Hotel Inselblick - Wolken über dem Meer - Anke Petersen - E-Book
SONDERANGEBOT

Hotel Inselblick - Wolken über dem Meer E-Book

Anke Petersen

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der erste Band der großen Familiensaga von Anke Petersen Der Roman beruht auf wahren Geschichten um ein kleines Hotel auf Amrum Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts - mit viel Nordsee-Zauber und Nostalgie. Hamburg 1891. Der Kaufmann Wilhelm Stockmann beschließt, das Leben in der Stadt aufzugeben und mit seiner Familie auf die Nordsee-Insel Amrum zu ziehen und dort ein Hotel zu eröffnen. Besonders die Älteste seiner drei Töchter, Rieke, sieht dem Umzug mit gemischten Gefühlen entgegen, seine Frau Marta jedoch ist begeistert, hat sie doch schon immer davon geträumt, ein eigenes Hotel zu führen. Mit Begeisterung stürzt sie sich in die neue Aufgabe, und auch Rieke lebt sich allmählich auf der sturmumtosten Insel ein und knüpft erste zarte Bande zur männlichen Bevölkerung. Doch dann schlägt das Schicksal zu und macht alle Pläne zunichte … »Eine Familiensaga voller Dramatik und Atmosphäre, die mich sofort in ihren Bann gezogen hat.« Anne Jacobs, Autorin des Bestsellers "Die Tuchvilla" - Band 1: Hotel Inselblick. Wolken über dem Meer - Band 2: Hotel Inselblick. Wind der Gezeiten - Band 3: Hotel Inselblick. Stürmische See

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 701

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Sammlungen



Anke Petersen

Hotel Inselblick Wolken über dem Meer

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Der erste Band der großen Familien-Saga von Anke Petersen um ein kleines Hotel auf Amrum Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts

Hamburg 1891. Der Kaufmann Wilhelm Stockmann beschließt, das Leben in der Stadt aufzugeben und mit seiner Familie auf die Nordsee-Insel Amrum zu ziehen und dort ein Hotel zu eröffnen. Besonders die Älteste seiner drei Töchter, Rieke, sieht dem Umzug mit gemischten Gefühlen entgegen, seine Frau Marta jedoch ist begeistert, hat sie doch schon immer davon geträumt, ein eigenes Hotel zu führen. Mit Begeisterung stürzt sie sich in die neue Aufgabe, und auch Rieke lebt sich allmählich auf der sturmumtosten Insel ein und knüpft erste zarte Bande zur männlichen Bevölkerung.

Doch dann schlägt das Schicksal zu und macht alle Pläne zunichte …

Inhaltsübersicht

Personenverzeichnis1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. Kapitel48. Kapitel49. Kapitel50. Kapitel51. Kapitel52. Kapitel53. Kapitel54. KapitelNachwortRezepte aus Ebbas Hotelküche
[home]

Wichtigste im Roman vorkommende Personen

Familie Stockmann

Wilhelm Stockmann

Marta Stockmann, Ehefrau

Rieke Stockmann, Tochter

Ida Stockmann, Tochter

Marie Stockmann, Tochter

Weiter Verwandte: Nele Bartels, Martas Tante

 

*Sine und Kaline Peters, Inhaberinnen eines Gästehauses auf der Insel Amrum

Jasper Hansen, Kutscher und Aushilfe

Ebba und Gesa Janke, Köchin und Zimmermädchen

Hilde Hadler, Zimmermädchen und Aushilfe

 

*Philipp Schau, Seehundjäger

*Anne Schau, Ehefrau

 

Pfarrer Ricklef Bertramsen, Inselpfarrer und Leiter des Seehospizes

Thaisen Bertramsen, Sohn des Pfarrers

*Pastor Bodelschwingh, Erbauer und Leiter des Seehospizes auf Amrum

 

Jacob Thieme, Inhaber eines Gästehauses

Hinrich Thomason, Geschäftspartner von Jacob

*Frauke (Witwe) Schamvogel, Inhaberin des Papeteriegeschäftes in Wittdün

Gäste des Hauses Stockmann

Familie Marwitz aus Berlin

Familie Franke aus Hannover

Familie Voss aus Breslau

 

 

 

mit * gekennzeichnete Personen sind historisch belegt

[home]

1

September 1891, Hamburg

Marta hatte es sich in dem Lehnstuhl am Fenster bequem gemacht, um dem Spiel des Trompeters zu lauschen, der, wie jeden Morgen zu dieser Stunde, ein Fenster des steinernen Rokokoturms der St.-Georg-Kirche öffnete und an der Steinbrüstung, sein Instrument in Händen, erschien. Sie beobachtete ihn dabei, wie er einen Augenblick bedächtig Umschau hielt und sich leicht zu verbeugen schien. Erst dann setzte er die Trompete an die Lippen, um seinen Morgengruß, heute war es ein Stück von Vivaldi, über die Dächer zu senden. Dieses Lied sollte noch weitere drei Mal erklingen, denn er spielte es in alle Himmelsrichtungen. Es war Marta zu einer geliebten Gewohnheit geworden, ihr Tagwerk erst dann zu beginnen, nachdem sie dem Spiel des Trompeters gelauscht hatte. Von ihrer Wohnung, die unweit der Kirche im vierten Stock eines Stadthauses lag, hatte sie ihn gut im Blick. Sie hatte dem Mann auch schon auf dem Balkon stehend zugehört, ihm sogar einmal zugewunken. Doch der Trompeter reagierte nicht auf seine Umgebung. Er schien dort oben in seiner eigenen Welt versunken zu sein, was ihn in Martas Augen beinahe zu einem Verbündeten machte, denn auch sie träumte sich oftmals aus ihrem alltäglichen Einerlei fort und gab sich ihrer Fantasie hin. Allerdings war es bei ihr nicht die Musik, die sie fesselte, sondern ein Traum, den sie bereits hegte, seit sie denken konnte. Neben ihr lag auf einem kleinen Tischchen das unscheinbare, in schwarzes Leder gebundene Büchlein, in dem sie sich ihren Träumereien hingab. Sie nahm es zur Hand, während das Lied des Trompeters zum letzten Mal erklang, schlug die erste Seite auf und begann, den Text zu überfliegen. Ihr eigenes Hotel sollte es sein, das in einer hübschen Villa, direkt an der Alster gelegen, nur die feinsten Gäste anzog. Adrett gekleidete Herren in feinen Anzügen mit eleganten Damen am Arm, denen sie herrliche, von Sonnenlicht durchflutete Zimmer mit Alsterblick, ausgestattet mit feinstem Interieur, vermieten würde. Dazu gab es ein gediegenes Restaurant mit einer Sonnenterrasse, von der man über wenige Stufen in einen hübsch angelegten Garten gelangte, der direkt am Alsterufer lag. Sogar ihr Personal hatte sie mit Namen aufgelistet. Eine Köchin, Küchenhilfen, Portier, Kellner und Zimmermädchen. Auch einen Kofferträger gab es in ihrer Fantasie, der den Namen Bruno trug und bereits ein wenig in die Jahre gekommen war. Es war eine eigene, liebevolle und besondere Welt ohne Sorgen und Kummer und von Heiterkeit erfüllt, in die sie sich in diesem Büchlein flüchtete. Sie wusste durchaus, dass die Realität im Hotelgewerbe anders aussah als in ihrem Traum, denn sie war in der Pension ihrer Tante Nele aufgewachsen, nachdem sie ihre Eltern auf tragische Weise bei einem Hausbrand verloren hatte. Weder an ihre Eltern noch an das schreckliche Ereignis, das nun bereits über vierzig Jahre zurücklag, konnte sie sich erinnern. Damals war sie erst wenige Monate alt gewesen. Ihre Amme, die mit ihr in einem Raum schlief, hatte sie aus dem Bettchen gerissen und war mit ihr auf die Straße hinausgelaufen. Nicht mal ihre Lebensretterin kannte sie. Sie war an der Ruhr gestorben, wie ihr irgendwann einmal Tante Nele, die einzige Verwandte, die ihr noch geblieben war, erzählt hatte. Tante Nele hatte ihr auch von ihrer Mutter erzählt, einer warmherzigen und ruhigen Frau, die als Kind den Eltern nur wenig Kummer bereitet hatte. Sie hatte das kastanienbraune Haar von ihr geerbt, die Grübchen an den Mundwinkeln, das warme Braun ihrer Augen. Sie besuchte Nele noch immer sehr oft, obwohl ihr Gatte Wilhelm es nicht gern sah, wenn sie sich allzu häufig in der kleinen Pension aufhielt, denn seiner Meinung nach schickte es sich nicht für die Gattin eines angesehenen Prokuristen in gehobener Position, sich in einer gewöhnlichen Pension herumzutreiben, in der Seeleute und einfaches Publikum abstiegen. Wilhelm hatte sich in den letzten Jahren mit viel Ehrgeiz hochgearbeitet, was ihnen ein gutes Leben ermöglichte. Er arbeitete im Handelsunternehmen Jacobsen, das Kolonialwaren aller Art vertrieb, hauptsächlich jedoch Kaffee, Kakao und Tabak, und seinen Sitz in einem stattlichen Gebäude direkt am Binnenhafen hatte. Von Wilhelms Bürofenster aus konnte man den regen Schiffsverkehr beobachten, der aus den für Hamburg üblichen kleinen Seglern, den Ewern, bestand. Aber auch größere Segelboote und Dampfschlepper tummelten sich auf dem Gewässer. Seinem Büro gegenüber ragten die ersten Neubauten der Speicherstadt auf dem Kehrwieder in die Höhe. Wilhelm hielt das Zollabschlussabkommen zwischen Hamburg und dem Deutschen Reich für eine gute Sache, das den Bau der Speicherstadt beinhaltete, die als Freihafen nicht dem deutschen Zollgebiet angehörte. So konnten die Händler ohne Einschränkungen weiterhin ihren Geschäften nachgehen. Um den Bau der Speicherstadt zu ermöglichen, waren jedoch die Wohnviertel auf dem Kehrwieder und dem Wandrahm abgerissen worden. Damals mussten über zwanzigtausend Menschen umgesiedelt werden. Auch ihre Familie war davon betroffen, was besonders für Marta schwer gewesen war, denn sie hatte die hübsche Wohnung in dem großen Stadthaus mit der Freitreppe geliebt, das von einer reichen holländischen Kaufmannsfamilie im achtzehnten Jahrhundert errichtet worden war und noch vom alten Glanz dieses Stadtteils erzählte. Jetzt gab es das hübsche Haus nicht mehr, sondern Lagerhallen ragten an seiner Stelle in den Himmel. Der Zufall war ihnen damals auf der Suche nach einer neuen Bleibe zu Hilfe gekommen. Eine Schulkameradin von Rieke wanderte nach Amerika aus. Schnell waren Kontakte geknüpft worden, und die um einiges größere und im Norden von St. Georg gelegene Wohnung konnte übernommen werden. Ihr Umzug lag jetzt fünf Jahre zurück, und inzwischen fühlten sie sich in dem unweit der Außenalster gelegenen Stadtteil heimisch. Besonders Rieke, ihre älteste Tochter, die im letzten Jahr ihren Abschluss an der höheren Töchterschule gemacht hatte, liebte die Nähe zu den Cafés und Vergnügungen an der Binnen- und Außenalster.

Martas Blick wanderte noch einmal zum nahen Kirchturm hinüber. Der Trompeter war verschwunden und würde erst in den Abendstunden wieder auftauchen. Seufzend legte sie ihr Notizbuch zur Seite und erhob sich. Heute galt es, einige Besorgungen zu erledigen, was sie am liebsten selbst machte. Nach kurzem Anklopfen öffnete sich die Zimmertür, und ihr Kindermädchen Merle betrat mit Marie auf dem Arm den Raum. Merle traf jeden Morgen um sieben Uhr ein, um sich um Martas Töchter Marie und Ida zu kümmern, obwohl Ida mit ihren neun Jahren inzwischen schon sehr selbstständig war und auch den Weg zur Schule eigenständig mit der Straßenbahn bewältigte. Trotzdem achtete Merle darauf, dass sie sich richtig kleidete und ihren Schulranzen ordentlich packte. Auch frühstückte sie gemeinsam mit den Kindern in der gemütlichen Wohnküche, die Dorotheas Reich war. Anfangs hatte sich Marta dagegen gewehrt, eine Köchin einzustellen, denn sie war durchaus in der Lage, ihre Familie zu versorgen. Doch der gesellschaftliche Aufstieg brachte es irgendwann mit sich, dass die Zahl ihrer Hausangestellten stieg. Es schickte sich in gutbürgerlichen Kreisen als Dame des Hauses nicht, zu kochen oder andere niedere Hausarbeiten zu erledigen. Mit dem Umzug in die neue Wohnung war dann also auch bei ihnen der Müßiggang, wie Marta die Entlastung durch die Hausangestellten bezeichnete, eingezogen. Dorothea, mit der sich Marta schwertat, kümmerte sich um die Küche, Merle um die Kleinen, und das Dienstmädchen Auguste putzte und ging den beiden Wäscherinnen zur Hand, die zweimal in der Woche ins Haus kamen. So langweilte sich Marta seit Jahren jeden Tag ein kleines bisschen mehr zwischen Teekränzchen, Konzerten und anderen Abendveranstaltungen, die ihre Freundinnen so wunderbar unterhaltsam fanden. Klatsch und Tratsch, Gerede über die neueste Mode aus Paris, Flanieren am Alsterufer. Dieses Leben kam ihr schrecklich eintönig vor, obwohl es doch so herrlich leicht war. Keine schwere Arbeit, kein frühes Aufstehen am Morgen, kein Ärger mit unflätigen Gästen. Auguste würde ihr das Frühstück sogar ans Bett servieren, wenn Marta es wollte. Sie hatte diesen Luxus bisher stets abgelehnt. Nur Kranke oder Alte aßen ihrer Meinung nach im Bett. Immerhin diese Meinung teilte Wilhelm mit ihr. Er saß jeden Morgen pünktlich um sieben Uhr am Frühstückstisch, warf einen Blick in seine geliebte Zeitung, nippte an seinem Kaffee und aß sein Honigbrötchen, das sie ihm liebevoll schmierte. Auf die Minute genau um halb acht verließ er das Haus, um oftmals erst spätabends zurückzukehren.

»Da ist ja mein kleines Mädchen«, begrüßte Marta ihre Tochter Marie, die erst vor Kurzem ihren ersten Geburtstag gefeiert hatte. Sie war eine Nachzüglerin, mit der sie nicht mehr gerechnet hatte. Was hatte sie sich darüber gefreut, als ihr der Arzt die frohe Kunde von der unerwarteten Schwangerschaft mitteilte. Wilhelm war sogar ganz aus dem Häuschen gewesen. Er vergötterte Marie regelrecht und ließ sie auf seinen Knien schaukeln oder wirbelte sie durch die Luft, was sie mit freudigen Kieksern belohnte. Gern führte er seinen Vierfrauenhaushalt, wie er oftmals liebevoll sagte, am Sonntagnachmittag am Jungfernstieg spazieren, wo er seine Damen zu Kaffee und Kuchen in eines der Kaffeehäuser einlud.

Marta nahm Marie entgegen und bemerkte mit Sorge, dass dem kleinen Mädchen mal wieder die Nase lief.

»Schon wieder ein Schnupfen«, sagte sie.

»Aber sonst scheint sie recht munter«, antwortete Merle. »Meine Mutter meinte, in dem Alter wäre mir ständig die Nase gelaufen.«

»Bei Ida und Rieke war das auch so«, pflichtete Marta ihr bei. »Und derweil stehen wir erst am Anfang der dunklen Jahreszeit.« Seufzend stupste sie ihrem Töchterchen auf die Nase. »Deinem Vater wird diese vermutlich mehr zusetzten als dir, mein kleiner Liebling. Aber er ist stets unvernünftig und läuft auch noch krank zur Arbeit, weil ohne ihn der ganze Laden zusammenbrechen würde.«

Martas Worte klangen scherzhaft, hatten aber einen ernsten Hintergrund. Wilhelm litt an Asthma, was ihn in seinem alltäglichen Leben immer wieder beeinträchtigte. Er bekämpfte die Krankheit zumeist mit Asthmazigaretten, deren Geruch Marta gar nicht leiden konnte. Auch trank er viel schwarzen Kaffee, da das darin enthaltene Koffein ebenfalls seine Beschwerden linderte. Leider war er dadurch häufig unruhig und schlief schlecht. Besonders im Winter war es schlimm, denn nur der kleinste Anflug einer Erkältung konnte sich bei ihm in eine schwerwiegende Bronchitis oder Lungenentzündung wandeln. Schon mehrfach hatte ihm ihr Hausarzt, Doktor Oskar Lehmann, eine Luftveränderung in Form einer Kur empfohlen. Gerade bei Lungenkrankheiten erzielten die Aufenthalte an Nord- und Ostsee hervorragende Ergebnisse und brachten Linderung. Doch Wilhelm dachte nicht daran, seinen Schreibtisch zu verlassen.

»Es ist wohl vernünftiger, wenn mich Marie heute nicht bei meiner Einkaufsrunde begleitet«, entschied Marta. »Ich wollte zum Hopfenmarkt, um Obst und Gemüse zu besorgen, und danach werde ich noch bei meiner Tante in der Pension vorbeischauen. Nicht, dass sich ihr harmlos scheinender Schnupfen verschlimmert.« Marta blickte zum Fenster. »Aber gegen einen kleinen Nachmittagsspaziergang an der Außenalster ist bei diesem herrlichen Wetter gewiss nichts einzuwenden. Marie guckt so gern den Schwänen zu.« Sie reichte Merle ihre Tochter und fügte hinzu: »Du wirst nur leider allein mit ihr losziehen müssen, denn ich gehe mit Rieke zur Schneiderin. Ihr neues Kleid für ihr Geburtstagsfest muss abgeholt werden. Ich hoffe, es gefällt ihr jetzt. Die arme Margarete hat es schon dreimal geändert. Hier noch etwas Spitze, dort eine drapierte Schleppe, der Saum wäre zu lang.« Marta winkte ab.

»Sie will eben perfekt aussehen«, kommentierte Merle die Ausführungen ihrer Arbeitgeberin.

Marta quittierte diese Äußerung mit einem sanften Lächeln. Merle, die in diesem Jahr sechzehn Jahre alt geworden war, trug stets schwarze oder dunkelblaue Baumwollröcke mit weißen Blusen dazu. Von perfekten Kleidern, Konzertbesuchen und noblen Geburtstagsfesten in bester Gesellschaft hatte das braunhaarige Mädchen aus einfachen Verhältnissen, das seit seinem vierzehnten Lebensjahr als Kindermädchen arbeitete, gewiss wenig Ahnung. Einmal hatte Marta sie dabei beobachtet, wie sie voller Sehnsucht eines von Riekes Nachmittagskleidern betrachtet hatte, das, aus leichtem Musselin gefertigt, fließend leicht erschien und Riekes schmale Taille hervorragend in Szene setzte. Dazu trug Rieke gern hübsche, mit Blumen oder Federn besetzte Hüte, und im Sommer war sie stets mit einem passenden Sonnenschirm bewaffnet. Braun zu werden, galt es um jeden Preis zu verhindern, denn braune Haut hatten nur die Bauern. Allerdings konnte auch der beste Sonnenschirm die Sommersprossen nicht unterdrücken, die sich jedes Frühjahr auf Riekes Nase stahlen.

»Dann werden Sie heute zum Mittagessen vermutlich außer Haus sein?«, erkundigte sich Merle.

»Das hätte ich ja beinahe vergessen. Ich bin später mit Wilhelm im Restaurant Zum Löwen am Jungfernstieg verabredet. Du kannst also Dorothea ausrichten, dass wir auswärts essen. Für den Abend wird ein leichter Imbiss genügen.« Mehr zu sich selbst sagte Marta: »Dann muss ich mich jetzt doch noch umziehen. Mit dem einfachen Rock kann ich mich in dem Restaurant unmöglich blicken lassen.«

Marta verabschiedete sich von Merle, drückte ihrer Tochter einen Kuss auf die Wange und verließ eiligen Schrittes den Raum. Merle folgte ihr und ging mit dem Kind auf dem Arm in die am Ende des Flures gelegene Küche, um Dorothea die Neuigkeit zu verkünden, was die Köchin, die für das Mittagessen bereits Kartoffeln schälte, murrend hinnahm.

Marta öffnete indes den hübschen, mit Intarsien verzierten Kleiderschrank aus Nussbaumholz, der in ihrem Ankleidezimmer stand, das direkt an das Schlafgemach grenzte, und ließ den Blick über ihre vielen Kleider, Röcke und Blusen gleiten. Nach kurzer Überlegung entschied sie sich für ein hellgraues Ausgehkostüm mit einer weißen Bluse. Sie konnte nur hoffen, dass der Rock auf dem Markt sauber bleiben würde. Auguste, die gerade die zum Lüften hinausgehängten Betten vom Fenstersims hereinholte, bot sich an, ihr das Haar aufzustecken, was Marta gern annahm, denn Auguste verstand sich wunderbar darauf, eine hübsche Frisur zu zaubern. Das unscheinbare Mädchen mit den rotblonden Haaren arbeitete seit bald drei Jahren bei ihnen, und Marta hatte es tatsächlich geschafft, dass sie ihre anfängliche Schüchternheit vollkommen abgelegt hatte. Sie war inzwischen siebzehn Jahre alt, erschien aber durch ihre schmale Statur, die kaum weibliche Rundungen aufwies, jünger. Trotzdem konnte sie tüchtig anpacken und hatte einen ordentlichen Appetit.

»Wo die Deern das alles nur hinfuttert«, bemerkte Dorothea, die eine recht üppige Figur hatte, häufig. »Sie wird Ihnen eines Tages noch die Haare vom Kopf fressen.«

Marta wehrte solche Bemerkungen stets ab. Ihren Dienstboten sollte es gut gehen, und an Auguste konnte ja durchaus noch einiges hinwachsen.

Während Auguste Marta das Haar am Hinterkopf feststeckte, fiel Marta auf, dass das Mädchen ein besonderes Strahlen in den Augen hatte. Sie summte sogar eine Melodie, was noch nie vorgekommen war.

»Habe ich etwas versäumt? Du wirkst heute Morgen ausgesprochen fröhlich, Auguste.«

»Nein, nichts, Herrin.«

»Das kannst du deiner Großmutter erzählen«, erwiderte Marta. »Diese Art von glänzenden Augen kenne ich. Es geht bestimmt um einen jungen Burschen, oder?«

Ertappt senkte Auguste den Blick.

»Es ist wirklich nichts, Herrin. Der Postbote, er heißt Torben, bringt mich morgens immer zum Lachen, wenn er die Morgenpost bringt. Er zieht stets lustige Grimassen.«

»Torben, der Grimassen zieht«, wiederholte Marta mit gespielt ernster Miene. Sie ahnte, dass ihr etwas verheimlicht wurde.

Vorsichtig rückte Auguste mit der ganzen Wahrheit heraus.

»Heute Morgen war er jedoch anders. Er hat meine Hand genommen und mich ins Treppenhaus gezogen. Ich bin ganz schrecklich erschrocken, denn so etwas schickt sich ja nicht«, beeilte sie sich hinzuzufügen und errötete. »Er meinte, ich wäre so hübsch und lieb und er würde mich gern heute Abend ins Volkstheater einladen. Aber das geht doch nicht …«

»Warum denn nicht?«, unterbrach Marta sie. »Denkst du denn, er könnte sich dir gegenüber unsittlich verhalten?«

»Nein, natürlich nicht«, beeilte sich Auguste zu sagen. »Torben ist ein anständiger Bursche. Jedenfalls behauptet das Dorothea«, fügte sie rasch hinzu. »Sie kennt sogar seine Familie.«

»Und was wäre dann dagegen einzuwenden?«, hakte Marta nach. »Meine Erlaubnis hast du. Gefällt er dir denn ein bisschen, dieser Torben?«

Auguste nickte, ohne den Blick zu heben, ihre Lippen umspielte ein Lächeln.

»Also darf ich?«

»Gewiss doch. Aber nur, wenn du mir jetzt noch eine hübsche Frisur machst und versprichst, um Punkt zehn zu Hause zu sein. Und, um Himmels willen, mach mir bloß nichts Ungehöriges, Mädchen.« Marta hob mahnend den Zeigefinger.

»Gewiss nicht. Oh, habt vielen Dank, Herrin.« Freudig umarmte Auguste Marta sogar, was Marta mit einem Lächeln hinnahm. Manch andere Dienstherrin hätte Vertraulichkeiten dieser Art niemals gestattet, doch Marta nahm das gelassen hin. Auguste war ihr in den letzten Jahren sehr ans Herz gewachsen, beinahe sah sie in ihr so etwas wie eine Tochter, war sie doch im selben Alter wie Rieke. Es machte ihr Freude, das Mädchen glücklich zu sehen.

[home]

2

Wenig später war Marta auf den Straßen Hamburgs vom üblichen Alltagsgeschehen umgeben. Die Straßenbahn fuhr an ihr vorüber, die, wie gemunkelt wurde, in den nächsten Jahren auf Elektrizität umgestellt werden sollte. Dahinter drängten sich Karrenhändler, Droschken und Postkutschen dicht an dicht. Gut zu erkennen waren die Milchbauern, die jeden Morgen aus den linksseitigen Elbdörfern in die Stadt kamen, um die Städter mit Buttermilch, Dickmilch, Kümmelkäse und Grasbutter zu versorgen. Ihre Karren mit den Milchkannen wurden zumeist von Hunden gezogen, die laut bellten und einen rechten Radau machten. Marta entschied sich, die Strecke zum Hopfenmarkt zu Fuß zu gehen, denn es war ein wunderbarer Tag für einen Spaziergang. Sie schlug den Weg zur Alster ein und passierte das Badehaus Alsterlust, vor dem gerade eine Gruppe Dienstmädchen mit dem Reinigen der Zugangsstege beschäftigt war. Am Alsterdamm entlang ging es Richtung Jungfernstieg und wenig später am Rathaus vorbei. Je näher sie dem Hopfenmarkt kam, desto voller wurde es. Besonders Obst und Gemüse wurde hier von den Vierländerinnen verkauft. Diese brachten ihre Waren aus den vor den Toren Hamburgs liegenden Vierlanden auf Gemüse-Ewern in die Stadt, um sie in vielen kleinen Weidenkörben auf dem Markt feilzubieten. Dazu sahen diese Frauen in ihren charakteristischen und oftmals reich verzierten Trachten auch noch wunderhübsch aus. Ein breiter Strohhut mit einer Schleife am Hinterkopf, deren schwarze Bänder aus Fischflossen hergestellt waren, dazu eine Weste und ein Rock, der bereits oberhalb der Knöchel endete, was die Arbeit erleichterte. Unermüdlich schleppten diese Frauen jeden Tag aufs Neue ihre Waren in einem hölzernen Tragegestell, das sie auf den Schultern trugen, durch einen Tunnel zum Hopfenmarkt, wo sie auf gute Geschäfte hofften.

Marta erreichte den Marktplatz über die Trostbrücke, die unweit der Börse über das Nikolaifleet führte. Sie tauchte in das bunte Markttreiben ein und sog den ganz eigenen Geruch dieses Marktplatzes ein. Hier und da blieb sie stehen und prüfte die Ware. Es gab frische Pflaumen, Äpfel, Birnen, süße Trauben, die unterschiedlichsten Gemüsesorten und selbstverständlich Fisch. Besonders die Finken- und Altenwerder Fischfrauen übertönten mit ihrem lautstarken Geschrei den übrigen Marktlärm.

Marta blieb an einem Stand stehen und prüfte die Qualität der Pflaumen. Gerade als sie ein Pfund kaufen wollte, wurde sie von hinten angesprochen.

»Das sieh mal einer an, wer sich mal wieder auf dem Markt herumtreibt.«

Lächelnd wandte sich Marta um.

»Tante Nele, wie schön. Du auch hier?«

Marta umarmte ihre Tante und drückte ihr links und rechts ein Küsschen auf die Wange. Neles dunkelblauem Kleid haftete der übliche Geruch nach Mottenkugeln an, der Marta so unendlich vertraut war. Ihr Sommerhut aus Stroh war nach hinten gerutscht, und einige ihrer grauen Haarsträhnen hatten sich aus dem Dutt an ihrem Hinterkopf gelöst, was sie zerzaust aussehen ließ.

»Eine anständige Hausfrau kümmert sich um ihre Einkäufe selbst, nicht wahr?«

»Aber gewiss doch. Auch wenn Wilhelm das anders sieht«, erwiderte Marta. »Ich werde wohl niemals eine anständige Herrin werden. Besonders mit Dorothea habe ich so meine Sorgen. Sie mag es gar nicht, wenn ich mich in der Küche einmische. Ich habe ihren bösen Blick schon jetzt vor Augen, wenn ich mit frischem Obst und Gemüse nach Hause komme. Ihrer Meinung nach übernimmt die Köchin die Einkäufe der Lebensmittel. Aber wieso soll man trotz eines gewissen Wohlstands plötzlich bestimmte Dinge nicht mehr machen dürfen? Ich bin gern hier. Inmitten dieses bunten Gewühls fühle ich mich erst richtig lebendig.«

»Was ich gut verstehen kann«, erwiderte Nele. »Ich an deiner Stelle wäre schon längst verrückt geworden. Immer dieses nutzlose Herumsitzen. Der Mensch ist nicht für Langeweile, sondern zum Arbeiten geschaffen.«

»Vielleicht liegt es ja an mir«, erwiderte Marta. »Rieke würde niemals auf die Idee kommen, Gemüse einzukaufen. Sie findet es ganz wunderbar, sich mit ihren Freundinnen über Pariser Mode auszutauschen, Teekränzchen und Konzerte zu besuchen und einfach so in den Tag hineinzuleben. Neuerdings treibt sie sich zu Wilhelms und meinem Missfallen leider auch häufiger in St. Pauli herum. Gerade erst gestern war sie mit einigen Freundinnen mal wieder in Hornhardts Concertgarten, wo irgendeine Musikgruppe aus Frankfurt aufgetreten ist.«

Nele winkte ab. »Solange sie nur dorthin geht und nicht in die zwielichtigen Kneipen. Lass ihr doch den Spaß. Bald schon wird sie verheiratet sein und genauso wie du die sittsame Ehefrau geben müssen.«

»Solange es bei den Konzertgärten bleibt«, erwiderte Marta und zwang sich zu einem Lächeln. »Nicht, dass sie uns bald einen hübschen Matrosen aus irgendeinem zwielichtigen Etablissement vorstellt und uns erklärt, dass er der Vater ihres ungeborenen Kindes ist.«

»Ich denke nicht, dass du deine Tochter zu einem liederlichen Weibsbild dieser Art erzogen hast«, entgegnete Nele trocken, zog ein Taschentuch aus ihrer Rocktasche und tupfte sich damit den Schweiß von der Stirn. »Ist ein warmer Tag heute. Wollen wir die Einkäufe nicht verschieben? Wenn du magst, kannst du mit in die Pension kommen. Fanny wird sich bestimmt freuen, dich zu sehen. Warst ja länger nicht mehr da. Wir haben gestern mehrere Stiegen Pflaumen geliefert bekommen, die es einzukochen gilt. Bestimmt freut sie sich über zusätzliche helfende Hände.« Sie grinste schelmisch.

Marta stimmte sofort zu. Auch ihr war warm geworden, und plötzlich wusste sie gar nicht mehr, was sie einkaufen sollte. Die beiden beschlossen, den Weg zur Poststraße, in der Neles Pension lag, mit der Straßenbahn zurückzulegen. Von dort aus war es dann nur ein Katzensprung zum Jungfernstieg und dem Restaurant Zum Löwen, das für seine gute Hausmannskost bekannt war.

Neles Pension befand sich in einem schmalen roten Backsteinhäuschen, das zwischen zwei großen Stadthäusern wie eingeklemmt wirkte und vielleicht gerade deshalb einen besonderen Charme ausstrahlte. Über dem Eingang, der über wenige Stufen zu erreichen war, prangte das Schild, Pension Hubert Bartels. Eine Bartels gab es hier immer, nur der Hubert, Neles Vater, war schon seit über dreißig Jahren tot. Er war an der Ruhr gestorben, die zur damaligen Zeit in Hamburg gewütet hatte. Danach leitete Neles Mutter die Pension, jedoch nicht lang, denn nach einem Unfall mit der Pferdekutsche war sie vom Hals abwärts gelähmt gewesen. Nele war gerade mal Mitte zwanzig, als sie in die Fußstapfen ihrer Mutter trat. Liebevoll hatte sie sie bis zu deren Tod gepflegt, der, zum Wohle für alle Beteiligten, bald eingetreten war.

»Das war kein Leben mehr«, sagte Nele oftmals noch heute, wenn sie Zimmer fünf reinigte, in dem ihre Mutter gestorben war. Dort hingen, wie im ganzen Haus, Gemälde ihres Onkels Albert Bartels. Er war ein talentierter Maler gewesen und hatte Nele Hunderte von Gemälden, Radierungen und Skizzen seiner Heimatstadt Hamburg hinterlassen, die überall in der Pension die Wände zierten. Hier und da hatte ein Gast eines der Gemälde erwerben wollen, doch sie lehnte jedes Mal ab. »Die Bilder sind mit dem Haus verwachsen«, sagte Nele immer. »Ohne sie würde ihm seine Seele fehlen.«

Seit einigen Jahren gab es sogar elektrisches Licht, das Wunderwerk der Technik, das so vieles einfacher machte. Nele scherzte neuerdings gern, dass sie direkt an der Stromquelle sitzen würden, denn das neu erbaute und bisher einzige Elektrizitätswerk Hamburgs war keine zweihundert Meter von ihrer Pension entfernt in einer ehemaligen Stadtwassermühle untergebracht.

Der Strom und auch ein Telefonanschluss waren jedoch die einzigen Modernisierungsmaßnahmen, die die inzwischen Siebzigjährige in den letzten Jahrzehnten zugelassen hatte. Hingebungsvoll kümmerte sie sich darum, dem kleinen Häuschen seinen alten Charme zu bewahren. Im Frühstücksraum, dessen Wände mit Alberts Bildern regelrecht tapeziert waren, standen rustikale Holztische und bunt zusammengewürfelte Stühle mit verschiedenfarbigen Sitzkissen darauf. Dazu kam eine große, dunkel gebeizte Anrichte, die das Porzellan, die Tischtücher, Besteck, Blumenvasen und Aschenbecher enthielt. Das Besondere des Raumes war jedoch der kleine Wintergarten, der, zur Straße hinaus gelegen, zwei Tischen Platz bot und in den Morgenstunden von der Sonne geflutet wurde. Von hier aus konnte man wunderbar auf das geschäftige Treiben der Straße hinabblicken. Gleich neben der Eingangstür lag der Empfangstresen mit der Klingel, die Nele sofort aus der dahinterliegenden Küche trieb, sobald ein Gast darauf drückte. Die Pension hatte viele Stammgäste, zumeist kannte man sich schon länger. Neue Gäste kamen oftmals auf Empfehlung. Auf die Idee, Werbeanzeigen zu schalten, war Nele noch nie gekommen.

Als Marta den schmalen Eingangsbereich betrat, blickte sie wehmütig auf den aus Eichenholz gefertigten Empfangstresen, das Schlüsselbrett und die vielen Bilder an den Wänden, die ihr sofort das Gefühl von Geborgenheit vermittelten.

Nele lief am Empfangstresen vorbei in die dahinter liegende, große Küche. Doch Marta folgte ihr nicht. Sie zog es wie immer, wenn sie hier war, in den um diese Zeit leer stehenden Frühstücksraum. Wie gewohnt betrat sie den Wintergarten und setzte sich an einen der Tische.

Genau hier hatte Wilhelm gesessen, als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte. An diesem Tag war sie gar nicht für das Frühstück, sondern zum Zimmerdienst eingeteilt gewesen. Doch Klara, eines der Dienstmädchen, wurde von einem argen Husten geplagt, weshalb sie getauscht hatten. Sie hatte Wilhelm den Kaffee in die Tasse gegossen und durch eine Ungeschicklichkeit ein wenig davon verschüttet. Er war so zuvorkommend und freundlich gewesen und hatte die Schuld sogar auf sich genommen. Seine blauen Augen, die Grübchen an seinen Mundwinkeln – auf den ersten Blick hatte er sie für sich eingenommen.

Als er sie zwei Tage später zu einem Konzertbesuch einlud, wäre sie vor lauter Freude beinahe geplatzt. Wie ein verliebtes Kalb, so drückte sich jedenfalls Tante Nele aus, war sie in den Wochen darauf durch die Pension gelaufen. Es dauerte nicht lang, bis er ihr einen Antrag machte, den sie, Tränen der Freude in den Augen, annahm.

Heute war kein Fleck auf dem Tischtuch zu sehen, auch standen keine hübschen Maiglöckchen, sondern Dahlien in der kleinen Vase. Doch die Sonne tauchte den Raum genau wie damals in warmes Licht. Sie liebte Wilhelm nach all den Jahren noch immer. Für ihn hatte es sich gelohnt, das Vertraute aufzugeben. Und sobald die Sehnsucht sie übermannte, konnte sie ja stets zurückkehren, wenn auch nur als Gast.

»Wusste ich doch, dass ich dich hier finde.« Nele riss Marta aus ihren Gedanken und setzte sich zu ihr. »Ich mag diese Angewohnheit von dir.«

Marta lächelte. »Was bin ich Klara dankbar, dass sie damals erkältet gewesen ist.«

»Manche Dinge sind eben Schicksal«, erwiderte Nele. Plötzlich lag Wehmut in ihrer Stimme. »Nur mich altes Mädchen hat es, was die Ehe angeht, wohl vergessen«, fügte sie hinzu.

Marta sah Nele erstaunt an. So offen hatte ihre Tante die Tatsache, dass sie zeit ihres Lebens unverheiratet geblieben war, noch nie angesprochen.

»Aber eigentlich wollte ich es ja auch genauso haben«, fuhr Nele fort. »Nachdem meine geliebte Mama diesen schrecklichen Unfall gehabt hatte und kurz darauf gestorben war, habe ich mir geschworen, unsere Pension mit all meinen Kräften weiterzuführen. Wenn ich geheiratet hätte, wäre ein Mann im Haus gewesen, der womöglich Entscheidungen gegen meinen Willen getroffen hätte. Das hätte ich nicht ertragen. Aber so ein- oder zweimal, da bin ich schon verliebt gewesen. Mit einem von ihnen, einem hübschen Matrosen, konnte ich mir sogar eine Ehe vorstellen. Doch dann ist er von der See nicht mehr zurückgekehrt.« Sie seufzte.

»Du hast nie von ihm erzählt«, sagte Marta, die ganz gerührt von Neles unerwarteten Offenbarungen war.

»Du kanntest ihn doch. Sein Name war Gustav. Er hat dich immer auf seinen Knien hüpfen lassen. Er liebte Kinder und meinte, er hätte gern einen ganzen Stall voll davon.«

Marta glaubte, Tränen in den Augen ihrer Tante zu erkennen. Sie legte ihre Hand auf Neles und drückte sie fest.

»Es tut mir leid. Aber ich kann mich beim besten Willen nicht an ihn erinnern.«

»Ist auch nicht so wichtig«, wiegelte Nele ab. »Ist eben, wie es ist. Immerhin du bist glücklich geworden. Dein Wilhelm ist ein feiner Kerl, auch wenn er mir meine Nachfolgerin gestohlen hat, die eine richtig gute Pensionswirtin abgegeben hätte. Halt ihn nur gut fest.«

»Das mache ich«, antwortete Marta mit einem Lächeln.

»Jetzt ist Schluss mit den Sentimentalitäten.« Nele erhob sich abrupt und zerstörte mit einem Schlag die rührselige Stimmung. »Lass uns lieber zu den Mädchen in die Küche gehen. Fanny wartet bestimmt schon ungeduldig auf dich.«

Die beiden verließen den Raum.

»Ja, wer lässt sich denn da mal wieder blicken«, rief die Köchin freudig aus, als sie Marta sah. »Gerade vorhin habe ich zu Bille gesagt, dass unsere Marta lang nicht mehr hier war, und schon spaziert sie zur Tür herein. Lass mich raten: Die Langeweile führt dich zu uns.«

Marta begrüßte Fanny herzlich. Allzu gern hätte sie die Köchin, die sie bereits ihr halbes Leben lang kannte, umarmt, doch deren Küchenschürze war fleckig vom Pflaumensaft, den sie niemals wieder aus ihrem grauen Kostüm herausbekommen würde. So blieb es bei einem von Herzen kommenden Grußwort, sowohl für Fanny als auch für Bille, das erste Küchenmädchen, und für die dunkelhaarige Jule, die erst seit wenigen Wochen bei Nele arbeitete und gerade vierzehn Jahre alt geworden war. Die beiden Mädchen trugen die für Hamburg übliche Dienstmädchentracht: weißes Kleid mit kurzen Ärmeln und Schürze, dazu der kokette Kopfputz, der ihrem Auftreten etwas Frisches und Heiteres gab.

»Wenn du magst, kannst du uns beim Einmachen der Pflaumen helfen. Olaf Jansen hat mir gestern zehn Stiegen zu einem unfassbar günstigen Preis angeboten. Da musste ich zuschlagen. Ich kann eine zusätzliche Arbeitskraft gut gebrauchen, denn unsere Jule hat sich bereits dreimal in den Finger geschnitten, und Bille hat Frauensorgen, weshalb sie heute so käsig wie die Wand ist. Vorhin hab ich sie schon an die frische Luft geschickt, damit sie mir nicht umkippt, die arme Deern.«

Billes Wangen färbten sich dunkelrot, und sie senkte beschämt den Blick. Diskretion, bei welchem Thema auch immer, gehörte nicht zu Fannys Stärken.

»Dann werde ich mal mit anpacken«, sagte Marta, nahm sich eine der Küchenschürzen, die neben der Spüle an der Wand hingen, und krempelte die Ärmel ihrer Bluse hoch.

»Magst auch einen Tee?«, fragte Nele, die spontan beschloss, ebenfalls beim Verarbeiten der Pflaumen mitzuhelfen.

»Von Herzen gern«, antwortete Marta. Sie wollte noch etwas hinzufügen, doch Nele kam ihr zuvor. »Ich weiß, wie immer mit einem Schuss Sahne, sonst schmeckt er nicht.«

Marta lächelte. Es tat gut, in dieser Küche zu sitzen, mit dem Gefühl, zu Hause zu sein. Und wenn sie sich noch so oft einzureden versuchte, die Wohnung in St. Georg wäre jetzt ihr Zuhause, so war sie es nicht. Es war nur ein Platz, an dem sie wohnte und mit dem sie sich arrangiert hatte. Sie nahm ein Messer zur Hand und begann, die Pflaumen zu entkernen. Fanny stellte vor Marta den Tee auf den Tisch und zauberte einen Teller Kekse hervor, an dem sich alle bedienen konnten. Dann rührte sie weiter in einem großen Topf, der die erste Ladung Pflaumenkompott enthielt.

»Habe ich dir eigentlich schon davon erzählt, dass ich eine weitere Renovierung plane?«, fragte Nele Marta.

»Nein, hast du nicht«, antwortete Marta erstaunt.

»Nun schau nicht so, als hätte ich das dritte Weltwunder verkündet«, sagte Nele lachend. »Es ist keine große Veränderung. Du kennst doch bestimmt noch Meister Hinrichs, unseren Haus- und Hofklempner seit Ewigkeiten. Sein Sohnemann, der Claus, hat jetzt die Geschäfte übernommen und war neulich hier, weil wir einen kleinen Wasserschaden in der Küche hatten. Er meinte, er könnte uns nachträglich eine Wasserspülung für unsere Etagentoiletten einbauen. Und er hat mir, weil wir ja langjährige Kundschaft sind, einen richtig guten Preis gemacht. In drei Wochen beginnen die Umbaumaßnahmen. Dann kann ich bei meinen Gästen mit dem Komfort einer Wassertoilette werben.« Neles Augen strahlten.

»Ich hoffe allerdings, dass der Umbau möglichst wenig Dreck macht«, mischte sich Fanny in das Gespräch ein. »Die haben was von einem Loch in der Decke erzählt, damit eine zusätzliche Leitung von der Küche aus nach oben gelegt werden kann. Gewiss wird die Bohrerei eine Menge Staub verursachen. Ich weiß ehrlich gesagt auch gar nicht, was an diesen neuen Spülungen so toll sein soll. Es bleibt doch derselbe Donnerbalken. Ob wir jetzt zweimal am Tag mit einem Eimer Wasser nachspülen oder ob jemand an einer Schnur zieht, wird nicht viel Veränderung bringen.«

»Also, ich liebe diese Einrichtung, und es ändert eine ganze Menge. Es ist viel hygienischer, und der üble Geruch ist praktisch weg. Ihr werdet diese Neuerung gewiss zu schätzen wissen«, antwortete Marta.

Fanny wollte etwas entgegnen, wurde aber vom Läuten der Klingel am Empfangstresen unterbrochen.

»Kundschaft«, rief Nele und lief nach vorn. Es dauerte jedoch keine Minute, bis sie wieder zurückkam.

»Es ist der Karrenhändler Friedrich, der anfragt, ob wir etwas gebrauchen können.«

»Oh, Friedrich.« Fanny legte hastig den Kochlöffel weg. Alle anderen ließen ebenfalls von ihrer Arbeit ab und eilten nach draußen, um den alten Händler zu begrüßen, der neuerdings mit seinem Sohn Johannes, einem hoch aufgeschossenen blonden Buben, durch Hamburgs Gassen zog, um sein buntes Warensammelsurium zu verkaufen. Was gab es auf seinem Karren nicht alles zu bestaunen und oftmals für ein Spottgeld zu erstehen: Seifen, Kämme, Strumpfwaren, Nadeln, Stöcke und Knöpfe. Sogar Porzellangeschirr, Spiegel und Lederwaren hatte er dabei, dazu noch Schreibutensilien und Hanfwaren. Als Friedrich Marta sah, begannen seine Augen zu strahlen.

»Marta, mien Deern. Bist auch mal wieder da. Lang nicht gesehen.«

»Moin, Friedrich«, begrüßte Marta den in die Jahre gekommenen Mann mit dem grauen Schnauzbart fröhlich und ließ sich von ihm sogar in den Arm nehmen. Sofort atmete sie den vertrauten Geruch seines Schnupftabaks ein.

»Du musst rüber nach St. Georg kommen. Dann siehst du mich häufiger.«

»Aber das ist doch gar nicht mein Revier. Da krieg ich Ärger mit dem Paule und seinen beiden Söhnen. Hat jeder sein Eckchen zum Geschäftemachen. Muss ja alles seine Ordnung haben.« Er zwinkerte Marta zu und fragte: »Wie geht es dem werten Gatten und den Kindern? Rieke habe ich neulich mal laufen sehen. Ist ein recht hübscher Backfisch geworden, die Deern. Bestimmt stehen die jungen Burschen schon Schlange. Ich weiß noch, wie sie kaum über den Karren sehen konnte.«

»Ja, so vergeht die Zeit«, erwiderte Marta lächelnd. »Und aus Kindern werden Leute. Auch Johannes hätte ich beinahe nicht wiedererkannt.«

»Nicht wahr?« Stolz schlug Friedrich seinem Ältesten auf die Schulter. »Und er versteht sich schon richtig gut aufs Geschäft. Mien Jung wird mal mehr sein als ein einfacher Karrenhändler. Darauf verwette ich schon jetzt meinen Hintern.« Johannes senkte errötend den Blick.

»Jetzt ist es aber genug mit dem Austeilen von Höflichkeiten«, mischte sich Fanny in das Gespräch ein. »Was hast du denn heute alles dabei, mein Guter? Ich bräuchte weiße Knöpfe für meine Strickjacke. Neulich sind mir doch glatt zwei abgerissen, und ich konnte sie nicht wiederfinden.«

»Und ich hätte gern ein paar neue Strümpfe. Meine alten haben Löcher, so groß wie der Binnenhafen«, meinte Nele.

»Aber sofort, meine Damen«, antwortete Friedrich. »Gerade heute habe ich eine große Auswahl an Knöpfen dabei, und erst gestern erhielt ich eine Lieferung bester Strumpfwaren. Johannes ist euch gern bei der Auswahl behilflich.«

»Hast du auch Hutnadeln?«, fragte Marta. »Vielleicht mit rosafarbenen Blumen?«

»Ich werde nachsehen.« Friedrich suchte in seinem Karren, holte einen unscheinbar aussehenden Holzkasten hervor, öffnete ihn und begann, zwischen den vielen Hutnadeln herumzuwühlen. Was gab es da nicht für eine wunderbare Auswahl. Schlichte oder mit Perlen, mit Seidenblumen, mit Federn oder Glaskugeln besetzte Nadeln. Irgendwann hielt er triumphierend ein besonders hübsches Exemplar in die Höhe. Eine silberfarbene Hutnadel mit seidenen Orchideen, selbstverständlich in Rosa. Marta war begeistert. Diese Hutnadel würde hervorragend zu Riekes rosafarbenem Kleid passen.

»Was soll sie kosten?«, fragte Marta.

»Weil du es bist, drei Mark.«

»Lass dich bloß nicht beduppen«, riet Nele Marta, die inzwischen ein hübsches, blau-weiß gemustertes Teeservice in Augenschein genommen hatte. »Bestimmt hat er die Nadel für einen Appel und ein Ei bei den Zigeunern eingekauft.«

Friedrich warf Nele einen finsteren Blick zu.

»Für die Hälfte nehme ich sie«, sagte Marta.

»Zwei Mark. Das ist mein letztes Wort«, entgegnete Friedrich und sah Marta abwartend an.

Marta schaute zu Nele, die nickte.

»Also gut, zwei Mark.« Marta zückte ihre Börse und drückte dem Händler die Münzen in die Hand. Nele erstand zwei Paar Strümpfe und das Teeservice, bei dessen Preis sie Friedrich mit einer Ausdauer herunterhandelte, dass ihm Hören und Sehen verging. Fanny kaufte neue Knöpfe, und Jule freute sich darüber, dass Johannes ihr eine hübsche Seidenblume schenkte.

»Der hat ein Auge auf dich geworfen«, foppte Bille sie, während die Frauen in die Küche zurückgingen.

»Wäre nicht die schlechteste Wahl«, meinte Fanny und steckte die neu erworbenen Knöpfe in ihre Schürzentasche. »Ihr habt ja gehört, dass der junge Mann recht tüchtig sein soll. Vielleicht eröffnet er ja mal sein eigenes Geschäft. Das wäre doch was, oder, Jule? Dann wärst du ruckzuck eine Herrin und hättest vielleicht sogar Angestellte.«

Jule, der so viele Mutmaßungen über ihre Zukunft sichtlich unangenehm waren, gab nur ein knappes »Vielleicht« von sich.

»Jetzt lasst die Deern mal in Ruhe.« Nele sprach ein Machtwort. »Sie ist gerade vierzehn geworden. Ans Heiraten denkt sie gewiss noch nicht.« Sie strich Jule liebevoll übers Haar, als hätte sie es nicht mit ihrem Dienstmädchen, sondern mit einem Ziehkind zu tun. Die Geste rührte Marta, die sich wieder an den Tisch gesetzt hatte und an ihrem inzwischen kalt gewordenen Tee nippte. Nele würde niemals auf die Idee kommen, ihre Angestellten herabsetzend zu behandeln. Sie bevorzugte es, das Personal als große Familie zu betrachten, die gemeinsam die Höhen und Tiefen des Alltags meisterte.

»Sag mal, Marta, warst du nicht mit Wilhelm zum Mittagessen verabredet?«, fragte Nele ihre Nichte. »Ich sehe gerade, es ist schon gleich zwölf. Nicht, dass du dich verspätest.«

»Ach du meine Güte. Du hast ja recht.« Marta sprang auf. »Über das Geplänkel mit dem Friedrich habe ich ganz die Zeit vergessen.« Hektisch band sie ihre Küchenschürze ab, trank den Rest ihres Tees aus und verabschiedete sich von der Küchentruppe.

»Aber dass du mir dieses Mal nicht mehr so lange fortbleibst. Ganze vier Wochen hast du dich nicht blicken lassen. Das geht nicht.« Mahnend hob Fanny den Zeigefinger.

»Ich schwöre Besserung«, gelobte Marta mit einem Lächeln und verließ die Küche.

 

Als sie das Restaurant Zum Löwen wenig später betrat, saß Wilhelm schon an seinem angestammten Fensterplatz. Er hatte seinen Hut abgenommen. Sein braunes Haar war an den Schläfen bereits ergraut. Doch die Zeichen der Zeit – Wilhelm wurde im Dezember fünfzig Jahre alt – nahmen ihm nicht seine Attraktivität, wie Marta mal wieder auffiel. Doktor Lehmann, ihr Hausarzt, hatte sich zu ihm gesellt, mit dem er sich angeregt unterhielt. Die beiden Herren erhoben sich, als Marta näher trat. Wilhelm begrüßte seine Frau wie immer mit einer Berührung am Arm und einem Wangenkuss, Doktor Lehmann deutete eine Verbeugung an.

»Marta, welch eine Freude, dich hier zu sehen, meine Liebe.«

»Das Vergnügen liegt ganz auf meiner Seite, lieber Oskar«, erwiderte Marta mit einem Lächeln und setzte sich. Sie hatte den charmanten Hausarzt, der ihnen von Thomas Jacobsen, Wilhelms Chef, wärmstens empfohlen worden war, vom ersten Tag an gemocht, und inzwischen waren sie auch privat befreundet. Der grauhaarige Mann mit dem schmalen Schnauzbart war der vollendete Gentleman und ein Meister seines Fachs.

Eine Bedienung trat näher und brachte die Getränke. Ein Glas Rotwein für Wilhelm, ein Bier für Oskar. Marta bestellte für sich ein Glas Weißwein.

»Haben Sie schon gewählt?«, fragte die Bedienung, die in ihrem schwarzen Kleid mit der weißen Schürze und einem adretten Häubchen auf dem Kopf sehr hübsch aussah.

»Ich hätte gern Birnen, Bohnen und Speck«, bestellte Wilhelm. »Heute ist mir nach etwas Deftigem. Und du, meine Teuerste?« Abwartend sah er Marta an. Ihr Blick wanderte zu der Schiefertafel an der Wand, auf der das Tagesgericht, Finkenwerder Scholle mit Kartoffelsalat, angeschrieben stand, was sie bestellte. Die Bedienung entfernte sich.

»Wie geht es denn der kleinen Marie?«, fragte der Hausarzt Marta. »Ich habe sie bereits mehrere Wochen nicht gesehen. Gewiss ist sie wieder ein ganzes Stück gewachsen.«

»O ja, sie gedeiht prächtig«, antwortete Marta. »Leider ist sie heute ein bisschen erkältet. Nichts Schlimmes, nur eine laufende Nase.«

»Was trotzdem ein Grund dafür ist, dass Wilhelm sich von ihr fernhalten sollte.« Plötzlich war die Miene des Arztes ernst. »Ich will ehrlich zu dir sein, mein Freund.« Er wandte sich an Wilhelm. »Der letzte Winter hat dir schwer zugesetzt. Deine Konstitution lässt zu wünschen übrig. Irgendwann werden auch der viele schwarze Kaffee und die Asthmazigaretten dein Leiden nicht mehr lindern können.«

Die Bedienung trat näher und brachte den Wein für Marta, was den Arzt kurz verstummen ließ. Als sie außer Hörweite war, sprach er weiter: »Mir ist klar, du hörst es nicht gern, aber ich empfehle dir noch immer eine mindestens vierwöchige Kur an der See.«

»Du weißt …«, setzte Wilhelm an, doch Oskar Lehmann brachte ihn zum Verstummen, indem er ihm die Hand auf den Arm legte.

»Ich hätte da auch eine wunderbare Empfehlung für dich. Auf der hübschen Nordseeinsel Amrum entsteht zurzeit das herrliche Seebad Wittdün. Die Insel ist noch sehr ursprünglich und nicht überlaufen. Ich bin vor zwei Wochen von einer Reise dorthin zurückgekehrt. Eine Anzeige in einem Ärztemagazin hatte mich neugierig gemacht. Das Seebad wäre der perfekte Platz für dich, um dem Hamburger Stadtmief mal für eine Weile zu entkommen. Ich sage dir, du wirst dich wie ein neuer Mensch fühlen, wenn du von dort zurückkommst.«

»Darüber hatten wir doch bereits gesprochen«, sagte Wilhelm ausweichend. »Jacobsen wird mir niemals Urlaub geben. Es könnte sogar sein, dass ich sein Partner werde, da sein Sohnemann, dieser Luftikus, mit seiner Familie nach Amerika ausgewandert ist. Er betont immer wieder, wie froh er ist, mich zu haben.«

»Dessen bin ich mir bewusst«, entgegnete Oskar Lehmann und nippte an seinem Bier. »Aber ich erinnere an den letzten Winter, als deine chronische Bronchitis in eine Lungenentzündung übergegangen ist und du drei Wochen kaum aufstehen konntest. Da musste Jacobsen auch ohne dich auskommen. Und gerade in den Wintermonaten …«

»Es bleibt dabei.« Wilhelm brachte Oskar mit einer Handbewegung zum Schweigen. Seine Worte klangen energisch. »Ich kann und will im Moment und auch in der nächsten Zeit die Stadt nicht verlassen. Zurzeit haben wir Schwierigkeiten mit unseren Kakaolieferungen. Da muss ich Thomas zur Seite stehen. Ich kann nur hoffen, dass es mich diesen Winter nicht so arg beutelt.«

»Wenn du meinst.« Der Arzt schaute zu Marta, die seinen Blick mit besorgter Miene erwiderte.

In ihr hatte er eine Verbündete, und vielleicht schaffte sie es, ihren Mann zur Vernunft zu bringen. Die Bedienung brachte das Essen. Oskar leerte sein Glas und erhob sich.

»Ich möchte nicht unhöflich erscheinen, aber ich muss noch zu einem Krankenbesuch. Marta.« Er deutete erneut eine Verbeugung an. »Guten Tag, Wilhelm.«

Marta blickte ihm so lange nach, bis er das Restaurant verlassen hatte, dann sah sie ihren Gatten missbilligend an.

»Er hat es nur gut gemeint.«

»Ich weiß«, erwiderte Wilhelm seufzend, »aber ich kann mir diese einmalige Chance nicht entgehen lassen. Wenn es wirklich klappt, dass Jacobsen mich zum Partner macht, dann sind wir endgültig in der höheren Gesellschaft Hamburgs angekommen und müssen uns um Geld niemals wieder sorgen.«

Marta bemühte sich um ein Lächeln. Ständig diese Hoffnung auf eine Partnerschaft. Schon seit über einem Jahr sprach Wilhelm davon, und bisher war außer einer Notlage nach der anderen nichts passiert: verschollene Schiffe, Pilzbefall der Plantagen in Amerika. Jacobsen hatte bei ihrer letzten Begegnung seltsam mitgenommen ausgesehen. Doch sie sagte nichts. Wilhelm mochte es nicht, wenn sie sich in seine Geschäfte einmischte. Er konnte dann schnell aufbrausend werden, was es jetzt zu vermeiden galt. Sie begann zu essen.

»Und, was gibt es bei Nele für Neuigkeiten?«, fragte Wilhelm, um das Thema zu wechseln.

Verwundert sah Marta ihn an. Er deutete auf einen verräterischen rosa Fleck auf Martas Blusenärmel.

»Ach, das Übliche, du kennst sie doch«, antwortete Marta, die sich ertappt fühlte. »Oder warte, eine Sache ist doch neu. Sie lässt eine Wasserspülung für die Etagentoiletten einbauen.«

»Heiliger Himmel, Nele und der Fortschritt. Dass ich das noch erleben darf«, rief Wilhelm fröhlich und vertrieb damit endgültig die angespannte Stimmung.

»Und ich habe die perfekte Hutnadel für Riekes Hut gefunden. Möchtest du sie sehen?«

»Aber gewiss doch«, heuchelte Wilhelm Interesse, während er sich den Mund mit einer Serviette abwischte.

Marta holte die Hutnadel hervor, für die er lobende Worte fand.

»Was für ein hübscher Tand. Sicherlich wird sie Rieke gefallen. Und sie sieht gar nicht billig aus. Lass mich raten: Du hast sie von Friedrich.«

»Von wem denn sonst«, erwiderte Marta lächelnd. »Ich konnte sogar noch handeln.«

»Mein Mädchen«, sagte Wilhelm. Er nahm Martas Hand und drückte sie fest. »Eine Frau deines Standes feilscht doch nicht auf offener Straße mit einem Karrenhändler. Was mache ich bloß mit dir.«

»Mich lieben, das wäre ein Anfang«, antwortete Marta und hielt seinen Blick fest.

»Das tue ich«, antwortete er. »Heute noch viel mehr als an unserem ersten Tag.«

[home]

3

Marta wurde es übel. Sie hatte es geahnt. Wie hatte sie sich von Rieke und Ida, die fröhlich neben ihr kreischten, nur dazu überreden lassen können, in dieses schreckliche Ungetüm zu steigen, das eine der neuesten Attraktionen auf dem immerwährenden Jahrmarkt darstellte, der im Circusweg in St. Pauli jeden Tag aufs Neue im Trubel der Besucher versank. Eine Seefahrt auf dem Lande nannte sich das Höllengerät, in dem sie sich hoffentlich nicht übergeben würde. Das Fahrgeschäft bestand aus kleinen, aneinandergekoppelten Segelschiffen, die während der rasanten Ringfahrt fröhlich auf und ab schaukelten – genauso wie Martas Mageninhalt. Nur noch wenige Runden, sprach sie sich selbst Mut zu und hielt mit einer Hand ihren Hut fest, der, obwohl er mit Haarnadeln gesichert war, davonzufliegen drohte. Ihre andere Hand umklammerte einen Haltegriff. Vielleicht half es ja, wenn sie die Augen schloss. Sie probierte es aus und öffnete sie rasch wieder. Das machte es nur schlimmer. Wenn dieses schreckliche Gefährt doch nur endlich stoppen würde. Keine zehn Pferde würden sie jemals wieder in ein Karussell dieser Sorte bringen. Das schwor sie beim Herrn, bei allen Aposteln, sogar beim Teufel persönlich, wenn es sein musste. Endlich hatte der Betreiber ein Einsehen, und sie wurden langsamer. Als sie zum Stehen kamen, beeilte sich Marta, so rasch wie möglich das Gefährt zu verlassen, was ihre beiden Töchter nicht verstehen konnten.

»Aber, Mama«, rief Rieke, »wir hatten doch für eine weitere Fahrt bezahlt.«

»Ohne mich«, erwiderte Marta. »Fahrt ihr beiden ruhig allein weiter. Ich setz mich dort drüben in den Schatten und warte auf euch. Mir ist ganz schummrig.« Sie deutete auf eine Ruhebank, die unweit des Karussells unter einem Kastanienbaum stand.

Erleichtert darüber, der Schaukelfahrt entkommen zu sein, sank Marta auf die Bank und atmete tief durch. Die Übelkeit legte sich allmählich. Sie ließ den Blick über die in der Nähe stehenden Buden schweifen, an denen dichtes Gedränge herrschte. Das ungewöhnlich schöne Wetter trieb Hamburgs Bürger nach St. Pauli, wo sie sich den Vergnügungen hingaben. Besonders beliebt war das unweit von ihrem Sitzplatz gelegene doppelstöckige Karussell, das mit seinen Lampen, Spiegeln und funkelnden Dekorationen wunderschön aussah und Fahrgäste und Zuschauer mit Salonmusik unterhielt. Wären sie doch nur damit gefahren, denn das Karussell bewegte sich bedeutend gemächlicher im Kreis herum. Sie wedelte sich seufzend mit einem Programmheft Luft zu. Die zweite Fahrt der Kinder endete, und sie kamen Arm in Arm und albern kichernd auf Marta zu. Marta lächelte. Wie groß ihre beiden Mädchen geworden waren. Rieke, die bald ihren achtzehnten Geburtstag feiern würde, glich ihr selbst. Braunes Haar, braune Augen, sogar die Sommersprossen auf der Nase hatte sie von ihr geerbt. Die neunjährige Ida hingegen hatte blondes Haar und blaue Augen wie ihr Großvater, den sie leider nicht mehr kennenlernen konnte. Es war eine gute Idee von Ida gewesen, den sonnigen Tag auszunutzen und hierherzukommen, obwohl es jetzt, da der Abend nahte, allmählich kühler wurde.

»Kriegen wir noch eine Zuckerwatte?«, fragte Ida und deutete auf eine der Buden. »Bitte, Mama.«

»Für mich nicht«, wiegelte Rieke ab. »Ich muss auf meine Taille achten.«

Marta wollte etwas erwidern, wurde aber unterbrochen.

»Rieke, meine Liebe«, drang von hinten eine schrille Stimme an ihr Ohr, die unverkennbar Lotte Ohlhaber, einer ehemaligen Klassenkameradin von Rieke, gehörte. Ida meinte, Lottes Stimme hätte etwas von einer Blechtrompete, womit sie nicht ganz unrecht hatte. Freudig kreischend, als hätten sie sich jahrelang nicht gesehen, fielen sich Rieke und Lotte in die Arme. Küsschen links, Küsschen rechts. Ida verdrehte die Augen, Marta zwinkerte ihr fröhlich zu. So war das nun einmal unter den Backfischen Hamburgs. Ordentlich Aufmerksamkeit erregen, damit die jungen Burschen sich nach ihnen umblicken würden. Nur leider gab es gerade keine erwähnenswerten Herren, für die sich der Aufwand lohnte. Lotte begrüßte, nachdem sie sich aus Riekes Umarmung gelöst hatte, Marta und Ida und deutete auf ein junges Pärchen, das unweit von ihnen gerade an einer Bude gebrannte Mandeln erstand.

»Meine Schwester Berta und ihr Verlobter Simon sind auch da. Wir wollten zu Hornhardts Concertgarten. Dort findet heute das letzte Sommerkonzert der Saison statt. Alfons Czibulka aus Wien wird auftreten. Das Orchester soll hervorragend spielen, und wenn erst die elektrische Beleuchtung angeht …« Sie klatschte vor Freude in die Hände.

»Oh, wie schön. Ach, ich würde so gern mitkommen. Gerade Alfons Czibulka mit seinem Orchester sollen einmalig sein. Darf ich Lotte und die anderen begleiten?«, fragte Rieke ihre Mutter mit einem flehenden Blick, den Marta nur allzu gut kannte. Marta zögerte. Rieke war ihr mit ihren siebzehn Jahren noch zu jung, um sich in den Abendstunden in St. Pauli herumzutreiben. Vor ihrem inneren Auge sah sie mal wieder den hübschen Matrosen, der ihre Tochter in eine der Spielunken entführen würde. Sie schob den Gedanken beiseite und dachte an Neles Worte. Weiß Gott, sie hatte Rieke nun wirklich nicht zu einem liederlichen Mädchen erzogen, das sich in zwielichtigen Etablissements herumtreiben würde. Auch hatte sie in den letzten Wochen bereits mehrfach Riekes Bitten nachgegeben, und ihre Tochter war stets pünktlich und, soweit erkennbar, unbeschadet nach Hause gekommen. Marta neigte dazu, Ja zu sagen, obwohl sie sich dadurch gewiss einen Tadel von Wilhelm einhandeln würde, der es nicht gern sah, wenn sich seine Tochter in den Abendstunden herumtrieb, wie er es nannte.

»Moin, Frau Stockmann. Ich würde auch gut auf die Damen achtgeben«, mischte sich Simon Thiele ein, der mit Berta gerade näher getreten war und die letzten Brocken des Gesprächs aufgeschnappt hatte. »Höchstpersönlich würde ich Ihre Tochter nach Hause begleiten und selbstverständlich auf ihre Tugend achten.«

Seine Sätze klangen wie auswendig gelernt, dachte Marta. Allerdings war Simon, der das rotblonde Haar seines Vaters geerbt hatte, ein vertrauenswürdiger junger Mann, dessen Familie ein großes Kolonialwarengeschäft in der Nähe vom Fischmarkt betrieb.

Marta schaute von Simon zu Rieke, deren Blick immer noch etwas Flehendes hatte.

»Also gut«, gab sie nach. »Aber dass du mir spätestens um zehn zu Hause bist. Und keine Schwoferei mehr nach dem Konzert. Dafür bist du mir noch zu jung.« Sie warf Simon einen Blick zu, den dieser zu deuten wusste.

»Oh, Mama, danke.« Überschwänglich fiel Rieke Marta um den Hals und drückte ihr sogar ein Küsschen auf die Wange.

»Ich werde pünktlich sein. Ich verspreche es.«

Sie hängte sich bei Lotte ein, und die vier jungen Leute schlenderten davon.

Marta sah ihnen kopfschüttelnd nach und murmelte: »Kinder, wie die Zeit vergeht.«

»Ja«, sagte Ida neben ihr nachdenklich. »Eh wir uns versehen, wird sie heiraten, uns verlassen und viele kleine Bälger bekommen. Aber vorher hätte ich noch gern meine Zuckerwatte.« Sie grinste.

»Aber natürlich«, antwortete Marta mit einem Lächeln. »Und weißt du, was: Ich gönne mir heute auch mal eine. Ist ewig her, dass ich eine gegessen habe.« Sie nahm Ida bei der Hand, und die beiden machten sich beschwingt auf den Weg zur Bude des Zuckerhannes.

[home]

4

Rieke schlenderte unterdes am Arm von Lotte zu Hornhardts Concertgarten, das mit seiner prächtigen Kuppel und dem dreiunddreißig Meter hohen Aussichtsturm beeindruckte. Als Hornhardts sein Etablissement vor zwei Jahren eröffnet hatte, war es von den Zeitungen Hamburgs sogar als Sensation beschrieben worden, die ihresgleichen suchte.

Zwischen Palmen und Olivenbäumen nahmen sie an einem hübsch gedeckten Tisch Platz, und Simon bestellte bei dem herbeieilenden Ober Weißwein für alle. Keine Minute später entdeckte er einen Bekannten und verschwand mit den Worten, gleich wiederzukommen, im hinteren Teil des Gartens. Kurz darauf entdeckte auch Berta eine Freundin und entschuldigte sich für einen Moment, während der Ober ihre Bestellung brachte. Rieke nippte an ihrem Wein und ließ den Blick durch den Garten schweifen. Sie liebte den Trubel und die vielen Menschen. Sie erspähte eine Schulkameradin und nickte ihr kurz zu. Es war Ella Volkertsen, die mit ihrem älteren Bruder Franz das Konzert besuchte, der in die Fußstapfen seines Vaters, eines Schiffskapitäns, treten wollte. Hans-Martin Volkertsen arbeitete für eine der größten Reedereien Hamburgs und war oft wochenlang auf See. Stets brachte er Ella hübsche, manchmal auch eigentümlich anmutende Geschenke von seinen Fahrten mit, womit sie sich gern wichtigmachte. Zu Riekes Bedauern ließ sich Ella, die sie nicht sonderlich mochte, von ihrem unverbindlichen Nicken nicht abschrecken und steuerte auf sie zu.

»Guten Abend, Rieke«, grüßte Ella freundlich, und es folgten die üblichen Küsschen auf die Wange. »Alfons Czibulka treibt uns alle aus dem Haus, nicht wahr? Er soll großartig sein. Ich bin schon ganz aufgeregt. Soweit ich weiß, ist sogar ein Feuerwerk geplant.« Ihr Blick fiel auf Lotte. »Hach, Lotte. Jetzt seh ich dich erst.« Ihre Stimme bekam einen verächtlichen Klang.

Lotte zwang sich zu einem Lächeln.

»Obwohl du mit deinem feuerroten Schopf ja eigentlich weithin sichtbar bist.« Ella lachte über ihre witzige Bemerkung.

»Lieber einen feuerroten Schopf als scheußliche Pickel an Kinn und Stirn, die nicht mal der beste Puder abdecken kann«, entgegnete Lotte bissig.

Das Grinsen auf Ellas Lippen erstarb, und ihre Miene verfinsterte sich.

Zum Glück kam genau in diesem Augenblick Simon zurück, der seinen Bekannten im Schlepptau hatte, in dem Rieke Georg Paulsen erkannte, Sohn eines gut situierten Anwalts. Rieke kannte ihn bereits von früher. Damals hatte er sie in den Gassen Hamburgs beim Spiel gefoppt, wie Jungens das eben mit kleinen Mädchen machten. Später hatten sie sich aus den Augen verloren. Vor einiger Zeit hatte Rieke ihn wiedergesehen, und seither schwärmte sie für ihn, denn er war ausgesprochen gut aussehend.

»Na, wen haben wir denn da?«, sagte Simon ohne ein Wort des Grußes. »Ella Volkertsen. Stimmt es, dass die Reederei Ahlbeck kurz vor der Pleite steht? Das wäre für deinen Vater ja ganz fürchterlich.« Er setzte eine unschuldige Miene auf.

Ella, die nicht so recht wusste, was sie antworten sollte, blickte von ihm zu Lotte und entschied nach einem Moment betretenen Schweigens, die beiden einfach zu ignorieren und sich erneut Rieke zuzuwenden.

»Dann wünsche ich dir noch einen schönen Abend. Wir sehen uns bestimmt irgendwo mal wieder. Die Stadt ist ja ein Dorf.« Sie verschwand in der Menge.

Erleichtert ließ Rieke die Schultern sinken, während Simon erneut das Wort ergriff.

»Georg hat leider seine Begleitung verloren. Seine Schwester Mathilde fühlte sich plötzlich nicht wohl. Es macht euch bestimmt nichts aus, wenn er sich zu uns gesellt, oder?«

»Natürlich nicht«, flötete Lotte und schenkte Georg ihr strahlendstes Lächeln. »Wenn du magst, kannst du gern neben mir sitzen.« Sie beeilte sich, den Stuhl neben sich zurechtzurücken. Rieke brachte nur eine knappe Zustimmung heraus. Meine Güte, wie heftig ihr Herz klopfte. Sie getraute sich gar nicht, Georg anzusehen. Wie gut er in seinem schwarzen Anzug und dem schicken weißen Hemd aussah. Sein dunkelbraunes Haar trug er nach hinten gekämmt, seinen Hut hielt er in Händen. Seine braunen Augen waren wunderschön. Den ganzen Tag könnte sie hineinblicken. Georg setzte sich neben Lotte, die sofort loszuplappern begann. Wie ein Wasserfall redete sie über Nichtigkeiten, die ihn gewiss langweilten. Glaubte sie tatsächlich, sie könnte ihn mit der Erzählung von einem Picknick an der Außenalster oder der Erweiterung des elterlichen Geschäfts beeindrucken? Irgendwann hatte Alfons Czibulka ein Erbarmen mit ihnen allen und brachte mit seinem Auftauchen Lotte zum Verstummen. Das Konzert begann und war großartig. Sechzig Musiker umfasste das Orchester, dazu kamen zwölf Solisten, einer spielte besser als der andere. Es wurde eine bunte Mischung von Czibulkas Kompositionen aufgeführt. Darunter auch die berühmte Stephanie-Gavotte, die Rieke besonders liebte. Immer wieder warf sie Georg verstohlen Blicke zu, die er zu erwidern schien. Als das Konzert endete, gab es laute Rufe nach einer Zugabe, die die Musiker dazu bewogen, zwei weitere Stücke zu spielen. Noch während des zweiten Stücks wurde tatsächlich ein Feuerwerk über dem Garten gezündet. Es war großartig, den hellen Funkenregen zu bestaunen, während die Musik langsam verstummte. Das Konzert stellte wirklich einen würdigen Abschluss der diesjährigen Sommersaison dar.

»Ist das nicht herrlich«, flüstere Lotte Rieke zu, stupste sie sanft in die Seite und deutete auf Simon und Berta, die Arm in Arm dastanden und nur noch Augen füreinander hatten. So verliebt sein, dachte Rieke. Das wäre schön. Erneut schaute sie zu Georg, der gerade ihre Zeche bezahlte. Vielleicht war sie ja bereits verliebt. Immerhin klopfte ihr Herz ganz heftig. Das könnte Liebe sein. Oder vielleicht doch nicht? Wenn sie sich mit der Liebe nur besser auskennen würde. Aber wen sollte sie danach fragen? Lotte hatte ja noch weniger Ahnung als sie selbst. Mama würde ihr gewiss nichts verraten. Vielleicht Tante Nele. Allerdings war sie unverheiratet. Gewiss kannte sie sich mit der Liebe nicht so gut aus. Das Feuerwerk endete mit einem spektakulären Finale, das dem Publikum laute Ahs und Ohs entlockte. Ein letzter Knall ertönte, und der Himmel versank in Dunkelheit. Rauch hing in der Luft, der sich nur langsam auflöste. Nun trieb es das Publikum, wie jeden Abend, in den großen Saal, wo die Schwoferei begann, die wie immer mit einer Polonaise eingeleitet wurde. Lotte zog Rieke lachend mit sich, und die beiden landeten inmitten des fröhlichen Reigens, der quer durch den Raum und über das blank polierte Tanzparkett führte. Als die Polonaise endete, wurde ein Strauß-Walzer gespielt, und ein blonder Bursche forderte Lotte zum Tanzen auf. Rieke verließ das Tanzparkett und suchte sich einen Platz an der Seite, um erst einmal zu Atem zu kommen. Suchend blickte sie sich nach Georg um, doch er war nirgendwo zu sehen. Hatte er die Veranstaltung vielleicht schon verlassen? Dann wurde sie plötzlich von hinten angesprochen: »Da bist du ja wieder.«