Tanzpartner bei Skate Dreams zugeteilt worden. Ein Jahr später hatten wir dann auch privat als Paar zusammengefunden.
»Stimmt, ich hoffe, du willst jetzt keine Revanche dafür, denn ich bin gerade bei meinen Eltern, und die fänden das sicher alles andere als witzig«, gab ich schmunzelnd zurück.
Roman und ich hatten uns im Sommer mal heftig wegen eines verpatzten Teils unserer Kür gestritten, woraufhin ich kurzerhand zu Leon und Alex geflüchtet war. Aber nicht für lange. Denn Roman hatte geläutert bei mir angerufen und sich entschuldigt, und ich war zufrieden nach München zurückgekehrt.
»Quatsch. Bei Alex und mir ist alles in Ordnung. Und der kleinen Sophia geht’s auch gut. Außerdem weiß ich von Berendorf bereits, dass du im Ruhrgebiet bist. Deswegen rufe ich auch an.«
Ich stutzte. Berendorf? Unser Manager? Wieso hatte Leon ihn angerufen?
»Wenn ich dich mal besuchen kommen soll, musst du niemanden um Erlaubnis fragen«, scherzte ich und warf vorsichtig einen Blick zu meiner Mutter hinüber, die aber stoisch weiter Kartoffeln schälte. Sicher wäre meine Familie nicht begeistert, wenn ich mal eben für einen Tag nach Köln jettete, um Leon zu besuchen. Aber verlockend war das schon. Ein ganzer Tag ohne Paps …
»Als ob ich ihn um Erlaubnis bitten würde.« Leon schnaufte in den Hörer. »Ich wollte nur wissen, wann genau die Tournee startet. Meine Hauptbesetzung ist nämlich krank geworden und hat die Zweitbesetzung angesteckt. Die Drittbesetzung läuft noch bis Freitag, hat dann aber Urlaub gebucht, den sie nicht mehr stornieren kann und soll. Zudem haben wir nur noch dieses kommende Wochenende, dann beginnt die Wintersaison mit neuem Programm, weshalb wir erst mal zwei Wochen Laufpause haben.« Er seufzte leise auf. »Also brauche ich dringend jemanden, der nur für dieses eine Wochenende einspringen und sich schnell auf die Kür einschießen kann. Da habe ich gleich an dich gedacht. Hättest du Zeit und Lust?«
Ich dachte nach. Leons Angebot war eigentlich die ideale Gelegenheit, um ein paar Tage meiner Zeit hier im Ruhrgebiet zu überbrücken. Ein Wochenende weniger ohne meinen miesepetrigen Vater klang toll. Aber wollte ich dafür wirklich den Stress, der damit verbunden wäre, in Kauf nehmen?
»Wann müsste ich kommen?«
Leon räusperte sich. »Wenn es geht, schon morgen früh. Dann kannst du mit der Drittbesetzung noch das Showprogramm einüben, damit du Samstag und Sonntag laufen kannst.«
Meine Mutter hielt mit dem Schälen inne und sah fragend zu mir herüber.
»Und ihr habt wirklich niemand anderen, der einspringen kann? Warum läuft nicht eine andere aus dem Team die Show?«
Leon knurrte in den Hörer. »Glaub mir, Süße, keine der Nebendarstellerinnen ist auch nur annähernd dazu in der Lage, eine Biellmann-Pirouette zu drehen oder sich die Kür in so kurzer Zeit zu merken. Bitte – ohne dich bin ich verloren.«
Natürlich verstand ich seine prekäre Lage. Das hieß aber auch, dass ich für mindestens drei Tage weg wäre. »Ich muss erst mal mit meiner Familie sprechen. Schließlich kann ich nicht einfach mir nichts, dir nichts verschwinden.«
»Das verstehe ich natürlich.«
Ich dachte nach. Es gab genau zwei Dinge an seinem Angebot, die mich reizten. Erstens, aus Papas Schusslinie zu kommen. Zweitens, mal wieder richtig zu laufen. Mit Choreografie und vor Publikum. »Pass auf, Leon. Ich kläre das hier ab und ruf dich zurück.«
»Super, Mila. Mehr wollte ich gar nicht hören.«
Damit beendete ich das Gespräch und lief zusammen mit Mutti zurück ins Wohnzimmer – oder besser gesagt, in die Höhle des Löwen.
Natürlich war es für Paps nicht in Ordnung, weshalb er mich wortwörtlich zerfleischte. »Sach ma, is unser Haus etwa ein Bahnhof mit Durchgangsverkehr?«
Mutter versuchte ihn sofort zu beschwichtigen. »Boris, sie kommt doch Sonntagabend gleich wieder. Nu mach ma kein Drama draus. Und die haben da wirklich Not am Mann, dafür müssen wir Verständnis haben.«