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Bestseller-Autorin Anke Petersen entführt wieder nach Föhr: »Kinderlachen auf dem Dünenhof« ist der zweite ebenso dramatische wie zauberhaft nostalgische historische Familienroman aus der Familiensaga »Die Föhr-Trilogie« um ein paradiesisch gelegenes Kinder-Erholungsheim. 1947 liegen dunkle Jahre hinter dem Dünenhof, denn auch an dem kleinen auf der Nordsee-Insel Föhr gelegenen Paradies für traumatisierte Kinder ist der Zweite Weltkrieg nicht spurlos vorübergegangen: Es gibt Tote zu betrauern; und statt sich ihren Traum von einem Medizinstudium zu erfüllen, musste Greta Krankenschwester werden, ebenso wie ihre ältere Schwester Erika. Doch ganz nach dem Vorbild ihrer Großmutter und Dünenhof-Gründerin Anni Nissen kümmern sich nun die beiden Schwestern aufopferungsvoll um die Kinder im Erholungsheim, die viel Schlimmes durchgemacht haben. Während Greta jeden Tag auf Nachricht von ihrem Mann hofft, der in russische Kriegsgefangenschaft geraten ist, verliebt Erika sich in den Flüchtling Jonas, einen Arzt, der immer öfter im Dünenhof hilft. Doch längst nicht jeder auf der Insel ist bereit, die Vertriebenen aus dem Osten mit offenen Armen zu empfangen … Wie Anni Nissen um 1900 als Kinderkrankenschwester nach Föhr kommt und sich auf dem Dünenhof ein neues Leben aufbaut, erzählt Anke Petersen zum Mietfiebern atmosphärisch im ersten Teil ihrer historischen Familiensaga, »Sehnsucht nach dem Dünenhof«.
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Seitenzahl: 568
Anke Petersen
Roman
Knaur eBooks
Eine dramatische Familiengeschichte und ein kleines Paradies auf Föhr
1947 liegen dunkle Jahre hinter dem Dünenhof, doch auch die Gegenwart ist nicht ohne Schatten: Annis Enkelinnen Greta und Erika, beide Krankenschwestern, kümmern sich aufopferungsvoll um die Kinder, die viel durchmachen mussten. Und Greta hofft jeden Tag auf Nachricht von ihrem Mann, der in russische Kriegsgefangenschaft geraten ist. Als Erika sich in einen Flüchtling aus dem Osten verliebt, ist sie plötzlich offener Anfeindung ausgesetzt …
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
Nachwort
Leseprobe »Stürmische Zeiten auf dem Dünenhof«
Erika klappte das Märchenbuch zu, und für einen Moment herrschte Stille im Schlafraum der Mädchen, in dem jeden Abend die Geschichte zum Einschlafen vorgelesen wurde. Das Märchen von der kleinen Seejungfrau von Hans-Christian Andersen war für die Kinder stets beeindruckend, denn es hatte nicht, wie so viele andere Märchen, das erhofft gute Ende. Erika, die es sich in dem am Fenster stehenden Schaukelstuhl bequem gemacht hatte, wählte oft Märchen von Andersen, denn ihre Großmutter, Anni, die bedauerlicherweise vor einigen Jahren von einem Schlaganfall aus dem Leben gerissen worden war, hatte ihnen die Märchen des Autors häufig erzählt. Vielleicht ja deshalb, weil es den Autor während seiner Lebzeiten im 19. Jahrhundert zu ihnen auf die nordfriesische Insel Föhr verschlagen hatte.
»Also, ich hätte es lieber gehabt, wenn sie den Prinzen bekommen hätte«, meldete sich zuerst die kleine Helga zu Wort. Sie war sieben Jahre alt, und ihr langes, blondes Haar umrahmte ihr Gesicht wie das eines Engels. Doch der kleine Engel hatte es faustdick hinter den Ohren. Sie stand den Jungen im Unsinnmachen in nichts nach, und wenn sie zu plärren anfing, war man am besten nicht in Hörweite.
»Ich glaub ja, dass dieser Andersen nur will, dass wir Kinder immer artig sind. Deshalb erfindet der so Töchter der Luft, die in unsere Zimmer schweben und gucken, ob wir uns anständig benehmen«, warf Horst ein. Mit dieser Annahme lag der pfiffige Junge nicht einmal so falsch, musste Erika zugeben. Horst war zehn Jahre alt und bestach durch sein reifes Verhalten und die Denkweise eines Erwachsenen. Manchmal war es beinahe schon erschreckend, wie sehr ihm die Unbefangenheit eines Kindes fehlte. Obwohl es nachvollziehbar war, denn er hatte in den grausamen Jahren des Krieges und auch in der Zeit danach schnell erwachsen werden müssen. Wie die meisten der Kinder, die sich in ihrem Kinderhaus befanden. Sie waren ihnen über das Evangelische Hilfswerk zugeteilt worden, das unterernährten und traumatisierten Kindern aus den vom Krieg zerstörten Großstädten die Möglichkeit zu einem Aufenthalt auf den Nordseeinseln zur Erholung ermöglichte. Fast alle anwesenden Kinder hatten ihren Vater im Krieg verloren, einige auch die Mutter oder andere Familienmitglieder. Fünfzehn kleine Menschen hatten sie in den letzten Monaten in ihrem Dünenhof körperlich wieder aufgepäppelt und versucht, ihre von den Geschehnissen zerbrochenen Seelen wenigstens ein wenig zu heilen. Doch das Erlebte war meist so schlimm, es würde diese Kinder, die sie am nächsten Tag bedauerlicherweise wieder in ihr Alltagsleben zurückschicken mussten, wohl für den Rest ihres Lebens begleiten.
»Damit könntest du richtigliegen«, antwortete Erika lächelnd. »Obwohl mir als kleines Mädchen die Idee gefallen hat, dass eine Tochter der Lüfte kommt, um nach mir zu sehen.«
»Mir auch«, meinte Irmgard. »Bestimmt ist sie hübsch.« Der Gesichtsausdruck der Sechsjährigen bekam etwas Seliges, und Horst rollte die Augen.
»Also wegen mir braucht die auch nicht kommen«, sagte der aus Bremen stammende Peter. »Sollen sich woanders artige Kinder suchen.« Er verschränkte die Arme vor der Brust und bekräftigte seine Aussage durch ein Nicken.
»Jetzt ist aber Schluss mit Seejungfrauen und Töchtern der Lüfte«, konstatierte Erika und erhob sich. »Morgen steht euch eine lange Heimreise bevor, und da müsst ihr ausgeruht sein.« Sie stellte das Buch zurück in den Bücherschrank neben Irmgards Bett.
Als hätte sie den Zeitplan des Geschichtenvorlesens genau im Kopf, betrat in diesem Moment Erikas jüngere Schwester Greta den Raum. Sie hatte, im Gegensatz zu Erika, die das braune, lockige Haar ihres Vaters geerbt hatte, rotblondes, glattes Haar, das sie meist zu einem Zopf geflochten trug. Ihre Haut war weiß wie Schnee, und ihre Augen hatten diesen beeindruckend hellen Blauton, den auch die Augen ihrer Mutter Elena gehabt hatten. Diese war kurz nach Gretas Geburt an einer Schwangerschaftsvergiftung verstorben. Zwei Jahre später war ihr Ehemann ihr in den Tod gefolgt. Es war eine Lungenentzündung gewesen, von der sich der an Asthma erkrankte und deshalb auf die Insel gekommene Hannoveraner nicht mehr erholt hatte.
»Na, welches Märchen gab es heute?«, fragte Greta und blickte in die Runde.
»Das mit der Seejungfrau«, berichtete Helga. »Aber das war doof, denn sie ist gar keine Prinzessin geworden.«
»Ja, manches Mal läuft nicht immer alles glatt«, erklärte Greta. »Aber ich bin sowieso der Meinung, dass Prinzessin sein nicht das Ziel einer jungen Frau sein sollte. Ständig hübsch aussehend in einem Schloss zu sitzen, kann auf Dauer langweilig werden. Und ich habe gehört, dass es in den alten Kästen meist zugig und kalt sein soll.« Sie zwinkerte Helga zu und begann, die vor dem jeweiligen Bett stehenden und schon fast vollständig gepackten Koffer zu kontrollieren. Auf jedem von ihnen lag fein säuberlich gefaltet die Kleidung, die jedes Kind zur Heimreise tragen sollte. Den gesamten Nachmittag hatten sie mit Packen verbracht.
»Wie ich sehe, ist mit dem Gepäck alles so, wie es sein soll. Das hätte der Tochter der Luft gefallen«, sagte sie und strich über den Pullover von Horst, der nicht ganz so ordentlich gefaltet war, aber immerhin am richtigen Fleck lag.
»Ich wünschte, wir müssten nicht heimfahren«, meldete sich Peter zu Wort. »Hier ist es so schön, und die Häuser sind nicht kaputt. Daheim muss ich bei meiner Tante und meinen Cousinen bleiben, und die sind blöd.«
Seine Aussage sorgte für betretene Mienen, auch bei Erika und Greta, die die Rasselbande in den letzten Monaten ins Herz geschlossen hatten. Aber so war nun einmal der Lauf der Dinge in ihrem Kinderhaus. Abschiednehmen von ihren Gästen gehörte dazu, und jedes Mal wieder fiel es ihnen schwer. Es galt zu hoffen, dass ihre Schützlinge bei ihnen so viel Kraft gesammelt hatten, dass sie den kommenden Winter in ihren größtenteils noch immer in Trümmern liegenden Heimatstädten gut und gesund überstehen würden.
»Dürfen wir nicht doch noch ein bisschen länger bleiben?«, bettelte Irmgard. »Ich will auch immer ganz lieb sein, und ich mach auch die Haut vom Kakao nicht mehr runter, obwohl ich die nicht mag.«
Dieses Tun stellte in Erikas Augen, die die Haut auf warmer Milch auch nicht mochte, ein wahres Opfer dar. Aber es half nichts. Die Kinder mussten abreisen. In drei Tagen würde bereits die nächste Gruppe ankommen. Fünfzehn neue Schützlinge aus Köln.
»Macht es uns doch nicht so schwer«, sagte Erika. »Wir würden euch liebend gern noch länger hierbehalten, aber das geht nicht. So sind nun mal die Regeln. Aber wenn ihr wollt, könnt ihr uns jederzeit besuchen kommen. Wir laufen euch nicht weg. Das versprechen wir.«
»Das ist so gemein«, sagte Helga, und in ihren Augen schimmerten nun Tränen.
Es folgten reichlich Umarmungen, unterstützt von tröstenden und ermunternden Worten. Erst eine Stunde später wurden die Lichter in den Schlafräumen endgültig gelöscht.
Wenige Minuten darauf saßen die beiden Schwestern in der Wohnküche des alten Friesenhauses, das von ihrem Ururgroßvater, Kapitän Rauert Nissen, bereits im 19. Jahrhundert errichtet und über die Jahre hinweg einige Male umgebaut worden war, um den Ansprüchen eines Kinderhauses gerecht zu werden.
Beide liebten die Küche mit ihren blau-weißen Holländerkacheln, die an die früheren Seefahrerzeiten der Insulaner erinnerten und in keinem alten Haus auf Föhr fehlten. Die Küche war um einen Wintergarten erweitert worden, in dem sich jetzt der Esstisch und eine Eckbank befanden. Greta hatte einen Hagebuttentee aufgebrüht, auf dem Tisch standen Schwarzbrot, Margarine und etwas Käse. In einem Schälchen befand sich noch etwas von dem Schnittlauch, den Erika am Morgen frisch in ihrem Gemüse- und Kräutergarten geschnitten hatte. Ein böiger Wind wehte vereinzelte Regentropfen gegen die Fenster, und Erika wickelte sich, obwohl es in der Küche durch den Ofen warm war, noch fester in ihre Strickjacke.
»Jedes Mal wieder fällt es uns schwer, die Kleinen ziehen zu lassen«, sagte sie und seufzte.
»Ja, das tut es«, pflichtete Greta ihr bei. Sie hatte sich eine Scheibe Brot genommen, mit Margarine bestrichen und streute etwas Schnittlauch darauf. »Vor allen Dingen, wenn man weiß, in was für eine Welt sie zurückkehren. Manchmal kommt mir das alles so unwirklich vor. Hier auf der Insel erleben wir ebenfalls Einschränkungen, aber von solch schrecklichem Bombenhagel sind wir Gott sei Dank verschont geblieben, und es gab kaum Tote zu beklagen.«
Gretas Worte sorgten dafür, dass sich Erikas Miene eintrübte, und sie bemerkte sogleich, dass sie taktlos gewesen war. »Es tut mir leid«, sagte sie. »Natürlich ist der Tod von Andine und den anderen Opfern durch die Tiefflieger auf die Fähre schrecklich gewesen. Verzeih mir.« Sie legte ihre Hand auf die von Erika und drückte sie. Andine war einige Jahre älter als Erika gewesen, was ihrer Freundschaft keinen Abbruch getan hatte. Im Juli 1944 war die Fähre Kapitän Christiansen von Tieffliegern kurz vor der Einfahrt in den Wyker Hafen angegriffen worden, und Andine und viele andere hatten ihr Leben verloren.
»Schon gut«, beschwichtigte Erika. »Du hast ja recht mit dem, was du sagst. Anderswo sieht die Welt schlimmer aus als bei uns, und wir wussten damals um die Gefahren, die Fahrten mit den Fähren bedeuteten. Sie fehlt mir noch immer. Es gibt Tage, da habe ich das Gefühl, dass sie gleich zur Tür hereinkommt, und jedes Mal, wenn etwas Besonderes geschieht, denke ich, das muss ich Andine erzählen.« Sie trank von ihrem Hagebuttentee.
Greta nickte, und für einen Moment herrschte Stille. Es schien, als wäre das Grauen dieses Tages noch einmal in ihre gemütliche und warme Stube gekrochen und erfasste sie mit eisiger Hand. Der Krieg war vorüber, seine düsteren Schatten lagen jedoch noch immer über ihnen, und sie wichen nur langsam.
Erika stellte nun die Frage, die ihr bereits die ganze Zeit seit Gretas Rückkehr am späten Nachmittag aus Wyk auf der Zunge lag und die sie sich zwischen all dem Trubel mit den Kindern nicht zu stellen getraut hatte.
»Hast du in Wyk heute etwas wegen Joachim in Erfahrung bringen können?«
»Bedauerlicherweise nicht.« Gretas Schultern sanken ein Stück nach unten. »Auf der Gemeinde weiß niemand etwas davon, wann weitere Rückkehrer aus der Gefangenschaft eintreffen werden. Keine Ahnung, wo Talke ihre Informationen herhatte, von offizieller Stelle sind sie nicht gewesen. Vermutlich hat sie irgendwo eine falsche Information aufgeschnappt. Ich will den Gedanken nicht zulassen, dass Joachim niemals wieder nach Hause kommen wird. Er muss heimkehren, er hat es mir versprochen. Ich hoffe ja immer noch darauf, dass es wie bei Christfried Godbersen aus Toftum sein wird und er eines Tages aus heiterem Himmel einfach wieder hier sein wird.« Nun funkelten in Gretas Augen Tränen.
Joachim Hansen war Gretas Ehemann. Er hatte vor dem Krieg in einem der Hotels in Wyk gearbeitet, und es war für Greta Liebe auf den ersten Blick gewesen. Zeit für Zweisamkeit und den Aufbau eines gemeinsamen Lebens hatte den beiden das Schicksal jedoch nicht gelassen. Nur wenige Wochen nach der Bekanntgabe ihrer Verlobung war es zu einer sogenannten Blitzheirat mit einer Reihe anderer Paare in der Nieblumer Kirche gekommen, und er war einige Tage später in den Krieg gezogen. Zwei Heimaturlaube hatte es gegeben, nun war er in Kriegsgefangenschaft, bisher waren drei kurze Briefe von ihm eingetroffen, die Greta wie einen Schatz hütete, ebenso wie einige Fotografien, die an einem sonnigen Tag in den Dünen entstanden waren. Wenn man sie ansah, war es kaum vorstellbar, dass diese jungen und arglos wirkenden Menschen mit der Sorge eines bevorstehenden Krieges gelebt hatten.
»Es wird bestimmt bald wieder eine Meldung von offizieller Seite über Heimkehrer geben«, versuchte Erika Greta Mut zu machen. »Ich bin sicher, dass er bald wieder hier sein wird. Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben.«
»Nein, das dürfen wir nicht!« Greta schniefte. Einen Moment schwiegen nun beide. Die einzigen Geräusche waren das Knacken des Feuers und der böige Wind, der noch immer Regentropfen gegen die Scheiben wehte.
»Wir sollten auch bald schlafen gehen«, meldete sich Erika als Erste wieder zu Wort. »Morgen wird ein anstrengender Tag, auch für uns. Wir haben heute alles so gut es geht organisiert, aber jedes Mal wieder wird der Tag der Abreise chaotisch. Das wird sich niemals ändern, oder?«
»Vermutlich nicht«, antwortete Greta, und nun lächelte auch sie wieder. »Aber ich bin guten Mutes, dass wir es auch dieses Mal schaffen werden, sämtliche Kinder mit ihrem Gepäck zum Hafen zu bekommen. Allerdings könnte es sein, dass mal wieder einige Kuscheltiere auf der Strecke bleiben.«
»Ja, das wäre möglich«, stimmte Erika ihr zu, und sie spürte plötzlich dieses besondere und wärmende Gefühl von Geborgenheit, das sie so sehr liebte, und ihr Blick wanderte zu dem an der Wand hängenden Bild, auf dem die Menschen abgebildet waren, die ihren Dünenhof vor beinahe fünfzig Jahren zu dem Ort gemacht hatten, der er heute war. Anni, ihre Großmutter, wie jung sie damals gewesen war. Ockeline, die gute Seele des Hauses, Anni hatte viele ihrer Lebensweisheiten übernommen. Dazu kam Momme, der alte Nachtwächter, der später zum Inventar des Kinderhauses gehört und von dem Anni oft gesprochen hatte. Er musste ein besonderer Mensch gewesen sein. Sie würden ihr Erbe weiterführen und sich, trotz aller Widrigkeiten, die diese Zeiten mit sich brachten, darum bemühen, dass das Kinderhaus Dünenhof ein Ort war, an dem Kinderaugen leuchteten und sich die Kleinen geborgen fühlten. Morgen hieß es wieder einmal Abschied nehmen, aber bereits in wenigen Tagen gab es ein erneutes Willkommen. Und Erika freute sich schon darauf.
Marta stand am Herd und rührte kräftig in dem übergroßen Suppentopf, in dem gewürfelte Zwiebeln in heißem Butterschmalz brieten. Ihr herrlicher Duft erfüllte die Küche.
»Das wird heute für die Kleinen ein feiner Eintopf werden«, meinte sie. »Der wird die armen Würmchen anständig satt machen, und zum Nachtisch gibt es Schokoladenpudding. Da werden die Kinderaugen strahlen. So etwas Feines haben die bestimmt schon länger nicht mehr bekommen.«
Erika, die am Küchentisch saß und damit beschäftigt war, Quitten zu entkernen, die Bäume ihrer Nachbarin trugen so viele, dass sie ihnen welche abgegeben hatte, stimmte ihr lächelnd zu. Wieder einmal kam ihr der Gedanke, dass es der Himmel gewesen sein musste, der die patente Marta Dengler, sie war Ende vierzig, zu ihnen geschickt hatte. Obwohl diese romantische Vorstellung zur Realität nicht so recht passen wollte, denn wenn der Himmel es gut mit Marta gemeint hätte, dann würde sie sich jetzt in ihrer Heimat Ostpreußen und nicht auf der Insel Föhr in der Fremde befinden. Marta hatte in ihrer früheren Heimat als Köchin auf einem Gutshof gearbeitet und war es dadurch gewohnt, für mehrere Personen Essen zuzubereiten, was ihnen zupasskam. Außerdem war sie eine Seele von Mensch, und es war bewundernswert, dass sich die kleine, gedrungen wirkende Frau, obwohl sie Schreckliches hatte erdulden müssen, ihr sonniges Gemüt bewahrt hatte. Von der Flucht selbst hatte sie nicht viel gesprochen. Sie hatte eine Schwester, die es gemeinsam mit ihrer Tochter nach Braunschweig verschlagen hatte. Ihre eigenen Kinder, zwei Söhne, der eine fünfzehn, der andere siebzehn, waren als letztes Aufgebot Hitlers in den Krieg gezogen und gefallen. Gemeinsam mit ihrem Mann Anton, auch er hatte früher auf dem Gutshof gearbeitet, hatte sie über verschlungene Wege die Insel Föhr erreicht. Die beiden wohnten zu Erikas Bedauern noch immer im Nieblumer Armenhaus in erbärmlichen Zuständen in zwei winzigen Kammern. Nur in einer von ihnen gab es einen Stromanschluss, geheizt wurde mit einem alten Ofen, und der Abort befand sich in einem schäbigen Schuppen auf dem Hof. Erika und Greta hatten es inzwischen aufgegeben, für die beiden eine passende und bessere Bleibe in Nieblum zu suchen, denn es fand sich nichts, es waren einfach zu viele Heimatvertriebene in den letzten Jahren in dem kleinen und beschaulichen Reetdachdorf untergebracht worden. Ganz Föhr platzte, im wahrsten Sinne des Wortes, aus allen Nähten, und das Zusammenleben von Vertriebenen und Einheimischen gestaltete sich nicht immer leicht.
»Ich hoffe, sie werden nicht allzu verschmutzt von Volkert zurückkommen«, meinte Erika. »Ich weiß ja, dass Lütten und Tiere zusammengehören. Aber nach dem Regen der letzten Tage könnte es auf dem Hof recht matschig sein.«
»Ach, das wird schon werden.« Marta kippte zu den Zwiebeln Steckrüben und Kartoffeln in den Topf. »Bisher haben wir auch die schlimmsten Dreckspatzen wieder sauber bekommen.«
Die vor einigen Tagen neu eingetroffenen Kinder hatten so ausgesehen, wie Kinder aus den zerbombten Großstadt-Welten eben aussahen: Die acht Mädchen und sieben Buben waren abgemagert, ihre Augen lagen in tiefen Höhlen, und allesamt waren blass. Einige hatten sich bei der recht schaukeligen Überfahrt, bedauerlicherweise hatte ein kräftiger Westwind geblasen, übergeben müssen. Die über achtzehn Stunden dauernde Anreise hatte ihr Übriges dazugetan, dass es mit der Laune der Kleinen nicht zum Besten gestanden hatte. Doch nachdem sie festen Boden unter den Füßen gehabt hatten, hatten sie rasch wieder besser ausgesehen. Zuträglich war die Fahrt auf dem Anhänger von Bauer Knudtsen gewesen, der anstatt seines Traktors seine beiden liebsten Pferde vor den Wagen gespannt hatte, was bei den Kindern jedes Mal wieder für Begeisterung sorgte. Als es dann nach ihrem Eintreffen im Kinderhaus auch noch eine große Portion Nudeln mit Tomatensoße und reichlich Butterbrote gegeben hatte, war die kindliche Welt in Ordnung gewesen. Heute befanden sich ihre Schützlinge auf dem nicht weit vom Dünenhof entfernt liegenden Bauernhof von Knudtsen, sie durften sich dort mit um die Tiere kümmern und ein wenig reiten, was für Stadtkinder meist ein aufregendes Ereignis darstellte. Greta und ihre Hilfskraft Göntje Nickelsen begleiteten die Kinder. Die achtzehnjährige Göntje kam von Amrum und arbeitete inzwischen das zweite Jahr bei ihnen.
Die Haustür öffnete sich, und Anton Dengler trat ein. Ihm folgte ein Mann, den Erika nicht kannte. Ihr fiel jedoch sogleich seine Attraktivität auf. Erika schätzte ihn auf Anfang dreißig. Sein kastanienbraunes Haar war leicht gewellt, er hatte warme braune Augen und ein markantes Kinn. Er trug einen abgetragen aussehenden grünen Anorak und nahm seine Schiebermütze vom Kopf.
»Moin, zusammen«, grüßte Anton in die Runde und gab seiner Marta einen kurzen Kuss auf die Wange. Den in Norddeutschland zu jeder Tageszeit gültigen Gruß hatte der Mittfünfziger mit dem schütteren, bereits vollständig ergrauten Haar rasch in seinen Wortschatz übernommen. »Ich wollte euch einen neuen Bewohner Nieblums vorstellen, den ich neulich bei einer unserer Heimatvertriebenen-Versammlungen bereits kennenlernen durfte: Jonas Bernecker. Er ist vor einigen Tagen angekommen und wird als Arzt unseren ehrenwerten Doktor Johannes Cropp unterstützen. Er kommt aus Königsberg und hat dort vor dem Krieg in einer Kinderklinik gearbeitet.«
»Guten Tag, zusammen«, grüßte Jonas Bernecker. »Ich bin neu in Nieblum, und mein Kollege Doktor Cropp hat gemeint, ich sollte bei Ihnen im Haus vorstellig werden. Da ich früher als Kinderarzt tätig war, ist er der Meinung, dass ich die Betreuung Ihrer Schützlinge für ihn übernehmen könnte, was ich natürlich gerne tue. Ich hoffe, Sie sind mit einem Wechsel einverstanden. Sollten Sie lieber weiterhin mit Doktor Cropp zusammenarbeiten wollen, teile ich ihm das gerne mit.«
»Moin«, grüßte Erika und lächelte Jonas Bernecker beseelt an. Sie verspürte ein kribbeliges Gefühl in ihrem Inneren, das sie so nicht kannte und welches sie nervös werden ließ. Sie atmete kurz durch und wischte sich zur Beruhigung ihre von den Quitten klebrigen Hände an einem Tuch ab. »Wie nett von Doktor Cropp, dass er Sie als Facharzt für die kleinen Patienten zu uns schickt. Selbstverständlich würden wir uns freuen, wenn Sie die Betreuung unserer Kinder übernehmen könnten. Wenn Sie etwas Zeit haben, kann ich Ihnen unsere Einrichtung zeigen.«
»Das wäre wunderbar«, antwortete er freudig. Sein Lächeln sorgte dafür, dass sich Erikas Herzschlag noch weiter beschleunigte. Herrgott, schalt sie sich selbst in Gedanken. Was ist nur los mit dir?
Die beiden verließen die Küche und betraten den nebenan liegenden Aufenthaltsraum der Kinder, der auch als Esszimmer diente. Im vorderen Bereich stand ein großer, behäbiger Holztisch, es gab Stühle, aber auch eine Sitzbank. Kissen sorgten für Bequemlichkeit. Auf dem Tisch lagen Buntstifte und andere Malutensilien kreuz und quer durcheinander. Ein für die Inseln typischer Ofen, der Bilegger genannt wurde, sorgte für Wärme. Es gab eine Puppenecke für die Mädchen mit einem entzückenden Puppenhaus und Puppenwagen aus Rattan sowie eine Bauecke für die Jungen mit Bausteinen in bunten Farben und unterschiedlichsten Formen. Auf einem Teppich war eine Holzeisenbahn halb aufgebaut worden. Spielzeugautos stapelten sich in einer Kiste, Kuscheltiere saßen auf einem Ohrensessel. In einem Bücherregal fand sich Lesestoff.
»Was für ein hübscher Raum«, sagte Jonas Bernecker. »Der perfekte Platz für Kinder.«
»Ja, so ist es wohl«, freute sich Erika über das Kompliment. »Aber wir sind trotzdem jedes Mal glücklich darüber, wenn die Rasselbande draußen spielt oder wir Ausflüge machen können. Die Nordseeluft ist immer noch das beste Heilmittel, und nach einem Tag in der Natur hören wir meist keinen Mucks mehr aus den Schlafkammern. Kommen Sie, ich zeige Ihnen den Garten.« Sie bedeutet ihm, ihr zu folgen. Es ging zurück in den schmalen Flur. Früher hatte er, wie in alten Friesenhäusern üblich, die Wohnräume von den Stallungen getrennt. Doch es war lange her, dass in diesem Haus ein Tier mit seinen Bewohnern unter einem Dach gelebt hatte. Durch die Hintertür ging es nach draußen und zu dem Ort, den ihre Großmutter am meisten geschätzt hatte: in den Garten, der früher wie ein verwunschener und friedlicher Ort ausgesehen haben musste, heute jedoch zugunsten der kindlichen Beschäftigung ein anderes Erscheinungsbild angenommen hatte. Manches von früher war jedoch geblieben. Die alten Bäume, allen voran die ausladende Rotbuche, die Bank und der Tisch vor dem Haus, die Kletterrosen an der Wand neben der blau gestrichenen Tür und das alte Mäuerchen aus Findlingen, das den Garten begrenzte. Heute wuchs darauf jedoch kein Gras mehr, sondern Strandrosen, die sie jeden Sommer mit ihrem herrlichen Duft betörten. Ansonsten gab es zahlreiche Spielmöglichkeiten für die Kinder: Schaukeln, eine Rutschbahn, Sandkästen und ein Klettergerüst. Am Grundstücksende befand sich immer noch der Bach, der bei den Kindern nach wie vor äußerst beliebt war. Hier wurden aus allerlei Steinen und Stöcken Dämme gebaut und Schiffchen schwimmen gelassen. Im letzten Jahr hatten Erika und Greta die Neuanschaffung einer Tischtennisplatte getätigt. Diese stand nun linker Hand der alten und aktuell als Lagerhaus genutzten Remise unter einem Vordach, damit die Kinder selbst an Regentagen spielen konnten. Früher hatte das Kinderhaus eigene Pferde gehabt, die hatten sie heute nicht mehr. Zu groß war der Aufwand gewesen, für den Unterhalt der Tiere zu sorgen. Ausfahrten mit den Kindern nach Wyk oder Utersum wurden mithilfe von Bauer Boysen getätigt. Alle anderen Besorgungen wurden zu Fuß oder mit dem Fahrrad erledigt, das Essen wurde ihnen meist geliefert. Die einzigen verbliebenen Tiere waren ausgebüxte Hühner und Gänse aus der Nachbarschaft, die regelmäßig zu Besuch kamen, ebenso wie streunende Katzen und die üblichen Kaninchen.
»Im Frühjahr und im Sommer ist es hier natürlich noch schöner als zu dieser Jahreszeit«, meinte Erika. Zu ihrem Bedauern war heute kein besonders hübscher Tag, um ihren Garten zu präsentieren. Es regnete zwar nicht, doch der Himmel war grau, und es sah im Moment nicht danach aus, als würde sich die Sonne noch einmal zeigen. »Aber die Kinder finden immer eine Beschäftigung. Morgen ist ein Spaziergang zu einem nicht weit von hier gelegenen Kastanienbaum geplant. Danach basteln wir Männchen und Tiere aus den Kastanien. Diese Beschäftigung haben die Kleinen gern.«
»Was für ein wunderbarer Platz für Kinder«, lobte Bernecker. »Einen besseren Ort zur Erholung können die Kleinen gar nicht finden. Selbst für mich ist diese Insel wie ein Wunder, das die Seele streichelt. Es ist so schön, dass ich hier sein kann.« Er berührte eine der Schaukeln an der Kette, und sie begann, sich leicht zu bewegen.
In seiner Stimme schwang plötzlich ein trauriger Unterton mit, und sein Blick hatte sich eingetrübt. Erika konnte nur erahnen, was Bernecker in den letzten Jahren erlebt hatte. Der Krieg, Flucht und Vertreibung, all das Elend und die Grausamkeiten – sie hatten mit Sicherheit auch bei ihm Narben hinterlassen, die nur schwer heilen würden.
»Wo wohnen Sie denn auf der Insel?«, fragte Erika und lockerte mit dieser alltäglichen Erkundigung etwas die bedrückte Stimmung auf.
»Hier in Nieblum«, antwortete er. »Was ich als ein großes Glück ansehe. Dieser Ort ist so wunderbar beschaulich, er ähnelt mit all seinen hübschen Häusern einer Puppenstube. Ich habe ein Privatzimmer gemietet. Es ist klein, aber sauber. Allerdings ist meine Vermieterin etwas schroff, aber ich hoffe, sie wird noch zugänglicher. Ihr Name ist Therese Sörensen. Sie kennen Sie bestimmt, oder?«
»Natürlich, ihre Familie lebt vermutlich auf dieser Insel, seitdem es Föhr gibt. Sie ist ganz alter Kapitänsadel. Allerdings ist der Lack längst ab. Sie ist inzwischen zum zweiten Mal verwitwet und zählt zu den geschwätzigsten Frauen der Insel. Passen Sie auf, was Sie in Ihrer Gegenwart von sich geben. Es ist verwunderlich, dass sie Ihnen ihr Zimmer vermietet hat. Sie hat viele Vorbehalte gegenüber den Heimatvertriebenen.«
»Das merkt man.« Jonas seufzte tief. »Ich denke, es ist des Geldes wegen. Sie knöpft mir mehr Miete ab als meinen Vorgängern und hat mir das Zimmer vermutlich nur deshalb gegeben, weil Cropp sie persönlich darum gebeten hat. Ansonsten hätte ich mich nach einer Bleibe in Wyk umsehen müssen. Das wäre schwierig geworden.«
»Wenn Sie Ihnen nicht anständig zu essen gibt, dann können Sie gerne jederzeit zu uns kommen und an den Mahlzeiten teilnehmen«, bot Erika an. »Wir erhalten wegen der Kinder Extrazuteilungen, und da wir gut haushalten, bekommen wir auch noch einen hungrigen Arzt satt, der vermutlich ansonsten mit Graupensuppe und altem Brot leben muss.«
»Das ist sehr liebenswürdig von Ihnen«, freute sich Bernecker und lächelte. »Sie haben meinen aktuellen Speiseplan gut erkannt.«
Sie tauschten kurz einen Blick, und Erikas Herz begann sogleich wieder höherzuschlagen. In diesem Moment wünschte sie sich, sie könnte ihm im Dünenhof ein Zimmer anbieten. Doch das war nicht möglich. Sie selbst und Greta bewohnten das Haus, jede von ihnen hatte ein eigenes Zimmer, und in der einzigen Dienstbotenkammer schlief Göntje. Außerdem konnte sie sich in lebhaften Farben ausmalen, wie die Gerüchteküche im Dorf blühen würde, wenn sie und Greta den attraktiven Arzt bei sich beherbergten. Gerede über Sodom und Gomorrha im Kinderhaus war das Letzte, das sie gebrauchen konnten.
Im nächsten Moment waren Kinderstimmen zu hören, und Erika sagte: »Da kommt unsere neue Rasselbande wieder. Dann lernen Sie die Lütten gleich kennen. Sie werden fünf Monate bei uns bleiben.«
Die beiden betraten wieder das Haus und trafen bereits im Flur auf die ersten Kinder, die allesamt strahlende Augen und von Wind und Wetter gerötete Wangen hatten. Zu Erikas Bedauern sahen sie jedoch tatsächlich wie kleine Dreckspatzen aus, und über allem lag ein deftiger Stallgeruch.
»Habt ihr auch alle die Schuhe ausgezogen?«, war Göntjes Stimme zu hören. Für eine Siebzehnjährige hatte sie einen äußerst resoluten Tonfall. »Himmel, Rosemarie. So kannst du doch nicht in die Stube laufen. Jetzt haben wir überall Schmutz auf den Dielen. Heinz, du auch. Schuhe ausziehen, aber sofort! Und alle gehen gleich durch in den Waschraum.« Sie wedelte mit den Armen, und die Rasselbande verschwand, begleitet von der üblichen kindlichen Lautstärke in Richtung Waschraum, der sich im Anbau des Friesenhauses gleich neben den Schlafräumen der Kinder befand und noch vor dem Krieg modernisiert worden war. Hinter der blonden Göntje betrat Greta den Flur, die wie gewohnt ihren dunkelblauen Parker und graue Hosen trug. Sie nahm eine schwarze Strickmütze vom Kopf und richtete ihren Blick sogleich auf Bernecker.
»Moin«, grüßte sie etwas verwundert. »Ein neues Gesicht.« Sie sah Erika an, die ihren Begleiter vorstellte und seine neue Funktion im Dünenhaus erläuterte.
»Ein Kinderarzt also. Wie passend.« Sie lächelte, doch Erika hörte an ihrem Tonfall, dass Greta etwas nicht gefiel. Sie ahnte, was es war. Greta konnte es nicht leiden, wenn Dinge über ihren Kopf hinweg entschieden wurden. Sobald Jonas Bernecker fort war, würde es dazu gewiss eine Diskussion geben, die Erika bereits jetzt verabscheute. Greta und Erika hatten beide eine Ausbildung zur Krankenschwester am Wyker Krankenhaus abgelegt, und Greta war diejenige von ihnen gewesen, die eine Weile lang sogar mit dem Studium der Medizin geliebäugelt hatte. Doch dann war es anders gekommen, und sie hatte Joachim kennen- und lieben gelernt. Wenige Monate später war alles verändert gewesen, die Welt hatte kopfgestanden, und an ein Medizinstudium war nicht mehr zu denken gewesen. So wie es aussah, würde Gretas Traum, Ärztin zu werden, niemals in Erfüllung gehen. Greta hatte sich trotzdem über das Wissen einer Krankenschwester hinausgehende medizinische Kompetenzen angeeignet, und oftmals war anstatt Cropps sie diejenige, die die Kinder behandelte. Der alte Arzt hatte ihre getroffenen Diagnosen meist nur noch bestätigt und die Medikamente verordnet. Wie die Zusammenarbeit mit einem neuen Kinderarzt aussehen würde, wusste Erika nicht. Es galt zu hoffen, dass Cropp Bernecker bereits über Gretas Wissen ins Bild gesetzt hatte. Wenn nicht, würde Erika dafür sorgen, dass er es zeitnah tun würde, damit es nicht zu Unstimmigkeiten kam.
Die nächste Aussage von Bernecker sorgte jedoch dafür, dass sich Erikas Bedenken vorerst in Luft auflösten.
»Mein Kollege Doktor Cropp hat mir bereits berichtet, wie kompetent Sie sind, Frau Hansen, und wie großartig die Zusammenarbeit mit Ihnen funktioniert. Ich hoffe darauf, dass wir ein ähnlich gutes Miteinander haben werden.« Er schenkte Greta ein charmantes Lächeln, und Erika erkannte das schwindende Misstrauen in den Augen ihrer Schwester. Immerhin hatte der alte Cropp vorgesorgt. Er kannte seine Pappenheimer.
»Darauf hoffe ich auch, Doktor Bernecker«, antwortete Greta und hielt Jonas die Hand hin. »Auf eine gute Zusammenarbeit.«
Jonas ergriff sie und wiederholte Gretas Worte noch einmal zur Bestätigung. Dann stellte er sogleich eine Fachfrage: »Wie viele Kinder sind denn aktuell bei Ihnen untergebracht? Fräulein Friedrichs meinte eben, sie wären erst kürzlich auf Föhr eingetroffen.«
»Es sind fünfzehn Lütten im Alter von sieben bis zwölf Jahren«, berichtete Greta. »Acht Mädchen und sieben Jungen. Sie kommen dieses Mal aus Köln und sind tatsächlich noch nicht lange hier. Zur Erstuntersuchung ist es noch nicht gekommen, denn Doktor Cropp hatte in den letzten Tagen viele Hausbesuche zu erledigen. Es sieht also danach aus, als würde unsere Zusammenarbeit zeitnah beginnen. Was halten Sie von morgen früh um acht Uhr?«
»Gern«, antwortete Bernecker. »Ich werde pünktlich sein.«
»Wollen Sie zum Essen bleiben, Herr Doktor?«, warf Marta ein. Sie war mit einem Stapel Suppenteller in den Flur getreten und sah den Arzt fragend an. »Dann decke ich für Sie mit.«
»Besten Dank für die Einladung«, sagte Jonas. »Doch ausgerechnet heute passt es mir nicht. Ich habe noch einen Termin in Wyk. Aber beim nächsten Mal gern.«
Die ersten Kinder kamen aus dem Waschraum zurück, und Erika und Greta wurden sogleich in Beschlag genommen.
»Tante Erika«, sagte ein Mädchen mit dem Kopf voller blonder Locken. »Auf dem Bauernhof war es so toll. Wir durften auf den Pferden reiten und sie füttern. Und wir haben Kaninchen gesehen.«
»Ja, es waren zehn Stück, vielleicht sogar mehr«, sagte ein weiteres Mädchen zu Erika. »Aber die fanden uns zu laut und sind ganz schnell weggehoppelt. Ach, die haben so entzückende Popos. Sie sind so niedlich.« Ihr Gesichtsausdruck bekam etwas Seliges.
»Ja, unsere Kaninchen auf Föhr sind schon etwas ganz Besonderes«, meinte Greta. »Ich verspreche euch, dass ihr noch ganz viele von ihnen sehen werdet. Aber jetzt lasst uns Marta den Tisch decken helfen. Es gibt heute leckeren Eintopf mit Würstchen und zum Nachtisch Schokoladenpudding.«
Besonders die Aussicht auf den Pudding sorgte sogleich für Begeisterung, und mit der für Kinder dieses Alters üblichen Lautstärke wurde der Esstisch in Beschlag genommen.
»Dann verabschiede ich mich jetzt«, meldete sich Jonas Bernecker wieder zu Wort. »Wir sehen uns morgen um acht.«
»Ja, bis morgen«, gab Erika ihm zur Antwort, und es kam zu einem kurzen Blickwechsel zwischen ihnen, der dafür sorgte, dass es erneut in ihrem Magen zu kribbeln begann. Greta war mit den Kindern bereits im Aufenthaltsraum verschwunden.
Greta wartete einen Moment, bis sich die Waage eingependelt hatte, dann las sie das Gewicht ab. »Es sind genau achtzehn Kilo.« Sie bemühte sich darum, sich nicht anmerken zu lassen, wie besorgniserregend dieser Befund war.
Auf der Waage stand die kleine Christel. Das rotblonde Mädchen war sieben Jahre alt und sollte eigentlich einige Kilo mehr wiegen. Dazu war sie für ihr Alter ein ganzes Stück zu kurz geraten. So sah es bei all ihren neuen Schützlingen aus. Allesamt waren untergewichtig und zu klein. Aber immerhin gab es bei keinem der Kinder Anzeichen für eine Rachitis. Diese abscheuliche Erkrankung des Mangels blieb den Kleinen erspart.
Erika notierte das Gewicht in Christels Akte, die sich in den nächsten Monaten hoffentlich nur mit guten Eintragungen füllen würde.
Die Untersuchung der Kinder fand in der im Haus eingerichteten Krankenstation statt, die im ersten Stock direkt neben Gretas Schlafkammer gelegen und früher ein Teil des Dachbodens gewesen war. Der Untersuchungsraum diente ihnen aufgrund des Platzmangels zusätzlich als Büro. Nebenan gab es eine Kammer mit zwei Betten. Hier konnten erkrankte Kinder ohne Störungen versorgt werden.
Jonas Bernecker begann, die kleine Christel zu untersuchen. Er ging dabei besonders behutsam vor, was Greta positiv auffiel.
»Was meinst du?«, fragte er das Mädchen. »Wollen wir erst die Puppe abhören?«
»Aber die hat doch gar keinen Herzschlag und atmet auch nicht«, erwiderte Christel gewitzt. »Was sollen wir denn da hören?«
»Da gebe ich dir recht«, stimmte Bernecker ihr lächelnd zu. »Du bist ein kluges Mädchen.«
»Das sagt Mama auch immer. Ich geh ihr öfter auf die Nerven, weil ich immer alles wissen will. Aber sie sagt, dass das so schon ganz gut wäre. Ich kann auch schon richtig lesen. Mein Bruder Karl hat es mir beigebracht. Der durfte leider nicht mitkommen, weil er schon dreizehn ist, und er passt auf Mama auf. Er ist nämlich ganz groß und stark.«
»Das ist gut für deine Mama, dass sie so einen Aufpasser hat«, befand Jonas, der von Greta und Erika vor dem Beginn der Untersuchungen über die Familienverhältnisse jedes Kindes ins Bild gesetzt worden war. So wusste der Arzt, dass der Vater des Mädchens 1944 gefallen war und sie die schweren Jahre des Krieges von ihrer Mama und ihren Geschwistern getrennt bei einer Gastfamilie auf dem Land verbracht hatte.
Bis auf das Untergewicht, die zu geringe Körpergröße und ein leichtes Schnupfennäschen ging es Christel gut, und sie durfte sich wieder anziehen.
Munter ging es weiter. Körpergewicht und Größe der Kinder wurden notiert, ein Patient nach dem anderen wurde von Jonas Bernecker sorgfältig abgehört. Die Kinder mussten sich bücken, auf einem Bein stehen, die Wirbelsäule wurde abgetastet. Greta kannte die Abläufe genau, denn sie hatte diese Untersuchung bisher stets selbst durchgeführt. Wenn etwas Gravierendes aufgefallen war, hatte sie Doktor Cropp hinzugezogen. Am Vortag hatte Greta eingewilligt, dass Jonas die Untersuchung vornehmen sollte, damit er die Kinder kennenlernte. Schließlich war er als Arzt jetzt für sie zuständig, und sie sollten Vertrauen zu ihm fassen. Doch heute hatte sie ihre Meinung wieder geändert. Wie konnte Cropp ihr das nur antun? Er setzte ihr, ohne vorher Rücksprache zu halten, einen Arzt vor die Nase, der sie als das sah und so behandelte, was sie auf dem Papier war: eine Krankenschwester. Doch sie hatte mehr Kompetenzen. Während sie das Gewicht des letzten Kindes, es war der kleine Alfred, ablas, hatte sie Mühe, den aufsteigenden Groll in sich zu unterdrücken. Erschwerend kam hinzu, dass Erika den Arzt regelrecht anschmachtete. Sie hatte heute sogar Lippenstift aufgelegt und es mit dem Rouge nach Gretas Meinung etwas übertrieben.
Nachdem auch Alfreds Untersuchung beendet war und der Junge den Raum verlassen hatte, klappte Erika seine Akte zu und sagte: »Das ging heute flott vonstatten. Ich glaube, die Kinder mögen Sie, Doktor Bernecker. Sie gehen mit so viel Feingefühl mit den Lütten um. Da kann unser alter Cropp noch etwas lernen. Er kann mitunter recht ungeduldig mit den kleinen Patienten sein.«
Greta hätte am liebsten eingeworfen, dass sie auch aus diesem Grund die meisten Untersuchungen der Kinder durchführte. Doch sie biss sich auf die Zunge.
»Das kann ich mir gut vorstellen«, antwortete Bernecker. Er nahm sein Stethoskop ab und packte es in seinen Arztkoffer. »Nicht jeder Kollege hat ein Händchen im Umgang mit Kindern. Aber nun bin ich ja da, und ich hoffe darauf, dass unsere Zusammenarbeit weiterhin so reibungslos funktionieren wird wie die heutige Untersuchung.« Er schenkte Erika ein charmantes Lächeln, Greta würdigte er keines Blickes. Sie nahm es grummelnd hin. »Ich hoffe, die Kooperation klappt auch mit den anderen Kinderhäusern auf der Insel so gut wie mit dem Ihrigen. Doktor Cropp hat mir die Betreuung von fünf weiteren Einrichtungen überlassen. Langweilig wird mir auf dieser Insel nicht werden.«
»Wenn das so ist, könnten Sie ja meiner Schwester mehr Aufgaben übertragen«, schlug Erika zu Gretas Verwunderung in einem äußerst schmeichelnd klingenden Tonfall vor. »Greta hatte vor dem Krieg geplant, Medizin zu studieren, und ihr Wissen geht weit über das einer Krankenschwester hinaus. Eingangsuntersuchungen wie die heutige haben wir stets selbstständig erledigt. Nur wenn etwas ungewöhnlich erschien, haben wir Doktor Cropp hinzugezogen.«
»Verstehe …« Bernecker sah Greta nun zum ersten Mal richtig an. »Dann habe ich Ihnen also Ihre Aufgaben geraubt. Das wollte ich natürlich nicht. Es tut mir leid, dass Ihnen der Krieg Ihre Pläne eines Studiums verhagelt hat.«
Greta wusste nicht, was sie erwidern sollte, so überrascht war sie von Erikas Vorstoß, aber auch von Berneckers Reaktion darauf. Sie errötete, senkte den Blick und antwortete: »Ist schon gut. Ich habe mich nicht zurückgesetzt gefühlt«, schummelte sie höflichkeitshalber. »Wir wollten Ihnen und den Kindern ja ein erstes Kennenlernen ermöglichen.«
Bernecker lächelte. »Und es hat mir Spaß gemacht. Es ist eine große Freude für mich, endlich wieder mit kleinen Patienten arbeiten zu dürfen, denn darin sehe ich meine Passion. In den letzten Jahren …« Er verstummte, seine Miene trübe sich ein, und er atmete tief durch. »In den letzten Jahren«, wiederholte er, »war es nicht leicht für mich.«
Greta und Erika nickten, auch ihre Gesichter zeigten jetzt Betroffenheit. Nachhaken mussten sie nicht, denn beide hatten eine Vorstellung von dem, was der Arzt andeutete. Gewiss hatte er in einem Lazarett seinen Dienst getan.
Es war Marta, die durch ihr Erscheinen die bedrückte Stimmung im Raum auflockerte. Sie brachte den herrlichen Duft von frisch Gebackenem mit, Greta wusste, dass es Apfelstreuselkuchen war, denn sie hatten am gestrigen Abend die Äpfel dafür geschält und entkernt.
»Ich hätte Kaffee und Kuchen im Angebot«, sagte Marta. »Also Muckefuck und Kuchen, wenn ich genau sein will. Wenn Ihnen der nicht schmeckt, Herr Doktor, brüh ich Ihnen gern einen Früchtetee auf. Der ist aus eigener Herstellung. Sie bleiben doch noch für einen Moment, oder? Es ist jetzt ruhig im Haus. Die Kinder sind mit Anton im Garten. Er will mit ihnen Papierflieger basteln und einen Wettbewerb veranstalten, welcher am weitesten fliegt. Der Wettergott ist heute ausnahmsweise mal so nett und beschert uns einen sonnigen Tag. Ich wusste schon gar nicht mehr, wie die gelbe Scheibe am Himmel aussieht.« Sie wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab.
»Bei einem solch netten Angebot kann ich unmöglich ablehnen«, sagte Bernecker lächelnd. »Und vielleicht könnte ich beim Papierflieger-Wettbewerb mitmachen. Ich will mich nicht selbst loben, aber meine Papierflieger sind ausgezeichnete Konstruktionen, denen nur wenige Konkurrenzwerke das Wasser reichen können.« Er zwinkerte Marta lächelnd zu und schloss endgültig seine Arzttasche.
Eine Weile darauf saßen Marta, Göntje, Greta und Erika im Garten auf der Hausbank in der milden Herbstsonne und beobachteten lächelnd, wie Anton und Jonas Bernecker mit den Kindern spielten. Neben den Kuchentellern, auf denen nur noch einige Krümel übrig waren, lagen unzählige Papierflieger und weiteres buntes Papier zum Falten.
»Sieh nur, Jonas, wie weit der fliegt«, rief einer der Jungen, sein Name war Erwin. Sein Papierflieger flog tatsächlich ausgezeichnet, landete jedoch in einem Gebüsch. Jonas Bernecker, inzwischen waren sie alle, sogar die Kinder, per Du mit ihm, fischte ihn sogleich wieder heraus. »Das war sehr gut«, meinte er. »Aber der von Otto ist bis zum Bach gekommen. Er führt im Moment die Liste an. Vielleicht liegt es an den Flügeln.«
»Schau, meiner fliegt auch!«, rief die elfjährige Lieselotte mit vor Freude strahlenden Augen. Ihr etwas krummer Flieger schaffte es nur ein kurzes Stück weit und landete mit der Spitze im Gras.
Anton Dengler hob ihn auf und betrachtete das Flugobjekt näher. »Die Flügel sind etwas schief«, merkte er an. »Aber das bekommen wir schnell korrigiert.« Er begann, das Papier neu zu falten.
»Wie einfach es doch ist, Kinder und Männer zufriedenzustellen«, kommentierte Marta das Treiben und nippte an ihrem Muckefuck.
»Ja, das ist es.« Erika lächelte. Versonnen blickte sie in Jonas’ Richtung. Er erwiderte ihren Blick und nickte ihr sogar zu. Greta erkannte dieses besondere Leuchten in den Augen ihrer Schwester, und sie spürte den Stachel der Eifersucht in sich. Sie sollte so nicht fühlen, konnte aber nicht anders. Was würde werden, wenn aus Nicken und Blicken mehr werden, wenn Erika mit dem Arzt ausgehen und ihn vielleicht sogar heiraten würde? Jonas Bernecker war charmant, und sie mochte ihn, jedenfalls redete sie sich das ein. Sollte es zu einer Ehe zwischen ihm und Erika kommen, könnte er das Ruder im Kinderhaus übernehmen. Er war ein Mann, ein Kinderarzt, jemand, dem mehr Vertrauen entgegengebracht wurde als zwei Krankenschwestern. Dann würde sich ihre kleine Welt grundlegend verändern. Oder sah sie zu schwarz? Gretas Gedanken wanderten zu Joachim, und sie spürte die aufsteigenden Tränen. Sie blinzelte sie fort, atmete tief durch und trank einen Schluck von ihrem nur noch lauwarmen Muckefuck. Er würde wiederkommen, und vielleicht würde es sich dann wieder ein wenig wie früher anfühlen, als sie glücklich gewesen waren und geglaubt hatten, die Welt erobern zu können. Doch Greta ahnte, dass es so niemals wieder werden würde.
Es war die Inhaberin des Cafés Rosenhaus, Anna Ingwersen, die Greta aus ihren trübsinnigen Gedanken riss. Die junge Frau war mit Greta und Erika bereits seit Kindertagen befreundet. Sie betrat den Garten und blieb nach Atem ringend und mit geröteten Wangen vor ihnen stehen.
»Moin«, grüßte sie. »Meine Güte, was bin ich gerannt. Aber die Neuigkeiten sind so besonders. Da musste ich gleich zu dir laufen, Greta. Stell dir vor: Es kommen noch heute Abend Rückkehrer aus der Kriegsgefangenschaft mit der letzten Fähre an. Ich hab das bei Holms im Laden gehört, und die wissen es von Inge Mertens, die wartet doch auf ihren Hinnerk. Sie war heute Vormittag bei der Informationsstelle in Wyk. Ist das nicht großartig? Wenn du Glück hast, ist dein Joachim dabei. Wenn du magst, begleite ich dich zum Hafen. Ich muss sowieso noch etwas in Wyk erledigen.«
Greta konnte kaum glauben, was sie hörte. Endlich kamen wieder Föhrer zurück in die Heimat. Ihr Herz begann sogleich höherzuschlagen, und ihre Hände zitterten.
»Natürlich komme ich mit«, sagte sie Anna zu.
»Hast du gehört, Erika?«, wandte sie sich an ihre Schwester. »Joachim könnte heimkommen. Was wäre das schön!«
»Ja, das wäre es.« Erika nickte ihrer Schwester lächelnd zu.
Einige Stunden später standen Erika und Greta gemeinsam mit einer Gruppe weiterer Frauen, allesamt waren es Ehefrauen oder Mütter der Heimkehrer, in Wyk am Hafen im kühlen Herbstwind, und sämtliche Augen waren auf die sich bereits in Sichtweite befindliche Fähre gerichtet. Es herrschte eine seltsam angespannte Stimmung, und es wurde nur wenig geredet. Greta hatte sich etwas zurechtgemacht, ihren besten Rock angezogen, und sie trug den dunkelblauen Filzhut, den Joachim ihr zum Geburtstag geschenkt hatte. Auf Make-up hatte sie verzichtet, Joachim mochte sie lieber natürlich. So hatte er es früher jedenfalls stets betont. Je mehr sich die Fähre Föhr näherte, desto heftiger schlug Gretas Herz. Vor lauter Aufregung zitterten ihre Hände. Um sich zu beruhigen, atmete sie tief durch, doch so recht wollte das nicht funktionieren. Erika, die neben ihr stand, nahm ihre Hand und drückte sie. »Er ist dieses Mal bestimmt an Bord. Einen anderen Gedanken wollen wir nicht zulassen.«
»Nein, wollen wir nicht«, pflichtete Greta ihr bei. »Danke, dass du mich begleitest. Das ist lieb von dir.«
»Aber natürlich. Ich bin doch jedes Mal mitgekommen. Außerdem haben wir zu Hause jetzt noch einen weiteren charmanten Betreuer, der sich um das Zubettbringen der Lütten kümmert.« In ihren Augen zeigte sich bereits durch die Erwähnung von Jonas das besondere Leuchten, das Greta zu deuten wusste.
»Ja, den haben wir«, antwortete Greta, und weil sie es nicht lassen konnte, fügte sie hinzu: »Du empfindest etwas für ihn. Ich sehe es dir an.«
Erika sah Greta verwundert an. Sie schob sich eine Haarsträhne nach hinten, was sie stets tat, wenn sie sich ertappt fühlte oder unsicher war. Greta grinste.
»Du empfindest sogar eine ganze Menge für ihn«, bekräftigte sie ihre Aussage.
»Ist es wirklich so offensichtlich?«, hakte Erika unnötigerweise nach.
»Ja, das ist es«, erwiderte Greta. »Und er ist eine gute Partie, das muss ich sagen. Ich an deiner Stelle würde mich ranhalten.«
»Wenn ich wüsste, wie ranhalten funktioniert.« Erika seufzte. »Ich hatte bisher noch nie einen Verehrer, und der einzige Junge, den ich mochte, hat eine andere geheiratet.« Das war Ole Nielsen aus Borgsum. Seine Frau stand mit ihren beiden Töchtern nicht weit von ihnen entfernt und wartete ebenfalls auf seine Heimkehr.
Das Schiff hatte den Anleger erreicht. Die Frauen drängten sich auf den Fähranleger, Hälse wurden gereckt, um zu sehen, ob sie ihren Angehörigen bereits an Deck erkennen konnten.
Die Männer verließen das Schiff, und Greta taxierte jeden von ihnen. Die Heimkehrer sahen mitgenommen aus, trugen abgetragene Kleidung, waren schmutzig, Gepäcksäcke lagen auf ihren Schultern. Eine blonde Frau aus Wyk, sie arbeitete in der Apotheke, schrie als Erste auf und fiel ihrem Mann überglücklich um den Hals. Es folgten weitere Umarmungen und liebevolle Begrüßungen. Auch Ole Nielsen war heimgekehrt.
Gretas Blick richtete sich mit klopfendem Herzen hoffnungsvoll auf die Fähre. Vielleicht kamen noch weitere Männer an Land, die aufgehalten worden waren, und Joachim befand sich unter ihnen. Aber das geschah nicht. Inzwischen gingen bereits die Passagiere an Bord, die die Insel verlassen wollten. Enttäuscht ließ Greta die Schultern sinken, in ihren Augen schwammen Tränen.
»Ich hätte es wissen sollen«, sagte sie und schniefte. »Jedes Mal wieder komme ich hierher und hoffe auf seine Heimkehr, aber …« Ihre Stimme brach, und die Tränen kullerten über ihre Wangen. Wieder einmal war ihre Hoffnung auf ein Wiedersehen zerstört worden, und ein stechender Schmerz ergriff von ihr Besitz, der ihr die Luft zum Atmen raubte. »Er muss doch irgendwann nach Hause kommen«, brachte sie heraus.
»Das wird er. Ganz bestimmt.« Erika legte tröstend die Arme um Greta. »Nicht heute, aber ganz bald. Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben. Komm. Ich bring dich heim.« Sie führte Greta vom Anleger fort.
Also so viele Löcher in Kleidungsstücken sieht man auch nicht alle Tage«, meinte Marta und fädelte erneut einen Faden in ihre Stopfnadel. »Besonders die Socken sind ein Graus. Mit so etwas kann man die Kleinen doch nicht rumlaufen lassen.«
Sie und Erika beschäftigten sich an diesem regnerischen Nachmittag in der Küche damit, einen Teil der von den Kindern mitgebrachten Kleidung zu flicken und die Socken zu stopfen. Ihre laute Rasselbande befand sich zur zweistündigen Mittagsruhe in den Betten. Göntje führte die Aufsicht, damit auch ja niemand auf die Idee kam, Unsinn zu machen. Greta hatte sich bereits vor einer Weile auf den Weg zum Dorfladen gemacht, um die Essenslieferungen für die nächste Woche zu besprechen. Da sie bereits länger als gewohnt fortblieb, war sie vermutlich auf einen Klönschnack hängen geblieben. Vor den beiden Frauen lagen unzählige Kleidungsstücke zum Flicken und ein großer Sockenstapel zum Stopfen. Erika hatte das Gefühl, dass es dieses Mal besonders viele schadhafte Kleidungsstücke waren. Zu ihrem Bedauern kamen die meisten ihrer Schützlinge nicht gut ausgestattet bei ihnen an. Entweder war die Kleidung schäbig, oder es fehlten notwendige Stücke wie warme Jacken oder Schals, auch passende Schuhe trugen die Kinder nur selten. Löcher in den Socken waren an der Tagesordnung. Erika und Greta hatten in den letzten beiden Jahren ein Kleiderlager für die Kinder eingerichtet. Die Kleidung wurde ihnen von unterschiedlichsten Personen und Einrichtungen gespendet. Im Ort gab es zwei ältere Schwestern, Lucia und Kreske Petersen, die gerne strickten und ihnen regelmäßig Pullover, Mützen und Schals für die Lütten vorbeibrachten. Zu Erikas Bedauern blieben sie meist zum Klönen hängen und waren nur schwer wieder loszuwerden. Was tat man nicht alles für warme Kinderkleidung.
»Aber ich weiß ja, wie es ist, wenn man nix mehr hat«, milderte Marta ihre Kritik wieder ab. »Die kleine Ruth hat mir gestern erzählt, dass sie sich mit ihren drei Geschwistern eine winzige Kammer in einer notdürftig zusammengezimmerten Wohnung in einem Trümmerhaus teilen muss. Die oberen Stockwerke des Hauses sind weg. Nur die Mutter ist ihnen geblieben und eine Tante, aber die redet nicht mehr, weil sie vier Tage verschüttet gewesen ist. Jeden Tag freut sie sich auf das Schulessen, denn zu Hause gibt es nur magere Kost, oft müssen sie hungrig schlafen gehen. Wie soll es in einer solchen Welt passende Schuhe ohne Löcher geben? Ich frage mich, wie es die kleinen Menschlein schaffen werden, all das Erlebte aus ihren Köpfen zu vertreiben.« Sie stieß einen Seufzer aus und ließ ihre Näharbeit sinken. »Wie wir alle dieses Wunder vollbringen sollen. Anton hat mir gesagt, wir sollen nicht über die Flucht reden, weil davon will auf der Insel keiner was hören. Aber in meinem Kopf sind all diese Bilder, all diese Gesichter. Es ist, als würden sie mich verfolgen. Vielleicht wird es ja doch besser, wenn ich sie rauslasse.« Plötzlich herrschte diese angespannte Stimmung im Raum, die Erika nur zu gut kannte und von der sie gehofft hatte, dass sie sie für immer hinter sich gelassen hatten. In solchen Momenten kam es ihr so vor, als wollte die ganze Düsternis der letzten Jahre erneut von ihnen Besitz ergreifen, mit all ihren Ängsten, Sorgen und dem Schmerz, der sich tief in ihre Seelen gefressen hatte. »Ach, ich rede mal wieder Unsinn«, sagte Marta. »Entschuldige, meine Liebe. Ich wollte dich nicht mit meinem Kummer belasten. Es ist nur, manchmal …«
Sie brach ab, und Erika erkannte Tränen in ihren Augen. Tröstend legte sie ihre Hand auf die von Marta und überlegte sich eine passende Antwort. »Kummer kann leichter werden, wenn man ihn teilt«, erwiderte sie. »Dann ist die Last nicht mehr so schwer. Also, wenn du mir von all den Geschehnissen erzählen willst, dann werde ich dir zuhören. Ob es dadurch besser wird, weiß ich nicht, denn deine Last ist schwer, und vielleicht fehlt mir die Kraft, sie mit dir zu tragen. Aber es könnte auch funktionieren.« Sie schenkte Marta ein aufmunterndes Lächeln.
Marta nickte, holte ein Stofftaschentuch hervor und tupfte sich über die Augen. »Das ist lieb von dir«, sagte sie. »Das Angebot klingt verlockend. Aber vielleicht hat Anton recht mit dem, was er sagt, und es ist besser zu versuchen, all das Geschehene zu vergessen. Und das werde ich nicht schaffen, wenn ich darüber rede. Meine Großmutter hat immer gesagt, dass man sich stets an die guten Dinge im Leben zurückerinnern soll. Das Leben ist zu kurz, um an Böses zu denken, hat sie gemeint. Sie war ein besonderer Mensch. Zu ihrem Glück hat sie das unselige Ende ihrer Heimat nicht mehr erleben müssen.«
Jonas Bernecker unterbrach das Gespräch der beiden durch sein Eintreten. Mit seiner dunkelgrünen Regenjacke erweckte er einen durchgeweichten Eindruck.
»Moin, zusammen«, grüßte er und schob seine Kapuze nach hinten. Sein braunes Haar sah etwas zerzaust aus. »Das ist aber auch ein Schietwetter heute. So sagt man doch hier im Norden, oder?«
»Ach, wegen dem büschen Regen.« Erika schenkte ihm ein Lächeln. In ihrem Magen breitete sich erneut das kribbelige Gefühl aus, das sie stets in seiner Gegenwart verspürte. »Da muss auf den Inseln mehr passieren, um es als Schietwetter zu bezeichnen. Muckefuck?«
»Na, dann bin ich mal gespannt, wie richtiges Schietwetter aussieht …« Jonas grinste. »Du musst mir sagen, wenn es so weit ist. Vielleicht erkenne ich es nicht.« An die vertrauliche Anrede zwischen ihnen musste sich Erika noch gewöhnen. Es war noch nie vorgekommen, dass sie jemandem so schnell das Du angeboten hatte. Aber bei Jonas hatte es sich an dem Nachmittag mit den Kindern im Garten richtig angefühlt. »Zum Plaudern kann ich bedauerlicherweise nicht bleiben, denn ich muss heute Nachmittag Cropp in der Sprechstunde vertreten«, lehnte Jonas ihr Getränkeangebot ab. »Den Ärmsten hat eine fiebrige Erkältung erwischt, und er muss das Bett hüten.«
»Ach du je«, warf Marta ein. »Tja, auch ein Arzt ist vor der Rüsselpest nicht gefeit. Aber ich nehme an, du bist nicht zu uns gekommen, um uns von Cropps Erkältung zu berichten, oder?«, fragte sie.
»Das bin ich tatsächlich nicht«, erwidert Jonas und richtete seinen Blick auf Erika. »Der Nieblumer Turnverein führt heute das Theaterstück Wenn der Hahn kräht im Gasthof Witt auf. Ich hab gedacht, wir beide könnten zusammen hingehen. Danach soll es auch noch Tanz geben.«
Erikas Herz tat einen Satz. Er lud sie ins Theater ein. Er wollte Zeit mit ihr verbringen. Also hatte sie sich nicht geirrt, und er schien ihr zugetan zu sein. Das kribbelige Gefühl in ihrem Inneren verstärkte sich und zauberte ihr ein Lächeln auf die Lippen. Sie antwortete: »Ich komme gerne mit. Und solltest du nicht alle Worte in dem Stück verstehen, übersetze ich sie selbstverständlich für dich«, fügte sie noch hinzu und grinste.
Einige Stunden später saß Erika an ihrem Toilettentisch in ihrer Schlafkammer und betrachtete ihr Gesicht im Spiegel. Sie hatte ihr Aussehen nie sonderlich gemocht und sich stets gewünscht, etwas mehr ihrer Schwester zu ähneln, die in ihren Augen eindeutig die feineren Züge geerbt hatte und durch ihre schmale Figur und mit ihrem rotblonden Haar wie eine zarte Elfe aussah. Sie selbst hatte im Gegensatz dazu eher breite Schultern, ihre Nase war etwas knollig geraten, und ihre Augen standen ihrer Meinung nach etwas zu dicht beisammen. Erika wusste, dass Greta all diese Kritikpunkte als Blödsinn bezeichnete. Sie hatte ihr schon mehrfach klarzumachen versucht, wie hübsch sie war und dass sie auch gerne solch große braune Mandelaugen hätte. Erika schob die unschönen Gedanken beiseite und atmete tief durch. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt für Selbstzweifel. Sie musste heute Abend selbstbewusst erscheinen. Gerader Rücken, charmant lächeln und bloß nichts Falsches sagen. In Letzterem war sie besonders gut. Wenn jemand Fettnäpfchen fand, dann war sie es.
»Du kriegst das hin«, sagte sie zu ihrem Spiegelbild, atmete tief durch und ließ ihren Blick über das vor ihr liegende Sammelsurium an Schminkutensilien schweifen. Nach kurzer Überlegung beschloss sie, nur ein leichtes Make-up aufzulegen. Wenn sie sich zu sehr auftakelte, verschreckte sie Jonas am Ende noch. Außerdem blieb ihr kaum noch Zeit für eine größere Kriegsbemalung, denn sie hatte eine gefühlte Ewigkeit für die Auswahl des passenden Kleides benötigt. Auf dem Bett lagen noch die verschmähten Stücke. Greta war diejenige gewesen, die sie am Ende davon überzeugt hatte, das moosgrüne, knieumspielende Kleid mit der Raffung im Taillenbereich anzuziehen. Dazu passten auch ihre einzigen halbwegs ansehbaren Absatzschuhe, mit denen es sich ganz passabel tanzen ließ. Ihr Blick wanderte auf die Uhr, und sie stieß einen Seufzer aus. Es blieben ihr noch genau fünf Minuten, bis Jonas sie abholen kam, und sie wollte ihn auf gar keinen Fall warten lassen. Sie entschloss sich dazu, ihre Wimpern zu tuschen, Rouge landete auf ihren Wangenknochen, auf Lippenstift verzichtete sie, dafür legte sie etwas von dem Parfüm auf, das ihr Greta im letzten Jahr zu Weihnachten geschenkt und das sie zuvor noch nie benutzt hatte, weil sie das teure Wässerchen nicht im Alltag verschwenden wollte. Nach dem Ende ihrer Bemühungen betrachtete sie ihr Werk noch einmal im Spiegel. Ihr schulterlanges Haar wellte sich sanft, sie hatte die vordere Partie seitlich mit Klammern weggesteckt. So sah sie halbwegs passabel aus. Sie atmete tief durch, schlüpfte in ihre bereitstehenden und von Marta auf Hochglanz polierten Schuhe und verließ mit bis zum Hals klopfendem Herzen ihre Schlafkammer. Just in dem Moment, als sie das Ende der Treppe erreichte, öffnete sich knarrend die Haustür, und Jonas trat ein. Er grüßte freudig und versicherte ihr sogleich, wie wunderhübsch sie aussähe.
»Wo stecken denn die Kinder?«, erkundigte er sich, während er Erika, ganz Gentleman, in den Mantel half.
»Die lauschen bereits ihrer Gutenachtgeschichte«, antwortete Erika. »Greta liest ihnen heute das Märchen von Zwerg Nase vor.«
»Wie nett. Mal ein Märchen von Wilhelm Hauff und nicht der Gebrüder Grimm. Eine hübsche Abwechslung.«
»Finde ich auch«, pflichtete Erika ihm bei. »Obwohl bei uns die Märchen von Hans Christian Andersen am meisten vorgelesen werden. Mein liebstes von ihnen ist Das hässliche Entlein.« Sie legte zusätzlich zu ihrem dunkelblauen Wollmantel noch einen Schal um.
»Was ein Zufall«, sagte Jonas. »Das ist auch mein Favorit von ihm. Wenn es dir nichts ausmacht, komme ich die Tage vorbei und lese es den Kindern vor. Mir wird nachgesagt, dass ich ein großes Talent zum Vorlesen besitze.«
»Gern«, erwiderte Erika. »Da werden sich die Lütten bestimmt freuen. Sie haben bereits nach dir gefragt. Aber jetzt sollten wir uns sputen, sonst kommen wir zu spät zur Vorstellung.« Sie öffnete die Tür, und sie traten nach draußen, wo es zu regnen aufgehört hatte. Zwischen den von einem frischen Wind über den Himmel getriebenen Wolkenfetzen war der Vollmond zu sehen. Während sie den Babendörpstieg hinabliefen, verstärkte sich das Beben in Erikas Innerem, und sie glaubte, Jonas müsse merken, wie aufgewühlt sie war. Als sie nur wenig später den Veranstaltungssaal im Gasthaus betraten, richteten sich, Erika hatte es geahnt, sogleich neugierige Blicke auf sie. Morgen würden sie vermutlich das Klatschthema im Dorfladen sein. Aber das war Erika in diesem Moment gleichgültig. Das Licht im Zuschauerraum wurde gelöscht, und der Vorhang hob sich. Sie warf Jonas einen Seitenblick zu und lächelte. Da nahm er plötzlich ihre Hand, was Erika in diesem Moment gar nicht aufdringlich vorkam oder unangenehm war. Während der Aufführung hatte sie gut damit zu tun, Jonas die vielen norddeutschen Begriffe zu erklären. Das eine oder andere Mal waren es deftige Flüche, die ausgesprochen wurden, aber die meisten davon verstand er zum Glück auch ohne Nachfrage. Als die Vorstellung vorüber war, gab es nicht enden wollenden Beifall für die Theatergruppe, und sie mussten mehrfach auf die Bühne kommen und sich verbeugen.
Eine Weile darauf waren die Stühle fortgeräumt worden, und auf der Bühne befand sich nun eine Tanzkapelle, die flotte Rhythmen spielte, zu denen kräftig getanzt wurde. Auch Erika und Jonas befanden sich unter den Tanzwütigen, und Jonas entpuppte sich tatsächlich als großartiger Tänzer. Es wurde hauptsächlich Swing gespielt, der während des Krieges von den Nazis verboten worden war und sich nun wieder großer Beliebtheit erfreute. Als die Kapelle das aktuelle Lied beendete, verließen Jonas und Erika die Tanzfläche. Erika fühlte sich erschöpft, und der durch den Raum wabernde Zigarettenrauch sorgte dafür, dass ihre Augen tränten.
»Können wir kurz an die Luft gehen?«, fragte sie Jonas, und er stimmte zu. Ohne ihre Mäntel von der Garderobe zu holen, traten sie nach draußen, wo sie die kühle Luft des späten Abends und einige weitere nach Frischluft lechzende Besucher der Veranstaltung empfingen, die in kleinen Gruppen beisammenstanden und sich unterhielten. Jonas und Erika entfernten sich ein Stück vom Eingang und schlenderten Richtung Friedhof, der im fahlen Licht des Mondes keinen sonderlich vertrauenswürdigen Eindruck erweckte. Obwohl Erika nicht abergläubisch war und schon gar nicht an Geister oder gar Untote glaubte, so sorgte der Anblick des düsteren Friedhofs in diesem Moment doch dafür, dass sie schauderte. Aber vielleicht war es ja doch die Kälte, die sie erzittern ließ. Sie schlang die Arme um ihren Oberkörper und verfluchte sich dafür, nicht ihren Mantel angezogen zu haben.
»Du frierst«, merkte Jonas an. Er zog sein Jackett aus und legte es fürsorglich um Erikas Schultern. »Hier, nicht, dass du dich noch erkältest.«
Sein Tun sorgte dafür, dass Erika sich sogleich besser fühlte, und sie zog sein Jackett enger um sich, das so herrlich nach ihm duftete.