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Anke Petersens ergreifendes Finale um den malerischen Dünenhof auf Föhr Stürmische Zeiten auf dem Dünenhof ist der dritte und finale Familienroman aus der dramatischen wie zauberhaft nostalgischen Familiensaga Die Föhr-Trilogie um ein paradiesisch gelegenes Kinder-Erholungsheim. Nachdem Greta sich endlich ihren Traum vom Medizinstudium erfüllt hat, fiebert Erika, die währenddessen gemeinsam mit ihrem Ehemann Jonas die Leitung des Dünenhofs übernommen hat, nun voller Vorfreude der Heimkehr ihrer geliebten Schwester entgegen. Es ist Sommer im Jahr 1961, das lang ersehnte Wiedersehen zum Greifen nahe, das Kindererholungsheim floriert, das Glück scheint perfekt. Doch just an Gretas geplantem Abreisetag aus dem Osten Berlins erreichen Erika beunruhigende Nachrichten: Der plötzliche Bau der Berliner Mauer macht eine Ausreise unmöglich … Wie Erika und Greta in die Fußstapfen ihrer Großmutter Anni Nissen treten und gemeinsam ihr Erbe fortführen, erzählt Anke Petersen bewegend atmosphärisch im zweiten Teil ihrer historischen Familiensaga, Kinderlachen auf dem Dünenhof. Lesen Sie auch wie alles begann im Auftakt der bezaubernden Reihe und geben Sie sich der Sehnsucht nach dem Dünenhof hin.
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Seitenzahl: 501
Anke Petersen
Roman
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Ein dramatisches Finale für den Dünenhof
Nachdem Greta sich endlich ihren Traum vom Medizinstudium erfüllt hat, fiebert Erika, die währenddessen gemeinsam mit ihrem Ehemann Jonas die Leitung des Dünenhofs übernommen hat, nun voller Vorfreude der Rückkehr ihrer geliebten Schwester entgegen. Es ist Sommer im Jahr 1961, das lang ersehnte Wiedersehen zum Greifen nahe, das Kindererholungsheim floriert, das Glück scheint perfekt. Doch just an Gretas geplantem Abreisetag aus dem Osten Berlins erreichen Erika beunruhigende Nachrichten: Denn der plötzliche Bau der Berliner Mauer macht eine Ausreise unmöglich …
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1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
Nachwort
Schwül ist das heute wieder«, jammerte Nanny und wedelte sich mit dem Inselboten Luft zu. »Ich weiß, die Touristen hören es nicht gern, aber ein die Luft reinigendes Gewitter wäre wirklich ein Segen.«
»Also ich weiß gar nicht, was du hast«, meinte die neben ihr stehende Erika. »Ich finde das warme Sommerwetter herrlich, Schietwetter hatten wir dieses Frühjahr zur Genüge.« Ihr Blick fiel auf ein entzückendes kleines Mädchen in einem hellblauen Sommerkleid, das freudig an seinem Schokoladeneis schleckte und einen ganz verschmierten Mund hatte.
Die beiden befanden sich in Wyk am Fähranleger und warteten auf ihre neu ankommenden Kinder. Zwei Mädchen und ein Junge aus Bonn sollten mit der Sechzehn-Uhr-Fähre eintreffen. Für Erika war es trotz ihrer langjährigen Erfahrung als Leiterin eines Kindererholungsheims immer wieder ein aufregender Moment, ihre neuen Schützlinge kennenzulernen. Die beiden Mädchen waren sieben Jahre, der Junge zehn Jahre alt. Eigentlich hätte Erika ihre neuen Lütten gerne gemeinsam mit ihrem Ehemann Jonas abgeholt, aber dieser war kurz vor ihrer Abfahrt in seiner Funktion als Kinderarzt wegen eines Notfalls zur Familie Jansen gerufen worden. Der kleine Fiete war mal wieder von einer Biene gestochen worden, und er reagierte bedauerlicherweise allergisch. Da war rasche ärztliche Hilfe gefragt. So hatte Erika in den sauren Apfel beißen und das Chauffeursangebot ihrer Küchenmamsell Nanny Andresen annehmen müssen. Sie fuhr nicht gerne mit der Mittfünfzigerin mit, denn Nanny hatte einen, wenn man es charmant ausdrücken wollte, eigenwilligen Fahrstil.
Nanny, die ihr gelocktes Haar neuerdings rot färbte, arbeitete bereits seit über fünf Jahren als Küchenmamsell bei ihnen im Dünenhof und hatte durch ihre weltoffene Art einen frischen Wind in ihre Küche gebracht. Sie war gemeinsam mit ihrem Mann in den Dreißigerjahren nach New York ausgewandert, um dort, wie so viele andere Insulaner auch, ihr Glück zu finden. Geschuftet hatte sie in einem der zahlreichen Delicatessen Stores, den Delis, wie sie abgekürzt genannt wurden. Irgendwo in Brooklyn, dort, wo die Häuserschluchten das tägliche Bild prägten und es keinen Feierabend gab. Nachdem ihr Mann Johannes bei einem Überfall auf ihren Deli erschossen worden war, war sie heimgekehrt. Zurück nach Föhr, dorthin, wo man die Haustüren auch nachts nicht zusperrte und keine bewaffneten Männer in den Laden stürmten und einem das Liebste auf der Welt nahmen. Doch auf Föhr war die Zeit nicht stehen geblieben, die vertraute Heimat war ihr fremd vorgekommen, kleinbürgerlich und spießig. Der alte Hof ihrer Eltern in Utersum war heruntergekommen, die Mutter kurz nach ihrer Rückkehr, sie hatte ihre Tochter nicht mehr erkannt, für immer eingeschlafen. Drei Tage nach der Beerdigung hatte sich Nanny bei ihnen im Dünenhof beworben, und sie hatten sie sofort eingestellt. So waren sie auf ganz Föhr vermutlich das einzige Kinderhaus, in dem es Pastrami-Sandwiches für die Lütten gab. Eine fleischlastige Spezialität aus den New Yorker Delis, die sich bei den Kindern höchster Beliebtheit erfreute.
Um sie herum herrschte der übliche Trubel, den die Ankunft und Abfahrt der Fähre mit sich brachte. Liefer- und Lastwagen standen kreuz und quer, Taxis hupten, Touristen aller Altersklassen sorgten für die gewohnte Geräuschkulisse. Kinder plärrten, eine alte Frau hatte Mühe, ihren Rauhaardackel namens Alfred im Griff zu behalten, der Hund kläffte lautstark und zerrte an seiner Leine. Möwen und andere Seevögel flatterten über der Mole. Auf dem sich neben dem Anleger befindlichen Strand herrschte die der Jahreszeit entsprechende Betriebsamkeit. Sämtliche Strandkörbe waren belegt, Kinder bauten Strandburgen, Fähnchen und Wimpel flatterten im Wind, und ein Eisverkäufer bot lautstark seine süße Ware an. Die Fähre war bereits in Sichtweite. Das elegante Schiff mit dem friesischen Namen Rüm Hart, was so viel bedeutete wie reines, weites Herz, steuerte über das glitzernde Meer auf sie zu, und Erika wünschte sich in diesem Augenblick, es wäre bereits der nächste Tag. Denn dann würde sie erneut hier stehen und der Fähre dabei zusehen, wie sie sich der Insel näherte. Allerdings würde sie dann keine Kinder, sondern ihre geliebte und schmerzlich vermisste Schwester Greta in Empfang nehmen, die endgültig aus Berlin zu ihnen nach Föhr heimkehren würde. Heute Morgen hatten sie noch telefoniert, es war um Organisatorisches gegangen, denn Greta und ihr Ehemann Günter würden in der Gesellschaft von drei Kindern reisen, die sich ebenfalls die nächsten sechs Wochen in ihrem Dünenhof erholen sollten. Ach, es würde so wunderbar werden, die geliebte Schwester wieder täglich um sich zu haben. Greta würde jedoch nicht im Dünenhof mitarbeiten, wie sie es früher getan hatte. Sie war inzwischen eine richtige Kinderärztin und plante, in Nieblum eine eigene Praxis zu eröffnen, was auch Jonas entlasten würde. Die Räumlichkeiten dafür hatten sie bereits gemietet. Erika war so stolz darauf, dass ihre kleine Schwester, trotz aller Rückschläge des Lebens, es doch noch geschafft hatte, ihren Traum zu leben und Ärztin zu werden.
Und dann gab es da ja noch das große Geheimnis, das sie Greta noch nicht verraten hatte, weil sie es ihr unbedingt persönlich mitteilen wollte. Erikas Hand legte sich auf ihren gerundeten Bauch, und ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Inzwischen war sie im sechsten Monat und bereits äußerst rund, wie Nanny kürzlich angemerkt hatte. Als ihr der Arzt die Schwangerschaft bestätigt hatte, war ihre Freude gedämpft geblieben. Schließlich hatte sie in den letzten Jahren so viele kleine Wesen bereits während der ersten Schwangerschaftswochen verloren. Der Gedanke, dass dieses kleine Menschlein es schaffen würde, hatte sich zerbrechlich angefühlt. Doch mit jedem vergehenden Tag hatte sich der Glaube an ihr Wunder genährt. Ein Wunder, das ihr allerdings noch immer morgendliche Übelkeit bescherte und ihr kastanienbraunes Haar, sie trug es inzwischen der Mode entsprechend kinnlang, stumpf erscheinen ließ.
»Es muss ja nicht gleich wieder Schietwetter werden«, blieb Nanny noch immer bei dem Wetterthema und tupfte sich mit einem Tuch den Schweiß von der Stirn. »Büschen weniger schwül reicht vollkommen.«
»Also, ich möchte Ihnen ja nicht zu nahe treten«, mischte sich eine dickliche Frau in einem quietschgrünen Sommerkleid in ihr Gespräch ein, die in einem ähnlichen Alter wie Nanny zu sein schien und einen hochroten Kopf hatte. Der Schweiß lief in Strömen ihre Schläfen hinunter, und sie wedelte sich mit einem Prospekt Luft zu. »Aber ich denke, dass das Schwitzen nichts mit dem Wetter, sondern eher etwas mit unserem Alter zu tun hat. Wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Nanny sah die Frau, die Erika aufgrund ihres fränkischen Dialekts als Touristin einstufte, verdutzt an. Wie konnte diese vollkommen fremde Person auf offener Straße eine solch private Problematik ansprechen? Erika sah die steile Falte, die sich zwischen Nannys Augenbrauen bildete und die nichts Gutes verhieß. Gleich würde sie explodieren. Es war die Tochter der Frau, die die Situation zum Glück entschärfte.
»Mama, was redest du da nur«, ermahnte sie ihre Mutter sogleich. »Sie müssen meine Mutter entschuldigen«, wandte sie sich an Nanny. »Sie hat es arg mit dem Blutdruck. Komm. Lass uns ein Stück nach vorne laufen. Dann sind wir bestimmt schneller an Bord.« Ohne eine Antwort von Nanny oder Erika abzuwarten, zerrte sie ihre Mutter mit sich.
»In unserem Alter«, grummelte Nanny mit finsterer Miene. »So eine Frechheit. Die Frau war doch viel älter als ich. Mindestens zehn Jahre. Hast du die vielen Falten um ihre Augen und ihren Mund gesehen?«
Erika musste schmunzeln. Du liebe Güte. Eitel hatte sie ihre Nanny noch nie erlebt.
Die Schiffshupe der Fähre, die jetzt den Anleger erreichte, ertönte, gleich würden die Passagiere von Bord gehen. Erika und Nanny gingen näher heran und hielten nach ihren neuen Schützlingen Ausschau. Zum Glück kannten sie ihre Betreuerin, was das sich gegenseitige Finden erleichterte. So dauerte es nur wenige Minuten, bis Frau Klostermann, eine freundliche, fünfundsechzigjährige Frau mit grauem Haar und einem altmodischen Dutt, vor ihnen stand. Sie trug ein für den schönen Sommertag viel zu warmes dunkelblaues Kostüm. Im Schlepptau hatte sie die drei Kinder, die einen äußerst müden Eindruck machten. Das rote Haar des einen Mädchens war zu zwei Zöpfen geflochten, und ihr gesamtes Gesicht war von Sommersprossen übersät. Das zweite Mädchen war blond gelockt und mit seiner Stupsnase äußerst niedlich anzusehen. Das braune Haar des Jungen war kurz geschnitten, und er war für sein Alter sehr groß gewachsen. Erika hatte sich die Namen der Kinder gemerkt und begrüßte sie in einem lockeren und vertrauenerweckenden Tonfall.
»Da haben wir ja unsere drei Neuankömmlinge. Du musst Dieter Habermann sein«, sagte sie zu dem Jungen. »Nett, dich kennenzulernen.« Sie reichte ihm die Hand. Schüchtern dreinblickend ergriff er sie.
»Bei den beiden jungen Fräuleins bin ich mir nicht so sicher. Wer von euch beiden ist denn jetzt wer?«
Das blonde Mädchen meldete sich vorwitzig als Erste zu Wort.
»Also ich bin die Rosemarie Schüller«, sagte sie. »Die Fahrt mit dem Schiff war toll, und es hat gar nicht so schlimm geschaukelt, wie ich gedacht habe.«
»Heute ist ja auch ruhige See.« Erika zwinkerte ihr lächelnd zu. »Da habt ihr Glück gehabt.« Sie wandte sich dem anderen Mädchen zu. »Dann musst du Cordula Maler sein.«
Das rothaarige Mädchen nickte und murmelte ein kaum verständliches »Ja«. Sie sah aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen. Erika ahnte bereits, dass es mit ihrer Eingewöhnung im Dünenhof nicht leicht werden würde. Aber sie würden sie schon aufgeheitert bekommen.
Es folgte das übliche Prozedere. Erika und Nanny verabschiedeten sich von Frau Klostermann, die die Nacht in einer kleinen Pension in Wyk verbringen und früh am nächsten Morgen die Rückreise antreten würde. Mit ihren neuen Lütten im Schlepptau ging es zu ihrem unweit von der Mole geparkten Auto, einem grauen Peugeot Kombi, der durch seine Größe überzeugte. Rasch wurde das Gepäck im Kofferraum verstaut und die Kinder auf die Rückbank verfrachtet. Nanny klemmte sich hinters Steuer, und Erika, die auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte, hielt sich schon mal vorsichtshalber am Seitengriff fest. Hoffentlich würde Nanny sich im Hinblick darauf, dass sie Kinder an Bord hatten, zusammenreißen. Schnell war jedoch klar, dass sie daran gar nicht dachte. In flottem Tempo und ohne Rücksicht auf irgendwelche Fußgänger oder Radfahrer fuhren sie die Straße hinunter. Es ging am ehemaligen Königsgarten vorbei, hier hatten sich mit der Zeit immer mehr Handwerksbetriebe angesiedelt. Die hübsche Parkanlage von einst gehörte zum Bedauern vieler älterer Insulaner schon lange der Vergangenheit an. Schwungvoll bog Nanny in den Nieblumstieg ab und überholte ein behäbig fahrendes Pferdefuhrwerk so flott, dass die Kinder auf dem Rücksitz allesamt zur Seite plumpsten und aufschrien. Eine ältere Dame auf einem Fahrrad schaffte es gerade noch, ihnen Schlangenlinien fahrend auszuweichen. Erika hatte die Frau schon auf ihrer Motorhaube liegen sehen.
»Nanny, bitte. Nicht so schnell«, ermahnte Erika ihre Angestellte. »Wir wollen an einem Stück in Nieblum ankommen und niemanden verletzen.«
»Reg dich ab«, maulte Nanny. »Ist doch nix passiert. Immer diese lahmen Fuhrwerke auf dieser Insel. Verboten gehört so was. Verstopfen bloß die Straßen.« Sie gab wieder Gas, und Erika umklammerte ihren Seitengriff noch fester. Sie schwor sich, dass es dieses Mal das letzte Mal war, dass sie mit Nanny fuhr oder Kinder mit ihr fahren ließ. Es wurde endlich Zeit, dass sie den Führerschein machte. Am Ortseingang von Nieblum hupte Nanny kräftig, um eine Schar Gänse zu vertreiben, die über die Straße watschelte. Aufgeregt flatterten die Tiere zur Seite. Rasch bog Nanny in den Babendörpstieg ein und bremste vor ihrem Dünenhof so scharf, dass reichlich Staub aufwirbelte.
»Das hätten wir geschafft«, sagte sie freudig und stellte den Motor ab.
»Zum Glück«, seufzte Erika erleichtert und öffnete die Autotür. »Aussteigen, Kinder. Wir sind da.«
Sie wurden von ihrer Kinderpflegerin Anja Godbersen in Empfang genommen. Die Neunzehnjährige, aufgewachsen als Älteste von acht Geschwistern in Utersum, arbeitete bereits seit über einem Jahr für sie und war ein Segen für den Dünenhof. Erika hoffte darauf, dass ihnen das Mädchen mit dem dunkelbraunen Haar und den großen grauen Augen noch lange erhalten bleiben würde. Doch in diesem Alter konnte man nie wissen. Da wurden einem die jungen Frauen flotter weggeheiratet, als man bis drei zählen konnte. Einige ihrer anderen Schützlinge erschienen, um die Neuankömmlinge neugierig zu beäugen. Drei Mädchen und ein Junge traten näher, und eines der Mädchen, es war die kleine Susanne aus Nürnberg, fragte gleich nach den Namen der Neuen. Den Kindern folgte ihre zweite Betreuungskraft, die junge Marret. Das blonde Mädchen war fünfzehn Jahre alt, kam aus Toftum und absolvierte bei ihnen eine Ausbildung zur Kinderpflegerin. Sie wandte sich sogleich an Erika.
»Jonas hat gemeint, dass er etwas Dringendes mit dir besprechen möchte. Wir kümmern uns gern um die Lütten und zeigen ihnen alles.«
Erika sah Marret irritiert an. So etwas hatte Jonas ihr noch nie ausrichten lassen. Hoffentlich war nichts Schlimmes geschehen. Sie ging rasch ins Haus, durchquerte den schmalen Flur und lief die Treppe in den ersten Stock hinauf. In dem Büroraum, den sie keine Sekunde später betrat, war bis vor einigen Jahren noch der Schlafraum der Mädchen gewesen. Mitte der Fünfzigerjahre hatte ihr Kinderhaus einen weiteren Umbau erfahren und war um einen komplett neuen Anbau erweitert worden. In diesem befanden sich nun sämtliche Bereiche für ihre Gastkinder. Ein großer Essens- und Aufenthaltsraum, darüber lagen die Schlafräume, auch neue Waschräume waren vorhanden. Der Anbau war ein Segen, trennte er ihren privaten Wohnbereich im alten Friesenhaus doch etwas mehr von dem der Kinder ab. Obwohl sich ihre Lütten auch heute noch gerne in der alten Stube mit den blau-weißen Holländerkacheln an den Wänden aufhielten. Abends lasen sie dort immer noch die Geschichte zum Einschlafen vor, wie gewohnt bevorzugte Erika Hans-Christian Andersens Märchen. Erst neulich war sie mal wieder vor der in der Stube hängenden Schwarz-Weiß-Fotografie stehen geblieben, die ihren Dünenhof so zeigte, wie er früher einmal gewesen war. Als ihre geliebte und täglich von ihr vermisste Großmutter Anni das Kinderhaus zum Leben erweckt hatte. Damals war das Haus noch ein richtiger alter Kapitänshof gewesen. Geerbt hatte ihn Anni von ihrem Großvater, dem alten Rauert Nissen, einst ein stolzer Seemann, wie so viele Insulaner in jenen längst vergangenen Zeiten. Seefahrer gab es in Nieblum heute keine mehr, und auch der alte Friesenhof hatte sein Gesicht verändert. Ob er Anni heute gefallen würde? Oder ihrem Ururgroßvater? Letzterem vermutlich weniger.
»Moin, Jonas«, begrüßte Erika ihren Ehemann, der an seinem Schreibtisch saß, das aufgeschlagene Abrechnungsbuch vor sich liegend. »Anja hat gesagt, es gäbe etwas Wichtiges zu besprechen? Ich hoffe, es ist nichts Schlimmes. Die Lütten sind doch alle wohlauf, oder? Wie steht es denn um den kleinen Fiete?« Sie sank auf ihren Schreibtischstuhl und rang nach Atem. Das schnelle Die-Treppe-Hinauflaufen hatte sie angestrengt. Ihr Büro hatten sie zweckmäßig eingerichtet. Ihre beiden sich gegenüberstehenden Schreibtische aus Buchenholz waren schlicht und schnörkellos. Es gab mehrere Aktenschränke und einen in einer Ecke stehenden Freischwinger, der für Besucher gedacht war. Bilder, die Inselansichten zeigten, hingen an den weiß gestrichenen Wänden, für einen gewissen Charme sorgten die frei liegenden alten Deckenbalken.
»Ja, das sind sie, und Fiete auch. Er hat gut auf das Antiallergikum angesprochen und rasch wieder besser Luft bekommen«, erwiderte er. »Ich wollte mit der Bitte um ein Gespräch keine Panik verbreiten, Liebes. Komm erst einmal zu Atem.«
Er streckte die Hand aus. Erika folgte seiner Aufforderung und reichte ihm die ihre. Ihre Blicke trafen sich, und sie verspürte in diesem Augenblick das warme Gefühl von Zuneigung, das auch nach den vielen gemeinsam verbrachten Ehejahren noch für ein Kribbeln in ihrem Bauch sorgte. Sie waren älter geworden, um Jonas’ braune Augen hatten sich einige Falten gelegt, sein kastanienbraunes, noch immer volles Haar durchzogen erste silberne Strähnen.
»Ich wollte dir nur möglichst schnell mitteilen, dass wir uns ein neues Hausmädchen suchen müssen. Bettina hat sich gegenüber einem der Kinder unmöglich verhalten.«
»Verstehe«, antwortete Erika. »Ich nehme an, es ging um Thomas. Er hat wieder ins Bett gemacht und versucht, es zu verheimlichen, oder?«
»Ja, hat er. Zum dritten Mal in dieser Woche. Ich weiß, das Bett mehrfach neu zu beziehen, bedeutet zusätzliche Arbeit, aber ein solches Verhalten kann ich nicht dulden. Sie hat Thomas fest am Arm gegriffen und ihm gedroht, wenn er sich noch einmal einnässt, würde sie ihm den Hintern versohlen.«
Erika sog scharf die Luft ein.
»Nur durch Zufall habe ich die Episode vorhin mitbekommen, und ich bin natürlich sofort eingeschritten. Ich habe Bettina nahegelegt, sich zukünftig eine Anstellung zu suchen, die nichts mit Kindern zu tun hat.«
»Vielleicht in einer Großküche der Hotels«, kommentierte Erika. »Da kann sie ihre schlechte Laune an Gurken auslassen. Ich hätte es gleich wissen und mich von ihrer Tante nicht weichklopfen lassen sollen, sie einzustellen. Meta hat mich davor gewarnt, die Deern zu beschäftigen. Mit ihr scheint es allgemein schwierig zu sein. Und was nun? Mitten während der Saison eine Nachfolgerin zu finden, wird nicht leicht werden.« Sie stieß einen Seufzer aus.
»Wir finden bestimmt eine rasche Lösung für das Problem.« Jonas griff zum Telefonhörer. »Ich ruf gleich bei Holms an und frage, ob sie einen Aushang für uns machen können. Beim letzten Mal hat sich über diesen Weg erstaunlich schnell jemand gemeldet.«
Noch ehe er die Nummer des Lebensmittelladens wählen konnte, hielt Erika ihn zurück.
»Lass gut sein. Ich wollte Greta sowieso noch ihre Lieblingslakritze holen. Da kann ich auch gleich ein Stellengesuch aushängen.« Sie nahm Zettel und Stift zur Hand und begann, flott ein Stellengesuch zu verfassen.
Eine Weile darauf lief Erika den Babendörpstieg hinunter. Vorbei an den zum Teil jahrhundertealten Friesenhäusern, die sie an diesem sonnigen Nachmittag mal wieder mit ihren Gärten verzauberten. Besonders die Rosen blühten in den Beeten und an Spalieren üppig in strahlenden Farben. Das beständige Sommerwetter kam ihnen entgegen. Ihr süßer Duft hing schwer in der, das musste Erika zugeben, doch recht schwülen Luft. Am Himmel hatten sich bereits einige mächtige Quellwolken gebildet. Vielleicht gab es heute ja doch das von Nanny herbeigesehnte Gewitter. Erika lief den Kapitän-Paulsen-Weg hinunter und erreichte wenig später die Jens-Jacob-Eschel-Straße, auf der der für diese Jahreszeit übliche touristische Trubel herrschte. Vor der Eisdiele von Julius und Ida Hansen hatte sich mal wieder eine lange Schlange gebildet. Wer hier wartete, musste Geduld mitbringen. Erikas Ziel, der Kolonialwarenladen der Familie Holm, lag ebenfalls in der Jens-Jacob-Eschel-Straße, in einem alten, aus dem 17. Jahrhundert stammenden Reetdachhaus. An der Kasse saß Elena Holm, was Erika erleichterte, denn mit ihr kam sie wesentlich besser zurecht als mit ihrer Mutter Christa. Diese war seit einigen Jahren verwitwet und arbeitete nur noch selten im Laden mit.
»Moin, Erika. Schön, dich zu sehen. Wirst ja immer runder. Dieses Mal scheint endlich alles glattzulaufen. Das freut mich für euch.« Ihr Blick blieb an Erikas Körpermitte hängen. »Ach, ich wünschte, bei mir wäre es auch schon so weit. Aber dafür fehlt mir bedauerlicherweise noch immer der richtige Mann. Du kennst nicht zufällig einen patenten Kandidaten, der auch meiner Mutter gefallen könnte?«
»Leider nein«, entgegnete Erika schmunzelnd. Ein Mann, der Elenas Ansprüchen gerecht wurde und dann auch noch Christa gefiel, musste vermutlich vom lieben Gott persönlich geschaffen und auf die Insel gesandt werden. Doch bekanntlich sollte man bei der Liebe die Hoffnung niemals aufgeben, manchmal kam sie unverhofft. »Aber vielleicht triffst du am Freitagabend beim Tanz bei Witt einen passenden Mann.«
»Ach, da laufen doch auch immer dieselben Gesichter rum.« Elena winkte ab.
»Wie viel kosten denn die Tomaten?«, wurde der Klönschnack der beiden von einer Kundin mittleren Alters unterbrochen, die beide nicht kannten, also wurde sie unter Touristin verbucht.
Elena beantwortete die Frage auf ihre übliche pragmatische Art und plärrte den Preis durch den Laden. Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder Erika zu.
»Kommt morgen nicht Greta heim? Dann willst du bestimmt ihre Lieblingslakritze kaufen, oder?«
»Erraten.« Die Erkundigung nach Greta zauberte Erika sogleich ein Lächeln auf die Lippen. »Ich freu mich so sehr auf sie. Und dieses Mal wird sie auch nicht mehr fortgehen. Ach, es ist so großartig.«
»Ja, das ist es«, meinte Elena. »Wenn ihr Zeit findet, könnt ihr die Tage abends mal zum Aufsitzen bei mir vorbeikommen. Mittwochs geht Mama immer zu Jenny Ingwersen. Da haben wir unsere Ruhe. Ich frag auch Meta, ob sie Zeit hat. Ach, das wird wunderbar!« Elena klatschte freudig in die Hände.
»Das machen wir«, freute sich auch Erika. »Dann können wir endlich mal wieder ausgiebig schnacken und vielleicht auch Karten spielen. Mal sehen, ob Greta noch anständig zocken kann. Am Ende hat sie es in Berlin verlernt.«
»Was unser Glück wäre«, erwiderte Elena und zwinkerte Erika zu.
Die Kundin mit den Tomaten trat an die Kasse, und Elena musste sich kümmern. Erika holte rasch die Lakritze und vergaß nicht, ihr Stellengesuch an dem Aushang neben der Tür anzubringen. Bedauerlicherweise konnte sie Elena jetzt nicht mehr fragen, ob sie zufällig jemanden kannte, der an der Stellung eines Hausmädchens interessiert war, denn sie war mit einem weiteren Kunden in den hinteren Teil des Ladens verschwunden.
Erika beschloss, nicht auf ihre Rückkehr zu warten, trug ihren Namen und den Betrag für die Lakritze in das neben der Kasse liegende Anschreibebuch für Stammkunden ein und verließ das Geschäft.
Im hellen Sonnenschein schlug sie beschwingt den Heimweg ein. Sie war gerade erst in den Babendörpstieg eingebogen, da hörte sie, wie jemand ihren Namen rief. Erika blieb stehen und drehte sich um. Es war Namine Johnen, die winkend angelaufen kam und vollkommen außer Puste vor ihr stehen blieb.
»Moin, Erika. Das ist aber gut, dass ich dich treffe. Ich hab von der Merle gehört, dass ihr ein neues Hausmädchen sucht. Das wäre was für meine Jule. Sie kann gut mit Kindern, und in dem Hotel Meerblick in Wyk hat sie doch dieser schmierige Hausvorsteher begrapscht, weswegen sie da nicht mehr hingehen möchte. Sie kann sofort anfangen.«
Wofür hänge ich eigentlich einen Zettel auf, fragte sich Erika in diesem Moment. So war Nieblum, ein kleiner Ort, jeder kannte jeden, Neuigkeiten sprachen sich oftmals schnell herum, was nicht immer gut, ihr jetzt jedoch zuträglich war. Hier war es anders als in Berlin, dieser riesengroßen Stadt, die Greta oftmals die Luft zum Atmen raubte, wie sie ihr erst neulich wieder am Telefon geklagt hatte. Bald würde sie wieder freier atmen können. Die beste Luft der Welt, die nach Salz schmeckte. Morgen schon. Erika konnte das Wiedersehen kaum erwarten.
Greta spürte den langen Tag in den Knochen, doch diesen einen Besuch wollte sie noch machen, bevor sie zum letzten Mal die Kinderklinik der Charité verlassen und sich mit der U-Bahn auf den Heimweg begeben würde. Ihr Dienst war eigentlich längst zu Ende, doch von dieser kleinen Patientin konnte sie sich kaum losreißen. Sie saß am Bett der siebenjährigen Lore und betrachtete ihr blasses Gesicht. In der Brust der Kleinen rasselte es bei jedem Atemzug, und Greta war das Herz schwer. Sie freute sich auf ihre Heimkehr nach Föhr, doch ihre kleinen Patienten im Stich zu lassen, fiel ihr nicht leicht. Das Mädchen mit dem kurz geschnittenen braunen Haar war vor drei Tagen mit einer Lungenentzündung eingeliefert worden. Greta hatte Lore aufgenommen, die besorgte Mutter beruhigt und dem Mädchen versprochen, dass es bald wieder besser Luft bekommen würde. Lore hatte ihre Puppe fest im Arm gehalten, auch sie hatte Greta abgehört, um der Kleinen die Angst zu nehmen. Ob sie dem Mädchen wirklich würden helfen können, stand jedoch noch in den Sternen. Sie sprach auf das verordnete Antibiotikum nur schlecht an, es müsste ihr längst besser gehen. Eben hatte sie in ihrer Krankenakte vermerkt, dass ein Wechsel der Medikation notwendig sein würde. Darum musste sich nun ihr Kollege, Doktor Schiller, kümmern. Ein junger Arzt, hektisch, ehrgeizig, mit wenig Sinn für die Kleinen. Daran habe er zu arbeiten, so hatte es ihm der Leiter der Station, Doktor Habermann, gesagt. Habermann, der kinderliebste Arzt, dem Greta jemals begegnet war. Eine Seele von Mensch, die Schiller am liebsten gar nicht erst eingestellt hätte, wie er ihr im Vertrauen mitgeteilt hatte. Es war ihm jedoch nichts anderes übrig geblieben, denn es herrschte großer Ärztemangel an der Charité. Die guten Ärzte wanderten in den goldenen Westen ab, wie so viele Bewohner Ostberlins in diesen Zeiten. Auch Greta zählte zu denjenigen, die Ostberlin den Rücken kehrten. Obwohl es bei ihr nicht die Hoffnung auf ein besseres Leben im Westen, sondern das Heimweh war, weshalb sie Ostberlin und die Charité verließ. Allerdings musste sie zugeben, dass sie für den Sozialismus noch nie viel übriggehabt hatte, und die sich immer mehr verstärkende Mangelwirtschaft tat ihr Übriges dazu, ihr den Abschied leichter zu machen. Wenn da nur nicht die Kinder wären …
»Sie sind ja noch hier«, drang eine vertraute Stimme an Gretas Ohr, und sie wandte sich um. Eine der Krankenschwestern, ihr Name war Hilde, stand vor ihr. Sie kannten einander gut. Hilde, sie hatte vor wenigen Wochen ihren vierzigsten Geburtstag gefeiert, arbeitete bereits seit zwanzig Jahren an der Charité und hatte ihr in ihren Anfangsjahren mit dem einen oder anderen Tipp zu den Abläufen gute Dienste erwiesen. »Sollten Sie nicht längst zu Hause sein und Koffer packen? Morgen geht es doch auf in die Heimat. Wo war das gleich noch?«
»Nach Föhr«, antwortete Greta. »Das ist eine Insel in der Nordsee. Ich weiß, ich sollte längst fort sein, aber ich wollte noch einmal nach Lore sehen.« Ihr Blick wanderte zurück zu dem Mädchen.
»Ja, die kleine Maus ist aktuell eines unserer Sorgenkinder«, meinte Hilde.
»Bedauerlicherweise.« Greta stieß einen Seufzer aus. »Das Antibiotikum schlägt leider nicht wie erhofft an. Ich wünschte, ich könnte mehr tun, aber der Medikamentenwechsel sollte mit Habermann besprochen werden. Er wird gewiss einen Lungenfacharzt hinzuziehen wollen. Mir fällt der Abschied von meinen Patienten schwerer, als ich dachte.«
»Das kann ich mir vorstellen«, sagte Hilde. »Ihnen merkt man jeden Tag an, wie sehr Ihnen die Kleinen am Herzen liegen. Darin ähneln Sie unserer Frau Doktor Rapoport, die sich ja sehr für das Wohl der kleinen Patienten einsetzt. Die gesamte Schwesternschaft wird Sie vermissen. Sie sind eine von den wenigen Ärzten, die sich uns gegenüber nicht überheblich verhalten.«
»Wieso sollte ich das auch?«, fragte Greta. »Wir sitzen doch alle im selben Boot und wollen nur das Beste für unsere Schützlinge. Außerdem weiß ich als ehemalige Krankenschwester nur zu gut, wie es sich anfühlt, von einem Arzt herablassend behandelt zu werden.«
»Daran wird es wohl liegen«, meinte Hilde.
Eine der Schwesternschülerinnen betrat den Raum und bat Hilde, mit ihr zu kommen. Es ging um die Aufnahme eines Neuzugangs. So etwas kam in einem solch großen Krankenhaus wie der Charité auch mal zu dieser frühen Stunde vor. Die beiden verließen den Raum, und Greta blieb noch einen Moment neben Lores Bett stehen. Lange würde es jetzt nicht mehr dauern, und die Frühschicht würde die Nachtschicht ablösen. Greta war dann schon fort, vielleicht noch ein wenig ruhen, Kaffee zur Belebung der Sinne trinken, eine Marmeladenschrippe essen, die Morgennachrichten im Radio hören und endlich den Koffer fertig packen.
»Ich hoffe, es klappt, und du wirst wieder ganz gesund werden, Liebes«, sagte sie und berührte kurz die kleine Hand des Mädchens. »Ich muss jetzt gehen, weißt du? Endlich nach Hause, denn es gibt noch einiges zu tun. Mein Ehemann, sein Name ist Günter, wartet bestimmt schon ungeduldig auf mich, vielleicht wird er auch ein bisschen mit mir schimpfen, denn ich wollte längst bei ihm sein. Wir fahren nach Föhr. Da komme ich her. Das ist eine Insel in der Nordsee. Da gibt so viel wunderbar salzige Luft. Sie würde dir guttun.« Kaum hatte sie den letzten Satz ausgesprochen, kam ihr eine Idee. Sie nahm die Krankenakte erneut zur Hand und fügte eine Notiz hinzu.
Nach der Genesung empfehle ich eine Erholungskur auf der Insel Föhr, wenn möglich im Kinderhaus Dünenhof.
Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, während sie die Akte zurück in das Fach am Ende des Bettes legte. Ein wenig kam ihr dieser Vermerk wie ein Lausbubenstreich vor. Aber vielleicht klappte es ja. Es wäre zu schön, dabei zuzusehen, wie die kleine Lore in ihrem Dünenhof wieder zu Kräften kommen würde.
»Wir sehen uns wieder«, sagte sie, drückte noch einmal die Hand des Mädchens und verließ endgültig den Raum.
Im Treppenhaus, das sie nur wenig später betrat, liefen zwei Schwestern aufgeregt redend an ihr vorüber. Greta schnappte einige Brocken des Gesprächs auf.
»Wenn ich es dir doch sage. Überall sind Grenzpolizisten mit Stacheldraht. Die beginnen, die Grenze zuzumachen«, hörte Greta eine von ihnen sagen. »Wir sollten zusehen, dass wir nach Hause kommen. Ich muss Inge suchen. Sie wohnt doch im Westen.« Die Tür zur Station schlug hinter den beiden zu. Sogleich beschleunigte sich Gretas Herzschlag. Das konnte doch nicht sein! Sie wollten heute Vormittag nach Westberlin. Am Bahnhof Zoo sollte es um zehn Uhr gemeinsam mit drei Kindern nach Föhr gehen. Alles war geplant, die Zugfahrkarten lagen schon bereit. Sie verließ schnellen Schrittes die Kinderklinik. Auf der Straße herrschte helle Aufregung. Lastwagen der Grenzpolizei und der Betriebskampfgruppen fuhren über das Gelände, Stacheldraht wurde abgeladen. Keine hundert Meter von der Kinderklinik entfernt lag die Grenze. Fassungslos beobachtete Greta die Geschehnisse.
»Es stimmt also. Sie riegeln die Grenze ab. Aber das kann doch gar nicht sein. Ulbricht hat es gesagt. Er hat gesagt, niemand plant, eine Mauer zu errichten«, kommentierte Greta die Vorgänge laut.
»Jetzt wohl doch«, warf eine rau klingende Frauenstimme ein. Sie wandte sich um. Uschi Klinger, eine hagere Frau in den Vierzigern, mit kurz geschnittenen braunen Haaren, stand vor ihr. Sie arbeitete am Empfang der Kinderklinik, in der Hand hielt sie eine Kippe. »Det war es dann mit dem Westen für uns. Einsperren tun sie uns hier drüben, damit wir ihnen nicht alle davonlaufen. Det ham se jetzt alle davon. Glauben, da drüben jibt et goldene Löffel. Aber die jibt et nirgendwo. Lass dir det jesacht sein, Kindchen.« Ihr Tonfall klang höhnisch, sie zog an ihrer Zigarette und blies den Rauch in die Luft.
»Ich will gar keine goldenen Löffel«, meinte Greta. »Ich will nur nach Hause. Heim, nach Föhr.«
»Also wenn det im Westen liegt, dann könnt det jetzt schwierig werden.« Uschi deutete auf die Grenzpolizisten.
Greta erwiderte nichts. Ihre Panik verstärkte sich, und in ihren Ohren begann es zu rauschen. Sie musste hier weg. Zu Günter. Sie setzte sich in Bewegung. Ihre Schritte wurden immer schneller, auf den zur U-Bahn hinabführenden Stufen wäre sie beinahe gestolpert. Sie war nicht die Einzige, die sie hinabhetzte. Es herrschte Hektik.
»Beeilung«, rief eine Frau. »Lasst mich durch.« Grob schubste sie einen älteren Mann zur Seite.
»Jetzt schaffen wir es bestimmt noch über die Grenze«, hörte sie einen jungen Mann sagen, der an seiner Kleidung als Krankenwagenfahrer zu erkennen war.
Die Fahrt mit der U-Bahn schien sich endlos zu ziehen. Greta stand im Mittelgang und hielt sich an einer Halteschlaufe fest. Es stank nach Schweiß, Zigarettenrauch schwängerte die Luft. Um sie herum wurden Gespräche geführt.
»Ich hätte auf meine Tante Inge hören sollen. Sie hat vor einigen Tagen schon gemunkelt, dass da was im Busch ist«, sagte eine neben Greta stehende junge Frau mit schwarzem Haar und blasser Haut, in ihrer Stimme schwang Verzweiflung mit. »Heinz ist doch drüben. Wir wollten nächste Woche heiraten.«
»Wieso sind denn alle so aufgeregt?«, fragte eine Frau mittleren Alters. »Voll ist det hier heute. Ja sind denn alle verrückt geworden?«
»Die bauen jetzt doch die Mauer«, beantwortete ein junger, schlaksiger Bursche ihre Fragen, warf seine Kippe auf den Boden und trat sie aus. »Einsperren woll’n die uns jetzt. Damit wir ihnen nicht mehr fortlaufen können.«
Als sie endlich die Haltestelle Rosenthaler Platz erreichten, zerrte Greta ungeduldig an dem Öffnungsbügel der Tür. Eilig rannte sie die Stufen nach oben. Auf den Straßen fuhren auch hier Wagen der Grenzpolizei und der Betriebskampftruppen. Sie steuerten Richtung Bernauer Straße, dort lag die Grenze. Vor ihr befand sich die vertraute Heinrich-Heine-Buchhandlung. Der Laden, den Günter so sehr liebte und in dem er mit den Jahren Stammkunde geworden war. Er verstand sich mit dem Inhaber, Willi Mitschke, so gut, dass er sich auch schon mal ein Buch für einige Tage ausleihen durfte. Genau darüber, im ersten Stock, lag ihre Wohnung, zwei Zimmer, Küche, Bad. Das Schlafzimmer lag nach hinten raus, da hörten sie die Autos nicht. Greta hatte die Wohnung nie gemocht, die Aussicht auf die Straße, in den düsteren Hinterhof, in dem es weder einen Baum noch einen Strauch gab. Doch Günter hatte praktisch gedacht. Die U-Bahn direkt vor der Tür kam ihnen zupass, die Miete war günstig. Sie hatte sich arrangiert, glücklich war sie hier nie geworden. Nun war es Zeit zu gehen. Doch würde das jetzt noch funktionieren? Sie sah Günter am Fenster. Wie lange er wohl schon nach ihr Ausschau hielt? Ihre Hände zitterten so sehr, sie benötigte mehrere Anläufe, um den Schlüssel ins Schloss zu bekommen. Endlich gelang es ihr, und die Tür öffnete sich knarrend. Sie drückte auf den Lichtschalter, und das alte Treppenhaus lag in dem gelblichen Licht der Deckenlampen vor ihr, die immer etwas surrten. Vor dem Eingang zur Buchhandlung stapelten sich einige leere Kartons, es roch nach gebratenen Zwiebeln und Zigarettenrauch, vermischt mit Bohnerwachs. Die alten Holztüren waren irgendwann einmal weinrot gestrichen worden, von einigen blätterte der Lack inzwischen ab, die Wände waren grau. Dieses alte Stadthaus verbreitete auf seine ganz eigene Art das Flair eines vergangenen Jahrhunderts. Als Berlin noch eine Kaiserstadt gewesen war, als ihre Großmutter Anni noch hier gelebt und gearbeitet und niemand daran gedacht hatte, dass diese Stadt einmal durch eine Grenze geteilt sein würde. Ihre Wohnungstür öffnete sich bereits, als sie den Treppenabsatz erreichte. Günter trat in den Flur. Er trug seinen beigen Mantel, seine Schuhe, die sie erst neulich beim Schuster an der Ecke neu besohlen hatte lassen. Seine Miene war ernst, auf seiner Nase saß die Brille, die er seit einigen Monaten zum Lesen brauchte. Sein rotbraunes Haar war lichter, er war gedrungener geworden, und Falten hatten sich um seine Augen und auf seine Stirn gelegt. Trotzdem war er noch attraktiv, jedenfalls für Greta. Sie liebte seine grünen Augen, das hatte sie von der ersten Sekunde an getan. Damals, als sie sich auf Föhr begegnet waren. Als sie noch darauf gehofft hatte, ihr Ehemann würde aus dem Osten heimkehren, was es ihr verboten hatte, an eine neue Liebe zu glauben. Er war nicht heimgekehrt und zu einer der verlorenen Seelen geworden, die nicht einmal ein Grab in der Heimat hatten. So viele Jahre, ein gefühltes Leben lag diese Zeit nun zurück. Doch wenn sie wieder auf Föhr sein würden, könnten sie vielleicht wieder etwas von ihrer ersten Verliebtheit finden, von diesem wunderbaren und verheißungsvollen Kribbeln, das eine neue Liebe mit sich brachte und das sie, so kam es Greta jedenfalls vor, im Alltag verloren hatten.
»Da bist du ja endlich«, sagte Günter ohne Gruß. »Ich habe bereits mehrfach im Krankenhaus angerufen, aber entweder ging niemand ran, oder es hieß, du wärst nicht greifbar. Wir müssen hier sofort weg. Sie schließen die Grenze. Wenn wir uns beeilen, schaffen wir es noch, uns in den Westen durchzuschlagen. Einmal wäre es gut gewesen, wenn du pünktlich heimgekommen wärst.« Seine Stimme klang vorwurfsvoll. Greta lief die letzten Stufen hinauf. In ihr keimte das Gefühl von Wut auf. Wieder einmal stellte er sie als die Böse hin, als die Unzuverlässige, diejenige von ihnen, die wenig von Pünktlichkeit hielt. Aber er hatte doch keine Ahnung. Sie war eben keine Lehrerin, tat keinen Dienst nach Vorschrift, ihre Patienten waren keine Schüler, denen sie nur Lesen und Schreiben von acht bis eins beibringen musste. Er würde es nie verstehen. Und derweil war er derjenige gewesen, der sie dazu ermutigt hatte, ihrem Traum zu folgen und Ärztin zu werden. Sie schluckte ihren Groll hinunter. Jetzt war nicht der Zeitpunkt für einen Streit. Es galt zuzusehen, dass sie weiterkamen. Sie betrat die Wohnung. Er folgte ihr. Im Flur standen zwei abgewetzte Koffer. Die kleineren, wie Greta auffiel.
»Ich hab das Notwendigste für dich eingepackt«, glaubte er sein Tun rechtfertigen zu müssen. »Es ist besser, wenn wir jetzt mit weniger Gepäck reisen. Frau Tienemann kann uns die anderen Sachen nachsenden.«
Greta nickte. Sie fühlte sich mit einem Mal entsetzlich hilflos und wie erschlagen. Ihr Blick fiel in den Flurspiegel. Dunkle Ringe lagen unter ihren Augen, ihr rotblondes, kurz geschnittenes Haar erschien struppig. Eben noch war alles gut gewesen, und sie hatte sich auf ihre Heimkehr nach Föhr gefreut, ihr Eintrag in die Akte der kleinen Lore kam ihr jetzt furchtbar unsinnig vor. Sie starrte die Koffer an, sie standen neben der Kommode. Die Küchentür stand auf. Alles war aufgeräumt, auf dem Tisch lag noch die Plastiktischdecke mit den Zitronen darauf. Am Fenster hingen Spitzengardinen, ihre Geranien auf der Fensterbank waren verblüht. Heike Tienemann wollte sich kümmern, ihre Vermieterin, wohnhaft zwei Stockwerke über ihnen, ein bisschen geschwätzig, eine richtige Berliner Schnauze, Sozialistin durch und durch. Greta war nie mit ihr warm geworden, Günter hingegen schon.
»Wo wollen wir hin?«
»Wir versuchen es einfach irgendwo zu Fuß. Die Grenze ist ja nicht weit. Wir sind früh dran, wenn wir Glück haben, ist noch nicht alles überwacht.«
Nun kam doch noch eine zärtliche Geste von ihm. Er legte ihr die Hand auf den Arm und sah sie mit festem Blick an.
»Wir schaffen das. Noch ist nichts verloren. Wenn wir erst einmal im Westen sind, läuft alles wie geplant. Dann werden wir um zehn Uhr gemeinsam mit den Kindern den Bahnhof Zoo verlassen, und heute Abend wirst du deine Schwester in die Arme schließen. Einen anderen Gedanken wollen wir nicht zulassen.«
Greta nickte und schluckte, in ihrem Hals hatte sich ein dicker Kloß gebildet, und sie blinzelte die aufsteigenden Tränen fort. »Ja, an etwas anderes sollten wir nicht denken. Komm. Lass uns keine wertvolle Zeit verschwenden.«
Sie verließen die Wohnung, blieben jedoch schon auf dem Gehweg ratlos stehen. Auf der Straße fuhren noch immer Wagen der Grenzpolizei. Viele Fenster waren jetzt hell erleuchtet, einige waren geöffnet, und die Anwohner beobachteten neugierig das Treiben. Der neue Tag begann, es wurde hell, der Himmel war wolkenlos.
»Wohin jetzt?«, fragte Greta und sah sich hilflos um.
»Die Wagen fahren alle Richtung Bernauer Straße. Also sollten wir dort nicht hin«, antwortete Günter. »Lass es uns lieber anderswo versuchen. Hinter dem Stettiner Bahnhof könnte es noch gehen, wir müssen es nur bis in den Wedding schaffen. Dann ist alles gut.«
Er nahm sie bei der Hand, und sie liefen los. Vorbei an Häuserzügen und geschlossenen Läden, verbliebenen Trümmergrundstücken. Ruinen gab es noch genug in dieser geteilten Stadt. Als sie am Stettiner Bahnhof eintrafen, mussten sie feststellen, dass sie nicht die Einzigen waren, die an dieser Stelle in den Westen wollten. Die Grenzpolizei war schon da und sperrte die Chausseestraße ab. Als eine Frau mit einem kleinen Kind an der Hand sich den Männern näherte, wurde sie harsch zurückgewiesen. Stacheldraht wurde von Lastwagen abgeladen und ausgerollt. Immer mehr Menschen kamen, auch auf der anderen Seite, Westberliner, Ostberliner, sie standen einander nur wenige Meter gegenüber. Kinder weinten, eine alte Frau drehte sich um und ging, eine wegwerfende Handbewegung machend, fort. Greta fühlte sich wie gelähmt. Sie starrte die meist jungen Grenzpolizisten an. Wollten sie das wirklich? Die Menschen ihrer Heimatstadt trennen? Würden sie tatsächlich schießen, so wie sie eben einem Mann mittleren Alters angedroht hatten?
Zu Gretas Hilflosigkeit gesellte sich erneut Angst, und sie tat einen Schritt rückwärts. Die Geschehnisse vor ihren Augen kamen ihr so surreal vor, und immer wieder schwirrten ihr die Worte von Walter Ulbricht durch den Kopf: »Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.« Er hatte gelogen, verdammt noch mal! Dieser Mistkerl hatte sie angelogen. In ihren Ohren begann es erneut zu rauschen. Günter nahm ihre Hand und zerrte sie mit sich.
»Hier kommen wir nicht weiter«, drang seine Stimme wie von fern zu ihr durch. »Lass es uns woanders versuchen. Wir finden einen Weg. Versprochen!«
Bedauerlicherweise kann ich dir nicht sagen, wann genau Greta auf der Insel eintreffen wird«, sagte Erika, und in ihrer Stimme schwang ein trauriger Unterton mit. »Sie hat mir heute Morgen am Telefon gesagt, dass sie sämtliche Hebel in Bewegung setzen werden, um irgendwie in den Westen zu gelangen. Es wird bestimmt jeden Tag so weit sein.«
»Ich weiß nicht recht«, antwortete Esther Eschels. »Heute Morgen in den Nachrichten habe ich anderes gehört. Da wurde gemeldet, dass die Mauer wohl immer weiter befestigt wird. Sie sollen sogar einen Mann bei dem Versuch, nach Westberlin zu gelangen, erschossen haben. Da denkst du wirklich, dass deine Schwester und ihr Mann es so flott rausschaffen werden?«
»Sie sind in Berlin. Sie werden es besser wissen als dieser Radiosprecher«, entgegnete Erika schnippischer, als sie gewollt hatte. Sogleich entschuldigte sie sich für ihren harschen Tonfall. »Es tut mir leid, Esther, ich wollte nicht unhöflich sein. Ich hatte mich so auf Gretas Heimkehr gefreut, und jetzt passiert so etwas.« Sie sank auf einen Stuhl, und in ihren Augen schwammen nun Tränen.
Die beiden befanden sich in der ehemaligen Scheune von Esther Eschels Haus in der Kertelheinallee. Esther und ihr Mann hatten die alte Scheune vor einigen Jahren ausgebaut und Ferienwohnungen angeboten. Doch die inzwischen verwitwete Esther, sie feierte im nächsten Jahr ihren siebzigsten Geburtstag, hatte keine Lust mehr, Feriengäste zu beherbergen, denn die damit verbundene Arbeit war ihr zu viel geworden. Deshalb wollte sie die Wohnung lieber dauerhaft vermieten. Gretas Idee, in den Räumlichkeiten eine Kinderarztpraxis zu eröffnen, hatte ihr auf Anhieb gefallen. Die Aufteilung passte perfekt für Gretas Vorhaben. Wartezimmer, Vorzimmer und Behandlungsraum, passender konnte die Wohnung gar nicht geschnitten sein. Alles war fest ausgemacht. Bereits am 1. September hatte Greta mit der Einrichtung der Praxis beginnen wollen. Doch nun hingen sie in der Luft.
»Ach, min Deern«, beschwichtigte Esther, und ihr Blick wurde milder. »So hab ich das gar nicht gemeint. Greta wird bestimmt bald einen Weg finden, in den Westen zu kommen. Davon bin ich überzeugt. Sie ist doch eine patente Frau, eine richtige Frau Doktor. Daran hat von uns ja auch keiner mehr geglaubt, dass sie das wird, und trotzdem hat sie es geschafft. Da wird sie sich von so einer dösbaddeligen Mauer bestimmt nicht unterkriegen lassen.«
Erika nickte. Tränen kullerten jetzt ihre Wangen hinunter, und sie wischte sie mit den Händen ab. Das Kindchen in ihrem Inneren schien ihre Aufgebrachtheit nicht zu mögen, war unruhig und versetzte ihr einen recht kräftigen Tritt in die Rippen, der sie zusammenzucken ließ. Sie holte ein Taschentuch aus ihrer Jackentasche und putzte sich die Nase.
»Also, ich war während meiner fünf Schwangerschaften auch immer nah am Wasser gebaut«, konstatierte Esther mit einem mitleidigen Blick. »Mit den Hormonen ist es keine so leichte Sache. Jetzt warten wir die nächsten Tage ab. Vielleicht klappt es ja doch noch, und Greta und ihr Günter kommen bald zu uns. So ein Unfug aber auch, eine Mauer zu bauen. Auf dumme Ideen kommen die. Allerdings werde ich die Wohnung nicht länger als bis Ende September freihalten können. Ich brauch das Geld, du weißt doch, dass meine Witwenrente mickrig ist.«
»Danke dir«, sagte Erika und erhob sich wieder. »Ich zahl dir die Miete auch für Oktober. Da werden wir uns bestimmt einig werden. Einen passenderen Ort für eine Kinderarztpraxis wird Greta in ganz Nieblum so schnell nicht finden. Danke für deinen Zuspruch. Es wird schon werden. Du hast recht. Greta mit ihrem Sturkopf wird es bestimmt bald zu uns schaffen. Sie lässt sich von so einer dummen Mauer gewiss nicht aufhalten. Ich muss dann jetzt auch wieder zurück in den Dünenhof. Unsere Kinder kommen bald von ihrer Wanderung zurück, und es gilt, das Abendbrot auf den Tisch zu bringen.«
»Wie viele Lütten habt ihr denn im Moment?«, fragte Esther, während sie nach draußen gingen. Es empfing sie ein kühler Sommertag, der den nahenden Herbst spürbar machte. Immer wieder zogen dicke Wolken vor die Sonne, und es wehte eine frische Brise. Vom Regen der letzten Nacht waren noch einige Pfützen geblieben.
»Sechzehn«, berichtete Erika. »Morgen kommen fünf weitere an, aus Duisburg.«
»Na, dann wünsche ich den Lütten eine gute Ankunft. Das ist neuerdings ja ein flottes Kommen und Gehen bei euch.«
»Ja, das ist es. Die Zeiten, in denen dieselben Lütten mehrere Monate bei uns geblieben sind, sind lange vorbei. Hinzu kommt, dass wir inzwischen bedauerlicherweise saisonabhängig sind, weil die meisten Kinder während der Schulferien verschickt werden. Im letzten Winter stand das Haus deshalb beinahe drei Monate leer. Derweil mochte ich diese Zeit mit den Lütten eigentlich immer am liebsten. Es war so nett, mit ihnen Weihnachten zu feiern, zum Jahreswechsel verkleidet durch Nieblum zu ziehen und zum Biikebrennen zu gehen. Aber diese Form der Erholungskur ist kaum noch gefragt.«
»Ja, so verändert sich alles«, winkte Esther ab. »Irgendwie geht es immer weiter. Ich muss jetzt auch mal. Ich will noch rasch zu Holms, bevor die zumachen. Du meldest dich, wenn es Neuigkeiten von Greta gibt?«
»Das mache ich«, versprach Erika. Die beiden verabschiedeten sich mit einer kurzen Umarmung.
Auf der Straße blickte Erika Esther noch nach. Esther war auf Föhr geboren, ihr Vater war noch zur See gefahren, sie hatte alle ihre Söhne im Krieg verloren, ihre Tochter war Anfang der Fünfzigerjahre, wie so viele in jenen Zeiten, gemeinsam mit ihrem Ehemann nach New York ausgewandert. Vor einigen Jahren hatte Esther noch angenommen, sie würde wieder nach Hause kommen, wie es einige Auswanderer taten. Nachdem sie einige Jahre in Amerika gutes Geld verdient hatten, kehrten sie in die Heimat zurück und übernahmen die Höfe der Eltern oder bauten sich anderweitig eine Existenz auf. Doch Esthers Anneliese würde wohl nicht mehr zurückkommen. Ihr blieben von ihrem einzigen noch verbliebenen Kind also nur noch Briefe und Päckchen, Fotografien ihrer Enkel, die sie nie in die Arme nehmen würde. Esther und ihre Angehörigen trennte ein ganzer Ozean, doch wenn sie wollten, konnten sie zueinanderfinden. Berlin war nicht so weit fort wie New York. Im Augenblick kam es Erika jedoch so vor, als wäre dieser Ort weiter entfernt als das auf der anderen Seite des Atlantiks liegende Amerika. Sie schüttelte den Gedanken ab. So sollte sie nicht denken. Bestimmt würde alles gut werden. Sie brauchten nur noch ein wenig Geduld.
Sie überquerte die von Ulmen gesäumte Kertelheinallee und bog in den Westerheide-Weg ein. Als sie den Dorfteich erreichte, er wurde von den Insulanern Bi de Mare genannt, lockerte die Wolkendecke auf, und einige Sonnenstrahlen fielen auf die Wasseroberfläche. Erika blieb stehen und betrachtete einen Moment mit einem Lächeln auf den Lippen die sich ihr bietende Idylle. Die Äste von den am Ufer stehenden Trauerweiden schwammen im Wasser des Teichs, auf dem sich Schwäne, Enten und einige Möwen tummelten. Auf der das Gewässer umgebenden Rasenfläche standen einige Strandkörbe, in denen Touristen zur Ruhe kommen konnten. Plötzlich musste Erika daran denken, wie sie früher als Kinder hier gespielt hatten. Mit Stöcken hatten sie im Schilf am Uferbereich herumgestochert, Schiffe aus Papier oder Holz hatten sie auf dem Wasser schwimmen lassen. Im Winter waren sie über die zugefrorene Wasseroberfläche geschlittert. Ihre Großmutter Anni war gern hier gewesen. »Zu jeder Jahreszeit verzaubert einen dieser Ort«, hatte sie irgendwann einmal zu ihr gesagt. »Er ist nicht herausragend, nicht besonders und kann bei Weitem nicht mit dem Strand mithalten. Aber das verlangt ja auch niemand von ihm.« Gerade jetzt vermisste Erika ihren Zuspruch, ihren Pragmatismus und ihre Unerschütterlichkeit.
»Wenn du noch hier wärst, würdest du sofort nach Berlin fahren und es irgendwie schaffen, unsere Greta heimzuholen«, murmelte sie und legte ihre Hand auf den Bauch, denn ihr kleiner Mitbewohner war mal wieder unruhig und hatte ihr in die Rippen getreten. Dies zauberte ihr ein Lächeln auf die Lippen. Nicht mehr lange, und sie würde ihr kleines Wunder in den Armen halten dürfen. Sie strich über ihren Bauch und sagte leise: »Noch einige Wochen warten, Liebes. Dann lernen wir uns endlich kennen, und bestimmt wird dann auch deine Tante Greta bei uns sein. Einen anderen Gedanken wollen wir nicht zulassen. Und jetzt flott nach Hause. Unsere Nanny wartet bestimmt schon auf uns, und sie kann ganz schön unleidig werden, wenn man nicht pünktlich erscheint.«
Alsbald bog sie in den Babendörpstieg ein. Inzwischen hatte es weiter aufgerissen, und die Sonne erhellte die noch immer ungeteerte Straße. Das direkt gegenüber ihres Dünenhofs gelegene alte Friesenhaus war im letzten Sommer wegen Baufälligkeit endgültig abgerissen worden, einige alte Mauerreste waren noch geblieben und von Unkraut überwuchert. Erika blieb stehen und betrachtete das Gelände wehmütig. In dem alten Friesenhaus hatte Ockeline gewohnt, die für Anni nach ihrer Rückkehr in die Heimat wie eine Mutter gewesen war. Auf einigen alten Fotografien im Haus war sie mit abgebildet. Erika hatte bedauerlicherweise nicht mehr das Vergnügen gehabt, sie kennenzulernen. Nanny riss sie aus ihren Gedanken. Sie stand am offenen Küchenfenster, rief ihren Namen und winkte.
»Erika, min Deern. Was stehst du auf der Straße herum? Komm rein. Es gibt viel zu tun. Die Lütten haben uns eine Überraschung mitgebracht.«
Erika folgte ihrer Aufforderung. In der geräumigen Küche angekommen, zog sie eine Augenbraue nach oben. Unmengen von mit Holunderbeeren gefüllten Körben und Eimern standen auf dem Fußboden. Auf dem Tisch lag ein riesengroßer Berg Kartoffeln. Der Geruch von gebratenen Zwiebeln hing im Raum. Nanny stand am Herd und rührte kräftig in einer gusseisernen Pfanne. Ihre sonst perfekt sitzenden Locken waren etwas aus der Form geraten, ihre Wangen waren gerötet. Die Ärmel ihrer dunkelblauen Bluse hatte sie hochgekrempelt, und auf ihrer hellblauen Küchenschürze befanden sich einige Flecken.
»Woher kommen denn die vielen Fliederbeeren?«, fragte Erika verdutzt.
»Die haben die Kinder mitgebracht. Die sind schon wieder da. Anja, Jule und Jonas sind mit ihnen gerade in die Waschräume. Die gefärbten Fingerchen hättest du mal sehen sollen. Na, ob die alle sauber werden, wage ich zu bezweifeln.« Sie stieß einen Seufzer aus. »Die Beeren sind von den Büschen von Bauer Ingwersen«, erklärte Nanny. »Dem seine Lene mag doch keine Fliederbeeren. Da hat er angeboten, dass die Lütten sie pflücken dürfen. Sogar die Eimer und Körbe hat er bereitgestellt. So schnell konnten Jonas, Anja und Jule gar nicht gucken, und die Kleinen saßen im Gestrüpp. Und wir haben jetzt die ganze Arbeit. Die Menge an Beeren zu verarbeiten, das kann dauern. Ich weiß gar nicht, ob ich genügend Einmachgläser habe. Wenn alle Stricke reißen, muss ich schnell rüber zu Hannchen laufen. Die leiht uns bestimmt welche. Zur Not besteche ich sie mit Fliederbeerengelee. Das hat sie gern.«
Erika starrte noch immer auf die unzähligen Eimer und Körbe. Das waren so viele Fliederbeeren, sie konnten eine Massenproduktion für Gelee und Marmelade starten. Sie würden für die Verarbeitung eine halbe Ewigkeit benötigen. Schließlich mussten sie noch gezupft, gewaschen und eingekocht werden.
»Also, ich will keine Spielverderberin sein«, setzte Erika an. »Aber findest du nicht, dass wir einen Teil der Beeren vielleicht gleich jetzt verschenken sollten? Meta könnte damit bestimmt etwas anfangen. Sie ist gut darin, Gelees und Marmeladen einzukochen.«
Als hätte Erikas Freundin gewusst, dass von ihr die Rede war, betrat sie just in diesem Moment den Dünenhof.
»Gud Dai, zusammen«, grüßte sie fröhlich. »Ist hier etwa gerade mein Name gefallen?« Metas Blick fiel auf das Körbe- und Eimersammelsurium, und ihre Augen begannen sogleich zu strahlen. »Ui, da war aber jemand fleißig. So viele schöne Fliederbeeren. Da kann man ausgezeichneten Likör draus machen. Der verkauft sich bei mir im Laden ganz wunderbar.« Meta Paulsen besaß einen entzückenden Manufakturwarenladen, der bei den Touristen äußerst beliebt war. Jonas bezeichnete viele ihrer Waren als nutzlose Stehrümchen. Also Sachen, die einfach nur rumstanden. So konnte vermutlich nur ein männliches Wesen denken. Ein anständiges Zuhause war ohne Nippes doch gar nicht richtig gemütlich. Obwohl auch Erika mit dem einen oder anderen Stück aus Metas Warensortiment nicht viel anfangen konnte. Tassen mit dem Schriftzug Moin oder plüschigen Schafen darauf, das war ihr dann doch zu touristisch. Allerdings hatte Meta viele andere Dinge in ihrem vollgestopften Laden, die Erika sofort kaufen würde. Vor allen Dingen zur Weihnachtszeit gab es bei ihr äußerst bezaubernde Dekorationsartikel zu erwerben, auch ihre Kräuteröle waren nicht zu verachten. Meta Paulsen war noch immer alleinstehend, obwohl sie hübsch anzusehen war. Ihr Haar war weizenblond, und mit ihrer Zierlichkeit und hellen Haut glich sie einer Elfe. Bei Männern war sie allerdings äußerst wählerisch, recht machen hatte es ihr noch nie einer können.
»Du kannst gerne Fliederbeeren abhaben«, bot Erika an. »Uns sind sie sowieso zu viel.«
»Ach, das wäre aber nett«, freute sich Meta. »Das passt mir auch ganz gut in den Kram. Gerade heute hab ich neue Likörflaschen geliefert bekommen. Wie viele Körbe könnt ihr denn entbehren?«
»Fast alle«, meinte Nanny prompt.
Erika sah sie verdutzt an.
»Was?«, glaubte sie sich sogleich für ihre Aussage rechtfertigen zu müssen. »Die Kinder mögen Fliederbeeren nicht sonderlich. Am Pflücken hatten sie Freude, aber das Gelee essen sie nicht gern, geschweige denn Fliederbeerensuppe. Als ich die neulich gemacht habe, haben die meisten die Nasen gerümpft. Unsere Einmachgläser sind fast alle und die Regale in der Vorratskammer gut gefüllt. Ich erinnere an die Johannisbeerenschwemme unserer fünf Büsche im Juni, der Rhabarber ist durch den warmen Regen im Mai wie Unkraut gewachsen, und wir hatten ein wirklich gutes Erdbeer- und Himbeerjahr. Wir können also freigiebig Fliederbeeren abgeben.«
»Du hast ja recht«, gab sich Erika geschlagen. »Es kam mir nur im ersten Moment nicht richtig vor. Immerhin hatten die Kinder so viel Freude am Pflücken.«
»Also kann ich alle Beeren haben?«, hakte Meta hoffnungsfroh nach. »Damit hätte ich für die restliche Saison und bis ins nächste Frühjahr hinein genügend Likör für den Laden. Wenn du magst, kannst du mir gern bei der Likörherstellung helfen, Erika. Wir haben eh schon länger keinen ausgiebigen Aufsitzabend mehr gehabt. Dann spielen wir dieses Mal eben nicht Karten oder Backgammon, sondern verarbeiten Fliederbeeren.«
Erika sah Meta irritiert an. So hatte sie sich das nicht vorgestellt. Sie hatte geglaubt, dass sie nun nicht nur die Beeren, sondern auch die Arbeit damit los wäre. So konnte man sich irren.
Eines der Kinder tauchte auf. Es war Marianne. Das braunhaarige Mädchen mit den langen Zöpfen kam aus Nürnberg und redete in einem niedlichen fränkischen Dialekt. Sie war wegen ihres Asthmas zu ihnen verschickt worden, und die Seeluft hatte bei ihr, sie weilte seit vier Wochen bei ihnen, bereits Wunder vollbracht. Anfangs war sie nach wenigen Anstrengungen kurzatmig geworden, doch inzwischen bewältigte sie mühelos weitere Wanderungen, besonders gern hatte sie es, barfuß im Watt herumzulaufen, und sie ekelte sich als eines der wenigen Mädchen gar nicht davor, auch die glibberigen Quallen oder die eine oder andere tote Krabbe anzufassen.
»Sind die Hollerbeeren nicht toll, die wir gesammelt haben?«, sagte Marianne freudig. »Ich hab die früher immer mit meiner Oma im Wald gepflückt. Das hat einen Spaß gemacht. Sie hat mir auch beigebracht, dass man sie nicht roh essen darf, denn dann wird es einem schlecht. Aber als Gelee schmecken sie wunderbar. Ihr macht doch welches, oder? Ich kann dabei helfen. Ich hab mit der Oma auch immer Gelee gekocht. Aber die ist jetzt leider im Himmel.«
Sogleich befiel Erika das schlechte Gewissen. Was sollte sie dem Mädchen jetzt antworten? Lügen wollte sie nicht. Eine weitere Lütte tauchte auf. Es war die kleine Christine. Der siebenjährige Blondschopf strahlte über das ganze Gesicht, aus ihrem Zopf hatten sich einige Strähnen gestohlen, was sie etwas zerrupft aussehen ließ.
»Ich kann auch helfen«, bot sie an. »Ich mach so was gern.«
Weitere Kinder erschienen auf der Bildfläche, ihnen folgte Anja.
»Wie steht es denn? Wollen wir die Eimer und Körbe in den Garten bringen und dort mit dem Abzupfen beginnen?«
»Na, dann krempeln wir mal die Ärmel hoch, schaffen die Beeren in den Garten und beginnen mit der Arbeit«, ergab sich Nanny in ihr Schicksal. »Bei den vielen helfenden Händen sind wir bestimmt flott fertig. Zur Stärkung kann ich Cookies und Kakao anbieten. Du hilfst doch auch mit, Meta, oder?« Sie zwinkerte Meta verschwörerisch grinsend zu.
Meta nickte, um ein Lächeln bemüht, und antwortete: »Ich helfe gern.«
So befanden sich alsbald sämtliche Bewohner des Dünenhofs und Meta im Garten. Die meisten beschäftigten sich tatsächlich mit der Verarbeitung der Fliederbeeren, doch einige der Jungs hatten rasch genug von der Zupferei. Sie hatten ein weiteres Dammbauprojekt in dem sich am Grundstücksende befindlichen Bach begonnen, Jonas war mit ihnen gegangen. Zur Beaufsichtigung, wie er beteuerte. Erika ahnte, dass auch er sich vor der fisseligen Arbeit drücken wollte. Aber was sollte es schon. Ihr gefiel es, im warmen Licht des frühen Sommerabends auf der Bank vor dem Haus zu sitzen und mit den Kindern zu klönen. Sie stellte viele Fragen zu ihrem Alltag, lauschte den zahlreichen Erzählungen und erfreute sich an dem fröhlichen Lachen und den strahlenden Kinderaugen. Die Tatsache, dass sie später erneut von den Beeren blau gefärbte Finger eine gefühlte Ewigkeit würden schrubben müssen, verdrängte sie. Ihre Gedanken wanderten irgendwann zu Greta, und ihr wurde schwer ums Herz. Was wäre es jetzt schön, sie hier zu haben! Sie würde diesen Augenblick ebenso sehr lieben, wie sie es tat. Greta gehörte dazu. In diese Welt, in ihren Dünenhofalltag. Aber vielleicht würde ja doch noch alles gut werden, und diese dumme Mauer würde bald wieder Geschichte sein. Das konnten sie doch nicht einfach so machen!
Greta stand im Schatten einer alten Eiche auf dem sich im Stadtteil Friedrichsfelde befindlichen Zentralfriedhof vor einem kleinen Grab und las den Namen auf dem schlichten Holzkreuz. Lore Winter. Darunter standen ihr Geburts- und Todesdatum. Geboren am 7. März 1954, gestorben am 23. August dieses Jahres. Auf dem Grab saß neben einem struppig aussehenden kleinen Teddybären die Puppe, die Greta bei Lores Aufnahmeuntersuchung abgehört hatte. Sie trug auch noch das rosa Kleidchen, ihre blonden Haare waren zu Zöpfen geflochten. Greta kam es plötzlich so vor, als läge in den Augen der Puppe, sie wusste noch, dass sie Flora hieß, ein vorwurfsvoller Ausdruck. Als gäbe sie ihr die Schuld daran, dass ihre Puppenmami nicht mehr bei ihr war.
»Alle Kinder kommen in den Himmel.« So hatte es während ihrer Ausbildungszeit an der Charité vor vielen Jahren mal eine alte Nachtschwester nach dem Tod eines vierjährigen Jungen mit Tränen in den Augen zu ihr gesagt. »Denn der Herrgott hat sie besonders gern um sich.«
Jedes Mal, wenn sie eines der Kinder verlor, dachte Greta an diese Worte und hatte das traurige Gesicht der alten Schwester vor Augen, die längst nicht mehr ihren Dienst tat. Sie wusste nicht, was aus ihr geworden war. Greta wusste aber, dass sie stets alles für das Überleben der Kinder getan hatte. Doch manches Mal verlor eine kleine Seele, trotz der Fortschritte der modernen Medizin, den Kampf gegen den Tod. Das hatten sie zu akzeptieren. Dieses Mal fiel es ihr jedoch schwerer als sonst, das Unabdingbare anzunehmen, denn sie fühlte sich schuldig. Die Puppe hatte recht damit, sie vorwurfsvoll anzusehen. Sie hatte Lore im Stich gelassen. Tränen stiegen in Gretas Augen.