Hotel Inselblick - Wind der Gezeiten - Anke Petersen - E-Book
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Anke Petersen

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Beschreibung

Der zweite Band der großen Familien-Saga von Anke Petersen um ein kleines Hotel auf Amrum Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts - mit viel Nordsee-Zauber und Nostalgie. Amrum Anfang des 20. Jahrhunderts: Die Familie Stockmann hat sich auf der Nordsee-Insel gut eingelebt, und ihr Hotel Inselblick blüht und gedeiht – sehr zum Ärger des Pastors, dem der florierende Betrieb ein ewiger Dorn im Auge ist, da er darin eine Konkurrenz zu seinem eigenen Seehospiz sieht und außerdem im "Inselblick" Sodom und Gomorrha wittert. Doch Marta Stockmann, für die sich mit dem Hotel ein Lebenstraum erfüllt hat, kämpft voller Tatkraft dafür, und auch die Töchter haben auf Amrum inzwischen ein neues Zuhause gefunden. Dann erfährt die Familie, dass Jacob, der inzwischen Tochter Rieke geheiratet hat, ruiniert ist und nach Amerika auswandern will. Droht die Familie Stockmann zu zerbrechen? Band 1: Hotel Inselblick. Wolken über dem Meer Band 2: Hotel Inselblick. Wind der Gezeiten Band 3: Hotel Inselblick. Stürmische See

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Anke Petersen

Hotel Inselblick Wind der Gezeiten

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Der zweite Band der großen Familien-Saga von Anke Petersen um ein kleines Hotel auf Amrum Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts - mit viel Nordsee-Zauber und Nostalgie.

Amrum Anfang des 20. Jahrhunderts: Die Familie Stockmann hat sich auf der Nordsee-Insel gut eingelebt, und ihr Hotel Inselblick blüht und gedeiht – sehr zum Ärger des Pastors, dem der florierende Betrieb ein ewiger Dorn im Auge ist, da er darin eine Konkurrenz zu seinem eigenen Seehospiz sieht und außerdem im »Inselblick« Sodom und Gomorrha wittert. Doch Marta Stockmann, für die sich mit dem Hotel ein Lebenstraum erfüllt hat, kämpft voller Tatkraft dafür, und auch die Töchter haben auf Amrum inzwischen ein neues Zuhause gefunden.

Dann erfährt die Familie, dass Jacob, der inzwischen Tochter Rieke geheiratet hat, ruiniert ist und nach Amerika auswandern will. Droht die Familie Stockmann zu zerbrechen?

Inhaltsübersicht

Personenverzeichnis1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. Kapitel48. Kapitel49. KapitelNachwortRezepte
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Wichtigste im Roman vorkommende Personen

Familie Stockmann

Wilhelm Stockmann

Marta Stockmann, Ehefrau

Rieke Thieme, geb. Stockmann, verheiratet mit Jacob Thieme, Tochter Nele Thieme

Ida Stockmann, Tochter

Personal im Hotel

Ebba Janke, Köchin

Gesa Janke, Hausdame

Frauke Schamvogel, Leiterin der Strandrestauration

Jasper Hansen, Strandwart und allgemeine Hilfskraft

Juliane, Hilfsköchin

Keike, Küchenmädchen

Antje, Küchenmädchen

Gesine, Hilfsköchin

Susanne und Ella, Zimmermädchen

Tine, Bedienung

Sören, Butler

Lorenz Martensen, Barmann

Eike Braren, Gästebetreuerin

Fietje, Gärtner und Kutscher

Hannes, Kutscher

Fritz Berwitz, Fahrer, Kofferträger, Aushilfe im Restaurant

Trinke Harrsen, Leiterin der Wäscherei des Hauses

Lene, Wäscherin

Berthold Hansen, Aushilfsgärtner

Weitere Personen

*Philipp Schau, Seehundjäger

*Anne Schau, Ehefrau

Pfarrer Ricklef Bertramsen, Inselpfarrer und Leiter des Seehospizes

Thaisen Bertramsen, Sohn des Pfarrers

*Pfarrer Bodelschwingh, Erbauer und Leiter des Seehospizes auf Amrum

 

Dirk Nagel, Inhaber eines Bauunternehmens

Anna Nagel, Ehefrau

Simon Nagel, Sohn

Gäste des Hotels Stockmann

Das Ehepaar Sommer

Gabriele Steinberg, Schriftstellerin

Das Ehepaar Ottensen

Personen auf der Insel Föhr

Tatje, Verkäuferin an der Fischbude am Hafen von Wyk

Fritz Berwitz, Künstler aus Berlin

Matz Heyen, Modellschiffbauer

 

 

mit * gekennzeichnete Personen sind historisch belegt

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1

Norddorf, 2. Mai 1902

Heute ist es so weit, und ich beginne ein neues Notizbuch. Pünktlich zum Saisonbeginn. Es sind nun zehn Jahre, die unser Hotel existiert. Zehn Jahre, die nicht immer leicht gewesen waren und in denen wir uns ein neues Leben aufgebaut haben. Erst gestern habe ich wieder Blumen ans Grab meiner kleinen Marie gebracht und ihr erzählt, wie es uns geht. Ich berichtete ihr davon, dass ihr Vater nach seiner Lungenentzündung auf dem Wege der Besserung ist, sie aber nicht besuchen kann, da er in einem Sanatorium auf Büsum weilt. Aber er wird bald zurückkommen und dann hoffentlich für lange Zeit gesund bleiben. Die Besuche bei Marie sind mir lieb geworden. Es tut gut, mit ihr zu reden, obwohl sie mir niemals antworten wird. Unweit von ihr hat Kaline ihre letzte Ruhestätte im Grab ihrer Eltern gefunden. Ihr Tod im Januar lähmte die ganze Insel. Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, lächelte sie mich an und setzte ihren alten Schlapphut auf, den sie stets trug, wenn sie ins Watt ging. Ihren Korb für die Austern über dem Arm, sah ich sie über den Hof laufen. Im Traum hätte ich nicht daran gedacht, wenige Stunden später von ihrem Tod zu erfahren. Rieke meinte, sie wäre dort gestorben, wo sie am liebsten gewesen ist. Ihre Worte trösten ein wenig. Vielleicht war es Sines Tod im Oktober, der Kaline mehr zugesetzt hatte, als wir dachten. Der Krebs hatte Sine in nur wenigen Monaten dahingerafft. Nach ihrer Beerdigung war Kaline oft still und in sich gekehrt. Die beiden mochten in den letzten Jahren räumlich voneinander getrennt gewesen sein, doch sie waren trotzdem eng miteinander verbunden. Nun sind sie wieder vereint und passen von dort oben im Himmel auf uns auf. Jetzt geht es also ohne Kaline in die neue Saison, was ungewohnt ist. Wilhelm plant weiterhin den Neubau der Dependance, es wird den gewohnten Ärger mit Bertramsen und Bodelschwingh geben. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Das Reservierungsbuch ist gefüllt, heute lacht die Sonne vom Himmel. Das Leben geht weiter, und wir laufen mit ihm mit. Etwas anderes bleibt uns ja auch nicht übrig.

 

Marta klappte ihr Notizbuch zu und ließ ihren Blick durch den kleinen Innenraum ihrer Strandrestauration schweifen. Alles war so weit hergerichtet. Stühle und Tische standen bereit, die Terrasse war gekehrt, und die beiden Strandkörbe waren wieder an ihre Plätze gestellt worden. In den Fenstern standen Segelschiffmodelle, Muscheln und ein bisschen Sand dienten als Dekoration, ebenso ein altes, an der Decke hängendes Fischernetz. Durch die geöffneten Fenster fiel helles Sonnenlicht in den Raum. Es war ein warmer und windstiller Tag. Eine wahre Wohltat, denn in den letzten Wochen war es kühl und windig gewesen. Sogar ein Frühjahrssturm hatte die Insel im April heimgesucht, der jedoch keine größeren Schäden verursachte.

»Moin, Marta.« Jaspers Stimme ließ Marta aufblicken. Er betrat den Gastraum durch die geöffnete Terrassentür.

»Moin, Jasper«, grüßte Marta zurück und fragte: »Wie sieht es bei den Strandkörben aus?«

»Alles bestens. Hab sie auf dem Strand platziert und bereits den ersten Korb vermietet. Ich wollte mal sehen, ob Frauke schon da ist. Sie hat geplant, heute zum ersten Mal den Kiosk aufzumachen.«

»Sie kommt bestimmt gleich«, antwortete Marta und musterte Jasper näher. Er trug ein graues Hemd, darüber seine blaue Weste und die übliche braune Hose. Auf seinem Kopf saß wie immer die schwarze Kappe, die sein ergrautes Haar verdeckte. Seine Falten um Augen und Mundwinkel waren tiefer geworden, doch ansonsten hatte er sich kaum verändert. Sein häufiger Alkoholgenuss schien ihn jung zu halten, obwohl man das nicht zu laut sagen sollte. Schon gar nicht, wenn Anne Schau in der Nähe war, die die Trinkgelage ihres Mannes Philipp, der noch immer einen hervorragenden Ruf als Seehundjäger auf der Insel genoss, mit gemischten Gefühlen sah. Marta ließ Wilhelm und Jasper inzwischen nach den Skatabenden im Gasthaus Zum Lustigen Seehund in Steenodde von Hannes, einem ihrer neuen Kutscher, abholen, damit sie nicht, wie schon häufiger passiert, auf freiem Feld oder am Wegesrand auf dem Kutschbock schliefen. Wegen seines häufigen Alkoholgenusses war Jasper als Fahrer unzuverlässig geworden, was Marta dazu bewogen hatte, ihm ein neues Aufgabengebiet zu suchen. Eine Entlassung kam nicht infrage. Jasper gehörte von Anfang an zum Haus und war wie ein Familienmitglied. So jemanden setzte man nicht auf die Straße. Die Idee mit den Strandkörben war Ida gekommen. Jasper war gern am Strand, und er liebte Kinder. Mittlerweile kümmerte er sich bereits seit drei Jahren begeistert um die Vermietung der Körbe. Er war zum Liebling der Besucher geworden, organisierte Sandburgen-Bauwettbewerbe, war stets für einen Schnack zu haben und rührte, wenigstens tagsüber, keinen Tropfen an, wie Frauke, die ihn stets im Blick hatte, zu berichten wusste. Frauke betreute, nachdem sie ihr Papeteriegeschäft in Wittdün aufgegeben hatte, den Badeartikel-Kiosk. Eigentlich wollte sie sich zur Ruhe setzten. Sie hatte sich ein kleines Häuschen am Rand von Norddorf gemietet und den Garten umgegraben, um Gemüse anzubauen. Doch ihre Anbauversuche von Karotten, Bohnen und Salat scheiterten kläglich. Danach versuchte sie es mit Nähen und schloss sich den Damen des Heimatvereins an, die sich regelmäßig zum gemeinsamen Handarbeiten trafen. Doch Frauke fehlte das Talent zum Sticken oder Stricken. Schon bald langweilte diese Tätigkeit sie, und sie suchte nach einem neuen Zeitvertreib. Marta erkannte ihre Misere und bot ihr die Stellung im Kiosk an, was Fraukes Augen zum Strahlen gebracht hatte. So hatte sie wenigstens während der Sommersaison eine Aufgabe, die ihr Freude bereitete.

»Gud Dai, ihr Lieben«, rief Frauke. Sie hatte die Restauration durch die Hintertür betreten, wie es ihre Gewohnheit war. »Marta. Was für eine Freude, dich zu sehen«, sagte sie fröhlich. »Wir dachten schon, du kommst gar nicht mehr hinter deinem Schreibtisch hervor.«

»Ja, das dachte ich auch«, stimmte Marta ihr zu. »Aber durch die Einführung der Inselbahn haben wir jetzt zusätzliche Arbeit bekommen, und da Wilhelm noch immer im Sanatorium weilt, bleibt alles an mir hängen.« Die beiden Frauen umarmten sich. Dabei rutschte Frauke der Strohhut in den Nacken. Ihr Haar war inzwischen ergraut, und tiefe Falten zogen sich über ihre Stirn. Doch ihre Fröhlichkeit hatte sie sich bewahrt, und ihre Augen strahlten noch immer in dem hellen Blau, das Marta liebte.

»Wie geht es Wilhelm? Was sagen die Ärzte?«, fragte Jasper.

»Er ist auf dem Weg der Besserung. Jedenfalls schreibt er das. Ich will es ihm glauben, denn ich hoffe, dass er bald zurückkommt. Aber mit so einer verschleppten Lungenentzündung ist nicht zu spaßen.«

»Es ist aber auch ein Ärgernis«, sagte Frauke. »Und ihr hattet so gehofft, dass euer Umzug auf die Insel seine Beschwerden lindern würde.«

»Das tut es gewiss«, antwortete Marta. »In Hamburg wäre es mit Sicherheit schlimmer. Die letzten Jahre waren anstrengender, als wir gedacht hatten. Der Aufbau des Hotels hat Kraft gekostet und tut es noch. Besonders der ständige Streit mit Bodelschwingh und Bertramsen wegen der Trinkhalle und den Tanzangeboten geht Wilhelm an die Nieren. Auch wenn er das niemals zugeben würde.«

»Und die Unvernunft kommt hinzu«, sagte Jasper. »Er hat schon im Herbst gehustet, und wenn ich ihm gesagt hab, er solle kürzertreten, hat er nur abgewunken. Nächtelang hat er über den Plänen für die neue Dependance gesessen.«

»Ich weiß. Er ist von dem Bau des Gebäudes regelrecht besessen. Es scheint ein Wettkampf zwischen ihm und Bodelschwingh geworden zu sein, der ja ebenfalls ein weiteres Gebäude plant. Wer baut schneller, wer bekommt mehr Gäste? Ich kann es bald nicht mehr hören. Und Hugo Jannen mit seinen Ausbauplänen fürs Seeheim befeuert diesen Streit zusätzlich.«

»Obwohl ich Hugos Pläne gutheiße«, sagte Jasper. »Dann ist Wilhelm nicht mehr der Einzige in Norddorf, der weltliche Vergnügungen anbietet, und Bodelschwingh und Bertramsen haben einen neuen Sündenbock, gegen den sie wettern können.«

»Da ist was dran«, antwortete Marta seufzend. »Und dann müssen ja auch noch die neuen Prospekte in den Druck. Wir haben die Preise um eine Mark erhöht, außerdem sollten wir die Verbindung mit der Inselbahn auch erwähnen.«

»Sollte diese irgendwann einmal fertig werden«, meinte Frauke. »Gestern hat mir Kresde beim Tee erzählt, dass es einen Lohnstreik gegeben habe und der Bauunternehmer Husen die Krakeeler rausgeworfen hat. Jetzt müssen die verbliebenen Arbeiter rund um die Uhr schuften, damit der vereinbarte Termin gehalten werden kann. Andresen soll schon nervös werden, denn zur Abnahme der Strecke ist ein Festessen im Kurhaus geplant, und hochrangige Gäste haben sich angekündigt. Sogar der Präsident der Königlich-Preußischen Eisenbahndirektion Altona hat für die Abnahmefahrt zugesagt.«

»Die Inselbahn treibt unseren Andresen noch einmal in den Ruin«, sagte Jasper und schüttelte den Kopf. »Philipp meinte, er hätte über vierhunderttausend Mark dafür ausgegeben. Ich war ja nie ein Freund davon. Schon der Bau der Kniepsandbahn hat mir nicht gepasst. Schienen direkt auf dem Strand verlegen. So ein Unsinn. Aber es musste ja unbedingt sein, damit die hochwohlgeborene Gesellschaft bequem befördert werden kann. Und was ist jetzt? Jedes Jahr kann er die Gleise renovieren, weil sie entweder versanden oder von Sturmfluten beschädigt werden. Und das alles nur, weil Wittdün an der völlig falschen Stelle gebaut worden ist und es dort keinen kräftigen Wellenschlag gibt. Und dann fahren Ballin und HAPAG auch noch den Wittdüner Hafen nicht mehr an, sondern wählen den direkten Weg nach Hörnum.«

»Wovon wir allerdings Nutznießer sind. Dann müssen wir die meisten Gäste nicht mehr in Wittdün am Hafen abholen und über die ganze Insel kutschieren. Sie können bald an der neu gebauten Seebrücke am Norddorfer Kniephafen in die Bahn steigen und am Bahnhof im Ort aussteigen. Dieser ist übrigens schon fertig. Dieser Tage hatte ich einen Prospekt in Händen, in dem die windige Hütte als Hauptbahnhof Norddorf bezeichnet wird. Das muss man sich mal vorstellen.« Marta lachte laut auf.

Ihr Lachen gefiel Frauke. Marta war in den letzten Wochen ernst und durch die viele Arbeit dünner geworden. Tiefe Falten hatten sich um ihre Mundwinkel gegraben, und graue Strähnen durchzogen ihr braunes Haar. Die Sorge um ihren Mann ließ sie oft nicht schlafen, wie sie Frauke bei einem ihrer seltenen Treffen zum Kaffeetrinken berichtet hatte. Irgendwann würde auch Marta nicht mehr können, dachte Frauke. So ein Hotel konnte unmöglich von einer Person allein geleitet werden. Ida, die jüngere Tochter, könnte Marta helfen. Doch sie machte wie immer das, was sie wollte, und zeigte nur wenig Interesse für den Hotelbetrieb. Sie verbrachte weiterhin viel Zeit mit dem Pfarrerssohn Thaisen, der sich, zum Missfallen seines Vaters, der Malerei verschrieben und sich einer Künstlertruppe angeschlossen hatte, die in Wyk auf der Insel Föhr ein Atelier eröffnen wollte. Erst neulich hatte Frauke mitbekommen, wie Bertramsen und Thaisen gestritten hatten. Der alte Pfarrer will unbedingt, dass Thaisen im Seehospiz mitarbeitet und seine Arbeit eines Tages weiterführt. Doch Thaisen denkt gar nicht daran. Er habe den elenden Wettstreit mit Stockmann und das Gerede von den guten Sitten leid, hatte Thaisen seinem Vater mitten auf der Straße ins Gesicht geschrien und war gegangen. Der lautstarke Streit der beiden sorgte für ordentlich Gerede auf der Insel. Das letzte Wort war in dieser Angelegenheit gewiss noch nicht gesprochen, denn Vater und Sohn besaßen den gleichen Sturschädel.

Ida malte ebenfalls. Ihre Gemälde waren nach Fraukes Meinung der naiven Bauernmalerei zuzuordnen. Marta hatte eines der Bilder, das in ihren Augen ansehnlich genug war, im Empfangsraum aufgehängt. Es zeigte die Friesenhäuser von Nebel am Wattenmeer im warmen Licht der Abendsonne. Marta hatte es aufgegeben, Ida, die inzwischen neunzehn Jahre alt und zu einer hübschen jungen Frau herangereift war, zur Arbeit im Hotel zu zwingen. Ihr blondes Mädchen war und blieb ein Freigeist, kam und ging, wann sie wollte, und verabscheute Verpflichtungen. Manchmal half sie, aber nur dann, wenn sie Lust dazu hatte. Wilhelm wetterte häufig gegen dieses Verhalten, doch seine Verbote und Drohungen nutzten wenig. Marta hatte mit ihm nach einem besonders üblen Streit zwischen Vater und Tochter ein ernstes Wort gesprochen. Das Hotel war ihr Traum und Lebenswerk, nicht der von Ida. »Sie muss ihren eigenen Weg finden«, hatte sie zu ihm gesagt. Sie erinnerte ihn an den Verlust von Marie, die ihnen die Cholera genommen hatte. Ida war noch bei ihnen, und dafür sollten sie dankbar sein. Wilhelm hatte nachgegeben. »Vermutlich liegt es an Amrum«, hatte er gesagt. »Sie ist ein Teil dieser nicht zu bändigenden Insel geworden.« Damit hatte er recht. Amrum hatte sich, trotz der vielen Veränderungen, sein eigenes Gesicht bewahrt. Und am Ende waren es die Naturgewalten, die entschieden.

»Wie geht es denn Ebba?«, fragte Frauke.

»Frag nicht.« Martas Miene verfinsterte sich. Ebba, ihre Köchin, war zu einem Problem geworden, das ihr zusätzlichen Kummer bereitete, da sie vor einigen Wochen in der Küche zusammengebrochen war. Der Arzt hatte einen Schwächeanfall diagnostiziert und ihr Ruhe verordnet. Doch sie wollte nicht hören und tauchte schon einen Tag nach ihrem Zusammenbruch wieder in der Küche auf. Marta überlegte, der Hilfsköchin Juliane Ebbas Platz als Leiterin der Küche zu übergeben. Die Vierzigjährige war zwar erst seit einigen Monaten Teil der Belegschaft, machte ihre Sache aber recht ordentlich, und die Küchenmädchen mochten sie. Sie wollte Ebba jedoch nicht entlassen, denn sie gehörte zur Stammbelegschaft des Hotels und war wie ein Familienmitglied. Sie bewohnte mit ihrer Tochter Gesa, die inzwischen als Hausdame die Zimmermädchen unter sich hatte, im Dienstbotentrakt des Nebengebäudes eine kleine Wohnung, und Marta und Wilhelm waren sich einig darüber, sich bis an ihr Lebensende um Ebba zu kümmern. Nur, wie sollte Marta ihr klarmachen, dass sie ihren Posten in der Küche aufgeben musste? Dieses unliebsame Gespräch schob Marta schon seit Tagen vor sich her.

»Sie weiß, dass was in der Luft liegt, und geht mir aus dem Weg. Oder ich meide die Begegnung mit ihr. Das könnt ihr euch jetzt aussuchen.« Marta zog eine Grimasse.

»Wann wird eigentlich die Restauration hier unten wieder eröffnet?«, fragte Jasper und wechselte das Thema. »Hat sich inzwischen jemand gefunden, der Selmas Platz einnimmt?«

»Leider nicht«, antwortete Marta. »Aber wenn du so fragst …« Martas Blick wanderte zu dem Ausschank, hinter dem es eine kleine Küche gab, in der das Notwendigste zubereitet und warm gehalten werden konnte. In der Strandrestauration gab es während der Saison Fischbrötchen, Backfisch mit Kartoffelsalat, Getränke, Kuchen und Süßigkeiten zu kaufen. Bisher hatte Selma Jansen die kleine Restauration geleitet, doch sie hatte im Winter einen der Bahnarbeiter geheiratet und sich mit ihm in Süddorf niedergelassen. Die Restauration wäre ein Ausweg aus dem Problem mit Ebba, dachte Marta.

»Du denkst an Ebba«, erriet Frauke ihre Gedanken.

»Du kennst mich zu gut«, antwortete Marta. »Ich überlege schon die ganze Zeit, wie ich ihr klarmachen soll, dass es Zeit ist, kürzerzutreten. Unsere Ebba ist mit ihren bald sechzig Jahren ja nicht mehr die Jüngste, und die Anforderungen in der Küche werden nicht weniger. Bald schon sind sämtliche Zimmer im Hotel belegt, und dann können wir uns keinen Ausfall des Küchenpersonals leisten. Die Tätigkeit hier am Strand wäre nicht so anstrengend. Sie hätte feste Zeiten und mit Menschen zu tun. Dann würde ihr nicht langweilig werden.«

»Und du denkst, sie wird auf deinen Vorschlag eingehen?«, fragte Jasper mit skeptischem Blick.

»Das wird sie natürlich nicht. Sie wird wütend werden und mich zum Teufel jagen, der verdammte Sturschädel. Aber so kann es nicht weitergehen. Am Ende überlebt sie den nächsten Schwächeanfall nicht. Der Arzt vermutet, dass es das Herz gewesen ist. Für eine genauere Diagnose hätte sie ins Krankenhaus nach Wyk gemusst. Aber dort wollte sie auf keinen Fall hin. Selbst Gesa konnte sie nicht dazu überreden. Im Moment geht es ihr gut, wie lange, weiß jedoch niemand.« Marta seufzte.

»Wir müssen das Pferd von hinten aufzäumen«, sagte Jasper. »Bring sie doch heute Nachmittag hierher und trink mit ihr auf der Terrasse ein Tässchen Kaffee. Du erzählst von deiner Sorge wegen der Strandrestauration und wie schwierig es ist, für Selma passenden Ersatz zu finden. Wenn du Glück hast, bietet sie von sich aus an, dir zu helfen und einzuspringen. Und wenn sie einmal hier ist, wird es ihr bestimmt gefallen.«

»Das ist eine hervorragende Idee«, sagte Marta. »Dass ich da nicht selbst drauf gekommen bin. Du bist großartig, Jasper. Ich wüsste nicht, was ich ohne dich tun würde.«

»Doch, das wüsstest du«, antwortete Jasper, gerührt über das Lob, und fügte hinzu: »Kaline würde jetzt sagen: Das wird schon.«

»Ja, das würde sie«, antwortete Marta wehmütig. Ihr Blick wanderte zum Meer. Im Moment herrschte Ebbe. »Nein, würde sie nicht. Sie wäre längst im Watt, um Austern zu ernten, damit heute etwas Anständiges auf den Tisch kommt.« Marta machte eine kurze Pause, dann fügte sie hinzu: »Sie fehlt mir.«

»Sie fehlt uns allen«, sagte Frauke.

Marta nickte. Der unverhoffte Verlust Kalines überschattete noch immer ihren Alltag. Es war ein Schlaganfall gewesen. Im Watt, beim Austernernten. Sie war dort gestorben, wo sie sich am liebsten aufhielt. Ida hatte sie gefunden und den Schrecken bis heute nicht verarbeitet.

Frauke war diejenige, die den Moment der Stille unterbrach, indem sie sagte: »Wir müssen weitermachen. Unten am Strand sind Gäste bei den Strandkörben.« Sie deutete nach draußen. »Und ich kontrolliere noch einmal, ob im Kiosk alles da ist. Gestern sind die neuen Postkarten geliefert worden. Sie müssen ausgepackt werden. Auch die Anzahl der Schaufeln und Fähnchen habe ich nochmals aufgestockt. Jetzt kann die Buddeltruppe kommen.« Sie lächelte.

»Und ich wollte noch zur Gärtnerei von Robert Münch wegen der Auswahl frischer Blumen für die Tischdekoration. Es ist ein Segen, dass er und seine Frau Ines im letzten Jahr in Norddorf ihr Geschäft eröffnet haben. So spare ich mir den Weg nach Wittdün.«

»Ja, unser Norddorf wächst und gedeiht«, sagte Jasper. »Obwohl ich sagen muss, dass mir nicht jeder Neubau gefällt. Besonders der Strandbazar von Erich Hoffmann ist scheußlich. Seine Hausfront erinnert eher an einen Saloon in Texas. Das verschandelt das ganze Ortsbild.«

»Ich finde es auch unansehnlich«, stimmte Marta ihm zu. »Aber Erich ist ein geschäftstüchtiger Bursche. Er wird damit erfolgreich sein. Was mich besonders freut, ist die Einrichtung eines neuen Lebensmittelgeschäftes im Zentrum. Ich mag Lorenz und seine Frau Wencke. Sie sind geschäftstüchtig, und die Zusammenarbeit mit ihnen läuft reibungslos. Bald soll es auch ein Posthaus mit der Möglichkeit zum Telegrafieren geben. Das wäre ein Segen, denn dann müssten wir wegen der Telegramme nicht mehr nach Wittdün fahren.«

»Wir werden sehen, wohin die Bautätigkeit im Ort führen wird«, sagte Jasper. »Vermutlich werden wir unser Norddorf in ein paar Jahren nicht wiedererkennen. Aber so ist das eben. Wir haben die Fremden auf die Insel gelassen, also müssen wir mit der Veränderung leben. Ich geh dann mal wieder zu meinen Strandkörben.« Er lüpfte seine Kappe zum Abschied und verließ das Restaurant durch die Terrassentür.

»Und ich sehe zu, dass ich zur Gärtnerei komme«, sagte Marta und umarmte Frauke. »Es war nett, mal wieder mit euch zu schnacken.«

»Wie immer zu kurz«, antwortete Frauke und fragte: »Magst später auf ein Glas Wein vorbeikommen? Ich hab einen feinen Tropfen aus dem Rheingau ergattert.«

»Heute passt es leider nicht. Aber ein andermal gern«, antwortete Marta. »Ich muss mich heute Abend noch um die Lohnabrechnung kümmern und die letzten Ausgaben in die Bücher eintragen. Ach, der Tag hat zu wenige Stunden.« Sie winkte ab, trat zur Tür und öffnete sie. »Solltest du noch etwas benötigen, dann melde dich bitte bei mir. Auf bald.«

Marta trat in den hellen Sonnenschein und schlenderte den Strandweg Richtung Norddorf zurück. Zwischen den Dünen hoppelten wie gewohnt einige Karnickel herum, ein Fasan kreuzte ihren Weg. Über ihr kreisten die Möwen am blauen Himmel. Es könnte so schön sein, wenn es nicht die Sorge um Wilhelm gäbe. Nachdem er den ersten Winter auf der Insel gut überstanden hatte, hofften sie darauf, dass die Seeluft seine Beschwerden dauerhaft lindern würde. Doch dem war nicht so. Bereits im darauffolgenden Winter plagte ihn eine Bronchitis, die er bis ins Frühjahr hinein verschleppte. Es folgten in den Jahren darauf vielfältige Beschwerden, darunter eine Lungen- und eine hartnäckige Kehlkopfentzündung, die ihm für Wochen die Stimme raubte. Diesen Winter war es wieder eine Lungenentzündung gewesen, die ihn sogar ins Krankenhaus nach Wyk und ins Sanatorium nach Büsum gebracht hatte. Den Sanatoriumsaufenthalt wollte er zwar verweigern, doch der Inselarzt Dr. Mertens konnte ihn mit viel Geduld dazu überreden, die Erholungskur anzutreten. Marta hoffte inständig, dass der Aufenthalt in Büsum Wilhelms Gesundheit zuträglich sein würde, damit so schwere Erkrankungen vorerst ausblieben und auch die Asthmaanfälle nicht mehr so häufig auftreten würden. Darüber, dass der Mann an ihrer Seite niemals ganz gesund sein wird, war sie sich dennoch im Klaren. In ihrer Ehe war sie der starke Part, ob es ihr gefiel oder nicht.

Sie erreichte das ehemalige Gästehaus von Sine und Kaline. Heute bewohnten es die Nachkommen von Kapitän Nickelsen. Richardine und Julius, und Marta vermietete dort als Dependance ihres Hotels Zimmer an Feriengäste. Dieselben Zimmer, in denen Marta und Wilhelm gewohnt hatten, als sie damals auf die Insel gekommen waren und Amrum ihr Herz im Sturm erobert hatte. Sie hatten ihr Leben in Hamburg hinter sich gelassen und in Norddorf einen Neuanfang gewagt. »Du bist und bleibst mein Pensionsmädchen«, hatte Wilhelm erst neulich wieder zu ihr gesagt. Ja, das war sie. Ein Pensionsmädchen. Aufgewachsen in der Pension ihrer Tante Nele in Hamburg, davon träumend, ein eigenes Hotel zu leiten. »Tante Nele wäre stolz auf dich«, hatte Rieke vor Kurzem zu ihr gesagt. Ihre Älteste. Das eigenwillige Mädchen, dem es damals schwergefallen war, Hamburg mit all seinen Vergnügungen hinter sich zu lassen. Heute war sie verheiratet und leitete gemeinsam mit ihrem Mann Jacob Thieme ein Gästehaus in Wittdün. Und sie hatte ihr eine Enkeltochter – Nele – geschenkt, die sich zu einer Zeit ankündigte, als der Kummer wegen des Todes von Tante Nele und der kleinen Marie kaum zu ertragen gewesen war.

Neles Geburt war ein Zeichen der Hoffnung gewesen. Das Leben ging weiter. Marta dachte daran, was Kaline einmal im Watt zu ihr gesagt hatte. »Der Schatten gehört zum Leben dazu, denn dann weiß man das Licht besser zu schätzen.«

 

Marta erreichte ihr Hotel, blieb stehen und betrachtete es einen Moment nachdenklich. Wie sich das kleine Schulhäuschen doch verändert hatte, in das sie sich damals verliebt hatten. Heute war es von Anbauten umgeben. Der Saal mit der Theke diente als Speisezimmer, es gab eine neue Küche, denn die alte war längst zu klein geworden. Sie boten noch immer den Mittagstisch an, der auch von den Bauarbeitern der Inselbahn gut angenommen wurde. Diese fanden sich auch gern zu den Tanzabenden ein, und das eine oder andere frisch vermählte Pärchen hatte sich auch bei ihnen kennengelernt. Inzwischen hatten sie im Haupthaus zwanzig Gästezimmer, und es gab Verträge mit einigen Dorfbewohnern, bei denen während der Hauptsaison Gäste untergebracht werden konnten. Auch das Nebengebäude war erweitert worden. Darin befanden sich noch immer ihre privaten Wohnräume und das Büro. In dem neuen Anbau war ein Teil des Personals untergebracht: Juliane, die Hilfsköchin, die aus Hamburg stammte, die beiden Zimmermädchen, Susanne und Ella, die Bedienung Tine, die im Speisezimmer arbeitete, und natürlich Gesa und Ebba. Die Männer schliefen in Räumlichkeiten über der Scheune: der Butler Sören, der aus Husum kam, Hannes, der Kutscher, der Gärtner Fietje, der auch als Kutscher arbeitete, wenn Not am Mann war, und der Barmann Lorenz Martensen, der erst in diesem Jahr zu ihnen gestoßen war. Während der Saison kamen einige Hilfskräfte hinzu, die in Privathäusern untergebracht wurden oder zu Hause wohnen konnten. Marta stellte bevorzugt Aushilfen ein, die von der Insel stammten, was die Bauern und Fischer der Insel zu schätzen wussten. Martas Blick schweifte über die Außenterrasse, die sie vor dem Saal angelegt hatten. Tine stellte gerade die Besteckkörbe für den Mittagstisch bereit. Längst waren die Zeiten vorbei, als die Gäste unter den Bäumen im Garten saßen. Manchmal dachte sich Marta sehnsüchtig an diese Idylle zurück, obwohl es damals beileibe nicht leicht gewesen war. Sie dachte an Hedwig Marwitz und musste schmunzeln. Was waren sie froh über die Abreise dieser schrecklichen Person gewesen, die sich das erste Hotel am Platz etwas anders vorgestellt und ihnen das Leben vier lange Wochen schwer gemacht hatte. Das erste Hotel am Platz, dachte Marta wehmütig. Erst neulich hatte sie wieder eine der alten Anzeigen in die Hände bekommen. Wilhelm hatte mit diesem Werbespruch durchaus recht gehabt, denn ihr Haus war das erste Hotel in Norddorf gewesen. Aber viele Gäste hatten sich unter dieser hochtrabenden Ankündigung nicht ein einfaches Friesenhäuschen vorgestellt. Auch heute konnten sie sich mit den Prachtbauten in Wittdün nicht messen. Doch in dem Ort war längst nicht mehr alles Gold, was glänzte. Andresen, Eigentümer mehrerer Hotels, der Reederei und der Inselbahn, hatte in den letzten Jahren mehrfach Pech gehabt. Es war nicht immer leicht, für so noble Häuser wie das Kurhaus oder den Kaiserhof solide Pächter zu finden. Es hatte viele Wechsel gegeben, und Andresen hatte die jährliche Pachtsumme von achtzehntausend auf zehntausend Mark senken müssen. Auch in diesem Jahr gab es wieder neue Pächter für das Kurhaus, die aus Hamburg stammten und in einem neu entworfenen Prospekt siebzig luftige und komfortable Fremdenzimmer, Salons und feinste Hamburger Küche anboten. Man würde sehen, wie lange sich die beiden Herren – Marta hatte sie bei der letzten Sitzung des Inselrates kennengelernt – halten konnten.

Marta wollte weiter Richtung Gärtnerei laufen, die auf der dem Wattenmeer zugewandten Seite Norddorfs lag, doch lautes Schimpfen hielt sie davon ab. Juliane kam aus der Küche gelaufen und schleuderte wütend ein Küchentuch auf den Boden. Marta ahnte, was los war. Gewiss hatte es wieder Streit mit Ebba gegeben. Sie ging zu Juliane, hob das Küchentuch auf, reichte es ihr und fragte: »Was ist passiert?«

»Sie meint, meine Fischsuppe schmecke nicht. Ich hätte sie versalzen. Nichts kann ich ihr recht machen. Das Gemüse ist zu grob geschnitten, der Brotteig zu fest, sogar die Vorratskammer räume ich falsch ein. Ich will ehrlich zu Ihnen sein, Frau Stockmann, ich mach das nicht mehr lang mit. Im Vierjahreszeiten in Wittdün suchen sie seit einigen Tagen eine neue Hilfsköchin. Es ist besser, wenn ich gehe.«

»Nein, das möchte ich auf keinen Fall, Juliane«, antwortete Marta. »Es ist nämlich so …« Sie unterbrach sich, blickte zur Küche, wo sie Ebba lauschend am Fenster wähnte, und bat Juliane, ihr zur Terrasse zu folgen. Sie nahmen an einem der Tische Platz, und Marta setzte neu an: »Ich weiß, dass sie eigenwillig und stur sein kann. Aber Ebba gehört nun einmal zum Inventar des Hauses.«

Juliane wollte etwas erwidern, doch Marta brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Sie ahnt, was ich vorhabe, deshalb ist sie so unausstehlich.«

»Was Sie vorhaben«, wiederholte Juliane und sah Marta verwundert an.

»Ebba ist nicht mehr die Jüngste, und ich denke, es ist an der Zeit für einen Wechsel. Ich überlege bereits seit Längerem, dir die Position der Köchin zu geben und dir eine neue Hilfsköchin zur Seite zu stellen, Juliane. Ich finde, du leistest hervorragende Arbeit, und ich will dich nicht verlieren.« Julianes Wangen färbten sich rot, und sie blickte zu Boden. »Ich möchte dich also bitten, so lange zu bleiben, bis wir eine adäquate Lösung für Ebba gefunden haben, die für alle Beteiligten tragbar ist«, fuhr Marta fort und fragte: »Wäre das möglich?«

Juliane nickte. »Natürlich, gern. Oh, Frau Stockmann, wie ich mich freue. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.«

»Am besten erst einmal nichts«, antwortete Marta lächelnd.

»Kein Wort wird über meine Lippen kommen. Fest versprochen«, antwortete Juliane. »Aber meinem Vater nach Hamburg werde ich es doch telegrafieren dürfen, oder? Wie Sie wissen, leitet er ein kleines Restaurant am Jungfernstieg. Oh, er wird so stolz auf mich sein. Ach, wenn nur …« Juliane verstummte. Marta ahnte, was sie sagen wollte. Bei ihrer Einstellung hatte Juliane darüber gesprochen, weshalb sie nicht im elterlichen Betrieb mitarbeitete. Es lag an ihrer Stiefmutter, mit der sie sich nicht verstand. Sie hatte kein gutes Haar an ihrem Stiefkind gelassen und wenig Verständnis dafür gezeigt, dass die älteste Tochter eines angesehenen Hamburger Gastwirtes lieber in der Küche stand, anstatt eine gute Partie zu machen. Als hässliches Entlein hatte sie sie gar beschimpft und dass sie als alte Jungfer enden würde. Gut, Juliane war keine Schönheit. Ihr Haar war dunkelblond und wellte sich leicht. Sie war weder zu dick noch zu dünn, ihre Haut war hell, und viele Sommersprossen zierten ihr Gesicht. Irgendwann hatte Juliane es in der Nähe der Stiefmutter nicht mehr ausgehalten, und nachdem sie das Stellenangebot eines Gastwirtes auf Föhr in der Zeitung gelesen hatte, packte sie die Gelegenheit beim Schopf und bewarb sich. Sie wurde eingestellt und verließ Hamburg. Das war nun bald zehn Jahre her, und sie bereute es nicht. Nachdem der Gastwirt in Föhr seinen Betrieb geschlossen hatte, hatte sie sich auf die Anzeige der Stockmanns beworben.

»Selbstverständlich darfst du die guten Neuigkeiten deinem Vater telegrafieren.« Marta ignorierte Julianes Andeutung. »Er wird sich bestimmt darüber freuen. Und die Tage werde ich dann deinen neuen Anstellungsvertrag ausarbeiten.« Sie erhob sich. »Ich melde mich bei dir, wenn ich so weit bin. Bis dahin wirst du leider noch mit Ebbas Schikanen leben müssen.«

»Mit dieser Aussicht sollte das kein Problem sein«, antwortete Juliane und erhob sich ebenfalls. »Vielen Dank, Frau Stockmann.«

»Ich habe zu danken«, antwortete Marta. »Du leistest großartige Arbeit. Wir können uns glücklich schätzen, dass du zu uns gefunden hast.« Sie wollte noch etwas hinzufügen, kam jedoch nicht mehr dazu, denn plötzlich fuhr ein Wagen in den Hof, auf dem Wilhelm neben ihrem Kutscher Hannes auf dem Kutschbock saß und ihr fröhlich zuwinkte.

Martas Augen wurden groß. »Wilhelm«, sagte sie überrascht, dann rief sie laut: »Wilhelm.« Sie raffte die Röcke und lief zu dem Fuhrwerk. Wilhelm sprang vom Wagen herab und schloss sie in die Arme.

»Wilhelm, du …« Weiter kam sie nicht, denn er bedeckte ihre Lippen mit einem Kuss.

»Da ist mir die Überraschung aber geglückt, was?«, sagte er und schaute sie mit strahlenden Augen an. Er sah erholt aus. Seine Wangen waren rundlich, und er trug neuerdings einen Oberlippenbart, der von seinem lichter gewordenen, ergrauten Haar ablenken sollte.

»Aber das Sanatorium, die Ärzte …«, setzte Marta erneut an.

»Die Ärzte haben mich als geheilt entlassen«, unterbrach er sie. »Bin ich froh, wieder zu Hause zu sein und dich, mein geliebtes Pensionsmädchen, wiederzuhaben. Und jetzt lasse ich dich nicht mehr so schnell allein. Das verspreche ich dir.«

Marta nickte. Sie konnte ihr Glück kaum fassen. Wilhelm war wieder da. Ihr geliebter Wilhelm. Oh, sie würde noch besser auf ihn achten. So schnell sollte er nicht mehr krank werden. Dafür würde sie sorgen.

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2

Ida bückte sich und hob eine Auster auf, die sie nach genauer Prüfung in den an ihrem Arm hängenden Korb legte. Riekes Tochter Nele, die neben ihr herlief, hob ebenfalls etwas auf. Es war jedoch keine Auster, sondern eine vom Meer abgeschliffene Scherbe, die grünlich schimmerte. Sie wollte sie in den Korb legen, doch Ida hielt sie davon ab.

»Nein, nur Austern dürfen in den Korb«, mahnte sie.

Nele zog eine Grimasse. »Aber ich habe meine Tasche vergessen.«

»Kaline hat immer gesagt, in den Korb dürfen nur Austern.« Ida blieb bei ihrer Ablehnung.

»Aber Kaline ist nicht da«, entgegnete Nele und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Stimmt, das ist sie nicht«, antwortete Ida und spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Sie wandte den Blick ab. Nele sollte nicht sehen, wie ihre Worte sie trafen. Doch Nele bemerkte es trotzdem.

»Entschuldige«, sagte Nele kleinlaut, »ich wollte dich nicht traurig machen.«

»Ist schon gut«, antwortete Ida. »Sie fehlt mir nur so sehr. Besonders hier draußen ist es schlimm. Sie hat das Watt und das Meer mehr geliebt als alles andere auf der Welt. Das ew’ge Hin und Her, hat sie immer gesagt. Nie sieht es gleich aus. Ich kann nicht sagen, wie oft ich mit ihr nach Föhr gelaufen bin. Manchmal nur, weil es uns Spaß gemacht hat. Dort angekommen, haben wir einen Teil unserer gesammelten Austern gegen ein Fischbrötchen getauscht, uns am Hafen in die Sonne gesetzt und dem Wasser beim Auflaufen zugesehen. Einer der Fischer – Kaline kannte sie alle beim Namen – hat uns dann wieder mit zurück nach Amrum genommen.«

»Heute kennst du sie alle beim Namen«, sagte Nele. »Und wir beide laufen gemeinsam nach Föhr.«

»Ja, das stimmt. Heute laufen wir zusammen nach Föhr. Und wenn wir noch ein paar Austern mehr ernten, dann gibt uns Tatje an der Fischbude gewiss zwei Fischbrötchen dafür.«

»Na, dann los«, sagte Nele. »Lass uns noch welche finden. Ich bin schon hungrig.« Nele rannte übermütig los, breitete die Arme aus und begann, sich im Kreis zu drehen. »Ist es nicht herrlich heute?«

»Ja, das ist es«, antwortete Ida lachend. Neles Unbefangenheit tat ihr gut, obwohl sie sie eigentlich nicht hatte mitnehmen wollen, denn sie wollte zu Thaisen und den anderen ins Künstleratelier, und dort war Nele nicht gern gesehen. Aber die kleine Kröte, wie sie ihre Nichte liebevoll nannte, hatte sich mal wieder nicht abschütteln lassen. Nele suchte in der letzten Zeit ständig Idas Nähe. Im Gästehaus wäre es langweilig, hatte sie gesagt. Sie erinnerte Ida ein wenig an sich selbst in diesem Alter. Nele war jetzt neun Jahre alt und sah wie eine Kopie ihrer Mutter aus. Braunes Haar und Augen, schmale Statur und einige Sommersprossen auf der Nase. Nur war Nele kein Stadtmädchen wie Rieke, sondern ein rechter Wildfang, der es faustdick hinter den Ohren hatte. Sie trieb sich gern mit den Jungen aus den Dörfern herum. Da wurde dann schon mal in einen Kaninchenbau gekrabbelt, Lagerfeuer in den Dünen gemacht, oder sie erschreckten die Damen am Strand als kleine Schlammmonster. Rieke klagte Marta nicht selten ihr Leid mit der ungestümen Tochter, die sie am liebsten in ein Internat geben würde, was Jacob jedoch strikt ablehnte. Seine Tochter sollte wie jedes andere Inselkind aufwachsen, und Kinder machten nun einmal Unsinn. Bei Erziehungsfragen steckte in Rieke noch immer die alte Tradition, wie Marta öfter betonte. Sie war durch die Erziehung einer höheren Töchterschule Hamburgs gegangen, und da gab es keine Jungen aus dem Nachbardorf oder Karnickel zum Jagen. Die Jahre auf Amrum hatten Rieke verändert, doch das Leben in Hamburg hatte sie niemals ganz abschütteln können. Rieke liebte noch immer schöne Kleider und Tanzveranstaltungen und zeigte sich nur allzu gern als die elegante Inhaberin eines schmucken Gästehauses in Wittdün, das betuchte Gäste beherbergte. Oder war sie jetzt ungerecht? Rieke liebte das Meer nicht weniger als sie selbst oder Kaline, zu der sie ein besonderes Verhältnis gehabt hatte, da diese Rieke damals geholfen hatte, als sie beinahe im Watt ertrunken wäre. Es ist viel Fassade, hatte Kaline einmal zu Marta gesagt. Sie versteckt ihren Kummer hinter Kleidern, Frisuren und getuschten Wimpern. Doch das funktioniert nicht immer. Ida wusste, von welchem Kummer Kaline sprach. Rieke wünschte sich noch ein Kind, doch es wollte nicht gelingen. In den letzten Jahren hatte sie fünf Fehlgeburten erlitten, ein Mal wäre sie beinahe gestorben. Das Leben ist wie das Meer, hatte Kaline gesagt. Es macht, was es will, und erfüllt keine Wünsche.

Ida schob den Gedanken beiseite. Heute war ein schöner Tag, und das Meer war ihnen wohlgesinnt. Außerdem weilte der Maler Otto Heinrich Engel wieder auf Föhr. Thaisen hatte es ihr gestern Abend gesagt. Der in Berlin lebende Künstler verbrachte seine Sommer gern auf Föhr und war nicht abgeneigt, ihnen einiges über die Malerei beizubringen. Er gehörte in Berlin der Künstlergruppe Berliner Secession an, was Thaisen und Ida beeindruckte. Sie hatten zwar keine Ahnung, was eine Secession und wie bedeutend die Künstlergruppe in Berlin war. Aber dass sich ein solch hoch geschätzter Künstler dazu herabließ, ihnen das Malen näherzubringen, beeindruckte sie und machte sie stolz.

Nele bückte sich und hob eine Auster auf, die für gut befunden wurde und in den Korb wanderte.

»Du willst wieder zu den Malern, oder?«, fragte sie. Ida bejahte ihre Frage. »Also, Frauke hat gesagt, du könntest gar nicht richtig malen. Es würde alles so verwaschen aussehen und gar nicht anständig.«

»Das hat Frauke zu mir auch schon gesagt«, erwiderte Ida. »Aber sie hat keine Ahnung. Das ist der Malstil. Die Bilder von Hans-Peter Feddersen sind auch verwaschen. Aber sie werden hochgelobt. Er soll diesen Sommer sogar eine Ausstellung auf Föhr planen. Dann werden wir ihn persönlich kennenlernen. Thaisen will ihn in unser kleines Atelier einladen. Es wäre so wunderbar, wenn er uns besuchen würde. Ich finde seine Werke großartig.« Idas Augen begannen zu strahlen.

Nele verstand die Euphorie nicht, beeilte sich aber, zuzustimmen. Sie selbst malte auch Bilder. Zumeist jedoch mit ihren Buntstiften, denn mit Farbe und Pinsel gelangen ihr die Darstellungen nicht so, wie sie wollte. Aber vielleicht konnte sie von den Malern etwas lernen.

Die beiden erreichten Föhr und brachten ihre Austern zu Tatje an die Fischbude, die neben der Seebrücke am Hafen von Wyk lag.

»Gud Dai, Tatje«, grüßte Ida freundlich.

»Moin, Ida. Schön, dich zu sehen. Hast mal wieder Austern für mich?«

»Wir haben ganz viele«, antwortete Nele für Ida. »Und wir sammeln nur die schönsten«

»Das glaub ich gern, mien Deern«, antwortete Tatje mit einem Lächeln. »Schön, dich zu sehen, Nele. Wie geht es deiner Mama und der Oma? Richte Grüße aus. Bist du etwa schon wieder gewachsen? Das muss am vielen Regen liegen. Da wachsen die Kinder in den Himmel.«

»Na, dann müssten über unsere Inseln diesen Sommer lauter Riesen laufen, so viel, wie es dieses Frühjahr geregnet hat«, antwortete Ida lachend.

»Ja, dieses Frühjahr war es scheußlich. Ständig dieser graue Himmel. Aber heute ist es ja schön. Jetzt kommt der Sommer, und der hat einiges wiedergutzumachen. Zwei Fischbrötchen wie immer?« Sie sah von Ida zu Nele.

»Aber mit extra Gürkchen«, sagte Nele.

»Wie könnte ich die vergessen«, antwortete Tatje mit einem Augenzwinkern, legte auf die Fischbrötchen noch einige Gürkchen mehr drauf und fragte: »Ihr wollt bestimmt wieder zu den Malern nach Nieblum, oder?«

»Du kennst mich zu gut«, erwiderte Ida grinsend.

»Thaisen ist vorhin auch schon an mir vorbeigelaufen. Der Jung hatte es mal wieder eilig und hat nur kurz gegrüßt.«

»Heute ist ein wichtiger Tag, denn der Maler Otto Heinrich Engel aus Berlin soll gestern eingetroffen sein.«

»Und deshalb muss man um halb sechs morgens im Stechschritt an einer alten Bekannten vorbeilaufen, ohne auf einen kleinen Schnack stehen zu bleiben«, erwiderte Tatje und verschränkte die Arme vor der Brust. »Da schläft doch der werte Herr Künstler noch.«

»Vermutlich«, antwortete Ida schmunzelnd. »Ich werde Thaisen deine Beschwerde mitteilen. Bestimmt wird er sich bessern.«

»Das will ich doch hoffen. Sonst kriegt er von mir kein Fischbrötchen mehr verkauft, der werte Herr Pfarrerssohn. Obwohl er mit seinem Vater ja nicht viel am Hut haben soll. Soll ständig Streit geben. Ja, ich weiß. Das Geschwätz der Leute. Aber meistens ist ja was Wahres dran, und Gerüchte hüpfen schon mal von Insel zu Insel.« Tatje winkte ab.

Ida und Nele verabschiedeten sich von der Fischverkäuferin und machten sich auf den Weg nach Nieblum. Schnell hatten sie die Häuser von Wyk hinter sich gelassen und gingen über freies Feld. Kühe und Schafe grasten auf den Wiesen, eine Schar schnatternder Gänse kreuzte ihren Weg, denen ein altes Mütterchen folgte. Schmetterlinge flatterten durch die Luft, in der der Geruch von frisch gemähtem Gras hing. Dieser Frühlingstag fühlte sich tatsächlich schon fast sommerlich an.

Sie erreichten das von alten Friesenhäusern geprägte Nieblum. Viele der Häuser des Ortes gehörten Kapitänen, die ihr Vermögen meist im holländischen Walfang verdient hatten. Der Preis für den Wohlstand war jedoch hoch. Genauso wie auf Amrum waren viele Männer von der See nicht zurückgekehrt. Zeugnis hiervon gaben die Grabsteine rund um den sogenannten Friesendom, die Kirche St. Johannis, an der sie vorbeiliefen. Unweit davon lag ihr Ziel. Ein weiß getünchtes Haus, das ein Garten umgab, in dem viele Obstbäume standen und der Löwenzahn bereits blühte. Auf der Bank neben dem Hauseingang schlief eine schwarz-weiß getigerte Katze in der Sonne, die träge den Kopf hob, als sie näher traten. Nele begeisterte sich für das Tier und streichelte es.

»Das ist Suse«, erklärte Ida. »Sie gehört zum Haus.«

In der offen stehenden Tür tauchte eine junge blonde Frau auf, die nicht viel älter als Ida war.

»Moin, Ida«, grüßte sie, sah zu Nele und hob eine Augenbraue.

»Du hast jemanden mitgebracht.«

»Sie ist meine Nichte«, sagte Ida.

»Nichte«, wiederholte die Frau abfällig.

»Ja, Nichte.« Ida hielt den Blick der Frau einen Moment fest. Annemarie Hermanns stammte aus Kiel und war mit ihrem Bruder Ludwig hier. Sie waren Teil der Künstlergruppe und hatten sogar schon einmal in Sylt eine Ausstellung gehabt, die, so meinte Annemarie, ein voller Erfolg gewesen war. Ida mochte die hochnäsige Ziege nicht sonderlich, die ihr häufig durch abfällige Bemerkungen zu verstehen gab, dass sie von Kunst keine Ahnung hatte.

»Ida, da bist du ja.« Thaisen kam nach draußen und begrüßte sie mit einer kurzen Umarmung. Sein Auftauchen sorgte dafür, dass Annemaries säuerliche Miene verschwand und ihre Augen zu strahlen begannen. Es war offensichtlich, dass sie für Thaisen schwärmte, der mit seinen zerzausten braunen Haaren und seinem Dreitagebart etwas Verwegenes hatte.

»Du hast Nele mitgebracht«, sagte Thaisen.

»Sie wollte unbedingt mitkommen«, antwortete Ida.

»Ich dachte, ich könnte auch mal malen«, sagte Nele. »So richtig, meine ich. Nicht nur mit den Buntstiften.«

»Und das ausgerechnet heute, wo Otto Heinrich Engel zu uns kommen wird«, sagte Annemarie und verdrehte die Augen.

»Ist doch nicht so schlimm«, meinte Thaisen. »Was soll er schon gegen ein kleines Mädchen haben, das gern malen möchte. Komm, Nele, wir suchen dir einen Kittel, damit du dein Kleid nicht beschmutzt, und dann sehen wir mal nach, ob wir eine Staffelei und eine Leinwand auftreiben können. Wenn du magst, kannst du Fritz im Garten Gesellschaft leisten. Er ist ein geduldiger Lehrer und kann dir eine Menge beibringen.« Er hielt Nele die Hand hin, die sie freudig ergriff. Annemarie sah zu Ida, die triumphierend grinste.

»Freu dich nicht zu früh«, sagte Annemarie mürrisch. »Wenn Gustav sie sieht, wird es mit der Malstunde schnell ein Ende haben.« Sie reckte das Kinn vor und ging ins Haus zurück. Ida folgte ihr.

Die Künstlergruppe bestand aus insgesamt sieben Personen: Annemarie und ihrem Bruder Ludwig, Gustav und seiner Frau Petronella, die schon etwas älter waren, aus Hamburg stammten und das Haus vor einigen Jahren gekauft und renoviert hatten, und Fritz Berwitz, der aus Berlin kam und dort zum Dunstkreis von Otto Heinrich Engel gehörte. Angeblich hatte ihn eine unglücklich verlaufene Liebesgeschichte nach Föhr geführt. Aber Genaueres wusste Thaisen darüber nicht zu sagen, obwohl er sich mit Fritz gut verstand und die beiden viel Zeit miteinander verbrachten. Ida und Thaisen hatten sich der Gruppe im letzten Jahr angeschlossen. Vor einigen Jahren hatte Thaisen sich mit einem alten Künstler angefreundet, der in einem Haus in Süddorf gewohnt hatte und ihn für das Malen begeisterte. Oftmals waren die beiden stundenlang mit ihren Staffeleien und Malutensilien in den Dünen oder am Strand gesessen, um das perfekte Licht über dem Meer einzufangen. Ida war auf den Künstler, der Karl hieß und aus Wiesbaden kam, sogar eifersüchtig geworden. Er nahm ihr die Zeit mit Thaisen, was ihr nicht gefiel. Irgendwann – es blieb ihr ja nichts anderes übrig – begann auch sie zu malen und fand immer mehr Gefallen daran. Sie war nicht so begabt wie Thaisen, aber mit jedem Pinselstrich wurden ihre Bilder besser. Karl war auch derjenige gewesen, der den Kontakt zu der Künstlergruppe auf Föhr hergestellt hatte. Leider war er im Winter an einem Herzanfall verstorben, was Thaisen schwer zugesetzt hatte. Er hatte ihn gefunden, auf dem Boden in der Küche, umgeben von Scherben und Essensresten. Thaisen wohnte in der alten Kate am Strand, und Ida hatte mit ihm zusammen geschwiegen, ihn beobachtet, wie er Seesterne sortierte, an seiner Seite geschlafen und seinem Atem gelauscht. Eines Morgens, sie war mal wieder nicht nach Hause gegangen, hatte er sie mit einer warmen Tasse Tee geweckt, sich neben sie gesetzt und gesagt: »Das gefrorene Watt funkelt im Licht der Sonne. Willst du es sehen?« Da wusste sie, dass die erste Trauer überwunden war. Gemeinsam waren sie nach draußen gegangen, wo die frostige Luft des kalten Wintertages sie empfangen hatte, und waren Hand in Hand auf das zugefrorene Watt hinausgelaufen, das wie tausend Diamanten glitzerte. Kein Maler der Welt, und mochte er noch so begabt sein, würde diesen Zauber jemals einfangen können.

Im Inneren des Hauses gab es die übliche Wohnstube mit blau gestrichenen Möbeln und Kacheln an den Wänden. Daneben lag die Küche, in der Talke Oleffs am Herd werkelte. Sie war Witwe und froh darüber, sich ein Zubrot als Köchin und Mädchen für alles bei den Künstlern verdienen zu können. »Das riecht heute aber wieder lecker«, sagte Ida und blieb in der Küchentür stehen.

»Ich hab Kuchen gebacken, und es gibt Scholle mit Krabben und Kartoffeln. Soll heute alles vom Feinsten sein, weil Otto kommt.«

Ida nickte.

»Gehört die Lütte zu dir?«, fragte Talke und deutete in den Garten.

Ida beantwortete die Frage mit Ja und fügte hinzu: »Sie ist meine Nichte und heißt Nele.«

»Hübsche Deern. Will wohl auch Künstlerin werden, was?«

»Nein, das glaube ich nicht. Obwohl. Ihr Großonkel war Maler. Von ihm hängen einige Bilder in unserem Hotel.«

»Das tun deine Bilder auch«, konstatierte Talke. »Gefallen mir besser als die von Petronella.«

»Das darfst du aber nicht zu laut sagen«, antwortete Ida.

»Nie im Leben. Sonst habe ich hier zum letzten Mal gekocht.«

Talke grinste und wandte sich wieder ihrem Kuchenteig zu. Ida ging durch die geöffnete Hintertür in den Garten. Nele hatte einen blauen Kittel angezogen und stand neben Fritz an einer Staffelei. Er zeigte ihr, wie man Farben anrührte. Ida ging zu den beiden hinüber und fragte: »Und, was soll gemalt werden?«

»Das Nachbarhaus.« Fritz deutete auf das kleine Friesenhäuschen, das ihrem Garten gegenüberlag. Auch Ida hatte es bereits gemalt. In dem kleinen Häuschen mit dem bemoosten Reetdach wohnte die alte Ween. Auch sie war Witwe. Wie gewohnt saß sie mit ihrem Strickzeug vor dem Haus. Ida überlegte, auf einen Schnack zu ihr zu gehen, verwarf den Gedanken jedoch wieder. Sie wollte ihr Bild von gestern noch einmal verfeinern. Es zeigte eine der Straßen Nieblums mit einer Baumallee und Friesenhäusern im Licht der Nachmittagssonne. Hier und da galt es, noch Details auszubessern. Vielleicht könnte sie es später Otto Heinrich Engel zeigen. Sie ließ Nele in Fritz’ Obhut und ging ins Haus, um ihr Bild und die Staffelei nach draußen zu holen. Dort traf sie in der Wohnstube auf Petronella, die Pinsel auswusch. Der Geruch von Terpentin hing im Raum. Ohne Ida anzusehen, sagte Petronella: »Ich nehme an, du hast die Deern angeschleppt?«

»Ja, das hab ich«, gab Ida schnippischer zurück als beabsichtigt. Von Beginn an war ihr Verhältnis zu der hageren Frau schwierig gewesen. Petronellas Miene war zumeist ernst. Sie rügte ständig alles und jeden. Nur selten konnte es ihr jemand recht machen. Ida war ihr von Beginn an ein Dorn im Auge gewesen. Petronella passte jedoch hervorragend zu ihrem Gatten Gustav, der ebenso verbittert zu sein schien. Nach einem besonders üblen Streit vor einigen Wochen hatte Fritz Ida erzählt, dass Petronella keine Kinder bekommen konnte, was sie nie verwunden hatte. Gustav war ihr zweiter Ehemann, da ihre erste Ehe wegen ihrer Kinderlosigkeit in die Brüche gegangen war. Ida hatte nach dem Gespräch mit Fritz überlegt, ob sie mit Petronella nachsichtiger sein sollte. Sie entschied sich jedoch dagegen.

»Die Lütte hat zu verschwinden«, sagte Petronella.

»Wieso denn?«, fragte Ida.

»Das fragst du noch? Otto kommt. Was soll er denn von uns denken, wenn bei uns Kinder im Garten stehen und mit Farbe klecksen?«

»Ja, was soll er nur denken«, antwortete Ida und verschränkte die Arme vor der Brust. »Nele malt. Sie tut das, was Otto Heinrich Engel liebt.«

»Aber sie ist ein Kind. Und wir sind eine ernsthafte Künstlerkolonie, die Ambitionen hat. Otto kommt aus Berlin, wo er gerade eine Auszeichnung erhalten hat. So jemandem kann man keine Neunjährige im Malkittel zumuten, die eine Leinwand vollkritzelt. Die du, nebenbei bemerkt, bezahlen wirst.«

Idas Miene verfinsterte sich.

»Die Leinwand ist nicht aus deinem Fundus, sondern von Fritz. Er hat sie Nele geschenkt und freut sich über ihre Gesellschaft. Und ich bin mir sicher …«

»Das ist mir gleichgültig«, fiel Petronella Ida ins Wort. »Ich sagte, das Kind verschwindet. Und wenn Fritz so dumm ist und ihr eine Leinwand schenkt, dann ist das seine Sache. Aber von dem gutmütigen Tölpel ist nichts anderes zu erwarten. Ich setze dem Unsinn jetzt ein Ende.« Petronella ließ von ihren Pinseln ab und ging an Ida vorbei in den Garten. Ida folgte ihr. Petronella marschierte auf Nele zu, nahm die Leinwand, die Nele gerade mit hellblauer Farbe bemalte, von der Staffelei und warf sie zu Boden.

»Hier ist jetzt Schluss mit dem Kindermalkurs. Wo kommen wir denn da hin, wenn jedes Gör aus dem Dorf bei uns malen darf.« Ihre Stimme war laut geworden.

Nele sah zu Fritz, der den Pinsel hatte sinken lassen. Thaisen, der mit seinen Malutensilien auf dem Weg zum Strand war, kam, von den lauten Stimmen angezogen, in den Garten und fragte: »Was ist denn hier los?«

»Was hier los ist?«, zischte Petronella mit vor Wut funkelnden Augen. »Deine kleine und, wenn wir schon dabei sind, talentfreie Freundin hat dieses Balg angeschleppt. Und das ausgerechnet heute, wo Otto kommt. Was denkt ihr zwei euch eigentlich? Dass das hier alles eine Spaßveranstaltung ist?«

Thaisen sah von Petronella zu Ida und zu Nele, die den Kopf gesenkt hatte. Er wollte etwas erwidern, kam jedoch nicht mehr dazu, denn Annemarie betrat mit Gustav im Schlepptau den Garten.

»Was macht das Kind hier?«, fragte Gustav.

»Ida hat sie angeschleppt«, beantwortete Annemarie seine Frage und warf Ida einen triumphierenden Blick zu.

»Hier gibt es keine Kinder«, sagte Gustav.

»Wieso nicht?«, fragte Fritz. »Die Kleine tut doch keinem …«

Weiter kam er nicht.

»Ich habe gesagt, hier gibt es keine Kinder«, fiel Gustav ihm ins Wort.

»Heute kommt Otto, und wir müssen uns von unserer besten Seite zeigen. Aber das scheint in unserer Runde nicht jeder zu verstehen. Otto Heinrich Engel ist ein hochangesehener Künstler, der uns die Ehre erweist. Wenn wir Glück haben, können wir mit ihm gemeinsam eine Ausstellung auf Föhr machen. Das würde für unsere künstlerische Arbeit mehr Aufmerksamkeit bedeuten. Allerdings werden diese Pläne mit Dilettantinnen, wie Ida eine ist, nicht funktionieren. Es tut mir leid, Ida« – er sah Ida direkt an –, »aber so geht es nicht. Dir fehlt es an der nötigen Ernsthaftigkeit.«

»Meine Rede«, stimmte Petronella zu und verschränkte die Arme vor der Brust. »Schon seit Thaisen sie angeschleppt hat, sage ich das. Aber mir wolltest du ja nie zuhören.«

»Das bedeutet, Ida ist hier unerwünscht«, sagte Thaisen und sah von Petronella zu Gustav.

»Wenn du es so direkt sagst. Ja, das bedeutet es.«

»Dann gehen wir jetzt. Komm, Ida. Malen können wir auf Amrum auch. Gemeinsam mit Nele. Und dort kann sie so viele Leinwände vollkritzeln, wie sie möchte.«

Er legte den Arm um Nele und zog sie enger an sich.

»Und ich werde euch begleiten«, sagte Fritz. »Jetzt habe ich die Faxen endgültig dicke. In solch einer feindseligen Umgebung kann ich nicht kreativ sein. Viel Spaß mit Otto, der übrigens ein recht kinderlieber und herzlicher Mensch ist. Vermutlich hätte er Neles Bild in den höchsten Tönen gelobt und sie dazu ermutigt, bei der Malerei zu bleiben. Ihre Anwesenheit hätte euch Pluspunkte eingebracht. Kommt. Lasst uns gehen.« Er ging zum Haus. Ida, Thaisen und Nele folgten ihm. Im Haus verabschiedete sich Ida von Talke, die gerade Kartoffeln schälte.

»Auf Wiedersehen, Talke. Wir gehen für immer.«

»Ist es also so weit«, antwortete Talke. »Hat ja so kommen müssen. Wenn ich nur auch gehen könnte. Aber mich will anderswo keiner mehr haben.« Sie zuckte mit den Schultern.

Ida wusste nicht, was sie antworten sollte. Am liebsten hätte sie gesagt, komm mit uns. Aber so leicht war das nicht. Was sollte Talke auf Amrum tun? Sie könnte als Aushilfe in der Hotelküche arbeiten.

»Vielleicht ja doch«, sagte Ida zögernd. »Meinen Eltern gehört das Hotel Inselblick. Sollte sich etwas ergeben, dann melde ich mich bei dir.« Sie nickte der Köchin zu und folgte Thaisen nach draußen.

»Und du denkst, es ist eine gute Idee, ihr Hoffnungen zu machen?«, fragte Thaisen.

»Warum nicht. Talke ist eine herzensgute Frau und kann kochen. Sie hat etwas Besseres als diese Leute verdient.« Ida zuckte mit den Schultern. Fritz stieß zu ihnen, und die vier machten sich auf den Weg nach Wyk. Wenn sie Glück hatten, würden sie noch die Fähre erreichen.

»Du hättest nicht mit uns gehen müssen«, sagte Thaisen zu Fritz. »Du hattest doch gehofft, Otto heute wiederzusehen, und darüber nachgedacht, mit ihm nach Berlin zurückzukehren.«

»Schon. Aber seit einigen Tagen zögere ich deshalb. Mir gefällt es hier. Ich meine, an der See. Nicht unbedingt bei Gustav und Petronella. Ich hatte ja, wie wir alle, gehofft, dass es mit den beiden besser wird. Aber dem war nicht so. Sie sehen alles zu verbissen. Kunst ist nicht planbar. Auch wenn die zwei das gern hätten.«

»Ich finde ja, Petronella hat Ähnlichkeit mit der alten Ziege von Elspe Riewert aus Süddorf. Die guckt auch immer so böse«, meldete sich Nele zu Wort.

Ihr Vergleich brachte alle zum Lachen.

»Wir sind eine ernsthafte Künstlerkolonie mit Ambitionen«, äffte Ida Petronella nach und spitzte die Lippen.

»Annemarie wird jetzt traurig sein«, fügte Fritz hinzu. »Sie mochte dich.« Er stieß Thaisen in die Seite.

»Echt?«

»Unser Thaisen. Blind wie ein Fisch. Was Frauen angeht, hast du noch einiges zu lernen.«

Er sah kurz zu Ida, die seinen Blick jedoch nicht erwiderte. Von der ersten Sekunde an hatte Fritz gespürt, wie stark die Verbindung zwischen Thaisen und Ida war. Er mochte kein kluger Mensch sein und hatte in seinem Leben nie Erfolg gehabt. Aus armen Verhältnissen stammend, war die Malerei viele Jahre alles gewesen, was ihn am Leben erhalten hatte. Besonders das Zeichnen von Menschen hatte es ihm damals angetan. In dieser Zeit hatte er ein Gespür für die Gefühle seiner Mitmenschen entwickelt. Er hatte ihr Lachen, ihre Traurigkeit, ihre Wut und ihre Müdigkeit dargestellt. Hatte Menschlichkeit in all ihren Facetten eingefangen. Wenn er eines wusste, dann, dass Ida und Thaisen füreinander bestimmt waren. Sie mussten es nur noch selbst bemerken.

Sie erreichten Wyk, wo ihnen die Fähre buchstäblich vor der Nase davonfuhr.

Tatje, die gerade keine Kundschaft hatte, erkannte ihre Misere, deutete auf eines der im Hafen liegenden Fischerboote und rief: »Fedder will gleich ablegen. Fedder, mien Jung. Du nimmst mir die vier doch nach Amrum mit, oder?«

Fedder, der gerade dabei war, die Leinen loszumachen, stimmte bereitwillig zu. »Und schon habt ihr eine Transportmöglichkeit gefunden, Kinners. Das kostet aber eine Ladung Austern.« Tatje zwinkerte Ida zu, die nickte. »Für dich immer, Tatje. Ich bring sie dir bald vorbei. Fest versprochen.«

Die vier kletterten an Bord des kleinen Fischkutters, und Fedder legte ab.

Auf See zog der Himmel zu.

»Wird Regen geben«, unkte Thaisen.

»Womöglich ein Gewitter«, meinte Fedder. »Sehen wir besser zu, dass wir in den Heimathafen kommen.«

Er steuerte sein Boot nicht nach Wittdün, sondern nach Steenodde. Als sie am Hafen anlegten, zuckten erste Blitze über den Himmel, und es donnerte. Sie eilten zum nahen Gasthaus Zum lustigen Seehund, um dort das Unwetter abzuwarten. Im Inneren empfingen sie leere Tische und Seike, die Tochter des neuen Wirts, die Gläser wusch.

»Wir haben noch geschlossen«, sagte das pummelige Mädchen ruppig.

»Gud Dai, Seike.« Thaisen versuchte es mit Freundlichkeit. »Es zieht ein Gewitter auf. Wir möchten nur das Schlimmste abwarten.«

»Könnt euch drüben ans Fenster setzen«, erwiderte sie mit finsterer Miene. »Aber zu trinken gibt’s nix.«

Die vier setzten sich an den Fenstertisch und sahen nach draußen. Der Wind wühlte das Meer auf, und die wenigen Kutter im Hafen schaukelten auf den Wellen. Doch es passierte nicht viel. Einige Regentropfen fanden den Weg auf die Erde, es donnerte kaum noch. Keine zehn Minuten später rissen die Wolken wieder auf, und die Sonne kam hervor.

»Dem Gewitter ist die Puste ausgegangen«, sagte Nele.

»Zu unserem Glück«, erwiderte Ida, stand auf und bedankte sich bei Seike dafür, ihnen Obdach gegeben zu haben. Sie traten nach draußen und blieben etwas ratlos vor dem Gasthaus stehen.

»Und was nun?«, fragte Fritz.

»Du könntest für den Anfang bei mir in der Kate wohnen«, schlug Thaisen vor. »Es ist zwar klein, aber eine Weile wird es schon gehen.«

»Hm«, meinte Fritz, der die Kate kannte. Sie war nicht nur klein, sondern auch voller Gerümpel, das Thaisen am Strand gesammelt hatte.

»Oder du kommst mit mir«, schlug Ida vor. »Wir suchen für die Saison noch Aushilfskräfte. Vielleicht findet sich eine Aufgabe für dich.«

»Wieso nicht«, antwortete Fritz zögernd.

»Dann auf zu Oma«, sagte Nele, nahm Ida an der Hand und zog sie mit sich. »Bestimmt hat Ebba Heißwecken gebacken. Das macht sie doch immer.«

Die vier machten sich auf den Weg nach Norddorf und durchquerten alsbald Nebel. Dort war die Bahnstrecke für die neue Inselbahn bereits fertiggestellt. Nebel hatte einen Kopfbahnhof erhalten, denn die eigentliche Streckenführung der Bahn verlief zwischen Dünenrand und Marschwiesen über ungenutztes Heideland und am Kurhaus Zur Satteldüne vorüber. Der Kopfbahnhof war die einzige Lösung gewesen, um den Ort an die Inselbahn anzuschließen. An der Bahnstation in Nebel herrschte rege Bautätigkeit. Das Ehepaar Juliane und Matthias Dethlefsen baute ein Bahnhofshotel, an das eine Abfertigungs- und Restaurationshalle grenzte. Obwohl sich Ida schon fragte, ob sich der ganze Aufwand überhaupt lohnte. Wer wollte als Kurgast schon direkt an den Gleisen der Inselbahn wohnen? Andererseits war eine Unterbringung in dem Bahnhofshotel vermutlich komfortabler, als in so manchem Bett eines Fischers zu nächtigen. Viele Bewohner der Insel nutzten die Privatvermietung als Verdienstmöglichkeit. Da wurden dann schon mal sämtliche Betten im Haus belegt, und die Familie nächtigte im Stall.