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Dramatisch & zauberhaft nostalgisch: Föhr um 1900, ein alter Friesenhof – und der Traum einer Kinderkrankenschwester »Sehnsucht nach dem Dünenhof« ist der 1. Teil von Anke Petersens historischer Familiensaga über die Insel Föhr Kinderkrankenschwester Anni Nissen kümmert sich aufopferungsvoll um kleine Patienten aus Berlin, die sich auf der Nordsee-Insel Föhr erholen sollen. Als ihr Großvater überraschend stirbt und Annie seinen alten Friesenhof erbt, reift in ihr eine Idee: Das große Haus bei Nieblum mit seinem weitläufigen Garten und der Nähe zum Strand wäre ein wundervoller Ort für ein Kinder-Erholungsheim. Die Bewohner des Ortes reichen Annie zahlreiche helfende Hände – und sie verliebt sich in den neu auf die Insel gezogenen Lehrer Martin. Doch gerade als alles perfekt scheint, ziehen über dem jungen Glück dunkle Wolken auf … Bestseller-Autorin Anke Petersen entführt in ihrer Nordsee-Trilogie auf die wunderschöne Insel Föhr, wo ein alter Friesenhof nicht nur für Kinder zu einem kleinen Paradies wird. Entdecken Sie auch die anderen historischen Insel-Romane von Anke Petersen: - »Hotel Inselblick« (Amrum Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts) - »Der Kaffeegarten« (Sylt Anfang des 20. Jahrhunderts)
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Seitenzahl: 490
Anke Petersen
Roman
Knaur eBooks
Willkommen auf der Insel Föhr – der Auftakt zu der neuen Serie von Bestsellerautorin Anke Petersen
Föhr um 1900: Kinderkrankenschwester Anni Nissen kümmert sich aufopferungsvoll um kleine Patienten, die sich auf der Insel erholen sollen. Als ihr Großvater überraschend stirbt und Anni seinen alten Friesenhof erbt, reift in ihr eine Idee: Das große Haus bei Nieblum mit seinem weitläufigen Garten und der Nähe zum Strand wäre ein wundervoller Ort für ein Erholungsheim. Die Bewohner des Ortes reichen Anni zahlreiche helfende Hände – und sie verliebt sich in den neu auf die Insel gezogenen Lehrer Martin. Doch gerade als alles perfekt scheint, ziehen über dem jungen Glück dunkle Wolken auf …
Dramatisch und nostalgisch!
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
Nachwort
Berlin, 18. Juli 1901
Hier ist er auch nicht«, vermeldete Anni. Sie kniete auf dem Fußboden des Krankensaals und blickte unter das weiße Gitterbett des kleinen Karli.
»Aber wo soll er sonst abgeblieben sein?«, fragte ihre Kollegin Bille. Sie sah den vierjährigen Karli, er war an Tuberkulose erkrankt, mit ernster Miene an.
»Denk nach, Karli. Wo könnte der Gisbert noch stecken? Wenn wir ihn nicht bald finden, musst du ohne ihn auf die große Reise gehen.«
Karli zog den Kopf ein.
»Ohne den Gisbert geh ich nicht auf eine Reise«, antwortete er und verschränkte trotzig dreinblickend die Arme vor der Brust.
Anni, die sich wieder erhoben hatte, stieß einen Seufzer aus und wischte sich eine Staubfluse von ihrer weißen Schwesternschürze. Es waren insgesamt zwanzig Kinder, die in wenigen Stunden die Reise an die Nordsee, genauer gesagt auf die im nordfriesischen Wattenmeer gelegene Insel Föhr antreten sollten. Doch waren sie bedauerlicherweise noch weit davon entfernt, den aufgeregten Hühnerhaufen reisefertig zu haben. Hier fehlte ein Kuscheltier, dort war es ein Schuh, der sich in Luft aufgelöst hatte, bis vor wenigen Minuten hatten sie sogar verzweifelt eines der Kinder gesucht. Die kleine Hilde hatte sich in einem der Schränke versteckt, denn sie wollte nicht an die Nordsee fahren, weil sie Angst vor dem Klabautermann hatte, der sich auf Schiffen rumtreiben würde und kleine Mädchen fraß. So hatte es jedenfalls der zehnjährige Walter erzählt. Und dem konnte man schon glauben, schließlich war sein Vater ein Schiffskapitän, zwar nur auf einem Boot auf der Spree, aber Klabautermänner gab es auf allen Schiffsplanken. Anni hatte mit Engelszungen auf die Kleine eingeredet und ihr versichert, dass es auf den Fähren zur Insel Föhr keine Klabautermänner gebe. Ihr konnte sie in dieser Hinsicht auch mehr glauben als dem Walter, denn sie stammte von der Insel. Es kam ihr immer noch unwirklich vor, dass sie, wenn alles nach Plan lief, noch am heutigen Tag ihre Heimatinsel wieder betreten würde. Die Charité hatte vor einigen Wochen im Bereich der Kinderheilkunde eine Zusammenarbeit mit dem erst vor drei Jahren neu erbauten Nordseesanatorium des Dr. Gmelin in dem Seebad Wyk vereinbart, das sich auf der Insel befand. Von Krankheiten geschwächte Kinder sollten sich in der heilsamen Nordseeluft von ihren Gebrechen erholen. Oberschwester Dorothea war es gewesen, die Anni sogleich für die Kindertransporte nach Föhr eingeteilt hatte. Die resolute Mittfünfzigerin kannte ihre Schäfchen, wie sie die ihr unterstellte Schwesternschaft häufig bezeichnete, gut. Eine Insulanerin als Begleiterin zu haben, die sich mit den Gegebenheiten im Norden auskannte, hielt sie für ein großes Glück. Obwohl Annis Insulanerleben in dem auf Föhr gelegenen Friesendorf Nieblum bereits viele Jahre her war und sie nur noch wenige Erinnerungen an die damaligen Zeiten hatte. Sie war sieben Jahre alt gewesen, als sie gemeinsam mit ihren Eltern Föhr für immer den Rücken gekehrt hatte. Den genauen Grund für den Weggang aus der Heimat hatte Anni nie erfahren. Als kleines Kind hatte sie nicht danach gefragt, später hatte sie nicht mehr die Möglichkeit dazu gehabt. Ihre Eltern waren bei einem Hausbrand ums Leben gekommen. Anni hatte das tragische Unglück nur deshalb überlebt, weil sie von einem Nachbarn gerettet worden war. Damals war sie dreizehn Jahre alt gewesen. Ein befreundetes und in der Nachbarschaft lebendes Ehepaar ihrer Eltern nahm sich ihrer an. Birgitta und Wilhelm Kraus. Er war Lehrer an einem Gymnasium, sie in der Armenhilfe tätig. Durch die Kontakte von Birgitta Kraus war ihr die Ausbildung zur Krankenschwester an der Charité ermöglicht worden, wofür Anni ihr unendlich dankbar war.
So ganz hatte Hilde ihr das Nichtvorhandensein des Klabautermanns auf Schiffsfähren nicht geglaubt, doch immerhin hatte Anni es durch ihre beruhigenden Worte geschafft, das Mädchen aus dem Schrank zu locken. Sie hatte ihr fest versprochen, die gesamte Überfahrt von Dagebüll bis Wyk nicht von ihrer Seite zu weichen.
Eine der Hilfsschwestern betrat den Krankensaal, in Händen hielt sie, zu Annis und Billes Erleichterung, den Teddybären Gisbert.
»Ich hab diesen Burschen im Waschraum gefunden«, sagte sie. »Gehört er vielleicht zu einem eurer Kinder?«
»Gisbert«, rief Karli freudig und streckte sogleich die Ärmchen nach seinem Kuscheltier aus.
»Ein Problem weniger«, kommentierte Bille das Wiedersehen des Jungen mit seinem struppigen Bären. »Dann lass uns zusehen, dass wir fertig werden. In einer Stunde müssen wir los, sonst fährt der Zug ohne uns, und das wäre jammerschade, denn ich will endlich mal das Meer sehen.« Billes Bemerkung brachte Anni zum Lächeln. Ihre Kollegin und Freundin war die letzten Tage das reinste Nervenbündel. Eine Bahnreise an die Nordsee und dann noch eine Schifffahrt mit einer Fähre waren in ihren Augen das Aufregendste, was sie jemals erleben würde. Bille hatte sich als eine der Ersten für das Projekt Kindertransport Nordsee freiwillig gemeldet. »Da komm ich endlich mal raus aus diesem Moloch«, hatte sie zu Anni gesagt.
Anni und sie hielten seit dem ersten Tag ihrer gemeinsamen Schwesternausbildung wie Pech und Schwefel zusammen. Sie teilten sich im Wohnheim ein Zimmer und achteten sogar darauf, dass sie dieselben Schichten hatten. Bille war in Berlin geboren und aufgewachsen, ihre Eltern betrieben eine Bäckerei, die ihr ältester Bruder Joachim übernehmen sollte. Bille hatte früh entschieden, nicht im Familienbetrieb zu arbeiten. »Ich esse einfach zu gerne Süßes für diesen Beruf«, hatte sie Anni kurz nach ihrem ersten Kennenlernen erklärt. »Stünde ich in der Backstube, würde für die Kundschaft nichts mehr übrig bleiben.«
Ihr äußeres Erscheinungsbild passte zu ihrer Vorliebe für Torten und Kekse. Bille war als füllig zu bezeichnen, was ihr jedoch gut zu Gesicht stand. Ihre runden Wangen umhüllte rotblondes, schimmerndes Haar, auf ihrer Nase saßen stets einige Sommersprossen. Besonders ihre großen blauen Augen, von langen, dunklen Wimpern umrandet, waren ein Hingucker.
»Wenn du Pech hast, ist das Meer sowieso gerade nicht da, wenn wir in Dagebüll ankommen«, antwortete Anni.
»Wie?«, hakte Bille verdutzt nach. »So ein Meer kann doch nicht einfach verschwinden.«
»Man nennt es die Gezeiten«, erklärte Anni, während sie einen von Karlis Pullovern zusammenfaltete und in seinen Koffer verfrachtete. »Sie werden vom Mond gelenkt. Das heißt Ebbe und Flut. Ungefähr alle sechs Stunden zieht sich das Wasser zurück und kommt dann wieder. Herrscht Ebbe, kann man von Föhr über das Watt sogar bis zur Nachbarinsel Amrum laufen.«
»Ein Meer, das kommt und geht, wie es ihm passt. Na, das kann ja heiter werden«, antwortete Bille und schüttelte den Kopf. »Und ich dachte immer, Meer ist halt Meer. So kann man sich irren. Und was ist Watt?«
»Ich zeige es dir, wenn wir angekommen sind«, versprach Anni und schloss Karlis Koffer.
Munter ging es mit dem Reisefertigmachen der Kinder weiter. Mädchen wurden in Kleider gesteckt, Schuhe geschnürt, letzte Koffer gepackt, Jacken gesucht und Zöpfe geflochten. Walter wurde zwischendurch mehrfach ermahnt, keine Schauermärchen mehr zu erzählen. Jedes Kind erhielt einen Beutel mit Reiseproviant. Belegte Brote, einen Apfel und eine Flasche Limonade. Schließlich dauerte die Reise an die See über acht Stunden. Niemand sollte unterwegs hungern müssen. Anni freute sich besonders darüber, dass nicht nur Kinder aus wohlhabenderen Familien in den Genuss des Sanatoriumsaufenthalts kamen. Kleinen Patienten aus ärmlichen Verhältnissen wurde der Kuraufenthalt von Spendengeldern finanziert. Anni wusste, dass gerade diese Kinder bald große Augen machen würden. Ihr Leben in den Arbeitervierteln spielte sich meist in düsteren und trostlosen Hinterhöfen ab, in manch einen von ihnen fiel den ganzen Tag kein Sonnenstrahl, Hauswände versperrten die Sicht auf den Horizont. Bereits die Bahnfahrt bedeutete für diese Kleinen ein Abenteuer. Es galt jedoch auch zu hoffen, dass die noch immer geschwächten Patienten diese gut überstehen würden. Viele von ihnen waren blass und abgemagert, manch eines dem Tode gerade so entronnen. Eine weite Reise konnte in einem solchen Zustand für einen kleinen Menschen beschwerlich sein. Deshalb galt das oberste Gebot, die Kinder stets zur Ruhe zu ermahnen, was besonders bei Walter und seinem Freund, dem achtjährigen Otto, schwierig werden könnte. Die beiden litten an Asthma, Otto hatte eine Lungenentzündung überstanden, Walter eine schwere Bronchitis. Diese Tatsache hinderte die Buben mit den braunen Haarschöpfen jedoch nicht daran, ständig irgendwelchen Unsinn zu machen. Just in diesem Moment war es Otto, der die neunjährige Karla, die an Hauttuberkulose litt und ebenfalls mit an die See reisen würde, an einem ihrer blonden Zöpfe zog und ihr die Zunge herausstreckte. Karla, die erst seit einigen Tagen fieberfrei war, begann zu weinen.
»Heulsuse«, blaffe Otto sie an.
»Otto, bitte«, ermahnte Anni den Buben sogleich. »Was soll das denn? Du entschuldigst dich sofort bei Karla. Ein anständiger junger Mann zieht eine Dame nicht an den Zöpfen.«
»Das ist mir egal«, antwortete Otto und sah Anni herausfordernd an. »Sie hat gesagt, ich bin dumm. Und das nur, weil ich noch nicht lesen kann. Aber ich kann das schon. Ich hab nur keine Lust darauf. Ich finde die Buchstaben eben langweilig.«
Anni verkniff sich einen lauten Seufzer. Karla Glauberg und Otto waren ein gutes Beispiel dafür, dass auf ihrer Kinderstation oftmals Welten aufeinandertrafen. Karla kam aus einem gutbürgerlichen Haushalt, ihr Vater war Arzt, die Mutter kümmerte sich mit Hingabe um die Erziehung ihrer drei Töchter. Sie erhielten Musikunterricht und besuchten eine Privatschule. Karla lernte dort nicht nur Lesen, Schreiben und Mathematik, sondern sogar bereits Fremdsprachen wie Englisch und Französisch. Otto war eines der Hinterhofkinder, sein Vater schlug sich als Hilfsarbeiter durch, die Mutter arbeitete in einer Wäscherei, Zeit für die acht Kinder blieb nur wenig. Otto hatte zwei Monate auf ihrer Station verbracht, nur ein einziges Mal war seine Mutter zu Besuch gekommen. An jenem schrecklichen Abend, als sie gedacht hatten, dass er den nächsten Tag nicht erleben würde. Da hatte sie eine Stunde an seinem Bett gesessen, eine verhärmte Frau, wie es so viele in Berlin gab.
»Schicken Sie einen Boten, wenn er tot ist«, hatte die Frau zu Anni an jenem Abend gesagt und war gegangen. Mit hängenden Schultern war sie den Flur hinuntergelaufen, müde vom Leben. Otto war nicht gestorben, sie hatten keinen Boten schicken müssen. Er war dem Tod von der Schippe gesprungen, und vielleicht geschah ein weiteres Wunder, und er würde eine bessere Zukunft finden. Es war ihm zu wünschen.
»Ach, so langweilig sind Buchstaben gar nicht«, erwiderte Anni. »Wenn man das richtige Buch findet, dann erzählen sie spannende Geschichten. Aber das weißt du ja längst.« Sie zwinkerte ihm zu. Erst neulich Abend hatte sie den älteren Kindern Die Abenteuer des Huckleberry Finn vorgelesen, und besonders Otto hatte aufmerksam zugehört.
»Ja, das stimmt«, gab er zu. »Aber trotzdem darf sie mich nicht dumm nennen.« Er deutete auf Karla, die finster dreinblickte.
»Natürlich darf sie das nicht«, pflichtete Anni ihm bei. »Aber du darfst Mädchen auch nicht an den Zöpfen ziehen. Am besten entschuldigt ihr euch beide.« Sie sah von einem Kind zum anderen. Die beiden wanden sich einen Moment. Schließlich war es zu Annis Erstaunen Otto, der als Erster »Entschuldigung« murmelte, was sie erfreute. Nachdem sich auch Karla entschuldigt hatte, wandte sich Anni wieder der eigentlichen Aufgabe des Reisefertigmachens zu. Karlas Koffer war noch nicht vollständig gepackt und lag aufgeschlagen auf ihrem Bett. Es musste noch ihr warmer Mantel hinein. Anni war es schleierhaft, wie das voluminöse Kleidungsstück mit Fellbesatz noch in das Gepäck passen sollte. Otto trug noch keine Schuhe. Die lagen unter seinem Bett neben einem undefinierbaren Haufen, der seine gesamte Garderobe darstellte. Sein Koffer war ihm aus dem Fundus der Wohlfahrt zur Verfügung gestellt worden und lag leer auf seinem zerwühlten Bett. Es war zum Haareraufen. Wenn das so weiterging, würden sie niemals rechtzeitig zur Abfahrt fertig werden.
Mit vereinten Kräften schafften sie es dann doch. Eine Stunde später befanden sich sämtliche Kinder mit ihrem Gepäck auf dem extra für den Transport zum Lehrter Bahnhof organisierten Wagen, der im hellen Schein der Morgensonne vor dem Eingang der Kinderklinik stand. Ihr Fahrer, Heinz Niebig, er arbeitete bereits seit dreißig Jahren für die Charité, hatte jedes Kind einzeln auf den Wagen gehoben. Er war kräftig gebaut, hatte einen gezwirbelten Schnauzbart und einen strengen Blick. Wenn er einem Kind sagte, dass es ruhig sitzen bleiben solle, dann tat es dies auch. Selbst Otto und Walter blickten nun eingeschüchtert drein.
»Dass ihr mir gut auf die Kleinen achtgebt«, mahnte Oberschwester Dorothea, die es sich natürlich nicht nehmen ließ, ihre erste Nordseereisegruppe persönlich zu verabschieden. Sie drückte Anni, Bille und Gertrud, eine weitere zur Reisebetreuung der Kinder abgestellte Schwester, kurz an sich. Anni glaubte, in den Augen der Oberschwester sogar Tränen auszumachen. So sentimental kannte sie sie gar nicht. Als Anni kurz darauf neben Hilde Platz nahm, zitterten jedoch auch ihre Hände plötzlich vor Aufregung. Es ging zurück nach Föhr, zurück in die Vergangenheit, an die sie nur noch wenige Erinnerungen hatte. In ihren Träumen sah sie manchmal ihre Mutter am Strand an der Wasserlinie stehen und aufs Meer hinausblicken, das herrlich im hellen Licht der Sonne funkelte. Sie trug einen langen Trägerrock aus dunklem Wollstoff, über ihrer Brust war ein gewebtes weinrotes Tuch gekreuzt. Unter dem zu dieser inseltypischen Kleidung gehörenden Kopftuch hatten sich einige Strähnen ihres braunen Haares hervorgestohlen, an denen der Wind zerrte. Anni hatte es von ihr geerbt, ebenso die großen grauen Augen. Manches Mal sah sie in ihren Träumen aber auch ein altes Friesenhaus, Moos lag auf dem mit Reet gedeckten Dach, und es erweckte den Eindruck, von den Jahrhunderten seines Daseins müde zu sein. Umgeben war es von knorrigen Obstbäumen, ein alter Mann mit Kapitänsmütze saß vor dem Haus, eine Pfeife im Mund. Ihr Großvater, wie sie wusste. Der alte Kapitän Rauert Nissen. Sie wusste nicht, ob er noch am Leben und was aus dem alten Kapitänshaus geworden war. Bald würde sie es erfahren.
Dagebüll, am selben Tag
Und ich dachte, dass diese Schmalspurbahn zuverlässiger ist«, schimpfte Bille, als sie ruckelnd ein kurzes Stück vor ihrem Zielbahnhof Dagebüll anhielt. »Was ist denn jetzt schon wieder? Ständig bleiben wir irgendwo in der Einöde stehen.«
»Hier oben gibt es eben noch richtiges Landleben«, sah sich Anni bemüßigt, den Grund für ihre Verspätung zu verteidigen. »Da kann es schon passieren, dass ein paar Schafe auf den Gleisen stehen und sich Zeit lassen.«
»Schafe«, moserte Bille. »Die müssen ja auch nicht den Fährdampfer zur Insel erreichen. Die können dumm in der Walachei herumstehen. Zwei Stunden haben wir deshalb verloren, und jetzt verpassen wir bestimmt das Schiff. Unter einem Bäderschnellzug verstehe ich etwas anderes.«
»Also, ich mag die Schafe«, sagte Karla, die neben Bille auf der Bank am Fenster saß. »Sie sind so hübsch flauschig.«
»Ja, das sind sie«, bestätigte Anni. »Und auf Föhr wirst du noch eine ganze Menge mehr Schafe sehen. Und noch viele weitere Tiere. Das verspreche ich dir.« Sie rüttelte behutsam an dem Arm des dreijährigen Paul. Er hatte sich durch das Umsteigen am Niebüller Bahnhof nicht in seinem Schlaf stören lassen, Anni hatte ihn getragen, und er schlief selig auf ihrem Schoß. Nun galt es jedoch, wieder munter zu werden. So eine Fahrt mit einem Schiff war eine spannende Sache, und die sollte er auf keinen Fall verpassen. »Aufwachen, mein Schätzchen«, sagte Anni und stupste ihn auf die Nase. »Wir kommen gleich an. Jetzt geht es auf den Dampfer. Darauf freust du dich doch schon.«
Paul öffnete die Augen und blinzelte in das helle Licht der Spätnachmittagssonne, die durch das Zugfenster ins Abteil fiel.
»Wenn das Schiff durch unsere Verspätung nicht längst fort ist«, fügte Bille in einem bissigen Tonfall hinzu.
Ein Schaffner wollte an ihnen vorübereilen, Anni hielt ihn zurück.
»Warten Sie bitte«, rief sie.
Der Mann, er hatte einen rundlichen Bauch und einen Schnauzbart, sah sie missbilligend an.
»Wann geht es denn weiter? Wir müssten jetzt doch gleich in Dagebüll ankommen, oder? Wie steht es denn mit der Fähre?«, erkundigte sie sich. »Werden wir heute noch die Überfahrt nach Wyk schaffen?«
»Das versuche ich gerade herauszubekommen«, antwortete der Schaffner genervt. Die Frage schien er nicht zum ersten Mal gestellt bekommen zu haben. »Sie könnten Glück haben. Wir haben Ostwind, und der wirbelt bekanntlich die Fahrpläne immer recht ordentlich durcheinander.« Er lief weiter.
»Was hat denn bitte schön der Wind mit den Fahrplänen zu tun?«, fragte Bille sogleich.
»Er drückt das Wasser aus dem Wattenmeer, weshalb die Boote dann oftmals nicht genug Wasser unterm Kiel haben«, erklärte Anni. »Allerdings frage ich mich, weshalb das für uns Glück bedeuten könnte. Wenn wir Pech haben, fährt deshalb heute gar kein Dampfer mehr auf die Insel, und wir müssen die Nacht auf dem Festland verbringen.«
Billes Augen weiteten sich. Anni suchte sogleich zu beschwichtigen: »Aber wenn der Schaffner es als Glück bezeichnet, wird es wohl genau andersherum sein. Ohne den Ostwind hätten wir wegen der Schafe die Fähre vermutlich nicht mehr erreicht. Außer sie hätte gewartet, was sie wohl ab und an tut, wie mir vorhin von einem Mitreisenden versichert worden ist. Immerhin sind die Passagiere aus dem Bäderschnellzug ihre Hauptkundschaft. Aber ewig warten kann sie natürlich auch nicht. Durch den Ostwind könnte sie später fahren.«
Bille gab ein undefinierbares Geräusch von sich, und Charlotte fragte: »Wo schlafen wir denn, wenn kein Schiff mehr fährt?«
Charlotte sprach aus, was sich Anni nicht einmal zu denken getraute. Sie war ein kluges Kind, das musste Anni ihr lassen. Eine Antwort auf diese Frage blieb sie der Kleinen schuldig. Eine Übernachtung in Dagebüll war in der Buchung nicht vorgesehen. Anni hatte es, nachdem der Halt auf den Gleisen immer länger wurde, in den Reiseunterlagen überprüft. Entweder sie kamen auf das Schiff, oder sie standen mit zwanzig Kindern am Hafen und mussten improvisieren. Zu ihrer Erleichterung setzte sich in diesem Moment die Bahn ruckelnd in Bewegung, und der Schaffner erschien erneut. Bereits an seinem freundlicheren Gesichtsausdruck war zu erkennen, dass er gute Nachrichten für sie hatte.
»Wir haben die Meldung erhalten, dass der Dampfer noch vor Ort ist. Es sieht gut für Sie aus. Sie werden mit Ihren Kindern noch heute nach Wyk kommen, Schwester.«
Anni bedankte sich erleichtert.
»Na, Gott sei Dank«, fasste Bille ihre Gefühle in Worte. »Ich hatte schon Sorge, wir müssten bei den Schafen auf der Weide schlafen.«
Der Zug hielt nun am Hafen von Dagebüll, und Hektik setzte ein. Es galt, zwanzig Kinder mitsamt ihrem Gepäck aus der Bahn und auf die Fähre zu bekommen. Zu ihrem Glück erhielten sie vom Bahnpersonal Unterstützung. Zwei junge Burschen kümmerten sich um ihr Gepäck und verluden es auf einen bereitstehenden Wagen. Selbst der Schaffner half, Kinder auf den Bahnsteig zu verfrachten. Eines nach dem anderen hob er mit freundlichen Bemerkungen aus dem Waggon. Anni kontrollierte, nachdem alle die Bahn verlassen hatten, noch einmal die verlassenen Sitzplätze und sammelte letzte vergessene Gegenstände ein. Ein Kuschelhäschen, ein Stoffbeutel und ein Bilderbuch fanden sich noch. Bille und Gertrud hatten die Kinder inzwischen zur nahen und bereits gut gefüllten Fähre gebracht. Die meisten von ihnen waren schon an Bord gegangen. Nur Hilde war vor dem Bootssteg stehen geblieben. Bille, die sich bereits auf dem Schiff befand, winkte sie zu sich, doch Hilde schüttelte den Kopf. Fest umklammerte sie ihre Puppe. Sie wirkte wie erstarrt. Anni eilte sogleich zu ihr.
»Da bin ich, Liebes. Komm.« Sie hielt Hilde die Hand hin. »Wir beide werden dem Klabautermann schon zeigen, wer hier das Sagen hat.« Sie zwinkerte Hilde lächelnd zu, und die beiden traten auf den Bootssteg. Ihnen folgte einer der Schiffsjungen, der ihren kurzen Dialog gehört hatte und es sich nicht verkneifen konnte, einen Kommentar dazu abzugeben.
»Auf unserer Nordfriesland gibt es keinen Klabautermann. Das kann ich Ihnen versichern, meine Damen. Und sollte es sich doch einer mal erlauben, uns heimzusuchen, dann schmeiß ich ihn höchstpersönlich über Bord.« Er zwinkerte Hilde zu und grinste schelmisch. Mit seiner Unbekümmertheit hatte es der Bursche tatsächlich geschafft, Hilde ein Lächeln zu entlocken.
Auf dem Fährdampfer fand sich ein Platz am Heck des Bootes. Die Kinder saßen eng aneinandergedrängt auf den Holzbänken. Die armen Kleinen waren vollkommen übermüdet, einige von ihnen waren bereits wieder eingeschlafen. Gertrud hatte den kleinen Martin auf dem Arm. Er hatte bis eben noch geweint, doch nun beruhigte er sich. Für Anni und Bille gab es keine Sitzplätze mehr. Die Verhältnisse waren als beengt zu bezeichnen. Auf dem Vorderdeck stapelte sich das Gepäck, und auch einige mit Federvieh gefüllte Käfige befanden sich dort, im hinteren Bereich saßen die Fahrgäste dicht gedrängt. Das Schiffshorn ertönte, und die Fahrt begann. Es ruckelte etwas, als sich der Dampfer in Bewegung setzte. Anni hielt sich am Geländer fest und beobachtete, wie sie sich immer weiter vom Anleger entfernten. Nun nahm sie zum ersten Mal ihr Umfeld mit allen Sinnen wahr, und es breitete sich in ihr ein warmes Gefühl aus, das sie so nicht kannte. Es fühlte sich an, als würde ihre Umgebung sie in eine warme Decke des Glücks hüllen. Es war ein milder Sommerabend, das Meer funkelte im Licht der tief stehenden Sonne. Möwen zogen kreischend über ihnen ihre Kreise, und der Geruch von Schlick hing in der salzigen Luft. Anni atmete ihn tief ein, und eine Erinnerung stieg in ihr auf. Sie stand ebenfalls auf einem Dampfer und klammerte sich am unteren Teil des Geländers fest. Doch es war nicht der Anleger von Dagebüll, den sie verließen, sondern es waren die Häuser von Wyk, die, mit jedem Meter, den sie sich entfernten, immer kleiner wurden. Es war ein ähnlich schöner Tag wie der heutige gewesen, als sie von ihrer Heimat an der Hand ihrer Mutter Abschied hatte nehmen müssen. Doch hatte sie es damals tatsächlich als solchen empfunden? Sie wusste nicht mehr, was ihre Mama ihr gesagt, wie sie den Weggang von der Insel erklärt hatte. Sie hatte sie weinen sehen. War das an jenem Tag gewesen? Erinnerungsfetzen, Gefühle und Empfindungen. Plötzlich fühlte sie Beklommenheit. Vielleicht war etwas Fürchterliches geschehen? Ein Unglück, das ihre Mama zum Weinen und ihre Eltern dazu gebracht hatte, ihre Heimat zu verlassen. Oder dachte sie falsch? In diesem Augenblick wünschte sie sich einmal wieder, ihre Eltern wären noch bei ihr. Sie wünschte sich, sie könnten ihre Fragen beantworten. Aber würden ihr die Antworten gefallen? Keike und Jan Nissen, beide geboren in Nieblum, verstorben in Berlin. Trauerte jemand auf dieser Insel um ihre Eltern? Wurden die beiden vermisst? Würde jemand sie als die Tochter ihrer Mutter erkennen? Anni ähnelte ihr. Aber wollte sie überhaupt erkannt werden? Sollte sie den alten Kapitänshof aus ihrer Kindheit suchen? Vielleicht wäre es besser, es bleiben zu lassen. Föhr war ein Teil ihrer Vergangenheit, ihre Eltern hatten sie bewusst hinter sich gelassen. Seit ihrem siebten Lebensjahr lebte Anni in Berlin, die Stadt war ihre Heimat, nicht diese Insel in der Nordsee, die sie doch eigentlich kaum kannte.
Als eine Weile darauf der Hafen von Wyk in Sicht kam, fühlte es sich für Anni trotzdem so an, als würde sie nach Hause kommen. Im Hafen schaukelten die Fischkutter und Ausflugsboote auf den Wellen, am Strand herrschte noch buntes Treiben. Es gab Strandzelte, Strandkörbe, Kinder spielten Ball und bauten Sandburgen. Fröhliche Musik war zu hören. Das Schiffshorn ertönte erneut, und Anni wusste in diesem Augenblick, dass sie nach Nieblum gehen und nach ihrer Vergangenheit suchen würde.
Wyk, 20. Juli 1901
Also, ich finde noch immer, dass es eine dumme Idee ist, dass ausgerechnet du diejenige sein musst, die zwei Wochen hierbleiben und auf die Kinder achtgeben muss«, sagte Bille, während sie ihr Nachthemd zusammenlegte und in ihrer Reisetasche verstaute. »Das hätte doch auch Gertrud machen können. Wie soll ich es bloß so lange Zeit in Berlin ohne dich aushalten? Was ist denn, wenn während deiner Abwesenheit das Wunder geschieht und mich unser Doktor Michels endlich bemerkt und mich vielleicht sogar küsst? Dann habe ich niemanden, mit dem ich darüber reden kann.«
Anni rollte die Augen und schüttelte den Kopf.
»Ich denke nicht, dass das passieren wird. Du solltest dir Michels endlich aus dem Kopf schlagen. Er ist eine Nummer zu groß für einfache Krankenschwestern wie uns.«
»Ich weiß«, gab Bille zu. »Aber erklär das mal meinem Herzen. Es will einfach nicht kapieren, dass er aus reichem Hause stammt und bestimmt die Tochter von irgendeinem Professor aus wohlhabenden Kreisen ehelichen wird. Jedes Mal, wenn er einen Raum betritt, schlägt es wie verrückt, und meine Hände beginnen zu zittern. Ich kann nichts dagegen machen.«
Anni stieß zur Antwort einen Seufzer aus. In Liebesdingen war sie keine gute Beraterin, obwohl sie durchaus schon einmal mit einem jungen Mann ausgegangen war. Allerdings hatte sie dieser an dem Abend, sie waren ins Varieté gegangen, arg gelangweilt, und als er sie zum Abschied hatte küssen wollen, hatte sie ihm eine Ohrfeige verpasst. Einen Mann hatte sie aus der Ferne bewundert, aber da war sie noch ein Backfisch gewesen, und heute sah sie es als Schwärmerei. Er war ebenfalls in der Armenhilfe tätig gewesen, wie ihre Ziehmutter, ein engagierter Kolonialwarenhändler, der immer wieder Spenden gebracht und an so manchen Tagen auch schon mal beim Austeilen der Suppe geholfen hatte. Er hatte schöne Augen, gute Manieren und für jeden armen Menschen ein liebes Wort übrig gehabt. Bedauerlicherweise war er zehn Jahre älter als Anni, verheiratet, und seine Gattin, eine wirklich reizende blonde Frau, erwartete zur damaligen Zeit bereits ihr zweites Kind. Somit war es bei der Schwärmerei eines jungen Mädchens geblieben.
»Irgendwann wird dein Herz mit dem Unsinn schon aufhören«, meinte Anni. »Und du weißt, dass es das besser flott tun sollte, denn Liebesbeziehungen zwischen Ärzten und Schwestern sind strengstens verboten. Wenn die Oberschwester nur den kleinsten Verdacht schöpft, könnte es dich deine Stelle kosten.«
»Deshalb wäre es ja besser, wenn du gleich wieder mit nach Berlin kommen würdest«, sagte Bille. »Mit dir an meiner Seite fallen mir keine Dummheiten ein. Und komm mir bloß nicht auf die Idee, du könntest deinen Aufenthalt auf der Insel verlängern.« Sie hob mahnend den Zeigefinger. »Nicht, dass dich heimatliche Gefühle oder so ein Firlefanz überfallen und du bleiben willst. Obwohl ich mir das nicht vorstellen kann. Wir sind doch Stadtpflanzen. Auch wenn ich sagen muss, dass dieses Sanatorium durchaus einiges zu bieten hat. Dass selbst die Zimmer der Angestellten so luxuriös sind, hätte ich nicht gedacht. Dagegen ist unsere Kammer im Schwesternwohnheim die reinste Absteige.«
In dieser Hinsicht musste Anni Bille recht geben. Ihre Unterbringung war als komfortabel zu bezeichnen. Es gab zwei gemütliche Einzelbetten, jede von ihnen hatte einen Nachttisch mit einer hübschen Lampe darauf, sogar elektrische Beleuchtung gab es, und auf einem Bücherregal hatte sich Lektüre gefunden. Was Anni jedoch am besten gefiel, war das große Fenster mit direktem Blick auf das Meer. Es lag im dämmrigen Licht des heraufziehenden neuen Tages vor ihnen, der, so sah es im Moment jedenfalls aus, mit Sonnenschein beginnen könnte. Bedauerlicherweise hatte sich das Wetter nur bei ihrer Ankunft der Jahreszeit entsprechend verhalten. Bereits am nächsten Morgen war der Himmel bedeckt gewesen, und es hatte kräftige Regenschauer, begleitet von einem böigen Wind gegeben. Föhr hatte sich Bille also nicht von seiner besten Seite gezeigt. Strandspaziergänge oder sogar ein kurzer Ausflug auf die Promenade waren nicht möglich gewesen. Die zurückliegenden Tage hatten sie mit ihren Schützlingen verbracht, gemeinsam mit ihnen das Sanatorium erkundet und bei ersten Aufnahmeuntersuchungen Beistand geleistet. Besonders die jüngeren Kinder würden noch eine Weile zur Eingewöhnung benötigen, Karli hatte am gestrigen Nachmittag geweint und die meiste Zeit auf Annis Schoß verbracht. Aber wenn erst einmal die Sonne herauskam und sie an den Strand gehen konnten, würden die Kinder bestimmt ihre neue Umgebung voller Neugierde erkunden, davon war Anni überzeugt. Sie freute sich schon jetzt darauf, mit den Kleinen Muscheln zu suchen und Strandburgen zu bauen. Stadtpflanzen, wiederholte sie Billes Aussage in Gedanken. War sie das wirklich? Die ersten Jahre ihres nicht in Berlin verbrachten Lebens schlichen sich in ihr Bewusstsein zurück und nahmen immer mehr Raum ein. Oder bildete sie sich das nur ein? Vergangenheit verband man gerne mit Sentimentalität. So hatte es ihre Ziehmutter erst neulich bei einem Kaffeeplausch gesagt. Rückblickend erschienen viele Dinge besser, als sie es tatsächlich gewesen waren. Verklärten ihre Erinnerungen die Wahrheit? Anni kannte keine Antwort auf diese Frage.
Bille schloss ihre Reisetasche und nahm ihren Mantel von einem Kleiderhaken an der Wand.
»Dann wollen wir mal. Bevor es losgeht, hätte ich gerne noch ein Frühstück. Denkst du, sie werden uns Essenspakete mitgeben? Ich hoffe, dass sich dieses Mal keine Schafe auf die Gleise verirren, oder noch schlimmer, dass der Dampfer wegen des Ostwinds nicht fährt.«
Annis Blick wanderte aus dem Fenster und zu einer der sich am Strand befindlichen Fahnen. Sie flatterte etwas im Wind, der definitiv nicht aus Ost kam.
»Kein Ostwind«, erwiderte sie. »Wie sich die Schafe verhalten werden, kann ich dir leider nicht sagen.«
Bille zog eine Grimasse, dann umarmte sie Anni plötzlich spontan. »Ach, Liebes. Ich werde dich und deine pragmatischen Antworten vermissen.«
Im nächsten Moment klopfte es an die Tür, und die ungeduldig klingende Stimme ihrer Kollegin Gertrud war zu hören, die gemeinsam mit Bille abreisen würde. »Wo bleibt ihr denn? Wenn ihr weiterhin so trödelt, verpassen wir noch das Frühstück.«
Eine Weile darauf stand Anni am Hafen von Wyk und beobachtete, wie der Dampfer aufs Meer hinausfuhr. Am Heck winkten Bille und Gertrud. Anni winkte zurück und ließ ihre Hand erst sinken, als die beiden kaum noch auf Deck zu erkennen waren. Ihr Blick wanderte nach links und schweifte über die vielen Kutter und Boote im Hafenbecken, und sie konnte nicht anders, als zu lächeln. Diese Insel wirbelte ihr Innerstes vollkommen durcheinander. Es fühlte sich so herrlich vertraut an, und gleichzeitig fürchtete sich Anni vor ihren Erinnerungen. Oder war das Unsinn? So viele Menschen verschlug es während ihrer Lebenszeit an unterschiedliche Orte, aus welchen Gründen auch immer. Sie sollte sich nicht grämen oder gar mit den Geschehnissen hadern. Sie war wieder hier und konnte ihren Kindheitserinnerungen für eine Weile den Raum geben, den sie verdienten. Sie richtete ihren Blick erneut auf den Dampfer, doch Gertrud und Bille waren jetzt nicht mehr zu sehen.
Anni beschloss, nicht sofort den Rückweg in das Sanatorium anzutreten, sondern noch ein wenig Wyk zu erkunden.
Sie wandte sich vom Hafen ab und schlenderte zu dem nahe gelegenen Königsgarten. Dieser war im Jahr 1843 von der dänischen Königin Caroline Amalie im Sinne eines Volksgartens zum Lustwandeln angelegt worden. Auf dem sich darin befindlichen und von unzähligen Laubbäumen umgebenen Teich schwammen Enten und Wasservögel. Rosen und andere Blumen blühten in hübsch angelegten Beeten in Hülle und Fülle, und ihr lieblicher Duft erfüllte die Luft. Anni beobachtete lächelnd, wie eine Frau und ein kleines Mädchen die Enten mit Brotkrumen fütterten. An ihrer mondänen Kleidung waren sie gut als Kurgäste zu erkennen. Die Frau trug ein helles Sommerkleid, das an den Ärmeln reichlich Spitze aufwies, ihre Taille war eng geschnürt, auf ihrem Kopf ruhte ein passender, mit Federn besetzter Hut. Das Mädchen trug ein knielanges Matrosenkleid. Ein älterer Herr lief an Anni vorüber und grüßte freundlich. Auch ihm war an seiner Kleidung anzusehen, dass er ein Sommerfrischler war. Es folgten weitere Spaziergänger, ein Ehepaar führte seinen Dackel aus, an ihren Stimmen war zu erkennen, dass sie ebenfalls aus Berlin kamen. Anni schlenderte weiter und durchstreifte die Gassen mit ihren hübschen Häusern. An vielen Hauswänden blühten Rosen, vor Restaurants, Gaststätten und Cafés luden Tische zum Verweilen ein. Zahlreiche Geschäfte boten ihre Waren feil. Anni tauchte in das Gedränge der Badegäste ein und betrachtete Auslagen, bestaunte Porzellan und Steinzeugartikel bei einem Händler in der Mittelstraße. Sie lief zum Sandwall, hier spendeten unzählige Ulmen Schatten. Vor einem Strandbasar stapelten sich Hüte und Mützen, Badeartikel, Spielsachen, Muschel- und Seehundfellwaren. Auch Ansichtskarten wurden verkauft. Anni blieb an einem der Stände stehen und ließ ihren Blick über die hübschen Inselansichten schweifen. Vielleicht sollte sie ihren Zieheltern eine Karte schreiben. Doch sie verwarf den Gedanken wieder. Sie war keine Sommerfrischlerin, die Karten schrieb, sondern zum Arbeiten hier. Sie schlenderte weiter, und plötzlich fiel ihr ein Name ins Auge, und sie blieb stehen. Es war ein Geschäft für Haus- und Küchengeräte, das ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Über dem Eingang stand der Name Magnus Bohn. Sie glaubte, diesen Namen zu kennen. War Magnus Bohn nicht einer ihrer damaligen Spielgefährten in Nieblum gewesen? Sie sah einen braunhaarigen Jungen vor Augen, vielleicht sieben oder acht Jahre alt. Ihr Herz begann, schneller zu schlagen. Sie näherte sich dem Geschäft. Die Ladentür stand offen, und sie konnte nicht anders und trat ein. In dem vollgestopften Laden gab es allerlei Küchengeräte, Handrührer, Brotschneider. Im Angebot befanden sich sogar Kochlöffel und Schöpfkellen mit dem für die Insel typischen Zwiebelmuster. Auch Badewannen, Bidets und Wassertoiletten konnten hier erworben werden. Im Laden war niemand, doch aus dem Hinterzimmer waren Stimmen zu hören. Anni schnappte einige der auf Friesisch gesprochenen Worte auf, und ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. Sie verstand alles, obwohl sie die Sprache eine gefühlte Ewigkeit nicht mehr gehört oder gesprochen hatte. Die vertrauten Worte erinnerten sie schmerzlich an ihre Eltern, die selbst in Berlin im privaten Umfeld häufig Friesisch gesprochen hatten. Die Erinnerung daran sorgte dafür, dass ihr Tränen in die Augen stiegen. Eine von ihnen kullerte genau in dem Moment ihre Wange hinab, als ein junger Mann den Laden betrat. Er war braunhaarig und trug ein einfaches graues Hemd sowie eine dunkelblaue Weste darüber. Hektisch wischte sie die Träne fort und grüßte auf Friesisch. Er sah sie eine Spur zu lange an, als müsste er überlegen, mit wem er es zu tun hatte. Als hätte er sie erkannt. Oder bildete sie sich das nur ein? Anni überlegte, ob sie ihm sagen sollte, wer vor ihm stand. Sie könnte mit ihm in der vertrauten Sprache sprechen, ihm zeigen, dass sie keine Fremde war. Aber was würde es ihr bringen, dies zu tun? Er lebte sein Leben hier, sie ihres in Berlin. Was sollte sie sagen? »Hallo, ich bin es, Anni. Ich bin zurück. Kennst du mich noch?« Plötzlich fühlte sich ihr Tun töricht an, und sie beschloss, den Laden zu verlassen. Sie sollte zurück zu den Kindern ins Sanatorium gehen und ihre Arbeit verrichten. Schließlich war sie nicht auf die Insel gekommen, um durch Wyk zu streunen und ihrer Vergangenheit nachzujagen. Sie hatte eine Aufgabe und musste sich kümmern.
»Entschuldigung«, sagte sie. »Ich dachte, solch eine Schöpfkelle wäre nett, aber ich habe mich anders entschieden.« Ohne es zu bemerken, hatte sie nun doch Friesisch gesprochen. Der Mann sah sie irritiert an.
»Sie sprechen unsere Sprache«, sagte er und betrachtete sie genauer. »Es ist nicht die Schöpfkelle, die dich zu uns führt, oder?« Ohne groß Federlesens war er zur vertrauten Anrede übergegangen. »Du kommst von hier. Wir kennen uns. Wie heißt du?«
Nun stiegen erneut Tränen in Annis Augen.
»Anni Nissen. Es tut mir leid. Ich hätte nicht herkommen sollen«, entschuldigte sie sich und wandte sich ab. Sie verließ den Laden und rannte die Mittelstraße hinunter. Es war nicht Magnus, vor dem sie fortlief. Es war der tief in ihrem Inneren sitzende Schmerz, der sie immer schneller werden ließ. Sie erreichte den Strand und blieb nach Atem ringend an der Wasserlinie stehen. Sie war dieser Welt entrissen worden, ihrer Heimat, von der sie sooft in Berlin geträumt, nach der sich ihre Mutter vor Sehnsucht jeden Tag verzehrt hatte. Sie hörte ihre friesischen Worte, und sie spürte den Schmerz, den sie so lange verdrängt hatte. Sie hätte nicht herkommen sollen. Sie hätte wissen müssen, dass diese Insel nur Kummer brachte. Oder vielleicht doch nicht? Sie richtete ihren Blick nach vorn und beobachtete einen der Lustkutter auf dem funkelnden Wasser. Der sanfte Wind rüttelte an ihrem Haar und streifte über ihre Wangen. Es schien, als wollte er ihre Tränen trocknen. Vielleicht lag sie ja falsch mit ihrer Annahme, und es war das Schicksal, das sie bewusst nach Hause gebracht hatte. Vielleicht war es endlich an der Zeit, Antworten auf die Fragen eines Kindes zu finden.
Wyk, 25. Juli 1901
Anni hatte darauf gehofft, dass alle ihre Schützlinge die Reise nach Föhr schadlos überstehen würden, doch bedauerlicherweise war eines der Kinder schwer erkrankt. Es war ausgerechnet der freche Walter, der seit gestern mit über vierzig Grad Fieber darniederlag und sogleich auf die Krankenstation des Nordseesanatoriums verlegt worden war. Der arme Junge lag apathisch in den Kissen, seine Wangen waren gerötet. Anni nahm das feuchte Tuch von seiner Stirn, tunkte es noch einmal in die auf dem Nachttisch stehende Schüssel mit kaltem Wasser, wrang es aus und legte es wieder zurück.
»Du wirst bestimmt bald wieder gesund sein«, sprach sie dem Jungen Mut zu. »Und dann wirst du wie die anderen Kinder an den Strand gehen und spielen können. Außerdem musst du ja noch die Freunde von deinem geliebten Klabautermann kennenlernen. Den Meergeist Ekke Nekkepenn zum Beispiel oder die Zwerge, die hier wohnen und gerne mal Dummheiten anstellen. Sie haben hier auf der Insel einen eigenwilligen Namen. Sie heißen Odderbaantjes. Mein Großvater hat mir von ihnen erzählt. Er kannte unzählige alte Inselgeschichten, und natürlich war er Fachmann für Klabautermänner, schließlich ist er selbst zur See gefahren.« Sie verstummte. Ihr Großvater, Rauert Nissen. Erinnerungen kehrten zurück, laute Wortfetzen. Es hatte Streit gegeben, zwischen ihm und ihrem Vater. Sie war im Garten gewesen, das Fenster hatte offen gestanden. Um sie herum hatten unzählige Blütenblätter der alten Birnbäume im Gras gelegen, sie hatte sich gemeinsam mit ihrer Freundin Tesje damit beschäftigt, Blumenketten aus Gänseblümchen anzufertigen. Was aus ihr wohl geworden war? Ihren Eltern hatte damals der Kolonialwarenladen im Ort gehört. Eine gefühlte Ewigkeit hatte Anni nicht mehr an sie gedacht.
»Wie geht es ihm denn?«, riss eine der im Sanatorium angestellten Krankenschwestern Anni aus ihren Gedanken. Sie war blond und in Annis Alter. Anni hatte ihren Namen vergessen, was nicht verwunderlich war. Es gab so viele neue Namen, die sie sich seit ihrer Ankunft merken musste. Von Ärzten und Schwestern, Lehrern und Betreuern. War es vielleicht Merle gewesen?
»Unverändert«, antwortete Anni. »Das Fieber ist noch immer sehr hoch. Und wir dachten tatsächlich, dass er so weit über den Berg wäre, um die Reise an die See bewältigen zu können. Vermutlich wäre es besser gewesen, wir hätten ihn in Berlin gelassen.«
»So sehe ich das nicht«, widersprach die Schwester. »Es kommt häufiger vor, dass Kinder nach der Ankunft Probleme haben. Bei vielen von ihnen ist es vermutlich die Aufregung, die für Rückschläge sorgt. So eine lange Reise auf eine Nordseeinsel ist ja nichts Alltägliches. Bestimmt wird es ihm in einigen Tagen wieder besser gehen, und er kann mit den anderen Kindern den Strand genießen. Waren Sie schon dort? Er ist herrlich, besonders zu dieser Stunde.« Sie deutete zum Fenster, durch welches das warme Licht der Spätnachmittagssonne in den Raum fiel. »Wenn Sie möchten, können Sie etwas frische Luft schnappen gehen. Ich achte währenddessen auf den jungen Mann.«
»Ich weiß nicht recht«, Anni zögerte, und ihr Blick wanderte zum Fenster. Es war geschlossen, doch trotzdem waren die Rufe der Möwen zu hören.
»Sie sollten nach draußen gehen«, bekräftigte die Schwester noch einmal ihre Aufforderung. »Solch einen schönen Strand und so gute Luft wie bei uns auf Föhr werden Sie in Berlin nicht finden. Ihre beiden Begleiterinnen waren recht traurig darüber, unser Inselchen bereits wieder verlassen zu müssen. Sie wären vermutlich längst Muscheln sammeln oder Strandburgen bauen.«
»Könnte sein«, Anni lächelte. »Also gut«, gab sie nach. »Ich wage einen Strandspaziergang, vielleicht schaffe ich es sogar bis Nieblum.«
»Sie kennen Nieblum?«, hakte die Schwester erstaunt nach.
Anni dachte kurz darüber nach, ihr zu sagen, dass sie von der Insel stammte, doch sie verwarf den Gedanken wieder. Was sollte es bringen, dieser jungen Schwester davon zu erzählen? Schon bald würde sie wieder in Berlin sein, und ob und wann sie erneut nach Föhr reisen würde, stand in den Sternen.
»Ich habe nur davon gehört, dass der Ort in diese Richtung liegt«, suchte Anni Zuflucht in einer Ausrede. »Er soll recht hübsch sein, mit vielen Reetdachhäusern.«
»Ja, so ist es«, bestätigte die Schwester. »Es ist anders als in Wyk, wo ich meine Ausbildung im Inselkrankenhaus gemacht habe. Da sind ja alle Häuser mit Schindeln gedeckt, wegen der großen Brände, die es gegeben hat. Aber wir kommen ins Plaudern. Gehen Sie schon, solange das Licht noch so schön ist. Ich bleibe bei dem Jungen.«
Wenige Minuten später verließ Anni die im Jugendstil errichtete Villa, in der die Kinder untergebracht waren. Zu der Anlage des Nordseesanatoriums gehörte das zuerst erbaute und ebenfalls im Jugendstil gehaltene Haus Tübingen, welches das größte Gebäude darstellte. Umgeben war es von einer herrlichen Parkanlage, in der Bäume wuchsen, die niemand auf einer nordfriesischen Insel erwarten würde. Libanon-Zedern, Maulbeeren und Feigen. Doch das milde Nordseeklima schien den Pflanzen zu gefallen, sie gediehen prächtig.
Anni erreichte den Strand. Hier gab es eine für die Gäste des Sanatoriums errichtete Strandhalle und extra für den Kurbetrieb konstruierte Korbliegestühle, die für die Liegekuren zum Einsatz kamen. Am Flutsaum tippelten Austernfischer auf der Suche nach etwas Essbarem auf und ab. Sie gaben ihre typischen Rufe von sich, die in Anni ebenfalls Kindheitserinnerungen weckten. Doch plötzlich schmeckten diese nicht mehr bitter, wie sie es neulich in Wyk getan hatten. Sie atmete tief die salzige Luft ein und hielt versonnen lächelnd ihre Nase in die sanfte Brise. Es war der perfekte Sommernachmittag, und keine Wolke war am Himmel zu sehen. In der Ferne war ein Boot zu erkennen. Vielleicht war es ein Fischer oder einer von den vielen Betreibern von Lustfahrten, Anni hatte hierzu heute Morgen jede Menge Werbeanzeigen am Schwarzen Brett des Hauses entdeckt.
Nachdem Anni den Südstrand hinter sich gelassen hatte, begegneten ihr keine Menschen mehr, was sie nicht verwunderte. Die Einheimischen gingen nur selten an den Strand. Ihr Alltag fand in den Dörfern statt und war meist von harter Arbeit geprägt. Badekarren und Strandkörbe waren für die Kurgäste da. Das Meer zog sich immer weiter zurück und setzte das Sandwatt frei. Anni konnte sich an der vertrauten Landschaft um sich herum gar nicht sattsehen. In der Ferne konnte sie den Leuchtturm der Nachbarinsel Amrum ausmachen. Der Anblick sorgte dafür, dass sich ein Satz ihres Großvaters in ihre Erinnerung schlich. »Von Amrum kommt nix Gutes.« Mit dieser Meinung stand er auf Föhr nicht allein da. Was der Grund für diese Ablehnung war, wusste Anni nicht mehr.
Nachdem sie ein ganzes Stück gelaufen war, erreichte sie einen Strandabgang, der ihr bekannt vorkam, und sie steuerte darauf zu. Sie folgte einer ungeteerten Straße und umrundete einige Pfützen, die der Regen des vergangenen Tages hinterlassen hatte. Am Wegesrand blühten Strandrosen in Hülle und Fülle, auf einer kleinen Weide standen vier schwarz-weiß gefleckte Kühe, denen eine Schar Hühner Gesellschaft leistete. Sie erreichte ein erstes, mit Reet gedecktes Haus, das von einem weitläufigen Gartengrundstück umgeben war. Die Maueranker in der roten Backsteinfassade berichteten davon, dass das Haus im Jahr 1842 erbaut worden war. Die Eingangstür war eine für die Insel typische Klöntür. Der obere Bereich konnte separat geöffnet werden, was für die Durchlüftung der Häuser sorgte, aber auch Licht ins Innere brachte. Außerdem ließ es sich an den halb geöffneten Türen ausgezeichnet stehen und klönen. Eine Tätigkeit, die von den Frauen der Insel äußerst häufig ausgeübt wurde, wie sich Anni erinnerte. Die Tür zu diesem Haus war jedoch vollständig verschlossen. Anni überlegte, ob sie noch wusste, wer es bewohnt hatte. Doch der Name wollte ihr nicht einfallen. Sie beschloss weiterzugehen und erreichte ein Stück weiter einen großen Teich, auf dem einige Enten und Möwen schwammen. Sogleich fiel ihr der Name des hübschen Gewässers ein. De Maare, wurde es von den Einheimischen genannt. Einige Kinder im Schulalter spielten am Ufer, zwei Jungs, Anni schätzte sie auf neun oder zehn Jahre, ließen Schiffchen schwimmen. Ihr Blick fiel auf das dahinterliegende Friesenhaus. In diesem hatte ihr Schulkamerad Arfst Hansen gewohnt. Sie sah ihn vor Augen. Ein strohblonder Junge, der davon geträumt hatte, wie sein Urgroßvater Kapitän auf einem Schiff zu werden und um die Welt zu segeln. Kapitäne und Schiffskommandanten. Ihre Lebensgeschichten und Schicksale waren tief in der Insel verwurzelt. Es gab auf der Insel wohl kaum eine alteingesessene Familie, die nicht einen ihrer Söhne irgendwo auf den Weltmeeren verloren hatte. Von ihren Schicksalen erzählten die vielen alten und oftmals kunstvoll verzierten Grabsteine auf dem Friedhof der St. Johannis-Kirche, deren trutzigen Turm Anni von hier aus sehen konnte. In dieser Kirche war sie getauft worden, auf ihrem Friedhof lagen ihre Ahnen begraben. Eine weitere Erinnerung stieg in ihr auf, die jedoch bitter schmeckte. Es war ein grauer und stürmischer Tag gewesen, die Bäume hatten kein Laub getragen. Sie hatte an einem offenen Grab gestanden, ein winziger Sarg war darin versenkt worden. Die Erinnerung an dieses traurige Begräbnis hatte sie ganz nach hinten geschoben, doch der Anblick des Kirchturms sorgte dafür, dass sie hervortrat und ihr Tränen in die Augen trieb. Es war ihr kleiner Bruder Fröd gewesen, den sie nur wenige Tage nach seiner Geburt an diesem kalten Tag beerdigt hatten.
Plötzlich wurde sie aus ihren Gedanken gerissen.
»Ja, ist das denn die Möglichkeit«, rief eine Frauenstimme hinter ihr auf Friesisch. »Ich muss einen Geist sehen. Dass ich das noch erleben darf. Unsere Keike kehrt heim.«
Verdutzt sah Anni die alte Frau an, die ihr gegenüberstand. Sie erkannte sie wieder.
»Ockeline«, sagte sie ihren Namen.
»Wer sonst, min Deern«, erwiderte die Frau. Ihre Miene wurde plötzlich skeptisch. Sie musterte Anni näher. »Du bist nicht Keike. Du musst die Deern sein. Anni. Meine Güte. Du bist deiner Mutter so ähnlich, gleichst ihr bis aufs Haar.«
Ihre Worte rührten Anni, der von ihrer Mama nur noch die Erinnerungen an ihr Äußeres geblieben waren, denn sämtliche Fotografien waren damals bei dem Feuer vernichtet worden.
»Ja, ich bin Anni. Gud Dai, Ockeline.« Anni antwortete auf Friesisch.
»Ach, du meine Güte«, sagte Ockeline. »Und wir dachten, wir würden von euch niemals wieder jemanden hier sehen. Das war damals ja ein übler Streit zwischen deinen Eltern und deinem Großvater. Wo hat das euch denn hin verschlagen, wie geht es deinen Eltern? Da wird dein Großvater aber gucken. Obwohl ich mir nicht sicher bin, ob er sich freut, dich wiederzusehen. Aber du warst ja noch so lütt damals. Dir kann er nicht böse sein.«
Das war ein wenig viel Rede auf einmal. Die wichtigste Aussage war jedoch die, dass ihr Großvater noch lebte. Wie alt mochte er heute sein, überlegte Anni. Ein übler Streit. Also hatten sie ihre Erinnerungen nicht getrogen.
»Er lebt also noch«, sagte sie und ging auf die weiteren Fragen von Ockeline nicht ein. Ihr Herz schlug plötzlich höher, und ihre Hände begannen zu zittern. Hier gab es einen Verwandten von ihr, jemanden, zu dem sie gehören könnte, richtige Familie.
»Ja, das tut er«, bestätigte Ockeline. »Ich kümmere mich büschen um ihn und um das Haus. Allein ist er damit inzwischen überfordert. Das Gehen fällt ihm schwer, letztes Jahr ist er neunzig geworden. Wenn du magst, können wir gemeinsam zu ihm gehen. Ich wollte eh gerade zu ihm und ihm frischen Kuchen bringen, büschen klönen in der Sonne hinter dem Haus. Das hat er gern. Von dem Kuchen fällt für dich bestimmt auch noch ein Stück ab. Auf dem Weg kannst du mir ja dann erzählen, was dich wieder zu uns auf die Insel verschlagen hat.«
Sie setzte sich in Bewegung, und Anni blieb nichts anderes übrig, als mit ihr zu gehen. Sie folgten der Straße mit dem Namen Bi de Süd, und Anni erfreute sich an den alten Friesenhäusern, jedes von ihnen schien eine Geschichte zu erzählen, und plötzlich kamen ihr unzählige Namen und Gesichter in den Sinn. Sonnenflecken fielen durch die Blätter der Ulmen, die die ungepflasterten Straßen säumten. Anni erzählte Ockeline den Grund für ihre Rückkehr, und dass sie aus Berlin angereist war. Den Tod ihrer Eltern verschwieg sie ihr fürs Erste.
»Na, da hat es unsere Keike und den Jan ja ganz woandershin verschlagen, wie wir angenommen haben. Wir haben gedacht, sie wären nach Amerika gegangen. Da wohnt nämlich Keikes Onkel Tönis mit seiner Familie in New York. Jedenfalls nehmen wir an, dass die noch da wohnen. Wir haben ewig nix gehört. Also die Schwester von der Kreske ist da schon eine treuere Seele. Sie schreibt immer noch jedes Jahr mehrfach, und in jedem Brief erzählt sie von der Sehnsucht nach der Heimat. Ach, so viele sind fort, wegen diesem dummen Militärdienst von den Preußen. Das ist aber auch ein Unfug.«
Anni pflichtete ihr rasch bei. Die Zeiten, in denen viele Föhrer bevorzugt nach Amerika, die hochgepriesene neue Welt voller Möglichkeiten, auswanderten, hatten nach der Annektierung Preußens im Jahr 1864 begonnen. Ab dann wehte ein anderer Wind auf Föhr. Die noch unter dänischer Verwaltung herrschende Befreiung vom Militärdienst der jungen Föhrer galt nicht mehr, und die Männer mussten zu dem sechsjährigen Militärdienst der Preußen antreten. Reiche Föhrer konnten sich für diesen Dienst einen Ersatzmann kaufen, doch die meisten Insulaner konnten sich diesen nicht leisten. Oftmals waren ganze Konfirmandenjahrgänge ausgewandert. Hielt sich ein Wehrpflichtiger länger als fünf Jahre im Ausland auf, verlor er seine deutsche Staatsangehörigkeit und wurde staatenlos. Deshalb nahmen viele von ihnen notgedrungen die amerikanische Staatsbürgerschaft an. Wieso es ihre Eltern nicht nach Übersee, sondern nach Berlin verschlagen hatte, wusste Anni nicht.
»Das Sanatorium von diesem Gmelin also«, kam Ockeline auf den Grund für Annis Rückkehr nach Föhr zu sprechen. »Der ist auch einer von den Auswärtigen, die sich hier neuerdings wichtigmachen. Kommt irgendwo aus dem Süden. Zuerst war der ja auf Amrum bei dem Bodelschwingh. Von dort hat er auch seine Ehefrau angeschleppt. Soll ja alles ganz schick bei dem sein. Hier in Nieblum wird neuerdings auch überlegt, ob wir uns dem Seebadkrams anschließen. Das Geschäft mit den Touristen ist recht lukrativ, könnten wir gut gebrauchen, sonst enden noch mehr von uns im Armenhaus. Aber ich hab das nicht so mit den Fremden. So was für Lütten wäre für den Anfang vielleicht ganz nett. Die Kleinen aus den großen Städten sehen immer recht erbarmungswürdig aus, wenn sie hier ankommen. Neulich hab ich einige von denen in Wyk am Hafen gesehen, wie sie gerade vom Dampfer kamen. Waren alle recht käsig und klapperdürr. Ich nehme an, deine Lütten sehen auch so aus?«
»Ja, das tun sie«, antwortete Anni. »Wir hoffen, dass ihnen die Seeluft hilft. Einige von ihnen sind nur knapp dem Tod entronnen.«
Ockelines Miene zeigte Betroffenheit.
»Na, unsere Seeluft wird sie schon wieder aufrichten. Bestimmt haben sie in ein paar Wochen alle runde und rote Backen.«
Es begegneten ihnen einige Bewohner, Ockeline wurde gegrüßt, Anni neugierig beäugt. Eine Krankenschwester aus Berlin war in dem alten Friesendorf ein ungewohnter Anblick.
Sie erreichten den Babendörpstieg, in dem sich ihr Elternhaus befand, und Annis Herz begann höherzuschlagen. Ockeline schien ihre Aufregung zu spüren, denn plötzlich sagte sie beruhigend: »Das wird schon werden. Ich bin mir sicher, er wird sich über das Wiedersehen freuen, der alte Griesgram.«
Sie erreichten das im Jahr 1792 von Annis Urgroßvater errichtete Kapitänshaus. Das Haus sah noch genauso aus wie in Annis Erinnerung: rote Mauern, Moos lag auf dem mit Reet gedeckten Dach, von den hölzernen Fensterrahmen blätterte die weiße Farbe ab. Es war von einem großen Garten umgeben, der sie durch sein verwildertes Aussehen in seinen Bann zog. Unzählige Laubbäume standen darin, Rotbuchen, Ulmen, Ahorn und Obstbäume spendeten Schatten. Das Gras stand hoch und wuchs auch auf der aus Findlingen bestehenden Mauer, die das weitläufige Grundstück umgab. Dieser Ort übte einen solchen Zauber auf Anni aus. Sie hätte ewig einfach nur an dem alten, etwas schiefen Gartentor aus Holz stehen bleiben und ihn betrachten können.
Sie betraten das Anwesen durch die Vordertür, und die Vertrautheit ihres ehemaligen Zuhauses traf Anni mit voller Wucht. Ockeline durchquerte den Flur und verschwand durch die hintere Tür sogleich wieder, doch Anni folgte ihr nicht, sondern blieb stehen. Sie blickte in die mit hübschen blau-weißen Holländerfliesen gekachelte Wohnstube, sah das alte Spinnrad in der Ecke stehen, der Ofen, der Billegger genannt wurde, befand sich an seinem üblichen Platz. Ihr Blick schweifte zu dem Alkovenbett, in dem sie, wie sie wusste, zur Welt gekommen war. Es schien, als wäre die Zeit in diesem Haus stehen geblieben.
Doch dann hörte Anni plötzlich harsch klingende Worte. Die Stimme erkannte sie sogleich. Es war die ihres Großvaters.
»Ich habe keine Enkeltochter«, hörte sie ihn lautstark schimpfen. »Soll verschwinden, die Deern.«
Seine Ablehnung ließ Anni, die eben wieder in den Flur getreten war, erstarren. Wie hatte sie auch nur einen Augenblick lang annehmen können, dass sie in diesem Haus willkommen sein könnte? Ihre Eltern hatten ihren Großvater im Streit verlassen. Vermutlich war es besser zu gehen. Sie hätte niemals hierherkommen sollen. Sie wandte sich um und verließ das Haus wieder durch die Vordertür. Doch dann legte sich eine Hand auf ihre Schulter, und Ockelines Stimme war zu hören.
»Schön hiergeblieben, min Deern«, sagte sie. »Wer wird denn gleich fortlaufen, nur weil der alte Kapitän büschen grummelig ist? Komm. Wenn er dich sieht, wird er bestimmt anders denken.«
Sie zog Anni mit sich, und sie traten in den Garten.
Rauert Nissen saß auf der Bank neben dem Hauseingang. Er trug eine abgetragene dunkelgraue Jacke, die er zugeknöpft hatte. Dazu schwarze Hosen, und auf seinem schlohweißen Haar lag eine Kapitänsmütze. Seine Augen waren von tiefen Falten umgeben, sein ebenfalls schlohweißer Bart wirkte etwas ungepflegt.
»Nun sag schon Gud Dai zu deiner Enkeltochter. Ist es nicht ein Segen, dass sie wieder zurück in die Heimat gefunden hat? Sieh nur, wie sehr sie unserer Keike ähnelt. Ist das nicht verblüffend? Sie hat arme, kranke Kinder zu Gmelin gebracht. Stell dir vor: Sie ist eine richtige Krankenschwester in Berlin. Das ist doch großartig!«
Der alte Mann funkelte Anni feindselig an. Er gab nur ein grummelndes Geräusch als Antwort von sich. Anni wusste nicht so recht, was sie tun sollte. Sie beschloss, die Flucht nach vorne anzutreten.
»Gud Dai«, grüßte sie und bemühte sich um ein Lächeln. »Es ist schön, dich wiederzusehen, Großvater.«
Seine Miene wurde noch eine Spur finsterer. Er nahm seine Pfeife aus dem Mund, und sein Blick wanderte von Anni zu Ockeline, die ihn mahnend ansah, was jedoch nur wenig half.
»Berlin also«, sagte er. »Ausgerechnet zu den Preußen hat es ihn verschlagen, meinen feinen Herrn Sohn. Kannst gleich wieder zu ihm zurückgehen, min Deern. Ich hab nix mehr mit ihm zu schaffen, und mit seiner Brut auch nicht. Verschwinde.«
»Also wirklich …«, setzte Ockeline an, Rauert sogleich zu rügen, doch Anni unterbrach sie und antwortete: »Ich kann zurück nach Berlin fahren. Aber meinen Eltern kann ich nicht mehr von unserem Wiedersehen erzählen. Die beiden sind vor Jahren bei einem Hausbrand ums Leben gekommen.«
Da veränderte sich plötzlich die Miene des alten Mannes, und Anni erkannte in seinem Blick nun etwas anderes als Ablehnung. Es war Schmerz.
Nieblum, 28. Juli 1901
Jetzt fettest du den Topf mit halb Butter, halb Talg ein, und dann legst du noch ein paar Scheiben geräucherten Speck auf den Boden«, wies Ockeline Anni an. »Der Teig für unseren Pott ist ja schon fertig, er ist auch perfekt aufgegangen. Neulich hat es so gar nicht funktionieren wollen. Ich sag dir, da war etwas mit der Hefe nicht in Ordnung. Aber heute ist zum Glück alles fein.«
Anni tat wie angewiesen. Nachdem sie die Speckscheiben auf den Boden des Topfes gelegt hatte, beförderte Ockeline den Teig in den eisernen Topf, weitere Speckscheiben wurden obenauf gelegt, und sie verschlossen den Topf mit einem Deckel.
»Jetzt kommt unser Pott in den heißen Torf, und später bringen wir ihn auf dem Weg zur Kirche flott beim Bäcker zum Fertigbacken vorbei. Sonst verbrennt uns unser Mittagessen noch, während wir dem Pfarrer seiner Predigt lauschen. Die Johannisbeersoße dazu hab ich schon vorbereitet.«
Anni nickte und wischte sich die Hände an einem Geschirrtuch ab. Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass sie einen Pott selbst backte. An den Geschmack des für die Insel typischen Sonntagsessens konnte sie sich noch gut erinnern. Auch ihre Mutter hatte den Pott früher gebacken und auf dem Weg zur Kirche beim Bäcker abgegeben.
Anni und Ockeline befanden sich in der Küche des alten Kapitänshauses, und Anni plagte mal wieder ein wenig das schlechte Gewissen, denn sie sollte nicht in Nieblum Pott backen, sondern bei ihren Schützlingen im Sanatorium sein. Andererseits hatten die sich jedoch erstaunlich schnell eingewöhnt, und die Schwestern und Betreuerinnen des Hauses kümmerten sich rührend um sie. Auch Walter hatte sich wieder erholt, worüber sich Anni freute. Der Junge trieb schon wieder Schabernack. Der Tagesablauf der Kinder war genauestens geplant, und Anni kam sich häufig überflüssig vor. So führte sie ihr Weg meist instinktiv irgendwann im Laufe des Tages in den Ort ihrer Kindheit.
»Ockeline«, war plötzlich die Stimme von Annis Großvater zu hören. »Wo steckst du denn schon wieder? Wo hast du meine gute Jacke hingeräumt? Ich kann doch nicht in der alten Joppe zur Kirche gehen.«
»Sie ist da, wo sie immer ist«, antwortete Ockeline und verließ die Augen rollend den Raum. »Irgendwann vergisst er noch mal seinen Kopf.«
Anni zögerte kurz, dann folgte sie Ockeline in die Kammer neben die Döns, der Wohnstube. Rauert Nissen stand vor einem geöffneten Wandschrank. Er trug ein hellblaues Hemd und schwarze Hosen, die von Hosenträgern gehalten wurden. Anni wusste noch immer nicht so recht, wie sie sich ihm gegenüber verhalten sollte. Er redete nicht mit ihr, verscheuchte sie jedoch auch nicht, was Ockeline für ein gutes Zeichen hielt. »Er wird schon noch zugänglicher werden«, hatte sie zu Anni erst neulich wieder gesagt. »Du musst Geduld haben.«
Nachdem Anni ihm von dem Feuer erzählt hatte, hatte er genickt und an seiner Pfeife gezogen. Dann hatte er einen Satz gesagt, der Anni nicht aus dem Kopf gehen wollte und der sie tief im Innersten berührte: »Wären sie mal besser hiergeblieben.«
Wären sie auf Föhr geblieben, wären sie vermutlich noch am Leben, Anni wäre keine Waise geworden, und ihre Mutter hätte ihrer Heimat nicht nachtrauern müssen. Doch sie waren gegangen und hatten sämtliche Verbindungen nach Föhr im Streit abgebrochen. Niemand konnte die Zeit zurückdrehen, auch wenn man es sich noch so sehr wünschte.