Der Kaffeegarten. Die Farbe des Meeres - Anke Petersen - E-Book
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Der Kaffeegarten. Die Farbe des Meeres E-Book

Anke Petersen

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Beschreibung

Sehnsuchtsziel Sylt – Urlaub in Buchform für alle, die historische Familiensagas lieben: Die historische Familiensaga um die Schwestern Matei und Elin und ihr Café auf Sylt geht in den stürmischen 20er Jahren weiter. Der Kaffeegarten erstrahlt in neuem Glanz und bringt den Schwestern Matei und Elin den verdienten Erfolg. Elin ist glücklich, doch Matei zieht sich immer mehr aus dem Geschäft zurück und geht ganz in ihrer Malerei auf. Ihre Gemälde beeindrucken den den Künstler Hannes von Bransbeck so sehr, dass er sie einem befreundeten Galeristen in Hamburg vorstellen will, der Kontakt nach Paris, Mailand und sogar New York habe. Als Matei sich entscheidet, Sylt zu verlassen und mit Hannes nach Hamburg zu gehen, kommt es zu einem schlimmen Streit zwischen den Schwestern. Aber kann eine ohne die andere wirklich glücklich werden? »Das Rauschen der Wellen, der Duft der Rosen und viel Romantik – einfach zum Wegträumen ist diese Sylt-Saga von Anke Petersen!« Anne Jacobs, Autorin des Bestsellers »Die Tuchvilla« Nach ihrer Amrum-Trilogie um das »Hotel Inselblick« entführt Bestseller-Autorin Anke Petersen mit ihrer »Kaffeegarten-Trilogie« um das Café der Schwestern Matei und Elin in ein altehrwürdigen Herrenhaus auf Sylt, wo in den 20er Jahren Glück und Unglück oft nicht weit voneinander entfernt sind. Die historische Familiensaga umfasst die folgenden Bände: • Der Kaffeegarten auf Sylt. Salz im Wind • Der Kaffeegarten auf Sylt. Die Farbe des Meeres

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Seitenzahl: 627

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Anke Petersen

Die Farbe des MeeresTeil 2 Der Kaffeegarten

Ein Sylt-Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Der Kaffeegarten erstrahlt in neuem Glanz und bringt den Schwestern Matei und Elin den verdienten Erfolg. Elin ist glücklich, doch Matei zieht sich immer mehr aus dem Geschäft zurück und geht ganz in ihrer Malerei auf. Ihre Gemälde beeindrucken den Künstler Hannes von Bransbeck so sehr, dass er sie einem befreundeten Galeristen in Hamburg vorstellen will, der Kontakt nach Paris, Mailand und sogar New York habe. Als Matei sich entscheidet, Sylt zu verlassen und mit Hannes nach Hamburg zu gehen, kommt es zu einem schlimmen Streit zwischen den Schwestern. Aber kann eine ohne die andere wirklich glücklich werden?

Inhaltsübersicht

1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. KapitelNachwortRezepteFriesentortePharisäer
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1. Kapitel

Keitum, 2. September 1921

Wiebke begutachtete ihr Werk von allen Seiten mit skeptischem Blick. »Was meinst du, Alwine? Ist es so gut? Oder sollten noch mehr Marzipanrosen drauf?«

»Also mir gefällt es«, antwortete die am Küchentisch sitzende Alwine und nahm noch einen weiteren Keks. »Das ist die schönste Friesentorte, die ich in meinem Leben gesehen habe.«

Wiebkes Miene blieb weiterhin unsicher. Die klassische Friesentorte war Elins Lieblingskuchen. Daher sollte sie auch ihre Hochzeitstorte sein. Nur war so eine Hochzeitstorte dann doch etwas größer und prachtvoller als ein normaler Kuchen. Also hatte Wiebke in den letzten Tagen getüftelt und überlegt, Entwürfe gezeichnet, sie wieder verworfen. Vier Stockwerke hatte das süße Machwerk aus Biskuit, Sahne und Pflaumenmus. Obenauf standen natürlich Braut und Bräutigam, umgeben von hübschen Marzipanrosen. Wie es sich für eine anständige Hochzeitstorte gehörte.

»Denkst du, Elin wird sie gefallen? Es ist mein Hochzeitsgeschenk für sie.«

»Sie wird begeistert sein«, antwortete Alwine und streckte sich gähnend. »Hast du vielleicht noch einen Kaffee für mich? Das Kindchen von Wehn Jansen hat sich wirklich Zeit gelassen. Fünfzehn Stunden hat es gedauert. Und derweil ist es schon das fünfte. Vermutlich schlafe ich heute in der Kirche ein.«

»Und warum bist du dann bei uns im Kaffeegarten aufgekreuzt und schläfst nicht noch ein wenig?«, fragte Wiebke. »Es ist erst fünf Uhr morgens. Also noch eine Menge Zeit, bis die Trauung beginnt.«

»Wenn ich mich jetzt hinlege, dann komme ich gar nicht mehr in die Gänge«, antwortete Alwine. »Das zerstört vollkommen meinen Achtzehn-Stunden-Tages-Rhythmus.«

»Wer hat denn, bitte schön, einen solchen Rhythmus?«, fragte Wiebke und schüttelte den Kopf.

Die aus Berlin stammende Alwine hatte der Krieg nach Sylt gebracht. Sie war die leitende Oberschwester in dem Lazarett gewesen, das damals im Herrenhaus eingerichtet worden war. Anfangs hatte sie keiner gemocht. Sie war mit ihrer herrischen Art überall angeeckt. Doch das Sprichwort »Harte Schale, weicher Kern« traf bei Alwine zu, und nach und nach war sie zugänglicher geworden. Alwine bewohnte nun das Haus der Seefahrerwitwe Moiken Jacobsen, die es nach Westerland verschlagen hatte. Sie war eine hervorragende Krankenschwester, hatte aber auch eine Hebammenausbildung. Und eine versierte Hebamme konnten sie auf der Insel gut gebrauchen. Über mangelnde Arbeit konnte sich Alwine, sie hatte im letzten Jahr ihren sechzigsten Geburtstag gefeiert, wahrlich nicht beklagen.

Wiebke nahm die Kaffeekanne vom warmen Ofen, füllte einen Pott und setzte sich stöhnend Alwine gegenüber an den Küchentisch. In Wiebkes Augen war die Küche, oder Backstube, wie sie neuerdings offiziell bezeichnet wurde, noch immer der schönste Platz im Herrenhaus. Obwohl ihr die alte Küche noch ein wenig besser gefallen hatte. Aber wat mut, dat mut, sagte man auf der Insel so schön. Und ein anständiges Caféhaus brauchte eine große und geräumige Backstube. Oder besser gesagt, ein anständiger Kaffeegarten. So wurde das Herrenhaus auf der ganzen Insel beworben. Hansens Kaffeegarten. Schönster Ausflugsort am Wattufer in Keitum gelegen.

Das Herrenhaus am Watt, das so gar nicht zwischen die vielen Reetdachhäuser passen wollte. Paul Hansen hatte es für die Liebe seines Lebens, seine Anna, erbauen lassen. Er hatte sie von Amerika nach Sylt, seiner Heimat, gebracht. Eigene Kinder waren dem Paar verwehrt geblieben, sie hatten jedoch die beiden Waisen Elin und Matei bei sich aufgenommen und waren ihnen liebevolle Zieheltern gewesen. Und heute würde Elin vor dem Traualtar stehen.

Wiebke erinnerte sich gern an das Gartenfest, das sie damals zur Eröffnung des Kaffeegartens gegeben hatten. Über sieben Jahre war dies nun her. Sieben Jahre, in denen die Welt eine andere geworden war. Vorbei war die Zeit des Kaiserreichs, der Krieg hatte ihr Leben verändert und unendlich viel Leid gebracht. Nur langsam erholten sich das Reich und auch Sylt wieder.

Wiebke strich sich eine ihrer grauen Haarsträhnen hinters Ohr und betrachtete die Torte noch einmal mit skeptischem Blick von allen Seiten. »Anna hätte der Kuchen bestimmt gefallen. Es ist ein Jammer, dass sie diesen für Elin so besonderen Tag nicht miterleben kann.« Sie seufzte und rückte den Bräutigam noch ein winziges Stück nach links. Sie selbst war über Umwege vor vielen Jahren auf die Insel gekommen. Zuvor hatte sie in Westerland in einem Strandpavillon erfolgreich ein kleines Café betrieben. Bis es von einer Sturmflut fortgeschwemmt worden war und sie ihr Weg nach Keitum geführt hatte. Dort hatte sie rasch den Ökelnamen Wiebke Gehtherum erhalten, weil sie aus Langeweile ständig durch den Ort spaziert war. Sie hatte sich in jener Zeit verloren und einsam gefühlt. Doch mit dem Kaffeegarten war alles anders geworden. Hier war sie angekommen, hier war sie zu Hause. Matei und Elin waren ihre Familie geworden, und ihr Spitzname Gehtherum gehörte nun der Vergangenheit an.

Matei trat ein und riss sie aus ihren Gedanken. Sie trug nur ihr Nachthemd, ein wollenes Tuch lag über ihren Schultern. Ihr braunes, kinnlanges Haar war zerzaust.

»Moin, Matei«, grüßte Wiebke verwundert. »Wat machst du denn zu dieser frühen Stunde hier?«

»Es geht um Elin«, sagte sie. »Sie hat gebrochen und sitzt nun heulend auf der Bettkante.« Matei registrierte erleichtert Alwines Anwesenheit. »Alwine. Gott sei Dank bist du da. Dir als Krankenschwester fällt bestimmt etwas ein, wie wir Elin wieder gesund bekommen. Eine spuckende Braut will doch niemand haben.«

»Du liebe Zeit«, antwortete Alwine und stand auf. »Die Ärmste.«

»Dat sind bestimmt die Nerven«, sagte Wiebke. »Ich koch ihr gleich einen Tee. Ich hab da noch irgendwo so eine Spezialmischung von Moild aus dem Laden. Magenwohl oder so ähnlich. Dat wird schon wieder.«

Alwine und Matei eilten über den noch im Dunkeln liegenden Hof zu dem neben dem Herrenhaus stehenden alten Kapitänshaus, das Matei und Elin als privater Wohnsitz diente.

Dort angekommen, ging es die Stufen in den ersten Stock hinauf. Elin saß in ihrer Kammer auf der Bettkante ihres Alkovenbetts. Tränen liefen über ihre Wangen. Ihr blondes Haar war zerzaust, ihr Nachthemd wies einige Flecken auf. Selbst in dem schlechten Licht, es brannte nur eine auf der Fensterbank stehende Petroleumlampe, war zu erkennen, wie blass sie war.

»Elin, Schätzchen«, sagte Alwine. »Wir sind jetzt bei dir. Wir bekommen das wieder hin. Gewiss sind es nur die Nerven. Es war ja recht aufregend in den letzten Tagen. Die kurzfristig geplante Hochzeit, dazu der Wasserrohrbruch im Herrenhaus. Und dann auch noch der plötzliche Tod von unserer geliebten Rieke. Da muss es einem ja übel werden.« Sie sank neben Elin auf die Bettkante und tätschelte tröstend ihre Schulter. Was sie alles aufzählte, dachte Matei. Obwohl sie damit schon recht haben konnte. In den letzten acht Wochen war tatsächlich viel passiert. Lorenz hatte Elin aus heiterem Himmel einen Antrag gemacht. Der Wasserrohrbruch im Keller des Herrenhauses hatte sie viele Nerven und eine hübsche Stange Geld gekostet. Und dann war auch noch ganz plötzlich ihre Nachbarin Rieke verstorben. Einfach so hatte die alte Bäuerin morgens tot im Bett gelegen. Der arme Hinnerk, seit Jahren war er als helfende Hand fester Bestandteil des Kaffeegartens, war nun Witwer. Er hatte so verloren an ihrem Grab gewirkt und war es noch immer. Er kam jeden Tag zu ihnen in den Kaffeegarten, saß in der Gaststube am Fenster und starrte, seine Pfeife im Mund, aufs Watt hinaus. Wiebke saß manchmal neben ihm. Einfach so, damit er nicht allein war. Irgendwann kommt er ins Leben zurück, hatte Alwine erst vor einigen Tagen gesagt. Es braucht nur noch etwas Zeit.

»Vielleicht war es die Muschelsuppe«, mutmaßte Matei. »Ich will Emil Eschels, dem neuen Inhaber vom Nordfriesischen Gasthaus, nichts anhängen, aber es wäre möglich. Es war die letzten Tage recht warm. Da werden Muscheln häufiger schlecht. Ich hab dir gleich gesagt, iss lieber den Gemüseauflauf.«

»Ich hasse Brokkoli«, antwortete Elin und zog die Nase hoch.

»Obwohl er sehr gesund ist«, antwortete Alwine.

Elin gab ein knurriges Geräusch von sich.

»Gemüseaufläufe werden grundsätzlich überbewertet«, fügte Alwine rasch hinzu und bemühte sich um ein Lächeln. »Wie steht es denn jetzt? Die Muscheln sind nun raus, oder? Grummelt es noch arg? Noch übel?«

»Es geht besser«, murmelte Elin.

»Der Magen weiß sich eben oftmals selbst zu helfen«, konstatierte Alwine.

Die Zimmertür öffnete sich, und Wiebke betrat, ein Tablett mit einer Teekanne und einem Teepott in Händen, den Raum.

»Kinners, ich sag euch. Dat wird ein herrlicher Tag. Es wird langsam hell, und keine Wolke ist am Himmel zu sehen. Perfekteres Hochzeitswetter findet sich auf unserem Inselchen so schnell nicht wieder.«

»Jetzt müssen wir nur noch die Braut geraderücken, dann ist alles wieder gut«, sagte Matei. Sie hatte sich Elin gegenüber auf einen Stuhl gesetzt und nickte ihrer Schwester aufmunternd zu.

»Und lüften wäre nicht schlecht«, meinte Wiebke und rümpfte die Nase. Sie stellte das Tablett auf dem Tisch ab und öffnete das Fenster. Sogleich strömte der Geruch des nahen Watts in den Raum, und ein sanfter Wind rüttelte an den gehäkelten Scheibengardinen. »Ich hasse den Gestank von Erbrochenem.« Wiebke besah sich das Bett näher. »Das müssen wir gleich frisch beziehen. Kannst du aufstehen? Der Tee ist eine Mischung aus Pfefferminz, Fenchel und Kamille. Moilds Magenwohl rückt bestimmt alles wieder an den richtigen Platz.«

Elin erhob sich mit Alwines Hilfe, und es wurde beschlossen, sie aus dem Raum und in die Wohnstube des alten Friesenhauses zu bringen. Dann konnte Wiebke in aller Ruhe das Malheur im Bett beseitigen. Dem Herrn im Himmel sei Dank hing das seidene Hochzeitskleid sicher im Schrank und hatte nichts abbekommen. Das wäre einer Katastrophe gleichgekommen. Alwine beschloss, das Kleid ebenfalls mit nach unten zu nehmen. Sonst nahm das gute Stück noch den unschönen Geruch an, und das wäre jammerschade. Eine Braut sollte nicht nur hübsch aussehen, sondern auch gut riechen.

In der Wohnstube angekommen, wurde Elin in das sich hier befindliche Alkovenbett verfrachtet. Sie legte sich auf die Seite und schloss die Augen. »Ich bin so müde«, murmelte sie. »Und das ausgerechnet heute. Was wird Lorenz nur von mir denken?«

»Er muss es nicht erfahren«, sagte Matei. »Bis er dich zu Gesicht bekommt, ist bestimmt alles wieder gut. Dafür werden wir sorgen.« Sie verlieh ihrer Stimme einen hoffnungsvollen Unterton. Matei ging in die Küche, um eine der Petroleumlampen zu holen. Es wurde langsam hell draußen, doch im Raum war es noch düster. In der Küche hielt sie kurz inne. Wie sehr sie diesen Raum, ja, dieses ganze alte Haus doch liebte. Die blau-weiß gekachelten Wände, den alten Ofen und die grün-weiß karierten Vorhänge an den kleinen Fenstern. Hier spürte man den Geist vergangener Zeiten, als es auf Sylt noch keinen Tourismus gegeben hatte, Keitum der Hauptort der Insel gewesen war und Seefahrer und Kapitäne in die Welt hinausgezogen waren, um ihr Auskommen zu verdienen. Neben dem Ofen stand der alte Besen aus Dünenhalmen, im Nebenofen backte Wiebke ihnen, trotzdem, dass sie eine modern eingerichtete Backstube im Herrenhaus besaß, noch immer ihren geliebten Mehlpudding. Besonders gern hatte Matei jedoch den Außenbereich des Kaffeegartens. Wenn die Tische unter den Schatten spendenden Ulmen standen, der Geruch des nahen Watts in der Luft hing, karierte Tischdecken im Wind flatterten und Sonnenflecken über den Rasen tanzten, dann spürte sie in ihrem Inneren dieses ganz besondere Glücksgefühl, das sie mit Wärme erfüllte. Sylt, und ganz besonders Keitum, waren ihr Zuhause. Doch durch Elins Hochzeit standen Veränderungen an, und sie wusste noch nicht, ob sie diese gutheißen sollte. Elins Auserwählter, Lorenz Christiansen, stammte von der Insel, aus dem Ort Morsum. Sein Großvater war noch zur See gefahren. Sein Vater hatte in Westerland sein Glück mit einem Gästehaus gesucht, es jedoch nicht gefunden und war kurz nach Kriegsende an einem Herzanfall verstorben. Elin und Matei hatten Lorenz vor dem Krieg nur flüchtig gekannt. Er hatte der Insel vor einigen Jahren den Rücken gekehrt und in Hamburg ein Architekturstudium begonnen, dieses jedoch abbrechen müssen, als der Krieg begonnen hatte. Er hatte an der Westfront gedient und in Verdun den Großteil seiner Kameraden sterben sehen. Vor einem Jahr war er nach Sylt zurückgekehrt und unterstützte nun seinen Onkel Karl Christiansen, der ein Architekturbüro in Westerland betrieb. Er wohnte bei seinem Onkel und seiner Tante Carla in einer Villa im Norden von Westerland. Sie war eine korrekte Hausmutter, die keinen Damenbesuch auf dem Zimmer zuließ und stets auf die Sittlichkeit achtete. Elin war zum Essen geladen und inspiziert worden. Carlas strenger Blick und ihre stocksteife Art, auf dem Stuhl zu sitzen, hatten Elin an Fräulein Rottenmeier aus den Heidi-Büchern erinnert. So hatte sie ihr diesen Ökelnamen verpasst. Wie ein gemeinsames Eheleben aussehen sollte, wussten weder Elin noch Lorenz so recht. Das Kapitänshaus war zu klein, im Herrenhaus wurden die Zimmer vermietet, und zu Fräulein Rottenmeier würde Elin auf keinen Fall ziehen.

»Magst du jetzt was von dem Tee?«, fragte Alwine. »Der wird sonst kalt, und dann hilft er nicht mehr so gut.«

»Ich mag keinen Tee«, Elin gähnte. »Ich bin so müde. Matei, kommst du zu mir?« Sie streckte die Hand nach ihrer Schwester aus.

Matei wusste sogleich, was Elins Frage bedeutete. Sie brauchte Schwesternliebe und Geborgenheit. Selbst Alwine verstand das auch ohne Erklärung.

»Dann geh ich mal nach Hause und versuch doch noch etwas Schlaf zu finden, Tagesrhythmus hin oder her«, sagte sie. »Sonst plumps ich noch aus der Kirchenbank, und das wäre unschön. Sollte noch etwas sein, dann wisst ihr ja, wo ihr mich findet. Ich sag Wiebke Bescheid, dass sie nicht stören soll. Schlaf ist immer noch die beste Medizin.«

Matei kuschelte sich neben Elin in das Alkovenbett und lauschte ihrem gleichmäßiger werdenden Atem. Sie konnte es noch immer kaum glauben: Ihre Schwester würde heute heiraten. Lorenz Christiansen, einen Insulaner. Obwohl Matei nicht sonderlich viel von Lorenz hielt, gönnte sie Elin das Glück. Sie konnte nicht sagen, was der Grund für ihre Abneigung ihm gegenüber war. Er war nett und höflich, sie kannte ihn von Kindheit an, wenn auch nur flüchtig, denn er war sechs Jahre älter als sie. Er vergötterte Elin, las ihr jeden Wunsch von den Augen ab. Er schränkte sie nicht ein und gab ihr den Halt, den sie brauchte. Trotzdem wurde Matei nicht warm mit ihm. Sie hatte neulich mit Wiebke darüber gesprochen. Doch die hatte Lorenz mit seinem Charme ebenfalls eingefangen. Er sah gut aus. Dunkles Haar, leuchtend blaue Augen, kantiges Kinn und breite Schultern. Er tat weltmännisch, hatte Lebenserfahrung, in Hamburg studiert. Aber weshalb hatte er sein Studium nach dem Krieg nicht beendet? Wieso war er nach Sylt zurückgekommen? Oder war sie zu misstrauisch? Aber es ging um Elin. Um das Wichtigste in ihrem Leben. Um ihre Schwester. Sie waren eine Einheit. Die Mädchen vom Herrenhaus. Durch den Tod ihrer Eltern waren sie dazu geworden. Die Erinnerungen an ihre Kindheitsjahre in Tinnum und an ihre leiblichen Eltern, die bei einer Sturmflut gestorben waren, verschwammen immer mehr. Verluste. Sie prägten ihr Leben. Matei dachte an ihre Fehlgeburt. Das kleine Mädchen war nicht lebensfähig gewesen. Sie hatte Jan, ihre große Liebe, an die Spanische Grippe verloren. Damals hatte Elin Matei den Halt gegeben, den sie gebraucht hatte. Sie hatten stets aufeinander geachtet. Und das tat Matei nun auch. Sie legte den Arm um Elin und kuschelte sich noch enger an sie. Doch ging das überhaupt? Konnten Schwestern immer aufeinander aufpassen? Oder sollten sie besser lernen loszulassen? Sie wusste es nicht. Matei hatte sich ebenfalls wieder verliebt. Sie hatte nicht mehr daran geglaubt, dass sie es könnte. Aber sie tat es. In einen Künstler, was auch sonst. Er war im letzten Frühjahr in ihr Leben getreten, hatte sich bei Wilhelm Bartzen im Friesenhaus Melite eingemietet. Sein Name war Hannes von Bransbeck. Einfacher Landadel, so hatte er ihr erzählt. Er war unangepasst, etwas verrückt und liebenswert. Blondes, halblanges Haar, das er zu einem Zopf zusammenband, ein Kinnbart, stets trug er weite weiße Hemden, dazu schmal geschnittene schwarze Hosen. Sie liebte seine muskulösen, braun gebrannten Arme. Mit ihm streunte Matei seit Wochen täglich über die Insel, stets auf der Suche nach dem perfekten Motiv. Und er sprach ihr ein großes Talent zu, lobte ihre Bilder, sie liebten sich in den Dünen, ohne jede Scham. Elin mochte ihn nicht, bezeichnete ihn als Taugenichts. Er wird dir das Herz brechen, hatte sie erst neulich zu ihr gesagt. Aber was gab es an einem gebrochenen Herzen noch zu zerstören? Schlimmer als nach Jans Tod konnte es nicht mehr werden. Und mit Hannes an ihrer Seite fühlte sich ihr Leben wieder lebenswert an.

Matei strich Elin eine Haarsträhne aus der Stirn und betrachtete sie im Licht der auf dem Fensterbrett stehenden Lampe. Keine mochte den Auserwählten der anderen. Vielleicht weil sie sich zwischen sie drängten. Weil sie das kaputt machten, was sie hatten. Sich, das Vertrauen zueinander. In diesem Moment hätte Matei weinen können. In der Kirche würde sie es gewiss tun. Wenn Elin in ihrem wunderschönen Brautkleid zum Altar schreiten und die Frau von Lorenz werden würde.

»Ich hoffe, du wirst glücklich«, flüsterte Matei und legte den Kopf aufs Kissen. »Ich hoffe es so sehr.« Sie schloss die Augen und schlief irgendwann ein.

 

Einige Stunden später stand Elin im Gastraum des Kaffeegartens auf einem Hocker. Unter ihr kniete ihre Freundin, die Schneiderin Heike Peters, die in Westerland ein kleines Atelier direkt neben Elins und Mateis Souvenirladen betrieb, den sie im letzten Jahr nach längerer Überlegung eröffnet hatten.

»Dass so etwas ausgerechnet mir passieren muss«, sagte Alwine, die unweit der Braut an einem der bereits für die Feierlichkeiten eingedeckten Tische saß. »Ich Trampel aber auch. Da trete ich ausgerechnet auf die Schleppe der Braut.«

»Es ist gleich gerettet«, sagte Heike. »Nur noch wenige Stiche. Es ist Gott sei Dank direkt an einer Naht gerissen. Das kleine Malheur wird niemandem auffallen.«

Wiebke trat ein. Ihr folgten Matei und die beiden im Kaffeegarten angestellten Mädchen für alles. Hanne und Vollig. Sie kümmerten sich um die Gästezimmer im Haus und arbeiteten als Bedienungen. Hanne war siebzehn Jahre alt, hatte aschblondes Haar und war dünn wie ein Dünenhalm. So hatte es Wiebke gesagt. Sie war ständig in Sorge, dass das Mädchen verhungern könnte, und lud ihr stets reichlich auf den Teller. Doch so recht wollte an Hanne nichts hinwachsen. Das ist der Stoffwechsel, hatte Alwine erklärt. Bei manchen jungen Mädchen ist das einfach so. Sie selbst hätte auch gern einen solchen gehabt. An sie wuchs schon was hin, wenn sie das Essen nur ansah. Von der neuen Mode, die Korsetts wegzulassen, hielt Alwine aus diesen Gründen so gar nichts. Ohne das unbequeme Ding sähe sie aus wie ein unförmiger Wal. Für das Fest hatte sie sich in ihr Sonntagskleid gezwängt. Ein dunkelblaues, etwas aus der Mode geratenes Seidenkleid mit weinroter Spitze an den Ärmeln und dem Rock. Gerade so hatte Wiebke es zugebracht. Luft würde Alwine keine mehr bekommen. Aber die wurde überbewertet. Wiebke trug ein ähnliches Kleid. Sie hatte die Farbe Dunkelgrün gewählt. Auch bei ihr hatte das Korsett kräftig nachgeschnürt werden müssen.

Hanne und Vollig würden sich heute gemeinsam mit drei weiteren, extra für das Fest eingestellten Aushilfskräften um die Bedienung der Gäste kümmern. Die beiden trugen schwarze Kleider mit hübschen weißen Rüschenschürzen, jede ein passendes Häubchen auf dem Kopf. Sie machten sich daran, kleine Vasen mit Rosen darin auf den Tischen zu verteilen.

»Wie sieht es denn aus?«, fragte Matei. »Ist der Schaden behoben? Hinnerk ist eben mit dem Wagen vorgefahren. Der Blumenfritze«, so wurde Nicolas Lausten vom ortsansässigen Gartenbau-Betrieb bezeichnet, »hat sich wirklich ins Zeug gelegt. Der Wagen sieht fantastisch aus.«

»Also fährt Hinnerk nun doch den Brautwagen?«, fragte Alwine.

»Ja, das tut er. Vorhin kam er und hat gemeint, er könne das doch machen. ›War ja immer der Fahrer‹, hat er gebrummelt.«

»Ja, das war er«, meinte Alwine und lächelte. »Es ist schön, dass er nun doch zur Hochzeit kommt. Ohne ihn hätte etwas gefehlt.«

»Das Kleid ist wieder heile«, sagte Heike und erhob sich. Sie legte Nadel und Faden zurück in das kleine, auf einem der Tische stehende Nähkörbchen und strich ihren hellgrauen Rock glatt.

Matei, die ein sommerliches hellrosa Kleid mit tief angesetzter Taille trug, trat näher und musterte Elin von oben bis unten, sachte berührte sie den Spitzenschleier, der Elin bis auf die Taille fiel und an ihrem Hinterkopf mit einem Kamm festgesteckt worden war. Das Brautkleid bestand aus weißer Seide und war schmal geschnitten, eine Schärpe betonte Elins schlanke Taille. »Du siehst so bezaubernd aus«, sagte Matei. »Wie eine Prinzessin aus dem Märchen. Was macht der Bauch? Alles gut?«

»Alles bestens«, antwortete Elin. Matei fiel auf, dass ihre Hände zitterten. »Bin ich noch blass?«

»Nein, gar nicht«, sagte Matei. »Das Rouge auf den Wangen sorgt zusätzlich für Farbe. Es ist bezaubernd. So wie es sein soll.«

Plötzlich lag eine ganz besondere Stimmung im Raum. Mateis Blick blieb an dem alten Lehnstuhl hängen, der früher am Fenster gestanden hatte und nun in der Kaminecke Platz fand. Paul Hansen hatte stets in ihm gesessen und aufs Meer hinausgeblickt. Matei wusste, dass er stolz auf sie wäre. Seine Mädchen, wie er sie oftmals genannt hatte, würden sich nicht unterkriegen lassen. Er und Anna saßen jetzt gewiss dort oben gemeinsam mit ihren Eltern und sahen ihnen lachend zu. Er würde Elins Wahl begrüßen. Lorenz war ein Insulaner, alter Sylter Kapitänsadel. Matei lächelte. Elin erriet ihre Gedanken.

»Sie sind bei uns. Ich weiß es.«

»Ich auch«, murmelte Matei. »Und Mama würde dein Kleid lieben. Komm.« Sie hielt Elin die Hand hin. »Lass uns gehen. Hinnerk wartet.«

Elin nickte und trat von ihrem Hocker. Matei nahm ihre Hand und führte sie aus dem Raum. Im Eingangsbereich, der nun als Verkaufsraum der Bäckerei diente, hier stand eine beeindruckende Kuchentheke, wurde Elin mit Applaus begrüßt. Es waren Kunden, Vollig und Hanne, ihr angestellter Bäckermeister Piet und ihr Lehrling Jens, der ganz gerührt dreinblickte. Draußen empfing sie die vertraute Aussicht auf den Kaffeegarten. Die Tische mit ihren karierten Decken darauf. Sie erwarteten heute die Hochzeitsgäste. Die Sonne schien vom wolkenlosen Himmel. Der sanfte Wind brachte den gewohnten Geruch des Watts mit sich. Das Meer funkelte und glitzerte, als wüsste es, dass ein Festtag war. Friedrich Beck stand neben Hinnerk. Der Maler aus Berlin, der seit seiner Rückkehr nach Kriegsende auf die Insel zum Kaffeegarteninventar gehörte, hielt den Brautstrauß in Händen und sah, wie gewohnt, etwas schlampig aus. Er trug einen schwarzen Anzug. Doch die Hosen waren zu kurz, die Fliege saß schief. Es wäre sonderbar, wäre es anders gewesen. Elin blieb vor Hinnerk stehen. Er hatte seine Kapitänsmütze gegen einen schwarzen Zylinder eingetauscht. In seinen Augen schimmerten Tränen.

»Min Deern«, sagte er. »Es ist mir eine Ehre, dat ich dich heute fahren darf.«

»Mir ist es eine Ehre, von dir gefahren zu werden«, antwortete Elin. »Und es wäre mir eine noch viel größere, wenn du mich in die Kirche führen würdest. Paul hätte es so gewollt.«

»Ja, dat hätte er.« Hinnerk wischte sich über die Augen. »Dat hätte er.«

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2. Kapitel

Tinnum, 15. September 1921

Matei stand im Garten ihres Elternhauses im Schatten des alten Kirschbaums und blickte auf das vor ihr auf einer Staffelei stehende Bild. Es war ein Ölgemälde, das die aufgewühlte See an einem grauen Tag zeigte. Wellen, die dramatisch ans Ufer schlugen, Wolkenberge, die sich bis zum Horizont auftürmten. Es war ein windiger und kühler Tag gewesen, als sie am Weststrand von Sylt in der Nähe von Wenningstedt diese Eindrücke festgehalten hatte. Nun galt es, die fehlenden Schattierungen zu machen, Kleinigkeiten zu verbessern. Diese Tätigkeit übte Matei gerne aus. Es war der letzte Feinschliff, bevor das Gemälde endgültig vollendet war. Elin hatte sie bei einem Spaziergang im letzten Jahr auf die Idee gebracht, ihr Elternhaus in Tinnum als Atelier zu nutzen. Anfangs war Matei skeptisch gewesen, denn das alte Friesenhaus war in keinem guten Zustand gewesen. Der Außenputz war abgebröckelt, das reetgedeckte Dach war voller Moos und an einer Stelle undicht gewesen. Einige Fensterscheiben waren eingeschlagen, die Möbel in der Stube waren fort gewesen. Schmerzhafte Erinnerungen hingen in dem Haus und schwebten durch die Räume. Inzwischen war der Blick in die Vergangenheit nur noch verschwommen. Immer gleiche Szenen aus einem verlorenen Leben. Ihre Mutter in der Küche am Herd, der Duft von gebratener Scholle, ihr Vater, wie er abends mit seiner Pfeife im Mund auf der Bank vor dem Haus saß. Der alte Kater Mikesch, der lieber den ganzen Tag schlief, als Mäuse zu jagen. Das Lachen ihrer Mutter, der Geruch des Tabaks, sie glaubte ihn oftmals noch riechen zu können. Der Garten war verwildert, bezauberte dadurch jedoch. Der Verfall beeindruckte auf seine eigene Art, zeigte er doch die Vergänglichkeit des Lebens. Er weckte in ihr eine ganze eigene Art von Kreativität, die stets von Wehmut begleitet war. Das Haus erzählte so viele alte Geschichten, und manchmal hatte sie das Gefühl, ihr Vater würde neben ihr stehen und sie bei ihrem Tun beobachten. Von ihm hatte sie das künstlerische Talent geerbt. Er hatte ebenfalls gern gezeichnet, war jedoch nie über einfache Skizzen hinausgekommen. Er wäre stolz auf sie. Das hoffte sie jedenfalls. Manchmal fragte sie sich, wie ihr Leben wohl verlaufen wäre, wenn die beiden damals nicht gestorben wären. Gewiss anders, vielleicht besser. Wer wusste das schon. Der große Krieg hatte so vieles verändert, Lebenswege und Pläne zunichtegemacht, andere Wege eröffnet. Ihr eigenes Leben war von ihm beeinflusst worden. Der Krieg hatte ihr ihr Glück gebracht und wieder genommen. So viele Narben waren geblieben. Sie hatten das Haus notdürftig instand gesetzt und einen Umbau durchgeführt. Es gab nun eine große Fensterfront, damit sie mehr Licht hatte, eine Terrassentür. Der alte schmiedeeiserne Ofen sorgte für Wärme, in der noch immer vorhandenen Küche konnte sie sich Tee und Kaffee kochen, eine Mahlzeit zubereiten. Doch meist nahm sie Verpflegung aus dem Kaffeegarten mit. Die Stube war erweitert worden, die Mauer zum Nebenraum existierte nicht mehr, das Alkovenbett war fort. Nun hatte sie genügend Platz, um ihre Gemälde an die Wände zu stellen, viele lagerte sie auch in der Abstellkammer. Ihre letzte Ausstellung im Kurhaus von Westerland war ein Erfolg gewesen. Sie hatte sie gemeinsam mit Friedrich Beck veranstaltet. Viele Bilder waren verkauft worden. Hauptkäufer waren Inhaber von Pensionen und Hotels gewesen, die ihre Gästezimmer und Aufenthaltsräume damit schmücken wollten. Aber auch einige Kurgäste nahmen Bilder als Andenken von der Insel mit nach Hause. Matei ließ den Pinsel sinken und betrachtete ihr Werk. »Was meinst du?«, fragte sie in die Stille des Nachmittags. »Ist es gut genug?« Sie fragte Jan, ihren größten Kritiker, ihren ersten richtigen Lehrmeister, der ihr keine Antwort mehr geben würde. »Du hast recht«, sagte sie. »Die Schaumkronen auf den Wellen müssen noch deutlicher hervorgehoben werden, der Himmel auf der rechten Seite gefällt mir noch nicht so recht. Hast du einen Tipp für mich?« Sie betrachtete das Bild, und plötzlich stieg Bitterkeit in ihr auf. Er würde niemals wieder einen Tipp für sie haben. Er war fort, tot, würde nicht mehr wiederkommen, hinter sie treten, die Arme um sie legen und mit ihr gemeinsam den Pinsel führen. Hannes kam ihr in den Sinn. Liebte sie ihn wirklich? Wie oft hatte sie sich diese Frage in den letzten Wochen gestellt? Wenn er in ihrer Nähe war, schien das Leben leichter. Er hatte eines Tages einfach so in Keitum neben ihr gestanden. Sie war gerade damit beschäftigt gewesen, eines der alten Friesenhäuser für eine ihrer Postkarten zu skizzieren. Diese verkauften sie noch immer hervorragend. Im Kaffeegarten, aber auch im Souvenirladen in Westerland. Inzwischen ließen sie die jeweiligen Bilder drucken. Doch sie zeichnete hin und wieder neue Motive, denn die Touristen liebten die Abwechslung. Hannes hatte sie sogleich für sich eingenommen, ihr Komplimente gemacht. Er war zu ihrer Ausstellung gekommen und hatte eines ihrer Bilder erworben. Hartnäckig hatte er damit begonnen, ihr den Hof zu machen. Irgendwann hatte sie seinem Werben nachgegeben, und sie hatten einen vergnüglichen Abend in Westerland im Restaurant Viktoria gehabt. Sie hatte an diesem Abend zu viel Wein getrunken, der ihre Zweifel betäubt hatte und die Erinnerungen an Jan verblassen ließ. Sie hatten einander in Westerland auf der Strandpromenade geküsst, und es hatte sich gut und richtig angefühlt. Das Leben geht weiter, du kannst nicht immer zurückblicken. Elin hatte diese Worte zu ihr gesagt, als sie einmal wieder von den dunklen Schatten eingeholt worden war und alles in Zweifel gestellt hatte. Ihr Leben, ihr Sein. Wieso war sie noch hier, wenn Jan und ihr geliebtes kleines Mädchen es nicht mehr sein durften? Doch Elin hatte recht mit dem, was sie sagte: Das Leben schritt voran, und sie musste mitgehen. Ob sie den Weg in Traurigkeit ging oder mit neuem Mut nach vorne sah, war ihre Entscheidung. Sie hatte sich für die Zukunft entschieden, war neugierig auf Neues und hatte doch die Erinnerungen an das Gestern in sich bewahrt. Ob Jan Hannes gemocht hätte? Vermutlich nicht. Er war anders als er. Kein bodenständiger Friese, eher ein Lebemann. Einer, der es verstand, einen mit seinem Charme einzuwickeln. Hannes von Bransbeck. Dass er zum einfachen Landadel gehörte, hätte Anna gefallen. Sie hätte ihn nach seiner Herkunft gefragt, hätte alles ganz genau wissen wollen. Matei hatte bisher kaum Fragen gestellt. Er war bei ihr und brachte sie zum Lachen. Das genügte. Wie lange er noch auf Sylt bleiben, was werden würde, wusste sie nicht. Fragen machten es nur kompliziert. Es könnte sein, dass ihr die Antworten nicht gefielen.

Sie beschloss, es für heute mit dem Ölgemälde gut sein zu lassen. Im Atelier lag noch eine Auftragsarbeit, die fertiggestellt werden musste. Rasmus Nielsen hatte sie gefragt, ob sie eine Zeichnung von seinem Logierhaus anfertigen könne. Es lag nicht weit von ihrem Kaffeegarten entfernt ebenfalls am Kliff. Das Haus war ein Neubau und fügte sich durch die inseltypische Bauweise perfekt in das Bild von Keitum ein. Rasmus unterhielt zehn Gästezimmer und hatte einen hübschen Garten angelegt. Nur leider fehlte es ihm, wie vielen Logierhäusern auf der Insel, an Gästen. Matei stellte das Ölgemälde zu den unfertigen Bildern in die hintere Ecke ihres Ateliers und begann, ihre Pinsel zu reinigen. Der vertraute Geruch des Terpentins stieg ihr in die Nase. Und plötzlich stand unvermittelt Hannes hinter ihr, umarmte sie und begann, ihren Hals zu küssen. Matei schrie kurz erschrocken auf. »Hannes, du wieder«, sagte sie und ließ den Pinsel sinken. Sie lehnte sich nach hinten und genoss seine warmen Lippen auf ihrem Hals, seine Bartstoppeln kitzelten ihre Wange. So begrüßte er sie häufig. Ohne Worte, mit einer Umarmung und innigen Küssen.

Nachdem sie ihr kurzes Liebesspiel beendet hatten, betrachtete er das eben abgestellte Ölgemälde. »Ist es fertig?«, fragte er. »Es sieht fantastisch aus. In Hamburg oder Paris könntest du einen hohen Preis dafür erzielen. Es ist so herrlich düster und plastisch dargestellt. Für solche Bilder gibt es viele Liebhaber. Es muss nicht immer die heile Welt sein.«

»Ich weiß noch nicht so recht«, antwortete Matei zögerlich. »Ich wollte noch einiges verbessern. Es könnte noch mehr Schaum an den Strand gespült werden, der Himmel benötigt noch einige Nuancen.«

»Meine kleine Perfektionistin«, er lächelte. »Eine wahre Künstlerin mit kritischem Blick. Das liebe ich so sehr an dir. Deine Kunst ist es auch, die mich heute zu dir führt. Ich habe eine Überraschung für dich.«

»Eine Überraschung?«, hakte Matei nach.

»Sie ist großartig. Ich hatte so sehr darauf gehofft, dass es wahr werden würde. Mein alter Freund Jakob aus Hamburg wird uns bald einen Besuch abstatten, und er hat mir fest versprochen, deine Bilder anzusehen. Er leitet eine gut gehende Galerie in Hamburg. Dort finden Ausstellungen mit den ganz Großen der Kunstszene statt. Wenn er deine Bilder für gut befindet, könnte das für dich die große Karriere bedeuten. Und ich wüsste ehrlich gesagt nicht, was er an ihnen auszusetzen haben sollte. Sie sind wunderbar.«

Matei schmeichelten seine Worte. Allerdings reagierte sie auf zu viel Lob auch mit Skepsis. Sie selbst empfand ihre Bilder nur als durchschnittlich. Obwohl auch Friedrich neulich angemerkt hatte, welch große Fortschritte sie in den letzten Jahren gemacht habe. Allerdings lagen nach ihrer Meinung zwischen Fortschritten und wunderbar Welten. Oder war sie zu zurückhaltend? Sie sollte mehr Selbstbewusstsein haben.

»Und aus dem Grund möchte ich dir gern etwas zeigen«, fuhr Hannes fort. »Es befindet sich allerdings in Westerland. Du wirst nicht enttäuscht sein. Das verspreche ich.« Er sah sie mit diesem gewissen Blick an, dem Matei nicht widerstehen konnte. Sie stimmte zu.

 

Bald darauf schlenderten sie die Friedrichstraße in Westerland hinunter. Es war einer dieser Herbsttage im Jahr, die noch einmal das Gefühl von Sommer aufkommen ließen. Die Souvenirgeschäfte hatten noch geöffnet, die letzten Kurgäste saßen in den Straßencafés in der milden Nachmittagssonne und genossen Kaffee und Kuchen. Ein kleines Mädchen bekleckerte sein weißes Kleid mit Schokoladeneis, was Matei zum Schmunzeln brachte. An den Postkartenständern wurde noch immer ausgewählt. Welches Motiv war am schönsten, um es den Lieben in die Heimat zu senden? Fähnchen und Wimpel wehten im Wind. Ausverkaufsschilder hingen jedoch bereits in dem einen oder anderen Schaufenster. Besonders Badeartikel waren rabattiert. Bald schon würden viele Geschäfte schließen, es würde keine Kurkonzerte mehr geben, die Cafés und Restaurants würden endgültig ihre Stühle und Tische von den Straßen holen. Der Westerländer Strand würde zur Ruhe kommen, der bunte Burgenstrand mit seinen vielen heroisch verteidigten und mit Fähnchen und Muscheln dekorierten Kratern würde verschwinden. Sylt würde in den wohlverdienten Winterschlaf fallen. Matei fürchtete sich davor. Der Sommer brachte Ablenkung. Sie hatte zu tun, arbeitete im Souvenirladen oder im Kaffeegarten mit. Es fanden sich viele Motive, die sich festzuhalten lohnten. Die Insel wurde von Licht geflutet. Lange Tage, goldene Sonnenuntergänge am Strand, an denen sie sich nicht sattsehen konnte. Der Winter brachte Kälte und Stürme, er nahm das Licht und machte sie müde, traurig. Sie wünschte, sie könnte den Sommer für immer festhalten, die hellen Tage. Doch es galt, sich von ihnen zu verabschieden.

Sie erreichten die Strandpromenade, wo gerade ein Konzert stattfand. Ein illustres Publikum hatte sich vor der Konzertmuschel versammelt, um der Sängerin zu lauschen, die ein fröhlich klingendes Chanson von sich gab. Auch Matei und Hannes blieben stehen, um ihr zu lauschen. Sie war dunkelhaarig, hager und trug ein schwarzes, schmal geschnittenes Kleid, in dem sie blass aussah. Aber ihre Stimme war schön und einnehmend. Rau, etwas verrucht klang sie. Matei hörte ihr gern zu. Als sie geendet hatte, erhielt sie kräftig Beifall, auch Matei klatschte in die Hände.

»Sie ist gut«, sagte Hannes neben ihr. »Vermutlich stammt sie aus Berlin. Dort soll das Nachtleben im Moment aufstrebend sein.« Die Dame ging von der Bühne, und ein blonder Mann in Seemannskluft trat nun hinter das Mikrofon. Was nun folgte, war eines der üblichen Seemannslieder, wie sie oft gespielt wurden, um die Touristen bei Laune zu halten. Matei und Hannes wandten sich ab.

»Nun wird es Zeit, dass ich dir meine Überraschung zeige«, sagte er. »Es wird dir bestimmt gefallen. Komm.« Er legte den Arm um sie und führte sie die breite Freitreppe hinauf, die zu der direkt hinter dem Musikpavillon stehenden Kurhausstrandhalle führte. In ihr war eine große Restaurationshalle untergebracht. Davor standen viele Tische, die heute gut besetzt waren. Ausgerollte Markisen sorgten für Schatten. Ober und Bedienungen huschten durch die Reihen und erfüllten die Wünsche der Gäste. Es wurden Kuchen und Kaffee, aber auch feinste Austern, Berliner Kindl und gekühlte Limonade serviert. Hannes führte Matei ins Innere der Strandhalle und begrüßte dort einen schlaksigen Mann um die dreißig mit Handschlag, der hinter der Theke stand.

»Moin, Carsten, mein Freund. Wie steht es?«

Der Mann grüßte zurück und beantwortete die Frage: »Ich kann nicht klagen. Bei dem schönen Wetter haben wir eine Menge Zulauf. Unsere Terrasse ist beliebt. Ich hoffe, es hält noch ein paar Tage.« Sein Blick fiel auf Matei.

»Darf ich vorstellen«, Hannes legte den Arm um Matei. »Matei Bohn, die begnadete Künstlerin, von der ich berichtet habe. Carsten Hellner, Pächter der Strandhalle und Kunstliebhaber.«

»Guten Tag, die Dame«, grüßte Carsten und zeigte ein Lächeln, das Matei leicht schmierig vorkam. So wie der gesamte Mann. Sie konnte nicht sagen, was der Grund für ihre Abneigung war. Irgendetwas gefiel ihr an ihm nicht. Sein Name war ihr bereits bekannt. Er hatte die Kurhausstrandhalle erst im Frühjahr von dem vorherigen Pächter übernommen, der, wie so viele Pächter von Restaurationsbetrieben in den letzten beiden Jahren, den Betrieb leider nicht hatte halten können. »Hannes hat mir berichtet, was für ein ausnehmend großartiges Talent Sie doch haben. Darf ich fragen, ob Sie auf der Insel ansässig oder nur Gast sind?«

Hannes antwortete für Matei. »Sie ist auf Sylt geboren, also quasi alter Inseladel.« Er lachte über seinen eigenen Scherz. »Ihr und ihrer Schwester gehört der Kaffeegarten in Keitum. Gewiss hast du davon schon gehört.«

»Wer nicht«, antwortete Carsten. »Es finden sich ja ständig Anzeigen in der Kurzeitung und sogar ein Werbeschild auf dem Inselbus. Obwohl ich mich schon frage, ob in dem verschlafenen Keitum ein anständiges Geschäft möglich ist? Es liegt ja doch recht weitab vom Schuss.«

Matei wollte ihm Antwort geben, doch Hannes kam ihr erneut zuvor.

»Unterschätze Keitum nicht«, sagte er. »Das Örtchen hat mit seinen alten Friesenhäusern seinen ganz eigenen Zauber und zieht besonders Künstler magisch an, die mit dem Trubel in Westerland oftmals überfordert sind. Ich würde es schon fast als das Künstlerdorf der Insel bezeichnen.«

»Wo wir wieder beim Thema wären«, warf Carsten ein. »Du möchtest deiner Freundin gewiss den Ausstellungsraum zeigen.«

»Ausstellungsraum?« Verdutzt sah Matei von Carsten zu Hannes.

»Du hast ganz richtig gehört«, antwortete er. »Es wird großartig werden.«

»Wenn die beiden Künstler mir bitte folgen möchten.« Carsten trat hinter seiner Theke hervor. Es ging durch die Restaurationshalle zu einem der Nebenräume, in den die Nachmittagssonne durch die hohen Fenster fiel. Hier standen ebenfalls Caféhaustische, eine schimmernde hellblaue Tapete zierte die Wände. Es roch leicht muffig. Häufig schien dieser Raum nicht genutzt zu werden.

»Hier soll sie stattfinden«, sagte Hannes. Er war in die Mitte des Raumes getreten und breitete die Arme aus. »Deine erste eigene Vernissage. Wir müssen Jakob etwas bieten. Es muss groß und opulent sein, damit wir ihn beeindrucken können. Wenn alles nach Plan läuft, dann wirst du bald nicht mehr auf Sylt, sondern in Hamburg oder in Paris, Mailand, vielleicht sogar in New York ausstellen. Du wirst der neue Stern unter den Künstlern werden.«

Matei wusste nicht, was sie antworten sollte. Sie fühlte sich vor den Kopf gestoßen. Eine eigene Vernissage, hier, in der Kurhaushalle? Paris, Mailand, New York. Ja, war er denn verrückt geworden?

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3. Kapitel

Westerland, 20. September 1921

Elin rührte lustlos in ihrem Suppenteller. Sie verabscheute Leberkloßsuppe. Und ausgerechnet heute musste es diese zur Vorspeise bei Lorenz’ Onkel und seiner Tante geben. Wenn sie sie nicht essen würde, würde ihr das Carla gewiss zu ihrem Nachteil auslegen. Obwohl Fräulein Rottenmeier, wie Elin sie insgeheim bezeichnete, ihr auch ohne Leberkloßsuppe das Gefühl vermittelte, alles falsch zu machen. Sie musterte sie stets mit einem abwertenden Gesichtsausdruck von oben bis unten. Anscheinend war die Inhaberin eines Keitumer Kaffeegartens nicht die gute Partie, die sie sich für ihren Neffen gewünscht hatte. Elin gab sich wirklich Mühe, ihre Vorbehalte gegen diese Frau abzulegen, doch es wollte ihr nicht gelingen. Auch Wiebke konnte Carla nicht leiden. Sie bezeichnete die hagere Frau mit den grauen Haaren als arrogante Zicke, die gern mehr wäre, als sie war. Carla wurde nicht müde darin, ihre adlige Herkunft zu betonen. Ein Baron von Schwellnitz war ihr Vater gewesen. Er hatte wohl ein Gestüt in der Nähe von Rostock besessen. Leider war er noch vor ihrer Geburt bei einem Reitunfall tödlich verunglückt. Ihre Mutter hatte zwei Jahre später erneut geheiratet, nicht adelig, und so ihren Titel verloren. Barone sind doch eh nur so kleine Lichter, hatte Alwine zu der Thematik bemerkt. Ganz unten in der adligen Nahrungskette angesiedelt. Wieso Carla ausgerechnet Karl, einen von der Insel Sylt stammenden Architekten, geehelicht hatte, würde wohl für immer ihr Geheimnis bleiben. Vielleicht war es tatsächlich Liebe gewesen. So unterkühlt, wie die beiden miteinander umgingen, sah es jedoch nicht danach aus. Oder die füreinander gehegte Zuneigung hatte sich mit den Jahren wieder gelegt. Kinder waren dem Paar verwehrt geblieben. Früher waren die beiden öfter auf Annas Festen im Herrenhaus anwesend gewesen. Nach Pauls Tod und dem Bekanntwerden ihrer finanziellen Misere hatten sie sich nicht mehr dort blicken lassen.

Elin schob den Leberkloß in ihrer Suppe von rechts nach links und wieder zurück. Sie saßen in dem geräumigen Speisezimmer der Christiansens an einem ovalen, aus Nussbaumholz gefertigten Esstisch. Durch die Fenster fiel helles Sonnenlicht auf den blank polierten Parkettboden. Der Tisch war mit feinstem Porzellan gedeckt, ein Papagei namens Eduard, er war Carlas Liebling, saß in einer Voliere in einer Ecke und krächzte hin und wieder. Carla behauptete, er könne sprechen. Elin hatte bisher jedoch noch kein einziges Wort von dem Tier gehört. Ihr tat der Vogel leid. So ein Papagei gehörte in wärmere Gefilde und nicht in einen Käfig auf der Insel Sylt.

Dass sie in der Villa der Christiansens nicht willkommen war, ließ sie sogar das Personal spüren. Besonders den Hausdiener, Albert, fand sie gruselig. Eine breite Narbe zog sich über seine rechte Wange, und seine unter buschigen Augenbrauen liegenden dunklen Augen blickten böse drein. Er hätte einen guten Mörder in einem Kinofilm abgegeben. Am Ende war es zumeist der Gärtner, aber ein Hausdiener wäre als Täter auch nicht zu verachten.

»Wie steht es denn in Keitum?«, erkundigte sich Karl. »Ich komme so selten in das verschlafene Nest, obwohl es doch recht hübsch ist. Ich hatte ja irgendwann einmal überlegt, mir dort ein Anwesen zu kaufen oder eines zu errichten, so wie Paul es getan hat. Aber mir war Westerland dann doch lieber. Keitum ist, verzeih es mir, liebe Elin, meiner Meinung nach noch immer zu provinziell. Hier in Westerland lassen sich einfach bessere Geschäfte machen, und ich ziehe den Weststrand dem Watt vor.«

»Also ich finde, du tust Keitum unrecht«, antwortete Lorenz. »Der Ort hat seine Reize durch die vielen reetgedeckten alten Häuser. Besonders Künstler zieht es vermehrt dorthin. Und du darfst die sicherere Lage nicht vergessen. An der Ostseite sind die Häuser nicht so sehr von Sturmfluten gefährdet. Erst im letzten Winter stand im Süden Westerlands das Wasser hüfthoch auf den Straßen.«

»Ich kenne diese Argumente«, antwortete Carl. »Trotzdem bevorzuge ich Westerland. Und du, mein lieber Lorenz, warst doch bisher ebenfalls recht zufrieden hier. Deshalb dachte ich, mache ich euch ein Angebot, das ihr nur schwer ausschlagen könnt.« Er sah zu Elin, die nun endgültig den Löffel sinken ließ.

»Du kennst doch die Villa Seerose, wir haben sie erst vor zwei Wochen endgültig fertiggestellt. Sie liegt nur wenige Häuser von unserem entfernt direkt hinter den Dünen. Ein nettes Häuschen mit allem Komfort. Elektrisches Licht, Zentralheizung und ausreichend Platz für eine große Familie. Der Besitzer wird nicht einziehen, denn er ist in finanzielle Schieflage geraten. Ich könnte ihm das Haus zu einem Spottpreis abkaufen. Er hat noch Schulden bei mir. Ich würde es euch beiden gern überlassen. Du wirst es ja schlussendlich sowieso erben, und bevor ich es an Fremde vermiete … Söhne hat uns das Schicksal leider nicht zugedacht. Vielleicht war es am Ende besser so. Wer weiß, wie es gekommen wäre. So mussten wir wenigstens nicht um sie trauern.« Kurz trübte sich seine Miene ein. Er winkte ab. »Aber über den Krieg und seine unschönen Details wollen wir jetzt nicht reden. Es gilt, nach vorne zu blicken. Du hast zwar dein Architekturstudium nicht beendet, aber was soll’s. Du leistest im Betrieb gute Dienste und könntest mein Nachfolger in der Geschäftsleitung werden. Angestellte Architekten und Bauleiter lassen sich gewiss finden. Im Moment ist noch nicht alles wie vor dem Krieg, aber ich bin mir sicher, dass es in Westerland in wenigen Jahren einen regelrechten Ansturm auf Baugrundstücke geben wird. Besonders dann, wenn der Wattenmeerdamm gebaut wird, wovon ich ausgehe. Diese leidige Verbindung über Dänemark kann nicht auf ewig Bestand haben.«

»Hm«, war alles, was Lorenz antwortete. Er suchte kurz den Blickkontakt mit Elin. Sie hatten geahnt, dass etwas im Busch war, nachdem die kurzfristige Einladung zum Essen ausgesprochen worden war.

Carla richtete ihr Wort nun an Elin.

»Ich weiß, Liebes, wie sehr du an dem Kaffeegarten in Keitum hängst. Schließlich ist es das Erbe deiner wunderbaren Zieheltern. Gott hab sie selig. Aber das sind ja keine Lebensumstände für eine Ehe. Verheiratete Leute benötigen einen gemeinsamen Hausstand. Ich meine, der Kaffeegarten ist das doch gar nicht. Es ist ein richtiger Betrieb mit Gästezimmern und einem Ladengeschäft. An einem solchen Ort können doch keine Kinder anständig großgezogen werden. Diese ständige Unruhe. Und selbstverständlich ist der Mann der Herr im Haus. In dieser Hinsicht bin ich altmodisch. Du bist nun eine Ehefrau, und als solche hast du die Pflicht, deinen Ehemann zu unterstützen, und wir sind beide der Meinung«, sie sah zu Karl, »dass …«

Sie kam nicht dazu, den Satz zu beenden, denn Elin erhob sich. Wut war in ihr aufgestiegen, und sie ballte die Fäuste. Was bildeten sich die beiden ein, sich so in ihr Leben einzumischen? Villa Seerose, hübsch hinter den Dünen gelegen. Sie wusste, was Carla von ihr erwartete. Die perfekte Mutter sein, nett lächeln und an den Nachmittagen bei Kaffeekränzchen versauern.

»Was meine Pflichten als Ehefrau sind, entscheide ich ganz allein. Ihr könnt eure Villa Seerose behalten. Ich habe bereits ein Zuhause. Und noch etwas: Ich hasse Leberkloßsuppe.«

Sie lief aus dem Raum in das weitläufige Treppenhaus, riss die Haustür auf und rannte die Auffahrt hinunter. Erst ein ganzes Stück vom Haus entfernt blieb sie nach Atem ringend und sich die Seite haltend stehen. Nun weinte sie endgültig. Wieso nur konnten sie die beiden nicht akzeptieren, wie sie war?

»Elin.« Es war Lorenz’ Stimme. Er kam zu ihr und schloss sie in seine Arme. Seine körperliche Nähe fühlte sich tröstend an. Elin beruhigte sich und löste sich aus seiner Umarmung. »Es tut mir so unendlich leid. Ich hätte ahnen müssen, worauf dieses Mittagessen hinausläuft. Aber dass sie dann dermaßen mit der Tür ins Haus fallen, hat selbst mich überrascht.«

Er wirkte hilflos. Die Situation überforderte sie beide. Was ihre Wohnverhältnisse anging, musste Elin, so schwer es ihr fiel, Carla und Karl jedoch recht geben. Ein Ehepaar sollte unter einem Dach leben. Allerdings gestaltete sich das in ihrem Fall nicht so einfach. Und da half auch keine Villa Seerose. Elins Lebensmittelpunkt war Keitum. Sie konnte und wollte nicht nach Westerland ziehen, da konnte ihr neues Zuhause eine noch so komfortable Villa sein. Allerdings gab es im Herrenhaus keinen privaten Bereich für sie. Im Kaffeegarten wurden die Fremdenzimmer vermietet. Diesen Sommer waren einige Künstler für mehrere Wochen zu Gast gewesen, die Mieteinnahmen hatten ihrer Kasse gutgetan, im Friesenhaus fehlte der Platz, und es gab durch Mateis Anwesenheit keine Privatsphäre. Es war verzwickt.

»Wollen wir ein Stück am Strand entlanglaufen, zur Promenade?«, fragte Lorenz. »Ich spendiere uns ein Mittagessen. Wir könnten ins Astoria gehen. Dort waren wir länger nicht. Also ich hätte noch Hunger. Und soweit ich weiß, bietet Fritz Lewerenz keine Leberkloßsuppe an.« Er zwinkerte ihr schelmisch grinsend zu.

Elins Wut verrauchte endgültig.

»Ich hasse Leberkloßsuppe«, antwortete sie. »Nicht einmal anständiges Essen können sie servieren.«

»Ich mag sie auch nicht sonderlich.« Lorenz legte den Arm um sie. Ein Stück weit folgten sie noch der Norderstraße, dann bogen sie in einen schmalen, zu den Dünen führenden Seitenweg ein. Sie erreichten einen der vielen hölzernen Dünenübergänge und liefen die Treppen hinauf. Oben angekommen, lagen das Meer und der Strand vor ihnen. Das Wasser funkelte im hellen Licht der Mittagssonne, es herrschte nur leichter Wellengang. Der Wind rüttelte an Elins Haar und löste einige Strähnen. Nur wenige Spaziergänger waren an der Wasserlinie unterwegs. Trotz der fortgeschrittenen Jahreszeit hatten einige von ihnen noch die Hosen hochgekrempelt und die Füße nackt. Sie liefen die Stufen nach unten und stapften durch den Sand. Er war warm und angenehm. Ein älterer Herr saß in einem der letzten, noch zurückgebliebenen Strandkörbe und schlief. Auf seinem Schoß lag ein aufgeschlagenes Buch, seine Brille war auf seiner Nase ein Stück nach unten gerutscht. Sein Anblick brachte Elin zum Lächeln. Er sah so friedlich aus. Hand in Hand gingen sie bis zur Wasserlinie.

»Ich glaube, ich war ewig nicht mehr am Strand«, sagte Elin und beobachtete eine Gruppe Strandläufer, die emsig auf und ab rannten und im feuchten Sand nach etwas Essbarem suchten. Die Septembersonne ließ das Wasser glitzern, es war eine Freude.

»Ich kann mich ehrlich gesagt auch nicht mehr daran erinnern, wann ich zuletzt hier gewesen bin«, gab Lorenz zu. »Wir wohnen im Paradies und genießen es viel zu selten.«

»Vielleicht, weil es selbstverständlich für uns ist«, sagte Elin. »Das Meer, der Strand und die Wellen sind stets um uns. Und im Sommer bin ich nicht gern hier. Dann ist es mir am Strand zu trubelig.«

»Wollen wir auch die Schuhe ausziehen?«, fragte Lorenz und deutete auf zwei Herren, die mit hochgekrempelten Hosen und barfuß Richtung Wenningstedt liefen. »Ich weiß, wir haben bereits September, und gewiss ist das Wasser kühl. Aber der Sand ist herrlich warm.«

Elin gefiel seine Idee, und sie stimmte zu. Sie setzten sich in den warmen Sand und zogen rasch Schuhe und Strümpfe aus. Der erste Schritt ins kühle Nass brachte Elin zum Quietschen.

»Huch, ist das frisch«, rief sie lachend. Sie stand am Flutsaum und ließ das Wasser über ihre Zehen laufen. Lachend hob sie etwas von dem weißen Meeresschaum auf und pustete hinein. Sie gingen Hand in Hand und wie kleine Kinder kichernd Richtung Kurpromenade. Der Ärger von eben schien vergessen. Das Wasser lief gerade ab, was für kleinere Pfützen sorgte, durch die Elin freudig watete. Die von den Wellen zurückgelassenen Ribbeln unter ihren Füßen fühlten sich herrlich an. Sie beobachteten Möwen, die vor ihnen in den Wellen zu spielen schienen, und blieben immer wieder stehen, um das Funkeln der Sonne auf der Wasseroberfläche zu beobachten. Besonders Elin konnte sich daran nicht sattsehen. Hie und da hob sie eine Muschel auf und betrachtete sie eingängig. Eine besonders hübsche Austernschale steckte sie in ihre Rocktasche.

»Wie anders das Meer hier doch ist«, sagte sie. »Hier ist seine Gewalt spürbarer als in Keitum. Dort wirkt es oftmals träge und friedfertiger.«

»Ich mag beides gern«, antwortete Lorenz. »Sylt bezaubert mit solch vielen Eindrücken. Kein Wunder, dass wir von Künstlern heimgesucht werden.«

»Ja, das stimmt. Nur auf einen von ihnen hätte ich verzichten können.« In ihrer Stimme schwang plötzlich Ernsthaftigkeit mit.

»Hannes von Bransbeck«, sagte Lorenz.

Elin nickte. »Er hat Matei so sehr verändert. Sie ist mir regelrecht fremd geworden.«

»Du solltest nicht so streng mit ihm sein«, beschwichtigte Lorenz. »Ich habe mich neulich mit ihm unterhalten, und er machte keinen schlechten Eindruck auf mich. Er mag etwas unangepasst sein, aber so sind Künstler nun mal. Denk an Friedrich. Er ist auch ziemlich eigentümlich.«

»Ja, das stimmt«, gab Elin zu. Lorenz’ Vergleich brachte sie zum Schmunzeln.

»Und Matei hat eine schwere Zeit hinter sich.« Er legte nun die Arme um Elin, hob die Hand und strich eine Haarsträhne aus ihrer Stirn. »Sei nicht so streng mit ihr. Gewiss ist dieser von Bransbeck nur eine Episode, und er wird bald wieder aus ihrem Leben verschwunden sein.«

»Darauf will ich hoffen«, Elin seufzte hörbar.

»Es wird bestimmt bald alles wieder gut werden«, sagte Lorenz. Er zog sie noch enger an sich und küsste sie. Seine Zunge drang in ihren Mund und fand die ihrige, seine Umarmung war fest, Elin glaubte, in ihr zu versinken. Er schmeckte nach einer eigentümlichen Mischung aus Wein und Leberkloß. Sie war süchtig nach seiner Wärme und Nähe. Sie liebte ihn. Den Insulaner aus Morsum, der früher einer von vielen Bekannten gewesen und nun zu dem wichtigsten Menschen in ihrem Leben geworden war. Oder stimmte das? War das nicht Matei? Wieder haderte sie. Matei und Elin, die Mädchen vom Herrenhaus, eine Einheit, so war es stets gewesen. Doch das Leben hatte seinen eigenen Rhythmus und veränderte sich. Nicht immer gefielen einem die neuen Töne, die es anschlug. Auch ihre Beziehung war nicht perfekt. Vielleicht hatte sie auf Carlas und Karls Vorstoß auch deshalb so harsch reagiert. Sie wünschte sich, sie könnte Lorenz stets um sich haben und mit ihm unter einem Dach leben. So wie es Ehepaare nun einmal taten. Sie wünschte sich Kinder von ihm. Und sie sollten in Keitum aufwachsen. Nicht in Westerland, diesem Ort ohne Seele, der ständig anders aussah. Oder tat sie Westerland unrecht? Der Ort hatte durchaus seine Reize. Und auch sie profitierten von der jährlichen Sommersaison. Ohne den Seebadbetrieb würde es keinen Kaffeegarten und keine Sommergäste geben.

Nachdem sie sich voneinander gelöst hatten, herrschte plötzlich eine eigentümliche Stimmung. Schweigend liefen sie nebeneinander an der Wasserlinie entlang. Lorenz war es, der diese Stille irgendwann durchbrach.

»Ich weiß, mein Onkel und meine Tante haben sich mit ihrem Vorpreschen zu sehr in unsere Angelegenheiten eingemischt«, sagte er. »Aber wir sollten uns wirklich Gedanken über unsere Wohnverhältnisse machen. Ich möchte nicht mehr nur Gast im Herrenhaus sein. Das Haus bietet genügend Platz für eine Familie. Vielleicht sollten du und Matei noch einmal darüber nachdenken, ob ihr wirklich weiterhin Zimmer vermieten wollt. Wir könnten uns im oberen Teil des Hauses einen privaten Bereich einrichten. Einen Salon, Schlaf- und Kinderzimmer. Ich bin im Gegensatz zu meiner Tante durchaus der Meinung, dass Kinder in einem Kaffeegarten aufwachsen können. Wieso auch nicht?«

Elin hatte geahnt, dass dieser Vorschlag irgendwann kommen würde. Sie selbst hatte ebenso darüber nachgedacht. Doch wollte sie diese Veränderung? Es tat gut, dass sich alles gefunden und eine gewisse Ordnung Einzug gehalten hatte. Aber diese Veränderung war positiv. Sie war die beste, vermutlich auch die einzige Lösung, um das leidige Thema, getrenntes Wohnen, endgültig zu den Akten zu legen. Doch da war noch Matei. Sie war Mitinhaberin des Hauses und finanzierte ihren Lebensunterhalt auch mit den Vermietungen der Gästezimmer. Wie würde sie darauf reagieren?

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4. Kapitel

Keitum, 15. Oktober 1921

Elin stand in ihrer Töpferwerkstatt und ließ ihren Blick über die vielen Pötte, Töpfe und Tiegel in den Regalen schweifen, die die Wände säumten. Es war später Vormittag, und durch die kleinen Fenster fiel Sonnenlicht in den Raum und auf ihre Werkbank, auf der weitere Keramiken auf ihre Weiterverarbeitung warteten. Sie nahm einen der unfertigen Pötte zur Hand. Er war bauchig geformt, an der rechten Seite hatte er einen Henkel. Er war nicht lasiert, das Bild fehlte noch. Bei so vielen der Pötte tat es das. Elin begann zu überlegen, wann Matei zuletzt hier gewesen war und gearbeitet hatte. Letzte Woche, oder war es noch länger her? Ach, es war zum Verrücktwerden. Seitdem dieser Hannes von Bransbeck in Mateis Leben getreten war, hatte sie sich verändert, war unzuverlässig geworden. Alles, was sie sich miteinander aufgebaut hatten, schien plötzlich unwichtig zu sein. Und jetzt redete er ihr auch noch ein, dass sie berühmt werden könne, und die beiden organisierten diese unselige Vernissage in der Kurhaushalle. Sie stellte den Pott zurück auf den Tisch, und ihr Blick wanderte nach draußen. Hinnerk und Jens waren damit beschäftigt, die Gartentische und Stühle zusammenzuklappen und auf einem Wagen zu verstauen. Sie würden in Hinnerks Schuppen überwintern. Diese Sommersaison war nun endgültig vorbei. Noch Ende September hatte es sonnige und milde Nachmittage gegeben. Doch seitdem der Oktober angebrochen war, waren die Temperaturen stetig zurückgegangen, und dicke Wolkenpakete wurden von einem strammen Westwind über die Insel getrieben, die teils kräftige Regenschauer im Gepäck hatten. Gewiss würde es nicht mehr lange dauern, bis sie der erste Herbststurm heimsuchte. Die zurückliegende Sommersaison war, wenn man nur das Wetter betrachtete, gut gewesen. Ab Mitte Juli hatte es eine lange Schönwetterperiode, ja eine richtige Hitzewelle gegeben. Selbst bei ihnen auf der Insel waren die Tagestemperaturen auf beinahe dreißig Grad gestiegen. Die perfekten Voraussetzungen für eine großartige Saison. Doch die Nachwehen des Krieges machten ihnen noch immer zu schaffen. Es waren mehr Gäste gekommen als im Jahr zuvor, aber die noch immer im Reich vorherrschende schlechte wirtschaftliche Lage, aber auch die ungünstige Verkehrsverbindung auf die Insel sorgten dafür, dass die Gästezahlen zurückgingen. Gäste, die nach Sylt wollten, mussten weiterhin durch feindliches Land in verplombten Zügen fahren. In Hoyerschleuse mussten die Passagiere in einer mit Ketten verschlossenen Wartehalle, bewacht von mit Flinten bewaffneten dänischen Posten, auf ihre Weiterfahrt mit dem Fährdampfer warten. Dies war auch der Grund dafür, weshalb die Pläne zum Bau eines Eisenbahndamms vom Festland nach Sylt wieder in den Mittelpunkt gerückt waren. Elin wusste, dass es ein Bürgerverein aus Niebüll gewesen war, der vor dem Beginn des Ersten Weltkriegs die Planungen für den Dammbau hartnäckig vorangetrieben hatte. Der Dammbau war 1913 vom preußischen Landtag bewilligt worden, die erforderlichen Mittel bereitgestellt. 1917 hätte er fertig sein sollen. Doch dann war der Krieg ausgebrochen, und niemand hatte mehr vom Damm geredet. Doch nun wurden die Rufe danach wieder lauter. Die Arbeitslosigkeit auf Sylt war im Vergleich zum deutschen Durchschnitt exorbitant hoch. Dies wurde auf die unzulängliche Verbindung auf die Insel zurückgeführt. Die Dänen kümmerten sich nicht um das Ausbaggern der Fahrrinne, was die Fährverbindungen unzuverlässig machte. Bauprojekte stockten, da die Überführung der Waren zu teuer war, die Zahl der Touristen stieg nicht wie erwünscht. Ein vom Festland nach Sylt führender Damm wäre die Lösung, um den Wohlstand auf die Insel zurückzubringen. Elin hoffte darauf. Mehr Touristen auf der Insel bedeuteten bessere Einnahmen, und die hatten sie dringend nötig. Sollte die nächste Saison nicht besser werden, müsste sie ernsthaft darüber nachdenken, ihr Andenkengeschäft in Westerland erneut zu schließen. In dieser Saison hatten sie mit dem Ladengeschäft Verlust gemacht. Von einem größeren Gewinn war sie noch weit entfernt.

Lorenz trat ein. »Hier steckst du«, sagte er. »Ich habe nach dir gesucht.« Elin verwunderte sein Auftauchen.

»Was machst du hier?«, fragte sie. »Solltest du heute nicht deinem Onkel bei einem Neubauprojekt in Westerland zur Seite stehen?«

»Das dachte ich auch«, antwortete Lorenz. »Aber mein werter Herr Onkel hat es mal wieder vorgezogen, mich im Büro zu lassen. Ich soll Schreibarbeiten erledigen. Seitdem wir sein großzügiges Angebot abgelehnt haben, behandelt er mich noch mehr von oben herab und lässt mich spüren, dass ich kein ausgelernter Architekt bin. Ich bin es leid. Obwohl die Baustellenbegehung gewiss niederschmetternd war. Der Bauherr scheint in finanzielle Schieflage geraten zu sein. Wie so viele auf der Insel.« Seine Miene war ernst.

Elin hätte gern tröstende Worte gefunden, aber so recht wollte ihr nichts einfallen. Sie wusste, wie sehr Lorenz darunter litt, dass er sein Architekturstudium nicht beenden hatte können. So viele Träume und Ziele hatte der Krieg ihnen genommen. Lebenswege verändert, ihnen geliebte Menschen geraubt. Vielleicht sollten sie demütiger sein. Dankbarer für das, was sie hatten. Doch was war das schon? Ein wackeliger Alltag, der sich von dem großen Beben gerade wieder erholte und oftmals noch immer taumelte. Von dem noch 1914 vorherrschenden Wohlstand im Reich waren sie weit entfernt.

»Wenn das so weitergeht, muss ich mir eine andere Aufgabe suchen«, sagte Lorenz und seufzte.

»Also ich hätte hier noch einige Pötte, die eine Lasur benötigen …« Elin legte lächelnd die Arme um ihn. »Du könntest aber auch bei Wiebke in der Backstube Einsatz zeigen.«

»Du liebe Zeit. Für die Kunst bin ich nicht gemacht, noch weniger zum Backen. Wiebke hätte ihre liebe Not mit mir. Mich treibt im Moment eher eine andere Überlegung um. Die Planungen für den Dammbau schreiten immer weiter voran. Vielleicht könnte ich mich dort etwas mehr einbringen.«