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Für ihre Zukunft muss sie sich der Vergangenheit stellen ...
England, 1832: Nicht ahnend, wer sie wirklich ist, wächst Hope gut behütet bei der Familie Renton auf. Als sie jedoch in die Dienste einer reichen Familie tritt, ziehen dunkle Wolken in ihrem Leben auf: Hope wird gezwungen, die Rentons zu verlassen und muss sich plötzlich auf der Straße durchschlagen. Bei Ausbruch der Cholera in Bristol ist Hope eine der wenigen, die sich aufopfernd um die Kranken kümmert. Dabei lernt sie den Arzt Bennett Meadows kennen und folgt ihm zu den Schlachtfeldern des Krimkrieges. Doch das Schicksal führt sie schließlich wieder nach England, wo sie sich den Geheimnissen ihrer Herkunft stellen muss ...
Weitere Titel von Lesley Pearse bei beHEARTBEAT:
Ellie - Als wir Freundinnen waren. Camellia - Im zarten Glanz der Morgenröte. Adele - Der Wind trägt dein Lächeln.
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Camellia – Im zarten Glanz der Morgenröte
Adele – Der Wind trägt dein Lächeln
Als wir Freundinnen waren
Bis dein Herz mich findet
Das Geheimnis von Carlisle
Das helle Licht der Sehnsucht
Das Mädchen aus Somerset
Den dunkel ist dein Herz
Der Wind trägt dein Lächeln
Durch stürmische Zeiten
Echo glücklicher Tage
In der Ferne ein Lied
Jeden Tag ein bisschen Zuversicht (September 2019)
Schatten der Erinnerung
Wenn tausend Sterne fallen
Wo das Glück zu Hause ist
Wo die Hoffnung blüht
Zeiten voller Hoffnung
Die Belle Trilogie:
Band 1: Doch du wirst nie vergessen
Band 2: Der Zauber eines frühen Morgens
Band 3: Am Horizont ein helles Licht
Weitere Titel in Planung.
Für ihre Zukunft muss sie sich der Vergangenheit stellen …
England, 1832: Nicht ahnend, wer sie wirklich ist, wächst Hope gut behütet bei der Familie Renton auf. Als sie jedoch in die Dienste einer reichen Familie tritt, ziehen dunkle Wolken in ihrem Leben auf: Hope wird gezwungen, die Rentons zu verlassen und muss sich plötzlich auf der Straße durchschlagen. Bei Ausbruch der Cholera in Bristol ist Hope eine der wenigen, die sich aufopfernd um die Kranken kümmert. Dabei lernt sie den Arzt Bennett Meadows kennen und folgt ihm zu den Schlachtfeldern des Krimkrieges. Doch das Schicksal führt sie schließlich wieder nach England, wo sie sich den Geheimnissen ihrer Herkunft stellen muss …
Lesley Pearse wurde in Rochester, Kent, geboren und lebt mit ihrer Familie in Bristol. Ihre Romane belegen in England regelmäßig die ersten Plätze der Bestsellerlisten. Neben dem Schreiben engagiert sie sich intensiv für die Bedürfnisse von Frauen und Kindern und ist Präsidentin des Britischen Kinderschutzbundes für die Regionen Bath und West Wiltshire.
LESLEY PEARSE
Hope
Mein Herz war nie fort
Aus dem britischen Englisch von Michaela Link
beHEARTBEAT
Digitale Erstausgabe
»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2006 by Lesley Pearse
Published by Arrangement with Lesley Pearse
Titel der englischen Originalausgabe: »Hope«
Originalverlag: Michael Joseph, Penguin Books
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover
Für diese Ausgabe:
Copyright © 2004/2019 by Bastei Lübbe AG, Köln
Titel der deutschsprachigen Erstausgabe: »Mein Herz war nie fort«
Covergestaltung: Manuela Städele-Monverde unter Verwendung von Motiven © Richard Jenkins; © shutterstock: Helen Hotson | mubus7
eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7325-7047-8
www.be-ebooks.de
www.lesejury.de
Allen meinen Freunden und Nachbarn in Compton Dando gewidmet. Ihr habt dafür gesorgt, dass ich mich bei euch zu Hause fühle und glücklich bin.
Ich hoffe, ihr werdet eure Freude an meinem vollkommen frei erfundenen Roman haben und seht mir die Freiheiten, die ich mir in Bezug auf die wirkliche Geschichte unseres Dorfes genommen habe, als auch alle Fehler oder Versäumnisse nach.
Somerset, 1832
Von Schreien ist noch kein Baby auf die Welt gekommen!«, fuhr Bridie gereizt auf und drückte ihrer Herrin das Seil, das am Kopfende des Bettes festgeknotet war, mit Gewalt in die Hände. »Ziehen Sie einfach daran und beißen Sie die Zähne zusammen.«
Als sich die Tür hinter ihr öffnete, warf sie kurz einen Blick über die Schulter; Nell, das Stubenmädchen, kam mit einer Schale heißen Wassers herein. »Das wurde aber auch Zeit! Ich dachte schon, du wärst weggelaufen«, blaffte sie.
Nell war nicht gekränkt von den scharfen Worten der alten Bridie; sie verstand deren Angst. Bridie war keine Hebamme, und einzig das blanke Entsetzen angesichts des Gedankens, Lady Harvey könne öffentlich in Schande gestürzt werden, hatte sie dazu veranlasst, das Kind selbst zu holen. Jetzt sah man ihr jedes einzelne ihrer sechzig Jahre an: Das eisengraue Haar lugte unter ihrer gestärkten Haube hervor, das rundliche Gesicht wirkte im Licht der Kerzen abgespannt und gelblich, und die blauen Augen, in denen normalerweise Erheiterung funkelte, waren stumm von Anstrengung und Sorge.
»Vielleicht sollten wir den Arzt holen«, platzte Nell heraus, als sie die dunkelroten, geweiteten Adern sah, die Lady Harvey im Gesicht und am Hals hervortraten. »Es dauert gewiss zu lange, und sie hat solche Schmerzen.«
Bridie funkelte sie an, was Nell als Fingerzeig nahm, dass sie ihre Meinung für sich behalten sollte. Sie nahm den Lappen aus der Kaltwasserschüssel, wrang ihn aus und wischte ihrer Herrin die Stirn ab. Sie hoffte nur, dass Bridie wusste, was sie tat, denn wenn Ihre Ladyschaft starb, würden sie beide in ernsten Schwierigkeiten stecken.
Die abgestandene Luft im Raum roch unangenehm, und es war trotz des fast erloschenen Feuers heiß wie in einem Ofen. Die schweren Vorhänge um das Bett herum und die auf Hochglanz polierten, dunklen Möbel verstärkten die erdrückende Atmosphäre noch. Nell hatte die ersten Strahlen der Morgendämmerung am Himmel aufscheinen sehen, als sie das heiße Wasser aus der Küche geholt hatte, und sie war so müde, dass sie an Ort und Stelle hätte umfallen mögen.
Im vergangenen Jahr hatte sie bei der Geburt ihres kleinen Bruders geholfen, aber das war etwas ganz anderes gewesen. Mutter war noch wenige Minuten vor ihrer Niederkunft herumgelaufen, dann hatte sie sich niedergelegt und einen leisen Schrei ausgestoßen, und im nächsten Moment war das Baby da gewesen; es hatte glatt wie ein neugeborenes Ferkelchen seinen Weg auf die Welt zurückgelegt. Und bis zum heutigen Abend war Nell davon ausgegangen, dass alle Frauen ihre Babys auf diese Weise bekamen.
Aber Lady Harvey hatte um sechs Uhr am vergangenen Abend angefangen, wie besinnungslos zu schreien, und es war während der Nacht immer schlimmer und schlimmer geworden. Ihr hübsches weißes Nachthemd war durchweicht von Schweiß, und ihr gewölbter Bauch darunter wirkte im flatternden Kerzenlicht seltsam anstößig.
Wenn es das war, was eine Frau davon hatte, wenn sie mit einem Mann zusammen war, würde sie lieber als Jungfrau sterben, dachte Nell.
»Lass mich sterben und das Baby mit mir!«, kreischte Lady Harvey. »Gott, hast du mich nicht schon genug gestraft für meine Verderbtheit?«
»Pressen Sie das Baby heraus, oder Sie werden wirklich sterben«, brüllte Bridie zurück und versetzte ihrer Herrin einen scharfen Schlag auf den nackten Schenkel. »Kommen Sie, pressen Sie das kleine Ding heraus, verdammt!«
Was es auch war, der Schlag oder die Androhung des Todes – Lady Harveys Schreie verwandelten sich in eine Art Brüllen, wie es eine kalbende Kuh auch nicht besser hätte ausstoßen können, und plötzlich presste sie mit echter Entschlossenheit.
Etwa zwanzig Minuten später weiteten Nells Augen sich, als endlich der Kopf des Babys zum Vorschein kam. Das Haar darauf war zigeunerschwarz und bildete einen scharfen Gegensatz zu den lilienweißen Schenkeln ihrer Herrin.
»Da ist es! Es kommt.« Bridies Stimme war plötzlich nüchtern von Erleichterung. »Lassen Sie es kommen, hören Sie auf zu pressen.«
Alle Erschöpfung vergessend, sah Nell verzaubert zu, wie das Baby in Bridies knotige alte Hände glitt. Der Bauch, der noch Sekunden zuvor so straff und geschwollen gewesen war wie ein reifer Kürbis, sackte plötzlich in sich zusammen, und Ihre Ladyschaft stieß einen sanften Seufzer der Erleichterung aus; endlich war ihr Martyrium vorüber.
Bridie legte den Säugling ganz bewusst nicht zu seiner Mutter und stellte nicht einmal fest, dass es ein Mädchen war. Nell fing den Blick der älteren Frau auf und sah die Furcht darin, und mit einem Mal erloschen die Freude und das Staunen, die sie selbst angesichts des Wunders eines neuen Lebens empfunden hatte.
Diesem Baby war es nicht bestimmt zu leben. Bridie würde ihm keinen Klaps auf sein kleines Hinterteil geben oder in seinen winzigen Mund atmen, um ihm zu helfen. Es war ihm bestimmt zu sterben.
»Ist es jetzt wirklich vorüber?«, fragte Lady Harvey, deren Stimme kaum mehr war als ein heiseres Flüstern.
»Ja, es ist vorüber, Mylady«, sagte Bridie, während sie mit schnellen Griffen die Nabelschnur verknotete und durchtrennte. »Jetzt kommt nur noch die Nachgeburt, dann werden Sie schlafen und alles vergessen können.«
Nell blickte auf das reglose Baby, das stumm auf dem Bett lag. Ihre jüngeren Geschwister waren bei ihrer Geburt allesamt hässlich und rot gewesen und hatten kahle Köpfe gehabt. Sie hatten ihren Ärger über ihr jähes Erscheinen in einer schroffen, neuen Welt lautstark kundgetan. Aber dieses Kind war hübsch, mit dunklem Haar und einem Mund wie einer kleinen Rosenknospe. Vielleicht lag es daran, dachte Nell, dass es sein Schicksal war, direkt in den Himmel zu gehen.
»Ist es gestorben?«, murmelte Lady Harvey schläfrig. Die aufgeplatzten Äderchen waren bereits verblasst, doch sie sah immer noch bleich und ausgezehrt aus. Ihr langes, goldenes Haar, das Bridies ganzer Stolz war, hing ihr verfilzt und stumpf vom Scheitel. Nell konnte kaum glauben, dass dies die junge Frau war, die sie stets für ihre heitere Eleganz und Schönheit bewundert hatte.
Bridie warf nur einen flüchtigen Blick auf den Säugling, während sie den Bauch ihrer Herrin massierte. »Ja, Mylady, ich fürchte, so ist es«, erwiderte sie mit brüchiger Stimme. »Aber vielleicht ist es gut so.«
»Darf ich es kurz sehen?«, fragte Lady Harvey.
Bridie nickte Nell zu, die nach einem Flanelltuch griff, es um das Baby wickelte und das Kind hochhob.
Lady Harvey strich mit dem Finger über die Wange des Säuglings, dann wandte sie den Kopf ab, als ihr die Tränen kamen. »Gottes Wille«, flüsterte sie. »Aber ich bin dankbar für seine Barmherzigkeit.«
Bridie schob Nell zur Tür hinüber. »Bring es in die Vorratskammer, dann geh zu Bett«, sagte sie leise. »Ich werde mich später darum kümmern, wenn ich hier fertig bin.«
Mit dem winzigen, leblosen Baby in den Armen ging Nell eilig den Flur entlang zur Hintertreppe. In Briargate Hall war es so still wie in einer Krypta. Alle anderen Dienstboten waren vor drei Wochen in das Londoner Haus geschickt worden, um es für Sir William Harveys Rückkehr aus Amerika herzurichten. Er war fast zwei Jahre fort gewesen, und dies war natürlich der Grund, warum Bridie nicht versucht hatte, das Baby zu retten. Wenn sie wusste, wer sein Vater war, so verriet sie es nicht. Sie hatte die geheime Schwangerschaft ihrer Herrin gehütet, als wäre es ihre eigene gewesen. Selbst nachdem sie Nell in die Verschwörung hatte einweihen müssen, weil sie mit der Entbindung nicht allein fertig geworden war, hatte sie ihr nur erzählt, dass Ihre Ladyschaft ein unerwünschtes Kind erwarte.
Es war Ende April, und erst gestern hatten sich endlich nach einem langen, bitterkalten Winter die ersten Zeichen des nahenden Frühlings gezeigt. Es würde wiederum ein schöner, warmer Tag werden, denn die Sonne sandte ihre Strahlen bereits durch das Ostfenster an der Hintertreppe.
In dem großen Spiegel neben dem Fenster konnte Nell sich selbst sehen. Das Bild erschreckte sie, allerdings weniger deshalb, weil ihre Schürze schmutzig war, ihre Haube schief saß und ihr einige Haarsträhnen über die Schultern fielen, sondern weil die Ereignisse der Nacht sie plötzlich hatten altern lassen. Noch vor vierundzwanzig Stunden hatte sie ausgesehen wie jedes andere sechzehn Jahre alte Dienstmädchen: adrett und züchtig in ihrer gestärkten Uniform, die Wangen gerötet von der Arbeit und ein Leuchten in den dunklen Augen, weil Baines, der Butler, nicht da war, um sie ständig zu tadeln. Ihre Gedanken waren bei Ned Travers gewesen, der gesagt hatte, dass er sich am Nachmittag in Lord’s Wood mit ihr treffen wolle. Er würde bald Soldat werden, und alle Mädchen aus dem Dorf wollten seine Liebste sein. Nell war sich nicht ganz sicher, ob sie das auch wollte, aber es tat gut zu denken, dass er sie begehrte.
Nell war nicht mit Schönheit gesegnet, und das wusste sie. Wie alle ihre Brüder und Schwestern schlug sie nach ihrem Vater. Sie waren klein und stämmig, mit glattem, schwarzem Haar und dunkelbraunen Augen. Ned hatte gesagt, sie habe einen Teint wie Sahne, aber das waren wahrscheinlich nur schöne Worte gewesen. Ihr Mund war zu klein, ihre Nase ein wenig zu groß und ihre Augenbrauen zu buschig.
Sie war nicht dazu gekommen, sich mit Ned zu treffen, daher würde sie nie erfahren, ob er sie um ihrer selbst willen mochte oder weil er glaubte, ein reizloses Mädchen wie sie sei eine leichte Beute. Bridie hatte die Bombe am Vormittag platzen lassen und unmissverständlich deutlich gemacht, dass Nell das Haus unter keinen Umständen zu verlassen habe.
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Nell wie alle anderen Dienstboten geglaubt, ihre Herrin habe sich nur deshalb so lange in ihrem Zimmer aufgehalten, weil sie sich bei einem Sturz vom Pferd verletzt hatte. Rose, eins der anderen Hausmädchen, hatte gesagt, das sei »seltsam«, da Lady Harvey nach ihrem letzten Sturz vom Pferd binnen zwei Tagen mit einem Gehstock umhergehumpelt war.
Aber Nell hatte in dieser langen Phase der Bettruhe keinen Grund zum Argwohn gesehen. Im Laufe ihrer vier Dienstjahre war ihr aufgefallen, dass vornehme Damen dazu neigten, an eigenartigen Gebrechen zu leiden, die gewöhnliche Menschen nicht befielen.
Ihrer Meinung nach war das Problem ihrer Herrin Melancholie, hervorgerufen durch die langen, bitterkalten Winter, die sie ohne ihren Gemahl hatte verbringen müssen. Wann immer Nell mit einem Tablett hinaufgeschickt worden war, hatte Lady Harvey entweder noch im Bett gelegen oder, in eine Decke gehüllt, am Fenster gesessen. Sie war so schön wie eh und je gewesen, aber auch gedämpft und sehr bleich. Nell hatte oft gedacht, Bridie solle energischer mit ihr sein und sie dazu zwingen, jeden Tag einen kurzen Spaziergang zu unternehmen.
Kurz bevor Baines mit dem Rest des Haushalts in der Kutsche nach London aufgebrochen war, hatte er Nell verschiedene Anweisungen gegeben. Sie sollte kochen und allerlei andere Arbeiten verrichten, bis Lady Harvey sich imstande sah, mit Bridie nach London zu fahren. Anschließend sollte sie sich allein um das Haus kümmern, während der Gärtner und der Stallbursche sich des Grundstücks annahmen.
Nell war nicht enttäuscht, weil sie nicht nach London mitgenommen werden sollte. Bridie meinte, dort gebe es immer viel mehr Arbeit, da es ein erheblich größeres Haus sei und die Harveys häufig Gäste empfingen. Außerdem sagte sie, dass das Londoner Personal auf die Diener vom Land herabsah und man das Gefühl hatte, in einem Irrenhaus zu arbeiten.
Tatsächlich würden es für Nell die reinsten Ferien sein, allein in Briargate zu bleiben, denn sie würde buchstäblich nichts zu tun haben. Sie würde jeden Nachmittag nach Hause gehen und ihre Mutter und ihre jüngeren Geschwister sehen können, und sie würde nach Herzenslust auf dem Grundstück spazieren gehen können.
Als Bridie ihr am vergangenen Tag erzählt hatte, was der Herrin wirklich fehlte, war es ein ungeheuerer Schock gewesen. »Ihr ist ein Fehler unterlaufen«, hatte Bridie sich ausgedrückt, als glaubte sie, Nell wüsste nicht, wie Babys entstanden.
Sie hatte Nell einen Sovereign versprochen, sofern sie niemals ein Wort von dem verraten würde, was sie in den nächsten Stunden zu sehen und zu hören bekam. Außerdem hatte Bridie unumwunden ihrer Hoffnung Ausdruck verliehen, das Baby werde nicht überleben.
Gestern war Nell diese Hoffnung nicht so furchtbar erschienen. Bridie dachte nur praktisch, so wie der Stallbursche es tat, wenn er Kätzchen ertränkte, die in der Scheune zur Welt gekommen waren. Jeder wusste, dass Damen ohnehin eine Amme für ihre Babys einstellten und nur sehr wenig Zeit für ihre Kinder hatten, bis diese fast erwachsen waren.
Aber als bei Lady Harvey die Wehen eingesetzt hatten, war sie nicht anders gewesen als jede andere Frau, die Nell kannte. Sie schwitzte, sie weinte, sie stieß sogar üble Flüche aus, wie die schlampige Bardame im Gasthaus es tat. Trotz all des feinen Leinens, der kostbaren Spitze, der silbernen Haarbürsten und des Schmucks musste sie dieses Baby genauso herauspressen wie die Frau eines Kesselflickers auf dem Feld. Und geradeso wie die gewöhnlichste Bettlerin um ein totes Baby trauern würde, würde auch Lady Harvey es betrauern, das wusste Nell.
Sie blickte auf das Bündel in ihren Armen hinab, und Tränen traten ihr in die Augen. Ihre Familie besaß nichts; zehn Kinder waren in einem winzigen Cottage mit einem lecken Dach groß geworden, und dennoch hatten sie jedes neue Baby voller Glück begrüßt. Dieses Kind war nie geküsst worden, und es würde nicht einmal einen Namen oder ein richtiges Begräbnis bekommen.
Die Last, dass sie die Geburt hatte beobachten müssen, wog schwer. Nell wusste nicht, wie sie nach all dem mit Lady Harvey reden sollte oder ob sie jemals würde vergessen können. Möglicherweise würden Bridie und sie ja für ihren Anteil an dieser Sache verflucht werden!
Jeder wusste, dass ein Fluch auf Sir John Popham lastete. Er war ein Vorfahr der Pophams, die noch immer in Hunstrete House lebten, dem Briargate nächstgelegenen Herrenhaus auf der anderen Seite von Lord’s Wood. Sir John war der Richter in der Verhandlung gegen William Darrell aus Litllecote gewesen, dem man zur Last gelegt hatte, ein neugeborenes Baby ermordet zu haben, indem er es ins Feuer warf. Darrell hatte die Pophams mit einem Fluch belegt, weil der Richter im Gegenzug für seinen Freispruch Litllecote und damit auch Hunstrete genommen hatte, das zum Besitz von Litllecote gehörte. Der Fluch besagte, dass die Familie Popham niemals einen männlichen Erben hervorbringen würde. Sie hatten entweder gar keine Kinder bekommen oder nur Mädchen.
Vermutlich hatte Darrell das Baby ermordet, weil er nicht sein Vater gewesen war, überlegte Nell. Bridie und sie hatten das Kind Ihrer Ladyschaft nicht ermordet, aber vielleicht war es praktisch das Gleiche, wenn man nicht versuchte, einem Neugeborenen zu helfen, seinen ersten Atemzug zu tun?
Wenn irgendjemand das herausfand, konnte man sie hängen!
Nells Herz begann zu rasen, und ihr Magen krampfte sich zusammen. Hatte Bridie die Absicht, den Leichnam des Säuglings draußen im Garten zu vergraben? Wie wollte sie das anstellen, ohne dass der alte Jacob, der Gärtner, es beobachtete? Während sie die Hintertreppe hinunterging, wurde sie von einer schwachen Bewegung an ihrer Brust überrascht. Sie stolperte und hätte das kleine Bündel um ein Haar fallen lassen, bevor sie sich wieder fasste. Furchtsam zog sie das Flanelltuch ein wenig zurück, und zu ihrem maßlosen Erstaunen sah sie das Zucken einer winzigen Hand, und das Baby öffnete den Mund zu einem Gähnen.
Einen Moment lang konnte sie das Kind nur anstarren, fest davon überzeugt, dass sie sich die Regung eingebildet hatte, aber die Hand bewegte sich abermals, diesmal kräftiger. »Es ist ein Wunder!«, rief Nell laut aus, und ihre Stimme hallte im Treppenhaus wider. Jeder wusste, dass neugeborene Babys schrien, um aller Welt kundzutun, dass sie gesund und munter waren. Sie hatte noch nie von einem Kind gehört, das still geblieben wäre, außer wenn es zu schwach war, um zu überleben.
Es sei denn, man hatte es mit einem Feenkind zu tun.
Nells ganze schulische Bildung belief sich auf wenig mehr als einige Unterrichtsstunden im Lesen und Schreiben bei Hochwürden Gosling, als sie zwischen sechs und acht Jahre alt gewesen war. Doch Aberglauben hatte sie von Geburt an gelernt, von ihren eigenen Eltern und von vielen der alten Leute im Dorf.
Es hieß, Feenkinder kämen in diese Welt, um Glück zu bringen. Erkennen konnte man sie an ihrem unerwarteten Erscheinen, ihrem außerordentlichen Aussehen und ihrem sanften Wesen. Joan Stott aus dem Dorf war unfruchtbar gewesen, und dann hatte sie mit weit über vierzig Jahren endlich ein kleines Mädchen zur Welt gebracht, das aussah wie ein Engel. Joan und Amos Stott hatten ihrem Land nur mit knapper Not ein hinreichendes Einkommen abringen können, und niemand hatte erwartet, dass ihre Tochter überleben würde, aber sie hatte überlebt. Und die Stotts hatten sie kaum in ihre Wiege gelegt, als ihre Hennen auch schon zu legen begannen, ihr Getreide besser wuchs und selbst ihre alte Sau einen Wurf von zwölf prächtigen Ferkeln hervorbrachte. Das Kind war jetzt sechs Jahre alt und immer noch so schön wie ein Morgen im Mai, und die Stotts waren auf dem Weg, beinahe wohlhabend zu werden.
Aber ob Lady Harveys Baby ein Wunder war oder ein Feenkind – Nell wusste, dass Bridie keineswegs glücklich darüber sein würde, dass es lebte. Bridie war seit ihrem vierzehnten Jahr in Dienst bei den Dorvilles, Lady Harveys Familie. Im Laufe der Zeit war sie von der Spülmagd zur Amme der Kinder der Dorvilles aufgestiegen, und als Anne, die Jüngste, vor acht Jahren Sir William Harvey geheiratet hatte, war Bridie ihr als Zofe nach Briargate gefolgt.
Bridies ganzes Leben drehte sich um die Herrin, die auf die Welt zu bringen sie mitgeholfen hatte, und sie würde nicht zulassen, dass irgendetwas oder irgendjemand ihre Schande offensichtlich machte.
Doch das Baby war vielleicht ein Feenkind, und diese Möglichkeit hielt Nell davon ab, Bridies Gefühle oder Wünsche in Betracht zu ziehen; sie musste ihren eigenen Instinkten folgen. Also eilte sie die Treppe hinunter in die Küche, griff nach dem Umhang, den sie über einem Stuhl hatte liegen lassen, und hüllte das Baby wärmer ein. Dann vertrieb sie die Katze vom Sessel der Köchin in der Ecke, legte den Säugling auf das Kissen und lief hinaus, um an der Pumpe den Kessel zu füllen.
Als Nell fast eine Stunde später Bridies schwere, langsame Schritte auf der Treppe hörte, war es heller Tag, und warmes Sonnenlicht fiel durch das Gitterfenster an der Spüle. Das Baby war jetzt gewaschen und in ein sauberes Flanelltuch gehüllt und lag tief schlafend in einem Leinenkorb neben dem Herd.
Als Nell es aus dem besudelten Tuch herausgenommen hatte, hatte die Kleine die Augen geöffnet, als erstaunte sie ein solches Tun. Und als Nell sie gewaschen hatte, hatte sie entrüstet gejammert. Aber sobald sie frisch gewickelt war, war sie wieder eingeschlafen.
»Ich dachte, ich hätte dich ins Bett geschickt?«, bemerkte Bridie schroff, als sie in die Küche kam, einen Eimer Schmutzwasser in der einen Hand, eine abgedeckte Schüssel in der anderen und mehrere Bündel blutbefleckter Leinenwäsche unter jedem Arm.
Sie wirkte völlig erschöpft. Ihre Schürze war schmutzig, ihre Schultern waren gebeugt, und das Gehen strengte sie so sehr an, dass sie keuchte.
»Das Baby lebt«, sagte Nell und deutete auf den Korb.
Bridie erbleichte und ließ ihre Lasten fallen; Wasser spritzte auf den Boden. »Oh, Jesus, Maria, Mutter Gottes!«, rief sie aus, bekreuzigte sich und blickte furchtsam auf den Korb.
»Es ist sehr niedlich«, meinte Nell ängstlich. Obwohl sie ein gewisses Mitgefühl mit Bridie und ihrer Herrin empfand, weil sie wusste, wie viel Scherereien ein lebendes Baby ihnen beiden bereiten würde, konnte sie nichts anderes als Freude darüber empfinden, zum Überleben des Kindes beigetragen zu haben. Andererseits wusste sie auch, dass Mädchen wie sie dafür entlassen werden konnten, wenn sie ihren Platz vergaßen, und Bridie würde ihr wahrscheinlich genau das zum Vorwurf machen.
Die alte Frau schluchzte gequält auf und schlug bestürzt die Hände vors Gesicht. »O mein Gott!«, jammerte sie. »Was soll ich nur tun?«
Nell ging instinktiv auf die ältere Frau zu und legte die Arme um sie, geradeso wie sie es in einer ähnlichen Situation mit ihrer eigenen Mutter getan hätte. Bridie war immer freundlich zu ihr gewesen, von ihrem ersten Tag in Briargate an. Damals war Nell eine verängstigte Zwölfjährige gewesen, die keine echte Vorstellung davon gehabt hatte, was es bedeutete, ihre eigene Familie zu verlassen und in Stellung zu gehen. Es war Bridies Vorschlag gewesen, dass Nell in der Küche verschwendet sei und zum Stubenmädchen ausgebildet werden solle; sie hatte gegen den Protest der Köchin und Mrs Coles gekämpft, der Haushälterin, und Nell gedeckt, als sie ein Zierstück zerbrochen und Essensreste mit nach Hause geschmuggelt hatte, weil ihr Vater mit einer üblen Grippe im Bett gelegen und nicht hatte arbeiten können.
Während ihrer vier Jahre auf Briargate war diese Frau Nells Trösterin, Lehrerin und Vertraute gewesen. Dank ihr konnte Nell ihrer Familie helfen; sie hatte gutes Essen, anständige Kleider und Zukunftsaussichten. Sie wusste nicht, ob es irgendeine Möglichkeit gab, wie sie Bridie aus dieser Klemme helfen konnte, aber wenn es eine gab, würde sie sie finden.
»Reg dich nicht auf, Bridie«, bat Nell beschwichtigend. »Wir sind jetzt beide müde, aber wenn wir die Köpfe zusammenstecken, werden wir uns schon etwas ausdenken. Ich werde dir einen Tee kochen, und dann gehst du zu Bett. Ich werde das Leinen einweichen und horchen, falls die Herrin etwas will.«
Bridie löste sich aus Nells Armen und wischte sich mit dem Saum ihrer Schürze die Augen ab. In ihren blauen Augen schwammen immer noch Tränen, aber Nell konnte sehen, dass sie um Fassung rang. »Du bist ein gutes Mädchen«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Aber du bist diejenige, die zu Bett gehen sollte. Ich werde noch ein Weilchen mit meinem Tee hier sitzen bleiben und dann wieder nach oben gehen. Ich kann in dem Sessel im Zimmer der Herrin dösen.«
»Soll ich die Kleine mitnehmen?«, fragte Nell.
Bridie schüttelte den Kopf. »Hier wird sie es wärmer haben. Geh jetzt zu Bett.«
Doch die Gedanken an das Baby hielten Nell wach. Es würde bald gefüttert werden müssen, und wenn Bridie oben in Lady Harveys Schlafzimmer war, würde sie es nicht weinen hören. Es gab noch so viele Dinge, um die man sich kümmern musste – Kohle für den Herd musste hereingeholt, Wäsche gewaschen und etwas Nahrhaftes für Lady Harvey gekocht werden. Sie konnte nicht einfach hellwach in ihrem Bett liegen und alles Bridie überlassen.
Nell stand auf, wusch sich und zog das alte graue Kleid an, das man ihr für die schmutzigen Arbeiten gegeben hatte. Dann nahm sie ihre Stiefel in die Hand und stahl sich leise, um die Herrin nicht zu stören, von ihrem Dachbodenzimmer aus die Treppe hinunter.
Es verstrich kaum ein Tag, an dem Nell sich nicht glücklich schätzte, in Briargate Hall leben zu dürfen. Es war ein helles Haus, erst vor vierzig Jahren erbaut von Sir Roland Harvey, Williams Vater, und auf halbem Wege zwischen den Städten Bath und Bristol gelegen. Nell war in keiner der beiden Städte je gewesen; sie kannte nur das Dorf Compton Dando, in dem sie geboren worden war, und die umliegenden Dörfer. Bisher war sie nicht weiter gekommen als bis nach Keynsham, etwa sechs Kilometer von Compton Dando entfernt.
Man erzählte sich, der Hafen von Bristol sei das reinste Wunder und man könne prächtige, große Segelschiffe dort sehen, die zu den entlegensten Enden der Welt segelten. Aber Nell verspürte nicht das Verlangen, dort hinzugehen; vor einem Jahr waren in der Hafenstadt Hunderte von Menschen an Cholera gestorben, und erst vor fünf Monaten, im Oktober, hatte es drei Tage lang schreckliche Unruhen gegeben. Dutzende von Menschen waren getötet, noch viel mehr schwer verletzt und viele Gebäude zerstört und verbrannt worden. Man hatte vier Menschen für ihren Anteil an den Unruhen gehängt und Dutzende weitere ins Gefängnis geworfen oder deportiert. Für Nell klang es so, als wäre Bristol ein sehr gefährlicher Ort.
Mr Baines, der so ziemlich alles wusste, meinte, die Ursache der Unruhen sei die Korruptheit des Regierungssystems. Er sagte, die Tories würden die Menschen bei Wahlen bestechen und einschüchtern, sodass die Reformparteien keine Chance hätten. Es erfüllte ihn mit einigem Stolz, dass die Bewohner Bristols mutig genug waren, ihre Stimme zu erheben, und er behauptete, dass er sich ihnen angeschlossen hätte, wäre er noch ein junger Mann gewesen.
Nell hatte gehört, dass Bath, die zweite nahe gelegene Stadt, ganz anders sei als Bristol, denn dort gingen die Herrschaften hin, um besonderes Wasser zu trinken und es sich ganz wie in alten Zeiten wohl ergehen zu lassen. Baines sagte, die Stadt sei sehr schön, mit breiten Straßen, prächtigen Häusern und Läden, die so voll von Luxusgütern seien, dass einem bei ihrem Anblick die Augen aus dem Kopf fielen.
»Ach was«, behauptete die Köchin, wenn die Rede auf diese Stadt kam, »Bath ist ein Bienenkorb der Verkommenheit, mit den Straßen voller Taschendiebe, und das besondere Wasser schmeckt so abscheulich, dass es ein Wunder ist, dass es die Menschen nicht umbringt!«
Wenn dies also die beiden nächstgelegenen Städte waren, glaubte Nell nicht, dass ein Mädchen wie sie viel davon zu erwarten hätte.
Baines bemerkte gern, der alte Sir Roland Harvey sei ein großer Reisender gewesen und der Entwurf Briargates beeinflusst von Vorbildern, die er in Italien gesehen hatte, und von den Herrenhäusern der Plantagen in der Karibik. Er habe den schwarzen und weißen Marmor für den Boden der Halle aus Italien mitgebracht, zusammen mit den Marmorstatuen, die jetzt im Garten standen, und statt das Haus aus dem ortsüblichen Naturstein zu bauen, hatte er Backstein verwendet und einen rosa-cremefarbenen Verputz. Die Vorderseite des Hauses beherrschte ein ausgesprochen prächtiger Säulengang mit großen Säulen, und die Ziegel auf dem Dach waren nicht rot, sondern grün.
Lange, schmale Fenster reichten fast bis zum Boden und ließen den ganzen Tag über den Sonnenschein herein; die eleganten Fensterläden waren eigens für Sir Roland entworfen worden, ebenso wie die marmornen Kamine. Nell gefielen besonders die geschnitzten Trauben und Vögel auf den Endpfosten der Treppe; es erschien ihr unvorstellbar, dass ein Mann nur mit einem Meißel etwas so Zartes zu schaffen vermochte. Mit den blitzenden Kronleuchtern, den dicken Teppichen und den Möbeln, die so glänzend poliert waren, dass sie ihr eigenes Gesicht darin sehen konnte, hatte Nell das Gefühl, in einem Palast zu leben.
Als sie seinerzeit ihren Dienst in Briargate angetreten hatte, hatte sie kaum einen Kamin fegen können, ohne die Gemälde an den Wänden zu betrachten. Wo sie auch hingesehen hatte, hatte sie wundersame Dinge entdeckt.
Bridie teilte ihre Begeisterung jedoch nicht. »Das Haus ist mit nur acht Schlafzimmern nicht annähernd so groß und prächtig wie das in London«, erklärte sie. »Allerdings ist der alte Sir Roland ein kluger Kopf gewesen, denn er hat das Haus bewusst so entworfen, dass es möglichst wenig Arbeit macht. Vielleicht hat er ja gewusst, dass der Sklavenhandel verboten werden und er keine Diener mehr finden würde, die unentgeltlich hier arbeiteten«, fügte sie spitz hinzu.
Nell fand, dass es ungeheuer viele Dienstboten gab für nur zwei Personen: einen Butler, eine Haushälterin, eine Köchin, vier Hausmädchen, Gärtner und Stallburschen und verschiedene andere, die kamen, wenn sie benötigt wurden. Aber Bridie meinte, das sei nicht viel Personal. »Es ist nur der günstigen Anlage des Hauses zu verdanken, dass wir so mühelos zurechtkommen«, betonte sie immer wieder.
Die Haupträume waren zwar sehr geräumig, aber nicht so groß, dass man sie nicht entsprechend beheizen konnte. Das Esszimmer lag in der Nähe der Küche, sodass das Essen heiß auf den Tisch kam. In der Küche gab es sogar eine Vorrichtung, die es ermöglichte, große Eimer mit heißem Wasser zum Baden und Waschen mit einem Seilzug ins Obergeschoss zu befördern.
Als Nell in den Flur einbog, der in die Küche führte, hörte sie das Baby weinen und beobachtete zu ihrem Entsetzen, wie Bridie sich mit einem Kissen in den Händen über den Korb beugte.
Es gab keinen Zweifel daran, was sie vorhatte, denn sie weinte und murmelte Worte, die für Nell wie eine Entschuldigung oder gar ein Gebet klangen.
»Nein, Bridie!«, rief Nell und rannte auf die ältere Frau zu. »Das darfst du nicht – es ist etwas Böses, und die Kleine ist ein Feenkind.«
Bridie fuhr herum. Ihr altes Gesicht war gefurcht von Schuldgefühlen. »Aber es ist die einzige Möglichkeit, Nell. Wenn sie überlebt, bedeutet das das Ende für Mylady; man wird sie aus Briargate verstoßen.«
»Du darfst kein Baby töten«, beharrte Nell und schob sich zwischen Bridie und die provisorische Wiege. »Es ist nicht recht, und das weißt du.«
Ein oder zwei Sekunden lang glaubte Nell, Bridie werde sie schlagen und ihren Plan in die Tat umsetzen, denn die Zeichen der Verzweiflung auf den Zügen der älteren Frau waren unverkennbar. Aber stattdessen sackte Bridie plötzlich in sich zusammen, ließ sich auf einen Stuhl sinken und schlug die Hände vors Gesicht. »Der Himmel weiß, dass ich dem Baby nichts antun will, doch was bleibt mir denn anderes übrig?«, fragte sie flehentlich.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Nell und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Aber es ist auf keinen Fall recht, es zu töten. Es ist nicht seine Schuld, dass es geboren wurde, und wie ich schon sagte, es ist ein Feenkind. Sieh sie dir doch nur an!«
Die Kleine hatte jetzt die Augen geöffnet und hörte zu weinen auf, beinahe als wüsste sie, dass die Gefahr erst einmal gebannt war. Ihre Augen waren nicht von dem gewöhnlichen Blau eines Säuglings, sondern dunkel wie die Nacht, und das Kind blickte zu Nell auf, als wollte es ihr für seine Rettung danken.
»Vielleicht sollten wir sie zur Kirche bringen und dort liegen lassen?«, schlug Bridie verzweifelt vor. »Pastor Gosling wird sicher einen Platz für sie finden.«
Nell schüttelte den Kopf. Sie wusste, dass Säuglinge, die man in der Kirche aussetzte, ins Arbeitshaus kamen, und nur wenige von ihnen lebten länger als einige Wochen. Sie riss das Baby an sich und wiegte es schützend in den Armen. »Du weißt, was das bedeutet«, rief sie Bridie ins Gedächtnis, und als der süße Duft des neugeborenen Kindes zu ihr aufstieg, begann sie ebenfalls zu weinen.
Einige Minuten lang sagte keine der beiden Frauen etwas. Bridie blieb schluchzend sitzen, und Nell ging mit dem Kind in den Armen in der Küche auf und ab.
Es erfüllte sie mit Zorn, dass Lady Harvey jetzt friedlich schlief, während Bridie und sie irgendwie eine Lösung für ein Problem finden mussten, das sie nicht verursacht hatten. Lady Harvey war in großem Wohlstand aufgewachsen und von Jugend an verhätschelt worden; sie hatte stets nur die feinsten Kleider getragen und war von Gouvernanten erzogen worden, bis sie mit achtzehn Jahren einen Mann geheiratet hatte, der, und darin waren sich alle einig gewesen, die beste Partie in ganz Südwest-England gewesen war.
Nell konnte sich daran erinnern, wie sie als kleines Mädchen mit den anderen Dorfkindern auf dem Kirchhof von St. Mary the Virgin gestanden und dem Paar Rosenblätter zugeworfen hatte. Keine Königin hätte schöner sein können als Lady Harvey an diesem Tag. Das goldene Haar war ihr über die Schultern geflossen, und sie hatte ein weißes Kleid mit einer vier Meter langen Schleppe getragen, das gewiss mehr gekostet hatte, als Nells Vater in seinem ganzen Leben würde verdienen können. Und Sir William war nicht nur wohlhabend, er sah auch gut aus, war schlank und hochgewachsen, mit welligem blonden Haar und leuchtend blauen Augen. Alle sagten, es sei eine Liebesheirat gewesen, und als Nell einige Jahre später in Briargate in Stellung gegangen war, hatte sie die beiden lachend wie zwei Turteltauben durch den Garten laufen sehen.
Warum also teilte Lady Harvey ihr Bett mit einem anderen Mann? Warum sollte sie nicht die Verantwortung für ihre eigene Sünde tragen, geradeso wie man es von Nell und sogar von Bridie erwarten würde, wenn sie vom Weg abirrten?
Doch noch während ihr diese Gedanken durch den Kopf gingen, wusste sie, dass sie es genauso wenig wie Bridie würde ertragen können, Lady Harvey in Schande zu sehen. Sie mochte verwöhnt sein, aber sie war auch überaus liebenswert und großzügig. Nell konnte nicht zählen, wie oft ihre Herrin ihr einen Schilling in die Hand gedrückt hatte, den sie mit nach Hause hatte nehmen können. Sie hatte ihr alte Kleider gegeben und ihr erlaubt, kleine Hemden und Hosen für ihre Geschwister zu nähen, während sie eigentlich hätte arbeiten sollen. Sie hatte sie niemals geschlagen und nicht einmal gemurrt, wenn sie unbeholfen gewesen war; erst am vergangenen Morgen hatte sie sowohl Nell als auch Bridie für ihre Ergebenheit gedankt und versprochen, sich immer um sie zu kümmern.
In Wahrheit war Lady Harvey in vieler Hinsicht wie ein Kind. Sie war so voller Lebenslust, aber sie war auch unschuldig. Wer immer dieser Mann war, er musste sie mit süßen Worten betört haben, als sie sich einsam gefühlt hatte. Seit der Herr fortgegangen war, hatte niemand aus ihrer Familie sie besucht, und sie hatte keine echten eigenen Freunde hier in Somerset, nur Sir Williams Freunde. Nell hatte sie weinen sehen, als ihr Gatte nach Amerika aufgebrochen war; sie hatte mit ihm gehen wollen, aber er hatte es nicht zugelassen. Wie Nells Mutter so oft sagte: »Man muss eine Meile in den Stiefeln eines anderen gegangen sein, um zu wissen, wie es für ihn ist.«
Der Gedanke an ihre Mutter brachte Nell auf eine Idee. »Ich könnte das Baby mit nach Hause nehmen, zu meiner Mutter«, stieß sie hervor. »Sie wird genug Milch übrig haben, um die Kleine mitzuversorgen.«
»Sie hat schon zu viele eigene Kinder«, erwiderte Bridie, der die Tränen über die Wangen rollten. »Außerdem sind die beiden Babys im Alter zu nah aneinander. Wie sollte sie erklären, wann sie noch ein Kind bekommen hat?«
Nell sah im Geiste das überfüllte Cottage vor sich und ihre Mutter, die bereits so müde von zu vielen Kindern war, und doch wusste sie, dass sie nicht würde Nein sagen können, sobald sie dieses hier in den Armen hielt. »Die Leute zählen nicht, wie viele sie hat«, erklärte sie wahrheitsgemäß. »Sie haben sich daran gewöhnt, dass sie ständig einen Säugling im Arm hat, und werden es gar nicht bemerken.«
»Aber dein Vater?«
Nell lächelte schwach. Der einzige echte Fehler ihres Vaters war der, dass er in jeder Hinsicht zu großzügig war: mit seiner Arbeit, mit seiner Zeit, mit seiner Zuneigung. Wenn er Geld hatte, war er auch damit großzügig. »Wenn euer Vater nicht so wäre, wie er ist, würden wir ein anderes Leben führen«, sagte ihre Mutter oft. »Wenn er nur die Stunden arbeiten würde, für die er bezahlt wird, wenn er mich nicht so sehr lieben und das wenige Geld, das er besitzt, einmal sparen würde, würden wir nicht in einem heruntergekommenen Cottage mit so vielen Kindern leben.« Aber Nell glaubte nicht, dass ihre Mutter ihn anders würde haben wollen.
»Vater mag Babys«, antwortete sie nun. »›Eins mehr oder weniger macht keinen Unterschied‹, wird er sagen.«
Bridie trocknete sich mit ihrer Schürze die Tränen, aber ihre Augen waren noch immer voller Furcht.
»Du kannst darauf vertrauen, dass sie nicht reden werden«, erklärte Nell mit Nachdruck, denn sie wusste, dass es das war, was Bridie Sorgen bereitete. »Nicht einmal die Größeren werden die Wahrheit erfahren. Wenn ich sie heute Nacht zu Mutter bringe, nachdem die anderen ins Bett gegangen sind, werden sie glauben, es sei zur Welt gekommen, während sie schliefen.«
Bridie sah sie zweifelnd an.
»Mutter bekommt sie immer sehr schnell«, beharrte Nell. »Als unser Henry im vergangenen Jahr geboren wurde, haben sie es erst bemerkt, als sie ihn weinen hörten. Ich war bei ihr, daher weiß ich Bescheid, und ihr Bauch ist von so vielen Kindern so dick, dass meine Geschwister praktisch jeden Tag damit rechnen, dass ein weiteres Baby dazukommt.«
»Aber es ist ein Geheimnis, das für immer gewahrt bleiben muss«, rief Bridie ihr ins Gedächtnis.
Nell nickte; das war ihr nur allzu bewusst.
»Die Herrin hat tatsächlich vor einer Weile gesagt, sie wolle das Kind in Pflege geben, falls es überlebt«, bemerkte Bridie leise. »Sie hat mich gebeten, Erkundigungen einzuziehen, und ich habe mit einer Frau in Brislington darüber gesprochen. Die Frau gefiel mir nicht, sie hatte ein hartes Gesicht, und die Kinder, die sie in Verwahrung hatte, sahen kränklich und schmutzig aus. Zumindest wissen wir, dass deine Mutter sich gut um die Kleine kümmern wird.«
Bridie verfiel in Schweigen, während sie offenkundig abwog, was sie über Meg und Silas Renton wusste, und sich fragte, ob sie vertrauenswürdig waren. Nell sagte nichts mehr, denn ihr war klar, dass ihre Familie hier in der Gegend hohes Ansehen genoss. Das war auch der einzige Grund, warum sie selbst die Stellung in Briargate bekommen hatte.
»Wie sollen wir sie nennen?«, meinte die ältere Frau schließlich, während sie Nell das Baby aus den Armen nahm. Diesmal sah sie die Kleine beinahe zärtlich an. »Es wäre nicht recht, ihr keinen Namen zu geben.«
Joan Stotts Feenkind hieß Faith, und Nell kam sofort der Gedanke, dass ein weiteres Feenkind im Dorf einen ähnlichen Namen tragen sollte. »Hope«, sagte sie, ohne zu zögern.
Bridie spitzte die Lippen, als gefiele ihr der Name nicht, aber als sie noch einmal auf den schlafenden Säugling in ihren Armen hinunterblickte, breitete sich ein Lächeln auf ihren Zügen aus. »Ja, Nell, das ist ein guter Name. Ich hoffe, deine Mutter wird das arme kleine Würmchen zu lieben lernen, und ich hoffe auch, dass ich vergessen kann, welche Sünde ich um ein Haar begangen hätte. Sie hat nicht die geringste Ähnlichkeit mit unserer Herrin, daher hast du vielleicht recht, und sie ist ein Feenkind.«
An diesem Abend hielt Nell am Rand von Lord’s Wood inne, dem Wald, der die Grenze zwischen dem Besitz von Briargate Hall und dem Land der Hunstretes markierte. Sie trug das Baby in einem Schal unter ihrem Umhang. Schließlich stellte sie ihren Korb auf den Boden und drehte sich um, um noch einmal zum Haus hinüberzuschauen, denn es war Vollmond, und sie konnte es so deutlich sehen wie am helllichten Tag.
Der Mondschein überzog die Marmorsäulen und -statuen der Hausfront mit einem seidigen Glanz, und Nell rann eine einzelne Träne über die Wange. Sie empfand es als Unrecht, dass das schlafende Baby in ihren Armen mit seiner Mutter auch sein Geburtsrecht verlor.
»Ich werde für dich Lebewohl sagen«, flüsterte sie. »Es tut mir leid, dass du nicht in dem hübschen Kinderzimmer wirst aufwachsen können und keine Seidengewänder und Diener bekommst, die dir aufwarten. Aber ich schätze, in unserem Cottage wirst du mehr Liebe erfahren.«
Das Gefühl, um zehn Jahre gealtert zu sein, war keineswegs gewichen. Nell war erschöpft, ahnte jedoch, dass nicht einmal der Schlaf das sorglose junge Mädchen zurückbringen würde, das sie noch vor einigen Tagen gewesen war. Sie hatte Lady Harvey am Nachmittag jämmerlich weinen hören, und plötzlich war sie nicht mehr eine schöne, wohlhabende Frau, der die Welt zu Füßen lag, sondern nur eine arme Seele, die um ein verlorenes Kind trauerte.
Hope hatte etwa zur gleichen Zeit zu weinen begonnen, und Nell hatte nicht mehr tun können, als ihr Zuckerwasser in den winzigen Mund zu löffeln, damit sie bis später durchhielt. Bridie hatte den größten Teil des Nachmittags darauf verwandt, in der Truhe in Sir Williams altem Kinderzimmer nach Babynachthemden, Häubchen und Jacken zu suchen. Es hatte sie deprimiert, die feineren, schön bestickten Kleidungsstücke beiseitelegen zu müssen und nur die schlichten Dinge zu nehmen, denn es würde im Dorf für Erstaunen sorgen, wenn die kleine Hope allzu prächtig gekleidet war.
Doch die Windeln, die Decke und die anderen Dinge, die jetzt im Korb lagen, übertrafen bei Weitem alles, was Nell und ihre Geschwister je gekannt hatten. Hope würde an derselben Brust trinken wie sie alle, sie würde wie sie Tage des Hungers kennenlernen und herausfinden, dass bei den Dorfbewohnern die Arbeit schon in sehr früher Jugend anfing. Aber würde sie sich auch etwas von ihren beiden leiblichen Eltern bewahren? Nicht nur ihr Aussehen, ihre Figur und ihre Größe, sondern ein angeborenes Wissen, dass sie nicht wirklich der Dienstbotenklasse angehörte?
Nell seufzte und nahm den Korb wieder auf. Es führte zu nichts, über diese Dinge nachzudenken, und sie musste sich sorgfältig einen Weg durch den Wald bahnen, damit sie in der Dunkelheit nicht stolperte.
Compton Dando lag im bewaldeten Tal des Flusses Chew. Für ein kleines Dorf von etwas weniger als vierhundert Seelen war es ein sehr belebter Ort; es gab ein Gasthaus, eine Bäckerei, die Kirche, eine Schmiede, eine Zimmermannswerkstatt und eine Mühle. Tagsüber schallte der teuflische Lärm von den Kupfermühlen in Publow und Woolard, den beiden nächsten Dörfern am Fluss, bis ins Dorf herauf, und in dem ganzen Gebiet verstreut befanden sich mehrere kleine Kohlenbergwerke. Obwohl nicht wenige Dorfbewohner in den Mühlen oder Bergwerken arbeiteten, verdienten sich doch die meisten wie Nells Vater ihren bescheidenen Lebensunterhalt als Farmarbeiter, und wie Silas Renton besserten sie ihren niedrigen Lohn auf, indem sie schmale, eigene Streifen Landes bebauten, Hühner hielten und häufig auch zwei, drei Schweine oder eine Kuh.
Als Nell aus dem Wald heraus war, lag noch das Gemeindeland vor ihr. Glücklicherweise musste sie danach nicht noch an der Kirche vorbei, denn das Cottage ihrer Eltern lag an der ihr jetzt zugewandten Seite des Dorfes. Sonst hätte sie vielleicht auch jemand entdecken können, der ins »Crown Inn« wollte.
In der großen Eiche neben dem Cottage schrie eine Eule, aber dies und das Gurgeln des Flusses weiter unterhalb waren die einzigen Geräusche.
»Nell!«, rief Meg Renton, als sie durch die Tür trat. »Was führt dich so spät noch hierher?«
Das winzige Cottage wurde nur von einer einzigen Kerze erhellt, und das Feuer war nicht mehr als ein dumpfes, rotes Glühen. Ein Fremder, der hereinkam, hätte angenommen, Meg sei ganz allein im Haus, aber tatsächlich war es voller schlafender Menschen. Nells Vater lag mit Henry, dem jüngsten Kind, in dem Bett im hinteren Teil des Raumes. Die anderen acht Kinder schliefen auf dem Heuboden darüber, den man über eine steile Leiter erreichte.
Als Nell auf Briargate ihren Dienst angetreten hatte, hatte sie sich nur schwer an den Umstand gewöhnen können, dass sie nicht mehr mit der Sonne zu Bett gehen konnte, wie sie es von zu Hause gewohnt war. Die vornehmen Herrschaften blieben länger auf, aber andererseits konnten sie sich auch Dutzende von Kerzen und Öllampen leisten, und sie brauchten nicht im ersten Morgengrauen aufzustehen.
Und doch war ihre Mutter nie mit dem Rest der Familie zu Bett gegangen, obwohl sie härter arbeitete als alle anderen. Stattdessen saß sie noch ein oder zwei Stunden mit einer Kerze am Feuer. Sie sagte, dies sei die einzige Zeit, in der sie ein wenig Ruhe und Frieden hatte.
Als Nell im Kerzenlicht das ausgelaugte Gesicht ihrer Mutter sah, durchzuckte sie ein Stich der Reue; immerhin wollte sie ihr noch weitere Arbeit aufbürden. Meg war vierunddreißig, und zehn Kinder sowie eine Totgeburt hatten ihr die Vitalität und die Kraft geraubt, mit der sie Nell aus ihrer frühen Kindheit in Erinnerung geblieben war. Ihr Haar war noch immer voll und dunkel, aber ihr einst schlanker Körper war dicker geworden, und ihr Gesicht wurde langsam faltig, die Wangen wirkten eingefallen. Ihr Nachthemd war eins von Bridies abgelegten Kleidungsstücken, ein vielfach geflicktes Flanellhemd, das an manchen Stellen so dünn war, dass man fürchten musste, es werde bei der nächsten Wäsche endgültig auseinanderfallen.
»Ich habe dir ein Baby gebracht«, sagte Nell schlicht, außerstande, sich eine weniger schroffe Art und Weise einfallen zu lassen, wie sie Hope vorstellen konnte. Sie nahm ihren Umhang ab und knotete den Schal auf, in dem das Baby lag. »Ich wusste, du würdest es nicht gern sehen, wenn man es in die Kirche legt oder ins Arbeitshaus bringt, und das waren die einzigen Möglichkeiten.«
Als sie Hope herausnahm, regte die Kleine sich und begann, an ihrer Faust zu nuckeln. So kurz wie möglich erklärte Nell, wie sie zu dem Säugling gekommen war und dass das Kind gefüttert werden musste oder sterben würde.
Meg knöpfte schweigend ihr Nachthemd auf, nahm Hope auf den Arm und legte sie kommentarlos an die Brust. Das Baby brauchte einige Sekunden, um die Brustwarze zu finden, und erst als es zu saugen begonnen hatte, sagte Meg ihre Meinung.
»Deine Herrin sollte sich schämen«, erklärte sie mit leiser Stimme. »Es ist unrecht, von ihrer Zofe zu erwarten, dass sie die Verantwortung für ihre Verderbtheit übernimmt.«
Nell, die fürchtete, ihr Vater würde aufwachen, zog sich einen Hocker heran und gab ihrer Mutter im Flüsterton eine ausführlichere Erklärung, wobei sie auch erwähnte, dass Lady Harvey glaubte, ihr Kind sei gestorben. »Sie ist eine gute Frau, das weißt du, Mutter«, beendete sie ihren Bericht. »Bridie und ich konnten nicht zulassen, dass sie in Schande gerät, nicht wahr?«
»Hätte sie auch nur einen einzigen Gedanken auf dich verwendet, wenn es dir so ergangen wäre?«, fragte Meg mit bebenden Lippen. »Nein, sie hätte dich hinausgeworfen!«
Nell zuckte die Schultern. »Nach dem, was ich heute miterlebt habe, werde ich nicht zulassen, dass ein Mann mir das antut«, antwortete sie.
Ein schwaches Lächeln trat in Megs Züge. »Sieh nur zu, dass du das nicht vergisst, wenn du einen Liebsten findest!«, erwiderte sie spitz. »Aber sie ist eine verheiratete Frau! Und sie ist gebildet – was hat sie sich dabei nur gedacht?«
»Vielleicht hat er sie gezwungen«, meinte Nell.
Meg warf den Kopf hoch. »Wer würde es wagen, sie zu zwingen?«
Darauf wusste Nell keine Antwort. Sie mochte nicht glauben, dass Lady Harvey sich einem anderen Mann als ihrem Gatten hingab, aber ebenso wenig mochte sie sich vorstellen, dass dieses winzige Baby das Ergebnis von Gewalt war.
»Wirst du sie nehmen, Mutter?«, fragte sie und holte den Sovereign, den Bridie ihr gegeben hatte, aus der Tasche.
»Ich habe schon zu viele Kinder«, entgegnete Meg, doch sie betrachtete Hope bereits mit der gleichen Zärtlichkeit wie zuvor jedes ihrer eigenen Babys. »Wir haben keinen Platz; es wird von Woche zu Woche schwieriger, sie alle sattzubekommen. Wenn ich sie nehme, wird Lady Harvey in ein oder zwei Wochen ihre Partys und Bälle besuchen, ohne an irgendjemand anderen zu denken als an sich selbst, und ich werde noch ein Kind ernähren müssen.«
Nell nickte, denn ihre Mutter hatte recht. Bis Nell nach Briargate gegangen war, hatte sie keine Ahnung davon gehabt, wie die vornehmen Herrschaften lebten. Sie waren einfach nur Leute in prächtigen Kleidern gewesen, die in den vorderen Bänken der Kirche saßen und vor denen ihr Vater den Hut zog, wenn sie auf ihren eleganten Pferden vorbeiritten. Als Pastor Gosling ihr die Position im großen Haus vermittelt hatte, war sie so aufgeregt gewesen, dass ihr die Nachteile dieses Arrangements keinen Moment lang in den Sinn gekommen waren: dass sie ihre Familie vermissen würde oder dass die Arbeit als Dienstbotin hundert Mal härter sein würde als die Pflichten, die sie zu Hause gehabt hatte.
Tatsächlich hatte sie sich während ihres ersten Jahres in Briargate jede Nacht in den Schlaf geweint, denn tagsüber hatte sie keine einzige freie Minute gehabt. Als Spülmädchen fielen ihr die gröbsten Arbeiten zu; sie schrubbte Töpfe und Fußböden, entzündete Feuer und musste jedem gehorchen, der ihr eine Arbeit zuwies. Zu Hause hatte es neben der Arbeit Liebe, Gelächter und Geplauder gegeben. Ihre Mutter nahm Anteil, wenn ihr Rücken schmerzte, sie sich in den Finger geschnitten hatte oder einfach nur müde war. Abends nahm ihr Vater sie auf den Schoß und sagte ihr, dass sie hübsch und klug sei. In Briargate bekam sie nichts von all dem.
Irgendwann lernte sie, damit fertig zu werden. Langsam stieg sie die Leiter hinauf und wurde Stubenmädchen. Jetzt standen nur noch Baines, Mrs Cole, Bridie und die Köchin über ihr; sie brauchte keine groben Arbeiten mehr zu verrichten und hatte sogar freie Zeit, um bei einer Tasse Tee mit der Köchin oder Bridie zu plaudern.
Aber die schönsten Zeiten waren ihr wöchentlicher freier Nachmittag und der eine Sonntag im Monat, an dem sie nach dem Morgengottesdienst in der Kirche nach Hause ging. Ihre Familie mochte arm sein, doch jeder, der dazugehörte, besaß Stolz, Würde und ein großes Herz.
»Ich werde mein Bestes tun, dafür zu sorgen, dass du keine Not mit ihr hast.« Sie hielt ihrer Mutter abermals den Sovereign hin. »Das habe ich für meine Hilfe bekommen, und Bridie wird dir noch mehr zukommen lassen. Ich werde dafür sorgen, dass sie James und Ruth ebenfalls in Briargate unterbringt. Das wird helfen.«
Silas, Nells Vater, hielt sich für einen glücklichen Menschen. Wenn er einige Gläser Apfelwein getrunken hatte, neigte er dazu, damit zu prahlen, dass er die beste Frau habe, die ein Mann sich wünschen könne, zehn zufriedene, gesunde Kinder und dass sein Cottage das hübscheste in ganz Somerset sei.
Es blieb jedoch eine weitere Tatsache: Trotz all der harten Arbeit, die Silas verrichtete, lebten sie von der Hand in den Mund, und in Zeiten, da er keine Stellung fand, litten sie oft Hunger. Matthew, der mit seinen fünfzehn Jahren der älteste von Nells Brüdern war, arbeitete ebenfalls als Knecht, daher brachte er regelmäßig Geld nach Hause. Aber James und Ruth, die vierzehn, beziehungsweise dreizehn Jahre alt waren, hatten noch immer keine dauerhafte Anstellung gefunden. Nach ihnen kamen Alice, Toby, Prudence, Violet und Joe, die zwischen neun und zweieinhalb Jahre alt waren, und zu guter Letzt der kleine Henry, der soeben seinen ersten Geburtstag gefeiert hatte.
»Ich hatte damit gerechnet, dass ich Ruth würde zu Hause behalten können, damit sie mir bei den Kleinen hilft, aber Alice kommt auch sehr gut mit ihnen zurecht«, sagte Meg erschöpft. »Oh, Nell, du bist immer so ein braves Mädchen gewesen! Es ist nicht recht, dass man dich in eine solche Lage gebracht hat.«
Nell dachte darüber nach, wie selbstlos ihre Mutter war. Wenn sie sich bereitfand, das Baby zu nehmen, würde sie die Kleine lieben und für sie sorgen wie für all ihre eigenen Kinder, und in ein oder zwei Wochen würde sie fast vergessen haben, dass sie dieses hier nicht zur Welt gebracht hatte, davon war Nell überzeugt. Aber deswegen war es keineswegs recht, die Güte ihrer Mutter auszunutzen.
»Nicht ich bin diejenige, die damit fertig werden muss«, sagte sie. »Du bist es, Mutter. Wenn du willst, kannst du mich bitten, sie wegzubringen. Ich verlange sehr viel von dir, doch wenn du einverstanden bist, werde ich alles in meiner Macht Stehende tun, um es dir leichter zu machen. Das verspreche ich dir.«
Meg streckte die Hand aus und streichelte wortlos die Wange ihrer Tochter. Die kleine Hope hatte anscheinend genug getrunken, denn sie stieß einen zufriedenen Seufzer aus und ließ die geschwollene Brustwarze los. Meg legte sie sich auf den Schoß und strich mit dem Finger liebevoll über ihr Kinn, während sie sie betrachtete. »Sie ist ein hübsches kleines Ding«, meinte sie schließlich. »Ich bezweifle, dass sie mir und deinem Vater große Sorgen bereiten wird. Also, geh du jetzt ins Bett, Nell, du siehst ziemlich mitgenommen aus. Sie ist jetzt mein Kind.«
1838
Nur weil ich ein Mädchen bin und kleiner als du, heißt das noch lange nicht, dass ich nicht genauso auf Bäume klettern könnte wie du!«
Die laute, entrüstete Erklärung, die von der anderen Seite des Waldes kam, entlockte Nell ein Lächeln. Mit ihren sechs Jahren stand Hope im Dorf in dem Ruf, ein Engel zu sein, aber tatsächlich konnte sie ein kleiner Teufel sein, insbesondere wenn es darum ging, den Jungen zu beweisen, dass sie ebenso tollkühn war wie sie.
Nell war an ihrem freien Nachmittag auf dem Weg nach Hause, und sie vermutete, dass ihre jüngsten Brüder, Joe und Henry, Hopes scharfe Zunge zu spüren bekamen.
»Es liegt nicht daran, dass wir glauben, du könntest nicht auf den Baum klettern. Es ist wegen deines Kleides. Du wirst es zerreißen, und dann wird die Hölle los sein.«
Nell lachte leise über Joes diplomatische Bemerkung; er fand fast immer einen Weg, seine temperamentvolle Schwester abzulenken.
»Dann werde ich es ausziehen«, schrie Hope. »Henry! Mach die Knöpfe auf!«
»Hope!«, rief Nell rasch, denn Henry, der unter Hopes Pantoffel stand, würde genau das tun, und das galt es zu verhindern.
Nell stellte sich Hopes entsetzte Miene vor, als sie die Stimme ihrer älteren Schwester aus dem Wald hörte, und sie musste laut auflachen. Wenn sie die Kinder erreichte, das wusste sie, würde Hope so anmutig wie eine Herzogin dasitzen, die Augen weit aufgerissen und voller geheuchelter Unschuld.
Sie war das hübscheste kleine Mädchen, das Nell je gesehen hatte. Ihr Haar war so dunkel und glänzend wie schwarzer Marmor und überdies leicht gewellt. Ihre Augen waren wie dunkle Teiche und umringt von unglaublich langen Wimpern, und ihre Haut war vollkommen glatt und rein.
Alle in der Familie hatten dunkle Haare und dunkle Augen: Die Leute im Dorf beschrieben einen Menschen häufig als »so dunkel wie ein Renton«. Das Aussehen der echten Rentons war jedoch eher gewöhnlich; ihre Haut war fahl und ihr Haar strohig. Sie waren wahrhaftig nichts Besonderes.
Aber nach Hope drehten die Leute sich um. Ihr Lächeln war betörend, und sie strahlte einen Frohsinn und eine Begeisterung aus, die selbst die ärmsten Menschen zum Lachen brachten. Sie wollte mit jedem reden; mit vier Jahren hatte sie am Tor gestanden und einen jeden begrüßt, der vorbeigekommen war. Selbst Pastor Gosling, der normalerweise so hochmütig war, blieb immer stehen, um mit ihr zu sprechen.
Meg und Silas hatten niemals auch nur für einen Moment bedauert, sie genommen zu haben. Sie war ein umgängliches, genügsames Baby gewesen, das den ganzen Tag über gelächelt und vor sich hin gebrabbelt hatte, und fast von ihrer ersten Woche im Haus der Rentons an schien das Glück der Familie sich tatsächlich zu wenden.
Geradeso wie Nell geglaubt hatte, sie sei ein Feenkind, nahmen es auch viele andere an. Sie sahen, dass das Dach der Rentons kurz nach ihrer Geburt auf wundersame Weise neu gedeckt wurde und Ruth als Wäschemagd und James als zweiter Stallbursche nach Briargate kamen. Meg und Silas konnten niemandem, nicht einmal ihren älteren Kindern, erzählen, dass ihr Glück auf Bridies Einfluss zurückzuführen war, und so dachten die Menschen in Ermangelung einer anderen Erklärung, eine Art Magie müsse dahinterstecken.
Nells Glaube an Feen oder Magie hatte sich mit der Zeit abgeschwächt. Aber andererseits waren die letzten sechs Jahre sehr ereignisreich gewesen, und ihr eigener Horizont war nicht länger auf das Dorf beschränkt. Sie hatte inzwischen Bath, Bristol und London besucht und war in Häusern gewesen, die vier Mal so groß waren wie Briargate, außerdem las sie, angeleitet von Mr Baines, fast jeden Tag die Zeitung.
Auch war Nells uneingeschränktes Vertrauen in ihren Herrn und ihre Herrin deutlich erschüttert, seit Bridie zwei Jahre nach Hopes Geburt an einer Lungenentzündung gestorben war. Bridie hatte sich erkältet, als sie auf der langen Heimfahrt von London nach Somerset im Regen neben dem Kutscher gesessen hatte. Niemand hatte es gewagt, offen eine Bemerkung darüber zu machen, dass es keineswegs galant von Sir William und einem seiner jungen männlichen Freunde gewesen war, bei ihren Damen in der Kutsche zu sitzen, während eine ältliche Magd den Elementen hatte trotzen müssen. Nell hatte diese Gefühllosigkeit zutiefst schockiert. Sie hatte ihr klargemacht, dass die vornehmen Herrschaften keine echte Zuneigung zu ihren Dienstboten hegten; sie betrachteten sie als bloße Packpferde, die man arbeiten ließ, bis sie umfielen, um sie dann zu ersetzen.
Nach Hopes Geburt waren Nell und Bridie einander sehr nahegekommen, und die ältere Frau hatte sie viele Dinge gelehrt, die es ihr ermöglicht hatten, mehr zu werden als nur ein Stubenmädchen. Dank Bridie wusste Nell, wie man Haare nach der neuesten Mode frisierte und geschickt mit Nadel und Faden umging, und sie hatte die Fähigkeiten erworben, die eine gute Haushälterin brauchte. Außerdem hatte Bridie ihr beigebracht, wie sie mit einer Herrin fertig wurde, die sich in allen Dingen auf Dienstboten verließ und ihren wahren Wert doch nur selten anerkannte.
Bridies Tod hatte Nell hart getroffen, und sie hatte geweint, als Lady Harvey ihr mitgeteilt hatte, dass Bridie ihr all ihre Ersparnisse hinterlassen hatte, fast zwanzig Pfund. »Du bist Bridie wie eine Tochter ans Herz gewachsen«, erklärte Lady Harvey. »Das hat sie mir noch anvertraut.«
Nell vermutete, dass Bridie das Wort »Tochter« benutzt hatte, um ihr die verborgene Botschaft zukommen zu lassen, dass das Geld für Hopes weitere Versorgung bestimmt sei und dass sie von Nell erwarte, ihr Geheimnis für immer zu hüten.
Lady Harvey hatte nicht ein einziges Mal über die Geburt gesprochen, zumindest nicht Nell gegenüber, aber die tiefe Traurigkeit, die sie während der ersten zwei Jahre verströmt hatte, hatte verraten, dass sie häufig daran dachte. Wenn ihr Mann zu Hause war, riss sie sich zusammen, aber sobald er Briargate wieder verließ, um in London seinen Geschäften nachzugehen, versank sie abermals in Trauer.
Nell hatte erwartet, ihre Herrin würde nach Bridies Tod sehr niedergeschlagen sein – schließlich war die ältere Frau ihr Leben lang bei ihr gewesen. Aber überraschenderweise reagierte sie keineswegs so, wie Nell es vermutet hatte, und kurz nach der Beerdigung fragte sie Nell, ob sie ihre persönliche Zofe werden wolle.
Dies war die einzige Gelegenheit gewesen, bei der Lady Harvey jemals zu erkennen gegeben hatte, dass sie sich an Nells Rolle bei den Ereignissen in jener Nacht vor zwei Jahren erinnerte. Und selbst damals hatte sie nicht direkt davon gesprochen.
»Du bist die Einzige, die den Platz meiner lieben Bridie einnehmen kann«, sagte sie und drückte Nells Hand. »Du hast bewiesen, dass du ebenso ergeben bist, wie sie es war, und dies ist meine einzige Möglichkeit, dir meine Wertschätzung zu zeigen.«