9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €
Kaffee-Duft, Seewind und große Gefühle: Teil 1 der großen historischen Familiensaga um zwei Schwestern und ihr Café auf Sylt Anfang des 20. Jahrhunderts Obwohl sie ihre Eltern früh durch eine Sturmflut verloren haben, wachsen die Schwestern Matei und Elin behütet und geliebt beim Kapitäns-Ehepaar Hansen in Keitum auf Sylt auf. Als Paul Hansen jedoch Anfang 1914 überraschend stirbt, stellt sich heraus, dass von seinem Vermögen nicht mehr viel übrig ist. Zusammen mit ihrer Ziehmutter Anne vermieten Matei und Elin Gästezimmer an Künstler und setzen bald all ihre Hoffnungen auf eine neuartige Idee: In dem altehrwürdigen Herrenhaus soll ein Kaffeegarten entstehen. An einem wunderschönen Sommertag ist es so weit, Kaffee-Duft zieht durch die hohen, stuckverzierten Räume, und bunt gekleidete Gäste erfüllen das Haus endlich wieder mit fröhlichen Stimmen. Doch kaum ist das Glück zu den Hansens zurückgekehrt, ziehen mit dem 1. Weltkrieg erneut dunkle Wolken auf … »Das Rauschen der Wellen, der Duft der Rosen und viel Romantik – einfach zum Wegträumen ist diese Sylt-Saga von Anke Petersen!« Anne Jacobs, Autorin des Bestsellers »Die Tuchvilla« Anke Petersen, Bestseller-Autorin der Amrum-Trilogie um das »Hotel Inselblick«, entführt mit ihrer »Kaffeegarten-Trilogie« auf die beliebte Urlaubsinsel Sylt Anfang des 20. Jahrhunderts. Die historische Familiensaga um die beiden Schwestern Matei und Elin erscheint in folgender Reihenfolge: • Der Kaffeegarten auf Sylt. Salz im Wind • Der Kaffeegarten auf Sylt. Die Farbe des Meeres
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 668
Anke Petersen
Salz im WindTeil 1Der Kaffeegarten
Ein Sylt-Roman
Knaur e-books
Obwohl sie ihre Eltern früh durch eine Sturmflut verloren haben, wachsen die Schwestern Matei und Elin behütet und geliebt beim Kapitäns-Ehepaar Hansen in Keitum auf Sylt auf. Als Paul Hansen jedoch Anfang 1914 überraschend stirbt, stellt sich heraus, dass von seinem Vermögen nicht mehr viel übrig ist.
Zusammen mit ihrer Ziehmutter Anne vermieten Matei und Elin Gästezimmer an Künstler und setzen bald all ihre Hoffnungen auf eine neuartige Idee: In dem altehrwürdigen Herrenhaus soll ein Kaffeegarten entstehen. An einem wunderschönen Sommertag ist es so weit, Kaffee-Duft zieht durch die hohen, stuckverzierten Räume, und bunt gekleidete Gäste erfüllen das Haus endlich wieder mit fröhlichen Stimmen. Doch kaum ist das Glück zu den Hansens zurückgekehrt, ziehen mit dem 1. Weltkrieg erneut dunkle Wolken auf …
»Das Rauschen der Wellen, der Duft der Rosen und viel Romantik – einfach zum Wegträumen ist diese Sylt-Saga von Anke Petersen!«
Anne Jacobs, Autorin des Bestsellers »Die Tuchvilla«
Darf es sonst noch was sein?«, fragte Moild Lorenzen und sah Matei abwartend an. Mateis Blick fiel auf die Lakritz- und Himbeerbonbons, die in großen Gläsern neben der Kasse standen. Moild grinste. »Wie viele soll ich denn abfüllen?« Die Mittfünfzigerin mit den grauen, lockigen Haaren kannte ihre Kundschaft nur zu gut. Sie und ihr Mann Carsten führten den in einem kleinen Reetdachhaus untergebrachten Kolonialwarenladen in dem an der Ostküste der Insel Sylt gelegenen Ort Keitum nun bereits seit über zehn Jahren. Der mit allerlei Waren für den täglichen Gebrauch vollgestopfte Laden strahlte eine besondere Art von Gemütlichkeit aus. Hinter dem Tresen waren die Wände mit den für die Insel üblichen blau-weiß gemusterten Kacheln verziert, die Decke durchzogen hölzerne Balken, überall standen mit allerlei Waren bestückte Körbe herum, gut gefüllte Regale reihten sich dicht an dicht. In Moilds Laden gab es nichts, was es nicht gab. Seife und Waschmittel, Lebensmittel aller Art, frisches Gemüse, Gewürze aus aller Herren Länder, von ihr selbst eingelegte Gurken, die sie in ihrem Garten zog, selbst gemachte Tees, auf die Moild besonders stolz war, und natürlich die Bonbons. Im Raum hing stets ein besonderer Geruch, der einen wie eine warme Decke wohlig einhüllte und den es nur hier gab. Matei liebte ihn.
»Von jeder Sorte zwanzig Stück«, antwortete sie. »Nein, besser fünfundzwanzig. Mama hat sie so gern.« Und Papa mochte besonders Lakritz, fügte sie in Gedanken hinzu. Doch er würde die süße Leckerei niemals wieder naschen. Der alte Kapitän Paul Hansen hatte vor drei Wochen die Augen für immer geschlossen. Es war ein Herzinfarkt gewesen, der ihn aus dem Leben gerissen hatte. Zu seiner Beerdigung auf dem Friedhof der altehrwürdigen St.-Severin-Kirche war der gesamte Ort anwesend gewesen. Es hatte in dicken weißen Flocken geschneit, und ein böiger Wind hatte an ihren Mänteln gezerrt. Matei blinzelte die aufsteigenden Tränen fort. Moilds Blick wurde mitleidig.
»Ach, min Deern«, sagte sie. »Dat wird alles schon irgendwann wieder gut werden. Als mein Knud, Gott hab ihn selig, von See nicht mehr heimkam, dachte ich auch, die Welt bricht zusammen. Und er war damals erst dreiundzwanzig. Aber dat wurde dann schon wieder. Paul hatte ein langes Leben, und er hat das Privileg genossen, auf seine geliebte Heimatinsel und in unser wunderschönes Keitum heimkehren zu dürfen. Nur dat hässliche Haus am Watt hätte es wegen mir nicht gebraucht. Passt ja so gar nicht ins Bild. Aber das ist ihm längst verziehen.« Sie winkte ab.
Eine weitere Kundin betrat den Laden. Es war Kresde Jansen, ein Keitumer Urgestein. Inzwischen hatte sie die siebzig bereits überschritten. Gleich vier Ehemänner hatte sie gehabt, drei davon waren von See nicht heimgekehrt, nur der Letzte, Nickels Jansen, war in Sylter Erde beerdigt worden. Das Haar der Kapitänswitwe war inzwischen schlohweiß, und sie sah meist etwas zerzaust aus. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund hatte sie es stets eilig. Auch heute machte sie wieder einen recht unsteten Eindruck.
»Moin«, grüßte sie mit ihrer tiefen Stimme in die Runde. »Ich brauch nur rasch ’n büschen Mehl und Linsen, dann bin ich schon wieder weg. Wat ein Wetter heute. So kalt hatten wir es lange nicht. Dat dauert bestimmt nicht mehr lange, bis der Fährbetrieb eingestellt wird. Ach, das Fräulein Matei ist hier. Wie geht es denn Anna? Ich hab sie neulich auf dem Friedhof gesehen. Es ist aber auch zu traurig und kam so plötzlich. Aber da kann man nichts machen. Wat mut, dat mut, hat mein Nickels immer gesagt. Gott hab ihn selig.«
Matei grüßte und bemühte sich um ein Lächeln, eine Antwort fiel ihr nicht ein.
»Moin, Kresde«, grüßte Moild. »Hektisch wie immer.« Ihre ständige Eile hatte Kresde den Ökelnamen Sausewind eingebracht. Es war auf ganz Sylt üblich, sogenannte Ökelnamen zu verteilen, denn viele Bewohner hatten ähnliche Nachnamen, was häufig für Verwechslungen sorgte: Petersen, Hansen, Martensen, Jansen. Die erfundenen Namen waren unterschiedlichen Ursprungs. Meist waren es Eigenheiten oder Angewohnheiten, die zu einem der Spitznamen führten, oder der Beruf desjenigen. Moild und Carsten waren im ganzen Ort als Kramer bekannt. Dass über ihrem Laden der Name Lorenzen stand, interessierte niemanden.
»Ich hätte dann alles«, sagte Matei und legte die Bonbonpackungen in ihren Korb.
»Anschreiben, wie immer?«, fragte Moild und holte ihr Notizbuch unter der Ladentheke hervor, in dem sämtliche Schulden ihrer Kundschaft notiert wurden. Spätestens zum Monatswechsel mussten diese beglichen werden. Da kannte Moild kein Pardon. Sie war ja schließlich ein Wirtschaftsunternehmen und nicht die Heilsarmee. Matei stimmte zu, nahm ihren Korb auf und verließ, den üblichen Abschiedsgruß auf den Lippen, den Laden.
Auf der Straße empfing sie ein eisiger Wind, der den Schnee von den Dächern der alten Kapitänshäuser und den Ästen der Bäume wehte. Zu Weihnachten und an Silvester war es noch mild gewesen, und auch die ersten Tage im Januar war es für die Jahreszeit zu warm geblieben. Doch seit zwei Wochen war der Winter zurückgekehrt und hielt die Insel fest in seinem eisigen Griff. Wenn es so weiterginge, würden gewiss bald die Fähren nicht mehr fahren, und dann brach die Zeit der Eisschiffer an. Die Männer zogen mit kleinen Booten über das zugefrorene Watt zum Hafen nach Hoyerschleuse, um die notwendigsten Lebensmittel und die Post zu holen. Dieses Geschäft war gefährlich, und es hatte öfter Todesopfer gegeben. Doch zum Glück war in den letzten Jahren das Watt nur selten so weit zugefroren gewesen, dass sie ihren Dienst hatten tun müssen. Matei eilte die von Ulmen gesäumte C.-P.-Hansen-Allee hinunter. Die Straße war nach dem Inselchronisten Christian Peter Hansen benannt. Dessen Haus, das sogenannte Altfriesische Haus, beherbergte seit einigen Jahren ein Museum und brachte den Besuchern der Insel das private Leben der Insulaner näher. Matei beschleunigte ihre Schritte. Der kalte Wind wehte ihr die Schneeflocken in die Augen. Da half es auch nichts, den Kopf gesenkt zu halten und die Mütze tiefer in die Stirn zu ziehen. Schnellen Schrittes lief sie die Stufen zum Eingang des Herrenhauses hinauf, das Moild eben abfällig erwähnt hatte. Sie hatte schon recht mit dem, was sie gesagt hatte. Das dreistöckige, unweit des Wattufers errichtete Haus passte so gar nicht zu den alten Kapitänshäusern Keitums und wirkte deplatziert. In Westerland wäre es zwischen den vielen Hotelbauten und Gästehäusern in typischer Seebäderarchitektur, die in den letzten Jahrzehnten zwischen den Dünen aus dem Boden gewachsen waren, nicht aufgefallen. Aber im beschaulichen, noch wenig von dem stetig steigenden Tourismus betroffenen Keitum nahm es eine Sonderrolle ein.
Im Treppenhaus begegnete Matei der Grund für die Existenz des Herrenhauses. Ihrer Ziehmutter Anna Hansen. Paul Hansen hatte die Deutsch-Amerikanerin während einer seiner vielen Reisen kennen- und lieben gelernt, und er hatte sie aus Amerika nach Sylt entführt. Nur leider hatte sich Anna, die anderen Komfort gewohnt war, in dem alten, neben dem Herrenhaus gelegenen Kapitänshaus nicht wohlgefühlt, weshalb Paul ihr zuliebe das mondäne Anwesen hatte errichten lassen.
»Matei, Liebes«, sagte Anna. »Du bist schon zurück. Siehst ja ganz durchgefroren aus. Im Salon hat Hannes gerade den Kaffeetisch eingedeckt. Es gibt auch heißen Tee. Der wird dir guttun.«
Matei schlüpfte aus ihrem Mantel, wickelte ihren Schal vom Hals und nahm ihre Mütze ab. Prüfend musterte sie sich in einem Spiegel und zupfte ihr kastanienbraunes Haar zurecht. Als klassisches Friesenmädchen konnte man sie wahrlich nicht bezeichnen. Diese waren eher blond und blauäugig wie ihre ältere Schwester Elin, die gerade die Treppe herunterkam und in ihrem hellblauen Teekleid mal wieder hinreißend aussah. Matei hatte die braunen Haare und Augen wohl von ihrer Urgroßmutter geerbt. Manche Merkmale übersprangen gern mal mehrere Generationen. So hatte es ihr Vater gesagt. Ihre Urgroßmutter hatte ebenfalls braunes Haar und dunkle Augen gehabt. Das bewies ein altes Familiengemälde, welches zu deren Hochzeit angefertigt worden war. Matei hatte es früher häufig betrachtet. Sogar ihre Nase schien sie geerbt zu haben. Sie hatte geglaubt, in einen Spiegel zu blicken. Verwandte, denen man ähnelte. Davon hatten Elin und Matei keine mehr. Alles, was ihnen von ihrer Familie geblieben war, waren wenige Fotografien und Gemälde, die sie wie einen Schatz hüteten. Sie waren im benachbarten Tinnum aufgewachsen, ihre Eltern waren einfache Bauern gewesen. Nächste Woche jährte sich deren Todestag zum neunten Mal. Der Blanke Hans war es gewesen, der sie zu Waisen gemacht hatte. Die beiden waren bei dem Versuch, ihre Schafe während einer schrecklichen Sturmflut vor dem Ertrinken zu retten, ums Leben gekommen. Matei konnte sich noch an die letzten Worte ihrer Mutter erinnern. »Wir kommen bald wieder. Bleibt im Haus.« Eine Umarmung, ein flüchtiger Kuss auf die Wange, ihr Haar hatte nach Kamille geduftet. Die Tür hatte sich hinter ihr geschlossen, und sie waren niemals wiedergekommen. Paul Hansen, ein guter Freund ihres Vaters, hatte nicht lange gezögert und sie bei sich aufgenommen. So waren sie die Mädchen vom Herrenhaus geworden und hatten das mondäne Leben von Anna Hansen kennengelernt, das so anders war als ihr bisheriges. Anna liebte schöne Roben und den großen Auftritt. Sie veranstaltete mehrmals im Jahr Feste und Tanzabende, die auf der Insel legendär waren. Zu einem Fest im Herrenhaus am Watt eingeladen zu sein, bedeutete etwas. Anna war nicht müde darin geworden, sich zu brüsten, dass selbst Angehörige des Kaiserhauses bereits Gäste bei ihnen gewesen waren. Doch seit Pauls Tod war alles verändert. Anna trauerte. Sie trug, wie es für eine Witwe üblich war, nur noch Schwarz. Ihr dunkelbraunes Haar steckte sie mit wenigen Haarnadeln am Hinterkopf fest, erste graue Strähnen zeigten sich plötzlich darin. Sie war blass, und ihre Augen waren umschattet. Sie hatte ihre große Liebe verloren. Die Ehe zwischen ihr und Paul war nicht arrangiert und sie waren ihr ganzes Leben lang einander zugetan gewesen. Im Herrenhaus herrschte nun eine seltsame Atmosphäre. Alles schien wie gelähmt zu sein. Der Geruch von Pauls Pfeifentabak hing noch in den Räumen, seine Gegenwart war spürbar. Doch er würde niemals wieder aus dem Herrenzimmer kommen oder mit seinem geliebten Glas Branntwein am Fenster sitzen und aufs Meer hinausblicken.
Matei betrat den weitläufigen Salon, der der Familie als Aufenthaltsraum und Esszimmer diente. Gemütliche Sessel vor einem offenen Kamin luden zum Verweilen ein, Stehlampen sorgten für warmes Licht. Ein Esstisch aus massivem Eichenholz und mit grünem Stoff gepolsterte Stühle rundeten die Einrichtung ab. Besonderer Blickfang war die zur Wattseite hin gelegene große Fensterfront. Durch zwei Flügeltüren gelangte man auf die Terrasse, von dort aus über Stufen in den Garten. Das Meer war heute grau, die Äste der vor dem Haus stehenden Ulmen waren von einer Schicht aus Schnee und Eis überzogen. Noch immer schneite es. Es war, trotzdem, dass es erst zwei Uhr nachmittags war, dunkel im Raum. Ihr Hausdiener Hannes, er stellte gerade eine Platte mit Kuchenstücken auf den Tisch, hatte die Lampen entzündet. Leider mussten sie in Keitum noch immer ohne Strom auskommen. Bisher war von Westerland, dort gab es bereits seit einer Weile Elektrizität, noch keine Leitung zu ihnen verlegt worden.
Matei, Anna und Elin setzten sich an den Tisch. Es herrschte betretenes Schweigen. So war es in den letzten Wochen meistens gewesen. Niemand wusste so recht, über was gesprochen werden sollte. Es gab keine Einladungen, keine Tanzveranstaltung, kein festliches Abendessen, das organisiert werden musste. Eine Witwe feierte keine mondänen Feste. Anna saß an ihrem Platz und pickte in ihrem Kuchen herum. Wieder würde sie ihn nicht aufessen. Matei nippte an ihrem Tee und genoss die Wärme, die sich in ihrem Magen ausbreitete.
Sie sah zu Elin. Auch ihre Miene war betrübt. Matei wusste, woher die schlechte Laune ihrer Schwester kam. Otto Ballin, der Sohn eines großen Reedereiinhabers aus Hamburg, hatte sich seit der Abendveranstaltung im Hotel zum Deutschen Kaiser, die sie kurz vor Pauls Tod in Westerland besucht hatten, nicht mehr bei ihr gemeldet. Jeden Tag hoffte sie auf einen Anruf von ihm, einen Brief, ein Telegramm. Aber es traf nichts ein. Elin hatte Matei anvertraut, dass er sie an dem Abend geküsst hatte. Bis in den Himmel habe sie mit ihm tanzen können. Er sei der Richtige. Sie hatte selig geseufzt und die nächsten Tage damit zugebracht, sich hübsch zu machen. Er könne ja jeden Augenblick kommen und sie zum Kaffee, ins Kino oder zu einem Spaziergang einladen. Elin war und blieb eine hoffnungslose Romantikerin. Sie las auch gern kitschige Liebesromane, die alle in etwa dieselbe Handlung hatten. Es trafen sich zwei junge Leute, es gab Verwicklungen, die eine oder andere Intrige, und am Ende fanden sich die Liebenden, heirateten und lebten glücklich und zufrieden. Matei hatte einen davon gelesen, einen weiteren nach den ersten drei Seiten weggelegt. Das war ihr dann doch zu realitätsfern. Geheiratet wurde auf Sylt meist nicht aus Liebe. Die jungen Frauen der besseren Gesellschaft suchten die Männer nach ihrem Stand und Vermögen aus. Einen armen Schlucker wollte keine haben, auch wenn er noch so hübsch anzusehen war. Als Anna davon gehört hatte, dass Otto Ballin Elin den Hof gemacht hatte, war sie außer sich vor Freude gewesen. Er wäre genau die richtige Partie für Elin. Ihre beiden Ziehtöchter an den gut betuchten Mann zu bringen, war neben der Organisation von Festivitäten eine Weile ihre zweite Hauptbeschäftigung gewesen, und die auserwählten Herren hatten ihr nicht reich genug sein können.
Hannes, der Hausdiener, betrat den Raum. »Herr Luckmann wäre eingetroffen.«
»Endlich«, antwortete Anna.
Johannes Luckmann trat ein. Er war ein langjähriger Freund von Paul gewesen. Die beiden hatten auf den unterschiedlichsten Handelsschiffen gemeinsam die Welt bereist. Später hatte Johannes ein eigenes Handelsunternehmen mit Sitz in Hamburg gegründet, und Paul hatte sich auf Sylt niedergelassen.
Johannes Luckmann war eine imposante Erscheinung. Hochgewachsen, mittelblond und trug einen schmalen Oberlippenbart. Inzwischen hatte er die fünfzig überschritten, Falten lagen um seine blauen Augen, und sein Haar wurde schütter. Er trug graue Hosen und ein schwarzes Jackett.
»Johannes, mein Lieber. Es ist mir eine Freude, dich zu sehen.« Anna hatte sich erhoben. Johannes reichte ihr die Hand und deutete eine Verbeugung an.
»Meine Teuerste«, sagte er. »Mein Beileid. Es tut mir so leid, dass ich zu seiner Beerdigung nicht anwesend sein konnte. Sein Tod ist eine Tragödie.«
»Nun, die Anreise von Indien wäre aber auch zu weit gewesen«, antwortete Anna und bedeutete ihm, Platz zu nehmen. Johannes begrüßte Matei und Elin. Hannes schenkte ihm Kaffee ein.
»Ich will nicht lange um den heißen Brei herumreden«, sagte Johannes, nachdem der Hausdiener den Raum verlassen hatte. »Paul war stets ein Freund ehrlicher und offener Worte. So will ich es auch halten. Und da du nun seine Witwe und Erbin bist, will ich dich sogleich ins Bild setzen. Es sind unschöne Nachrichten, die ich bringe. Ich musste gleich nach meiner Rückkehr aus Indien meine gesamten Mitarbeiter nach Hause schicken. Mein Unternehmen ist bankrott.«
»Oh, das tut mir leid«, antwortete Anna bestürzt. Matei ahnte, was kommen würde. Sie hatte vor einer Weile eines von Pauls Telefonaten mit angehört. Er war in Rage gewesen und hatte sein Geld zurückhaben wollen. Sie hatte damals nicht zuordnen können, um was genau es gegangen war. Nun jedoch …
»Paul hat eine beträchtliche Summe in mein Unternehmen gesteckt«, sagte Johannes. Seine Stimme klang nun kleinlaut.
»Und ich muss dir leider mitteilen, dass ich das Geld nicht zurückzahlen kann.«
Elin hielt das vor ihr auf der Töpferscheibe liegende Stück Ton fest umfasst. Sie hatte eben erst mit ihrer Arbeit begonnen. Es sollte eine von vielen Tassen für ein Kaffeeservice werden. Konzentriert war ihr Blick auf das Werkstück gerichtet. Sämtliche Handgriffe waren ihr vertraut, und doch kam sie heute nicht, wie sonst bei dieser Tätigkeit, zur Ruhe. Sie hielt sich in der Töpferwerkstatt ihrer Freundin Antje Pott auf, die unweit von ihr ebenfalls an einer Töpferscheibe saß und gerade eine Kaffeekanne herstellte. Elin liebte es, bei Antje zu sein, die ihre Mutter hätte sein können. Antje war Mitte vierzig, ihr Haar war hellblond, lockig und widerspenstig. »Krause Haare, krauser Sinn« hieß es oft. Das traf wohl auch auf Antje zu, die mit Nachnamen eigentlich Martensen hieß, jedoch auf der ganzen Insel nur als Antje Pott bekannt war. Sie hatte nie geheiratet, die Werkstatt hatte sie von ihrer Mutter übernommen, deren Leidenschaft ebenfalls das Töpfern gewesen war. Antje hatte die Arbeit an der Töpferscheibe perfektioniert und den Zeitvertreib ihrer Mutter zum Beruf gemacht. Schon seit vielen Jahren erhielt sie Aufträge von Gästehäusern und Hotels auf der Insel. Individuelle und handgemachte Keramik war ein gefragtes Gut. Zusätzlich unterhielt sie noch ein Ladengeschäft, das, mit Keramiken aller Art vollgestopft, schon lange kein Geheimtipp mehr war. Antje Pott, ihr Großvater war noch zur See gefahren, hatte sich perfekt auf das Touristengeschäft eingestellt. Ihre im Hinterhaus in einer reetgedeckten Scheune gelegene Werkstatt war jedoch nicht mit der Zeit gegangen. Regale säumten die weiß getünchten Wände, der Boden war mit Dielen ausgelegt, die bei jedem Schritt knarrten. Licht drang durch Fenster mit Butzenscheiben in den Raum. Über den Werkbänken hingen Petroleumlampen mit weißen Porzellanschirmen. In der Ecke stand der große Brennofen. Für Elin war dieser Ort nach dem Tod ihrer Eltern wie ein Zufluchtsort gewesen. Durch Zufall war sie irgendwann einmal in Antjes Hinterhof geraten, heute wusste sie gar nicht mehr, warum eigentlich. Sie hatte sich umgesehen, war in die Werkstatt gegangen und hatte staunend die vielen unfertigen Keramiken bewundert, die in den Regalen auf ihre Weiterverarbeitung warteten. Antje war eingetreten, als sie eine von ihnen, es war eine Tasse gewesen, in Händen gehalten und näher betrachtet hatte. Sie hatte sie vor Schreck fallen gelassen. Elin hatte ein Donnerwetter erwartet, doch es war ausgeblieben. Von diesem Tag an waren sie Freundinnen. Das kleine Mädchen und die Meisterin an der Drehscheibe, die ihr all ihr Wissen mit einer Engelsgeduld weitergegeben hatte.
Elin kam bei der Betätigung des Fußpedals kurz aus dem Tritt, und sofort wurde ihre Tonarbeit unförmig und rutschte aus der Mitte der Scheibe zur Seite. Sie nahm den Fuß vom Pedal und begann zu schimpfen.
»So ein Mist«, sagte sie. »Es will mir heute einfach nichts gelingen.«
Antje, die eben ihre Kaffeekanne von der Scheibe geschnitten und auf ein Brett gestellt hatte, trat neben sie und blickte auf den unförmigen Tonklumpen.
»Ist nicht schlimm. Nicht jeder Tag ist gut für diese Arbeit. Du warst schon hektisch, als du angekommen bist. Es stimmt etwas nicht, oder? Hat es mit dem Haus zu tun?«
»Gestern war Thies von der Bank da«, antwortete Elin. Wie hatte sie nur jemals auf die Idee kommen können, dass Antje nichts von ihrem Kummer bemerken würde? »Er hat uns dazu geraten, das Herrenhaus zu verkaufen.«
»Das ist übel«, meinte Antje und wischte sich die Hände an einem Tuch ab. »Kaffee? Kekse? Reden?«
Elin stimmte zu.
Bald darauf saßen sie in Antjes gemütlicher Küche. Ihr am südlichen Rand von Westerland gelegenes Haus war zu ihrem Bedauern leider kein altes Friesenhaus. Ihr Vater hatte das aus dem 18. Jahrhundert stammende Kapitänshaus abreißen und eine Jugendstilvilla errichten lassen. Er hatte davon geträumt, seinen Anteil am aufstrebenden Bädertourismus zu haben. Antje bedauerte den Umstand, dass das Haus ihrer Vorfahren der Gier nach Wohlstand hatte weichen müssen. Dass das Dach undicht und viele Balken morsch gewesen waren, blendete sie gern aus. Auch hatte sich der Hausschwamm in die Wände gefressen. Der Neubau hatte Nickels Martensen jedoch kein Glück gebracht. Die Baufirma hatte während des Baus Konkurs angemeldet, und eine schwere Sturmflut hatte starke Schäden am Rohbau angerichtet. Am Ende des Tages hatte er zwei Hypotheken auf dem Grundstück gehabt und war kurz nach der Eröffnung seiner Villa Dünenblick, wie er über den Eingang in geschwungenen Lettern hatte schreiben lassen, verstorben. Antjes Mutter hatte das Haus in den darauffolgenden Jahren erfolgreich aus den roten Zahlen geführt. Antje, die nie gern Herbergsmutter gewesen war, hatte nach ihrem Tod das Gästehaus geschlossen und den Keramikladen im Untergeschoss eingerichtet. Die gemütliche Wohnküche, in der sie jetzt saßen, lag direkt daneben. Hier war man von friesischer Gemütlichkeit umgeben. Blau-weiß gemusterte Kacheln zierten die Wände, über dem Ofen zeichneten sie sogar ein Segelboot. In weiß lackierten Einbauschränken stapelten sich Pötte, Teller und Kannen. Auf dem Fensterbrett standen Schiffsmodelle und Laternen, Antje liebte sie und Kerzenlicht. Auch jetzt hatte sie wieder einige entzündet. Ihr Kater, der alte Finn, er war bereits fünfzehn Jahre alt, lag auf der hölzernen Bank neben Elin. Sie streichelte ihn, was ihn genüsslich schnurren ließ. Auf dem Tisch stand auf einer grün-weiß karierten Tischdecke eine bauchige Kaffeekanne auf einem Stövchen. Im Raum hing die wunderbare Geruchsmischung von Bienenwachs und frisch aufgebrühtem Kaffee. In einer Schale lagen Unmengen an Friesenkeksen. Elins Blick wanderte aus dem Fenster. Auf der Straße war niemand zu sehen. Der Vorgarten des Nachbarhauses, ebenfalls ein Gästehaus mit dem Namen Villa Inge, sah trostlos aus. Es war ein grauer und nasskalter Tag. Am Morgen hatte es sogar noch einmal kurz geschneit, doch der Schnee war nicht liegen geblieben. Nun nieselte es.
Antje stellte eine Zuckerdose und ein Milchkännchen auf den Tisch, füllte die Kaffeepötte und setzte sich Elin gegenüber.
»Jetzt erzähl mal«, sagte sie. »Wie ist die Lage?«
»Schlecht. Papa hat einen Großteil seines Vermögens in das Unternehmen von Johannes Luckmann gesteckt. Da dieser nun pleite ist, werden wir keinen Pfennig wiedersehen. Wenn wir gut haushalten, reicht das restliche Vermögen noch bis zum Herbst. Wir werden unser gesamtes Personal entlassen müssen. Matei und ich wissen noch gar nicht, wie wir es ihnen beibringen sollen. Sie sind ja alle wie eine Familie für uns. Und Mama ist wie versteinert. Mehrfach haben wir versucht, mit ihr zu reden. Aber sie reagiert gar nicht. An vielen Tagen steht sie gar nicht erst auf, und wenn doch, läuft sie wie ein Geist durchs Haus und sitzt stundenlang in Papas Lehnstuhl am Fenster im Salon und starrt aufs Watt. Wir wissen uns mit ihr bald nicht mehr zu helfen.« Elin seufzte.
»Und jetzt plant ihr, das Haus zu verkaufen?«, fragte Antje. »Es wäre eine Option. Gewiss könnt ihr dafür einen guten Preis bekommen. Keitum wird gerade bei Künstlern immer beliebter, und es ist mit allem Komfort ausgestattet.«
»Thies hat es vorgeschlagen«, antwortete Elin. »Aber Matei und mich begeistert die Idee nicht sonderlich. Wo sollen wir denn dann wohnen? Im alten Kapitänshaus? Es liegt auf dem Gelände, also müssten wir es mit verkaufen. Wo sollen wir denn dann hin? Mama kann nirgendwo anders wohnen. Das wollen wir ihr nicht antun. Das Herrenhaus ist ihr Zuhause. Es muss sich eine andere Lösung finden lassen. Sie hat noch Familie in Amerika. Eine Schwester, ein Onkel lebt wohl auch noch. Vielleicht kann uns jemand aushelfen. Matei überlegt, sich eine Anstellung zu suchen. Es naht die Sommersaison. Da werden ja immer irgendwo Hilfskräfte benötigt.«
»Und wie ist es mit dir?«, fragte Antje. »Willst du auch arbeiten? Ich könnte dich fest anstellen. Du könntest in Zukunft nicht nur aus Spaß an der Freud bei mir in der Töpferwerkstatt arbeiten. Ich habe erst gestern wieder eine Anfrage von einem Gästehaus für ein neues Kaffeeservice bekommen. Zwanzig Tassen und Teller. Und Bente kommt nicht mehr.«
»Bente, wieso? Sie hat dir doch immer gern im Laden geholfen. Sie war ein wahres Verkaufstalent.«
»Das geheiratet hat und nun bereits im vierten Monat schwanger ist.«
»Oh, davon wusste ich gar nichts«, meinte Elin.
»Ich hab es auch erst letzte Woche erfahren. Über den Winter arbeitet sie ja nicht bei mir im Laden. Sie verlässt die Insel. Ihr Auserwählter stammt aus Husum. Ein Zimmermann, sein Vater hat einen eigenen Betrieb. Würdest du mein Angebot annehmen? Ich zahl auch nicht schlecht.«
Elin antwortete nicht sofort. Es kam ihr falsch vor, von Antje Geld für ihre Mithilfe anzunehmen. Die Arbeit in der Tonwerkstatt, aber auch im Laden, war ihr stets gut von der Hand gegangen und hatte ihr Freude gemacht. Sie waren doch Freundinnen. Und von denen nahm man kein Geld. Andererseits klang das Angebot verlockend. Sie würde darüber nachdenken.
Elin stand auf dem Keitumer Friedhof vor dem Grab ihres Ziehvaters, wischte sich mit einem Tuch den Schmutz von den Händen und begutachtete ihr Werk. Sie hatte sein Grab mit Frühjahrsblumen bepflanzt. Narzissen und Stiefmütterchen blühten darauf nun um die Wette. Dieses Frühjahr war es lange kalt und ungemütlich geblieben, erst Ende März war es langsam wärmer geworden, und nun schien seit einigen Tagen die warme Frühlingssonne vom Himmel, und die Insel erwachte endgültig aus ihrem Winterschlaf. In sämtlichen Häusern wurde Frühjahrsputz gemacht, in den Gärten grünte und blühte es, dass es eine Freude war, und die ersten Obstbäume trugen ihr freundliches Blütengewand. Paul Hansen hatte den Frühling auf Sylt stets besonders gerngehabt. »Er bringt neues Leben«, hatte er einmal zu Elin gesagt. »Und das kann nichts Schlechtes sein.« Und nun lag er hier auf dem Friedhof. In Elin stiegen erneut Hilflosigkeit und Verzweiflung auf, Tränen sammelten sich in ihren Augen. Es waren auch Tränen der Wut. Er hatte sich einfach so davongemacht und sie mit all den von ihm verursachten Problemen zurückgelassen, für die sie noch immer keine Lösung gefunden hatten. Sie wischte die Tränen fort und zog die Nase hoch.
»Entschuldige bitte«, sagte sie. »Ich wollte nicht weinen. Ich bin ja hier, um dir zu berichten, wie es uns geht. Hannes hat inzwischen eine Anstellung im Hotel Miramar in Westerland bekommen.« Der Berichtmodus, in den sie nun überging, dämpfte ihre aufgewühlten Gefühle. »Das freut dich bestimmt zu hören, denn ihr wart ja so viel mehr als Herr und Diener, ihr wart Freunde. Auch unsere Köchin, das Küchenmädchen und das Hausmädchen haben neue Anstellungen in Westerland gefunden. Immerhin ein schwacher Trost. Mama ist es so unendlich schwergefallen, sie alle entlassen zu müssen. Du wirst es nicht glauben, aber Matei kocht nun. Und sie macht ihre Sache gar nicht mal so übel. Hin und wieder übertreibt sie es etwas mit dem Salz, und gestern sind ihr die Fischfrikadellen angebrannt. Aber sie waren noch essbar. Ich selbst bin jetzt Herrin über die Waschküche. Ich wusste gar nicht, wie anstrengend diese Arbeit ist. Immerhin ist das Wetter freundlich, so kann ich die Wäsche bereits auf die Leine im Garten hängen. Matei hat neulich gemeint, jetzt wären wir richtige Sylterinnen, so wie früher. Die hatten ja auch keine Hausangestellten und mussten hart arbeiten. Die Männer waren auf See, eine Horde Kinder musste versorgt werden. Nur das Vieh fehlt uns noch. Wir haben sogar kurz darüber nachgedacht, uns Schafe zuzulegen, oder eine Kuh, die Milch gibt. Einen Stall gäbe es im alten Friesenhaus. Aber ich weiß nicht so recht. Jetzt auch noch Tiere halten? Und was sollten wir denn mit Schafen anstellen?« Sie lächelte, doch schnell wurde ihre Miene wieder ernst. »Mama leidet noch immer sehr. Sie sitzt die meiste Zeit im Salon und starrt aus dem Fenster. Ihr Haar ist in den letzten Wochen vollständig ergraut. Du würdest sie nicht wiedererkennen. Sie wirkt wie versteinert und schleicht abgemagert durchs Haus. Wir wissen bald nicht mehr, was wir noch tun sollen, um sie wieder ins Leben zurückzuholen. Ich vermisse dich ebenso.« Sie begann wieder zu weinen. »Du dummer alter Seemann. So war das nicht ausgemacht. Du kannst uns doch jetzt nicht allein lassen. Du hättest eine Lösung für die Geldprobleme gefunden. Da bin ich mir sicher. Du hast nie den Kopf in den Sand gesteckt und stets nach vorne gesehen. Matei und ich, wir wissen nicht weiter. Die Stille im Haus schmerzt.« Sie zog erneut die Nase hoch und wischte sich die Tränen von den Wangen. »Wenn du jetzt da wärst, würdest du mich in den Arm nehmen. Das hast du immer gemacht, wenn ich traurig gewesen bin. Du hast nach Schnupftabak gerochen, und dein Bart kitzelte meine Wange. Du würdest sagen: ›Dat wird schon. Es wird doch immer irgendwie.‹ Nur wissen wir noch nicht, wie das Irgendwie aussehen soll.«
»Moin«, sagte plötzlich jemand hinter Elin, und sie zuckte erschrocken zusammen. Es war Wiebke Olsen, die sie angesprochen hatte. Die grauhaarige, untersetzte Frau hatte früher am Strand von Westerland in einem kleinen Pavillon ein Café betrieben. Leider war es in einer schweren Sturmnacht vor drei Jahren fortgespült worden. Seitdem wohnte sie bei ihrer Freundin Inke Habermann in Keitum und beschäftigte sich damit, im Ort spazieren zu gehen. Dieses Tun hatte ihr bei den Keitumer Bewohnern den Ökelnamen Wiebke Gehtherum eingebracht.
»Moin, Wiebke«, grüßte Elin.
Wiebkes Blick wurde mitleidig. »Bist noch arg traurig, min Deern«, sagte sie. »Wäre auch seltsam, wenn nicht. Paul Hansen war ein feiner Mann und ein großartiger Kapitän. So jemanden verliert man nicht gern. Bei manch anderem Zeitgenossen ist es eher ein Segen, wenn ihn der Herrgott zu sich nimmt. Oder der Teufel. Dat kannst du dir jetzt aussuchen.« Sie zwinkerte Elin verschmitzt grinsend zu, trat neben sie und betrachtete die Frühjahrsblüher auf dem Grab. »Hübsch hast du es bepflanzt. Narzissen hab ich besonders gern. Wenn sie blühen, dann ist der Winter endgültig vorbei. Im Café hatte ich immer welche auf den Tischen stehen.« Sie seufzte. »Jetzt um die Zeit würde ich alles wienern und zurechtmachen, wieder in der Backstube stehen, denn bald ist ja Saisonbeginn. Na ja. Vorbei ist vorbei. Da kann man nichts machen. Wie steht es denn bei euch im Herrenhaus, und wie geht es Anna?«
»Nicht so gut«, antwortete Elin.
»Kann ich mir denken«, erwiderte Wiebke. »Ich wollte ihr längst einen Kondolenzbesuch abstatten. Empfängt sie Gäste?«
»Seit der Beerdigung nicht mehr. Sie hat sich sehr zurückgezogen«, sagte Elin. »Matei und ich haben in den letzten Wochen Besucher empfangen. Wir haben auch die ganzen Briefe beantwortet. Und dann liegt ja noch vieles mehr im Argen. Du hast bestimmt von unserer finanziellen Notlage gehört.«
»Wer nicht«, erwiderte Wiebke. »Es geistern so viele Gerüchte durch Keitum, selbst in Westerland wird geredet. Ich hoffe, du hörst nicht immer alles. Sind auch üble Sachen darunter.«
Elin kannte das Gerede zur Genüge. Anna wäre arrogant und eingebildet, sie hätte Paul alle Sinne vernebelt, es wäre ihre Schuld, dass sein ganzer Wohlstand nun fort war. Verschwendungssucht wurde ihr vorgeworfen, der Amerikanerin, die es schwer gehabt hatte, in dem alten Friesendorf anzukommen und von den Einheimischen akzeptiert zu werden. Wäre wohl besser gewesen, sie hätten sich in Westerland angesiedelt. Dorthin passte sie eher. Zu den vielen Zugereisten, die sich mit ihren Hotels, Geschäften und Logierhäusern eine goldene Nase an der feinen Kundschaft verdienen wollten. Doch Keitum war nun mal Pauls Zuhause gewesen, hier stand sein Elternhaus am Wattufer, hierhin hatte er heimkehren wollen.
»Ich kenn das Gerede«, antwortete Elin und winkte ab. Sie überlegte kurz, dann fragte sie: »Möchtest du auf einen Kaffee mit zu uns kommen? Ich habe heute Morgen Friesenkekse gebacken. Es wäre schön, mal wieder einen Gast im Haus zu haben.«
Wiebke stimmte zu. »Zu Friesenkeksen sag ich nie Nein. Die hab ich besonders gern.«
Sie liefen Richtung Kirche, vorbei an jahrhundertealten, von Frühlingsblumen überzogenen Gräbern, viele von ihnen waren mit prachtvollen Grabsteinen geschmückt. Besonders schön war das Grab einer Kapitänsfrau aus dem 18. Jahrhundert. Ihr Name war Inken Knut Petersen gewesen. Auf dem Stein war zu lesen, dass sie sieben Kindern das Leben geschenkt und im Alter von vierundvierzig Jahren verstorben war. So viele Geschichten erzählte der Friedhof, aber auch das Gotteshaus, an dem sie nun vorüberliefen. Die Kirche St. Severin stand ein Stück außerhalb von Keitum auf dem sogenannten Keitumer Geest und war im 12. Jahrhundert erbaut worden. Als Schönheit war das mittelalterliche Bauwerk mitnichten zu bezeichnen. Der sechsundzwanzig Meter hohe Turm war trutzig, hatte recht eigenwillige Proportionen, und vom Westwind wirkte er arg mitgenommen. Die weiß gekalkte und mit Blei gedeckte Kirche war von außen, aber auch von innen eher schlicht gehalten. Und trotzdem übte dieses Gebäude einen besonderen Zauber auf einen aus. Es gab sogar eine alte Sage um das Gotteshaus. Der Legende nach waren es zwei reiche Jungfrauen namens Ing und Dung gewesen, die den Turmbau durch eine üppige Spende ermöglicht hatten. Sie belegten den Turm aber auch mit einem bösen Fluch. Die Kirchenglocke sollte einst den schönsten Jüngling erschlagen, und der Turm selbst sollte über einer eitlen Jungfrau zusammenbrechen. Im Jahr 1739 hatte sich ein Teil des Fluches erfüllt und ein Junge war tatsächlich von der herunterfallenden Kirchenglocke erschlagen worden. Seitdem machten die Keitumer Mädchen lieber einen großen Bogen um den Turm. Ing und Dung konnte man in Gestalt eines gespaltenen Findlings auch heute noch in der Kirchenmauer bewundern.
Sie ließen das Gotteshaus hinter sich und liefen zum nahen Wattweg hinunter. Ein sanfter Wind wehte, in dem die Gerüche von Schlick und Salz lagen. Unmengen an Seevögeln kreisten über dem Watt und suchten im seichten Wasser nach etwas Essbarem. Ihre Rufe waren ein herrlich vertrautes Geräusch. Keine Wolke war am Himmel zu sehen, der Wattweg lag verlassen vor ihnen. Die Szenerie wirkte wie verzaubert.
»Ist schon hübsch hier«, sagte Wiebke, während sie den Weg Richtung Herrenhaus hinunterliefen. »Kein Wunder, dat das immer mehr Künstler auf diese Seite der Insel verschlägt. Und hier gibt es wenigstens Bäume. Drüben in Westerland oder oben in Rantum ist es schon arg karg. Obwohl die Dünen auch ihren Reiz haben. Die Touristen rutschen sie ja gern hinunter, und selbst alte Weiber kichern dann wie kleine Lütten.«
Elin nickte. Dünenrutschen hatten sie früher auch gern gemacht. Doch das war in einer anderen Zeit gewesen, die sich wie ein anderes Leben anfühlte. Damals, als ihre Eltern noch bei ihnen gewesen waren. Der altbekannte Schmerz über ihren Verlust breitete sich in ihrem Inneren aus. Doch sie wollte ihn nicht zulassen. Der Tag war zu schön, um traurig zu sein.
»Wieso wohnst du eigentlich bei Inke und hast dir nicht Arbeit in einem der Cafés in Westerland gesucht?«, fragte Elin und wechselte das Thema. »Dort hätte sich für eine Fachkraft wie dich gewiss eine Anstellung gefunden. Gerade jetzt während der Saison werden gute Bäcker bestimmt nachgefragt.«
»Damit ich mir von irgendwem anders wieder sagen lassen muss, wat ich zu tun und zu lassen habe?«, erwiderte Wiebke und winkte ab. »Jahrelang haben sie mich in den ach so feinen Hotels und Cafés mies behandelt. Ich kann dir sagen: Da ist viel außen hui und innen pfui. Ich hab eine wahre Odyssee hinter mir. Ein Küchenchef ist sogar handgreiflich geworden. Dem hab ich eine gescheuert, dem Dösbaddel, das kannste glauben. Danach haben sie mich vor die Tür gesetzt. Ich hab lang gespart, um mir den Traum vom eigenen Café erfüllen zu können. Ich hätte nicht so dumm sein und den Pavillon am Strand kaufen sollen. Der war schon immer gefährdet. Aber im Sommer lief das Geschäft natürlich großartig. An guten Tagen war ich bereits am frühen Nachmittag ausverkauft. So viel konnten meine Hilfskraft Anne und ich gar nicht backen. Die Einnahmen waren so gut, problemlos ließ sich damit der Winter überstehen. Und dann hat der Blanke Hans alles kaputt gemacht. Es ist nicht schön, vor dem Nichts zu stehen. Mein Traum ist davongeschwommen, und jetzt fehlt mir die Kraft für einen Neuanfang. Ich bin ja auch nicht mehr die Jüngste, werde nächstes Jahr schon sechzig. Ich helfe Inke im Haus, dafür hab ich Kost und Logis frei. Und ein bisschen Erspartes hab ich auch noch.«
Elin nickte. Davon, dass in den Hotels das Personal nicht immer gut behandelt wurde, hatte sie auch schon gehört. Besonders das weibliche Personal hatte es mancherorts nicht leicht. Übergriffe von Männern kamen häufiger vor, wehrten sich die Frauen oder wurden gar schwanger, wurden sie entlassen. Danach eine erneute Anstellung zu finden, war meist unmöglich. Das war eine der vielen Schattenseiten, die die Seebäder mit sich brachten. Darüber, dass die meisten Einwohner Westerlands gar keine Sylter mehr waren, wollte Elin gar nicht nachdenken. Ihr Ziehvater hatte schon recht gehabt mit dem, was er stets gesagt hatte: Ihre Insel stand zum Ausverkauf und wurde mit jedem Jahr mehr überrannt. In der letzten Saison waren es mehr als dreißigtausend Besucher gewesen. Wo sollte das alles nur enden? Doch im beschaulichen Keitum war es bisher noch ruhig geblieben. Schlickwatt war für Touristen eben nicht sonderlich attraktiv.
Sie erreichten das Herrenhaus und liefen die wenigen Stufen zu dem Anwesen hinauf. Elin liebte den Anblick des von vielen Bäumen umgebenen Hauses von der Wattseite. Es war mit seiner Bauweise für Keitum eigenwillig, aber es hatte auch seinen ganz eigenen Charme mit seinen Giebeln und großen Fenstern, der steinernen Veranda. Daneben lag das alte Friesenhaus im Licht der Vormittagssonne. Noch trugen die Ulmen keine Blätter. Doch schon bald würden sie austreiben, und ihr Blätterdach würde ihnen an heißen Sommertagen Schatten spenden. Auf dem vor dem Haus liegenden Rasen standen zwei Schafe, die sie mit trägen Augen ansahen. Das Vieh lief auf Sylt zumeist frei herum, es gab nur wenige abgezäunte Weiden.
»Na, ihr beiden«, begrüßte Elin die Tiere lächelnd. »Schmeckt euch unser Gras?« Sie kannte die beiden und wusste, dass sie dem Bauern Hinnerk Petersen gehörten. Sie waren bereits seit einer Weile Stammgäste in ihrem Garten und kamen fast täglich. »Aber futtert mir bloß nicht die hübschen Narzissen auf.« Sie hob mahnend den Zeigefinger und ging gemeinsam mit Wiebke ins Haus. Als sie die Eingangshalle betraten, wurden deren Augen groß. Sie war noch nie im Inneren des Gebäudes gewesen.
»Meine Güte, dat nenn ich mal eine Pracht«, sagte sie und blickte sich staunend um. »Und wie geräumig es ist. Wie viele Zimmer habt ihr denn?«
»Schon einige«, antwortete Matei, die sich von dieser Frage etwas überrumpelt fühlte. »Sind ja drei Stockwerke. Unterm Dach waren bisher unsere Dienstboten untergebracht. Aber die gibt es jetzt nicht mehr.«
Matei kam die Treppe herunter und sah Wiebke verwundert an.
»Moin, Elin«, grüßte sie. »Du hast einen Gast mitgebracht.«
»Ich hab Wiebke auf dem Friedhof getroffen, und sie wollte Mama gern ihr Beileid aussprechen«, meinte Elin. »Ich habe sie spontan gefragt, ob sie einen Kaffee haben möchte. Wir haben doch noch von den Friesenkeksen, oder?«
»Haben wir. Aber ob das mit dem Beileid was wird, wage ich zu bezweifeln. Mama sitzt im Salon an ihrem üblichen Platz am Fenster und starrt vor sich hin, ihr Frühstück hat sie mal wieder kaum angerührt. Es ist ein Trauerspiel. Irgendwann muss sie doch wieder zu sich kommen.«
»Es ist eben nicht leicht für sie«, sagte Wiebke. »Sie hat ihren Mann und ihr gewohntes Leben verloren. Ihre Welt ist arg ins Wanken geraten. Dat muss sie erst einmal verdauen. Dem einen gelingt so etwas schneller, ein anderer benötigt mehr Zeit. Habt Geduld.«
»Hab Dank für deinen Trost, Wiebke«, antwortete Matei und lächelte. »Und es ist schön, dass du gekommen bist. Kommt. Wir gehen in die Küche und machen es uns gemütlich.«
Sie durchquerten die Eingangshalle und betraten durch eine Seitentür die geräumige Küche des Hauses. Regale und weiß gestrichene Schränke säumten die mit blau-weißen Kacheln gefliesten Wände. Ein großer Holzofen füllte die Mitte des Raumes, darüber hingen Pfannen, Töpfe, Suppenkellen und andere Küchenutensilien. Vor dem großen, mit Butzenscheiben versehenen Fenster standen ein Esstisch und sechs Stühle daran. Sonnenstrahlen fielen auf den Dielenboden, in ihrem Licht funkelten einige aufgewirbelte Staubpartikel. Der Raum strahlte eine ganz besondere Art von Heimeligkeit aus. Wiebkes Augen begannen zu leuchten.
»Hach, was für eine hübsche Küche. Und diese Größe. So eine habe ich mir immer für mein Café gewünscht. Endlich genug Fläche, um all die Kuchen und Torten irgendwo abzustellen. Und es gibt gleich mehrere Backöfen. Ein Traum. Ihr könntet hier glatt ein Café oder ein Restaurant aufmachen.« Ihr Blick blieb an dem auf dem Tisch stehenden Teller mit Friesenkeksen hängen. Elin hatte diese zum ersten Mal gebacken, und sie sahen etwas eigentümlich aus. Sie waren aus der Form gegangen, und viele von ihnen waren zu dunkel geworden.
»Obwohl es für ein Café noch etwas Übung bräuchte«, konstatierte Wiebke. »Aber bekanntlich ist ja noch kein Backmeister vom Himmel gefallen.«
»Ich muss erst noch mit dem Backofen klarkommen«, glaubte Elin, sich für das unperfekte Backwerk entschuldigen zu müssen. »Der macht noch nicht so recht, was ich will. Aber das wird schon. Sie schmecken besser, als sie aussehen.«
Wiebke nickte. »Ja, die Backöfen. Jeder von ihnen hat sein Eigenleben. Aber das wird bestimmt.« Sie nahm einen der nicht ganz so dunklen Kekse und probierte ihn.
»Schmecken wirklich gut. Nur büschen trocken«, sagte sie mit vollem Mund und wischte sich die Krümel vom Mundwinkel. »Noch etwas Übung, und sie sehen perfekt aus. Wenn du magst, können wir gern zusammen backen, und ich bringe dir die Tricks bei.«
»Das wäre großartig«, antwortete Elin.
Bald darauf saßen sie gemütlich bei Kaffee und Keksen am Küchentisch beisammen.
»Wie steht es eigentlich mit dem alten Kapitänshaus?«, fragte Wiebke. »Bewohnt es jemand?«
»Nein«, erwiderte Matei. »Wir haben ja im Herrenhaus genügend Platz. Im Moment dient es als Lager.«
»Was ein Jammer«, antwortete Wiebke. »Wann wurde es erbaut? Im 18. Jahrhundert? Ich mag die alten Häuser gern. Sie strahlen eine ganz eigene Art von Gemütlichkeit aus. Das Herrenhaus ist hübsch und beeindruckend, keine Frage. Aber wenn mich jemand fragen würde, wo ich lieber wohnen würde … ich würde das Friesenhaus vorziehen.«
»Ja, es ist schon hübsch«, sagte Matei. »Aber es fehlt doch etwas der Komfort. In der Küche gibt es noch eine offene Feuerstelle, und die Räume werden über die alten Öfen beheizt, dazu ist ein Teil des Hauses noch Stall. Da ist es im Herrenhaus schon komfortabler. Obwohl wir uns Gedanken darüber machen müssen, wie lange wir noch so weitermachen wollen. Wenn wir gut haushalten, reichen unsere Ersparnisse bis zum Herbst. Kohlen zum Heizen haben wir noch Reste im Keller. Aber ob wir damit über den nächsten Winter kommen werden, wage ich zu bezweifeln. Es wird wohl darauf hinauslaufen, dass wir einige Räume gar nicht mehr nutzen können. Am Ende werden wir das Haus wohl doch verkaufen müssen.«
»Und wenn ihr Zimmer vermietet?«, fragte Wiebke. »Das wäre doch eine gute Einnahmequelle. Ihr könnt nicht so viel nehmen wie die Privatleute in Westerland, dafür ist Keitum zu abgelegen. Aber das Haus ist doch groß und hat eine einmalig schöne Lage. Erst neulich habe ich mich mit einem der neu zugezogenen Maler darüber unterhalten. Er hat gemeint, dass immer mehr Künstler Keitum Westerland gegenüber bevorzugen würden. Die Baumalleen, die alten Häuser und der traumhafte Blick aufs Wattenmeer wären zauberhafte Motive, und die Stille käme vielen Künstlern, auch Schriftstellern, entgegen. Ihr könntet Zimmer mit Frühstück anbieten. Was meint ihr? In Westerland nehmen sie meist zwischen zwei und vier Mark für die Zimmer, Frühstück kostet extra, meist eins fünfzig. Wenn ihr für ein Zimmer mit Frühstück drei Mark nehmt, klappt bestimmt eine schnelle Vermietung.«
»Darüber haben wir noch gar nicht nachgedacht«, sagte Matei. »Wir haben drei Gästezimmer im Haus, das Lesezimmer könnte ebenfalls zu einem werden, und den Salon könnten wir zu einem Frühstücks- und Aufenthaltsraum umgestalten. Das wären recht gute Einnahmen. Was meinst du, Elin? Und wir hätten etwas zu tun. Endlich hätte dieser elende Stillstand ein Ende.«
»Die Idee ist nicht schlecht«, erwiderte Elin zögerlich. »Aber was wird dann mit uns? Unser Zimmer liegt mittendrin. Das von Mama ebenfalls. Im zweiten Stock gibt es für uns und die Gäste nur ein Badezimmer. Wir würden ihnen ständig und überall über den Weg laufen und hätten keinen privaten Bereich mehr.«
»Dann lass uns doch ins alte Friesenhaus ziehen«, schlug Matei vor. »Wir entrümpeln es und richten uns häuslich ein. Mir gefiel nie, dass es ein solch nutzloses Dasein fristet.«
»Das ist eine hervorragende Idee«, sagte plötzlich Anna. Alle drei zuckten erschrocken zusammen und blickten zur Tür. Anna betrat den Raum. Sie trug eine schwarze Bluse und einen schwarzen Rock, ihr graues Haar war zu einem Dutt am Hinterkopf zusammengebunden.
»Moin, Wiebke«, sagte sie und lächelte sogar. »Schön, dich zu sehen. Entschuldigt, ihr Lieben. Aber ich habe gelauscht. Ihr habt recht: Der Stillstand muss endlich ein Ende haben. Die Idee mit den Gästezimmern hätte Paul gemocht. Künstlern war er stets zugetan. Er hätte gern selbst gemalt, aber ihm fehlte das Talent dazu. Und ihm würde gefallen, dass wir das Friesenhaus wieder bewohnbar machen. Dessen bin ich mir sicher.« In ihren Augen schimmerten Tränen. Matei und Elin sahen sie ungläubig an. Es schien wie ein Wunder. Ihre Ziehmutter reagierte, sie stand vor ihnen und redete. Sie traf Entscheidungen. Endlich war sie aus ihrer Starre erwacht. »Und jetzt hätte ich gern ein Tässchen Kaffee«, sagte Anna. »Und dann können wir das genaue Vorgehen besprechen.«
Elin stand am Fenster der kleinen Kammer im Dachgeschoss des Friesenhauses, die sie neuerdings gemeinsam mit Matei bewohnte, und blickte nach draußen. »Der Regen lässt endlich nach und es reißt auf«, sagte sie. »Wenn wir Glück haben, kommen wir trockenen Fußes nach Munkmarsch.«
»Das ist schön«, antwortete Matei, die gerade ihre Strümpfe anzog. Über dem Stuhl hing bereits ihre für den Tag gewählte Garderobe. Sie hatte sich nach einigem Hin und Her für eine hellblaue Bluse mit etwas weißer Spitze am Kragen und ihren dunkelblauen Rock entschieden. »Hach, ich bin ja schon so aufgeregt«, sagte sie. »Ich hatte nicht angenommen, dass sich auf unsere Anzeige so rasch jemand melden würde.«
»Manchmal geht es eben schneller als gedacht.« Elin entfernte einen Fussel von ihrem lindgrünen Kleid, dessen Blickfang ein breiter Taillengürtel in Dunkelgrün darstellte. Auch ihre Kleidung war eher schlicht gehalten. Die Zeit der edlen Roben war endgültig vorüber. All ihre teuren Kleider hatten sie bei der Schneiderei Martens in Westerland in Zahlung gegeben. Anna hatte arg mit der Inhaberin, Friederike Martens, gefeilscht und eine ordentliche Summe herausgeschlagen. Auch ihren gesamten Schmuck hatten sie veräußert. Das Geld war vollständig in den Umbau einiger Zimmer im Haupthaus und in das Bewohnbarmachen des alten Kapitänshauses geflossen.
»Jetzt brauche ich erst einmal einen Pott Kaffee«, sagte Elin und streckte sich gähnend. »Ich hab letzte Nacht kaum ein Auge zugetan und hoffe, er weckt die Lebensgeister. Ich muss mich erst noch an das Alkovenbett gewöhnen.« Sie deutete auf das in die Wand eingelassene Bett, das von einem dunkelblau gestrichenen Holzrahmen umgeben war, an dem blau-weiß gemusterte Vorhänge hingen. Ihre beiden Betten lagen hintereinander. Den Betten gegenüber standen ein Sekretär und ein Stuhl, daneben gab es einen zweitürigen Kleiderschrank, der ebenfalls blau gestrichen und mit einem hübschen Muster verziert war. Der alte Dielenboden knarrte bei jedem Schritt, und der weiße Holzrahmen des Fensters hatte sich etwas verzogen, was dessen Öffnen erschwerte. Aber sowohl Matei als auch Elin liebten ihre kleine Kammer. Besonders in den Abendstunden, wenn sie im Schein der auf dem Tisch stehenden Petroleumlampe noch plauderten, war es gemütlich und fühlte sich heimelig an.
»Ich auch«, antwortete Matei. »Und die Matratzen sind mit Stroh gefüllt. Das ist auf Dauer doch recht unbequem. Ich hoffe, wir können diesen Zustand bald ändern. Nicht, dass dort irgendwo Flöhe hausen.« Sofort begann sie, sich am Arm zu kratzen. »Obwohl es schön ist und Erinnerungen an unsere Kindheit weckt. Ich hab unser gemeinsames Alkovenbett damals im Elternhaus geliebt. Weißt du noch: Wir haben oft stundenlang getuschelt, uns Geschichten erzählt und uns im Winter gegenseitig gewärmt.«
»Ja, das stimmt. Obwohl es mir heute mit dir in einem Bett zu eng wäre.« Elin lächelte. »Wir kehren zu unseren Wurzeln zurück. Ich hab die Tage sogar die Schafsköttel auf der Wiese und dem Wattweg gesammelt und damit den Ofen in der Stube eingeheizt. Als Kinder sind wir stets mit großen Säcken losgezogen, um sie zu sammeln.«
»Und ich habe es stets gehasst«, antwortete Matei. »Ich fand die Köttel widerlich.« Sie begann, ihr Haar auszubürsten, und flocht es zu einem Zopf.
Elin, die ihr Haar bereits gerichtet hatte, beobachtete sie dabei. »Ich liebe dein braunes Haar«, sagte sie. »Es ist so gar nicht typisch für Sylt. Oma Bente hat einmal gesagt, bei dir hätte sich der Storch verflogen und dich auf der falschen Insel abgesetzt.«
»Oma Bente. Du liebe Güte«, meinte Matei. »Das ist lange her. Ich weiß noch, wie ich früher immer auf ihrem Schoß vor dem Haus gesessen habe und sie mir alte Geschichten erzählt hat. Oftmals waren regelrechte Schauermärchen von Widergängern dabei. Was hab ich mich gegruselt. Und jetzt gibt es keine Oma Bente mehr, und unser Elternhaus ist eine traurige Ruine. Ich weiß gar nicht, wann ich zuletzt dort gewesen bin.«
»Ich auch nicht«, antwortete Elin. Einen Moment war es still im Raum. Das wurde es jedes Mal, wenn die Erinnerungen an ihre Eltern zurückkehrten. Elins Augen wurden feucht. Sie blinzelte die Tränen fort. »Ist besser, wenn wir aufhören, darüber zu reden. Heute soll ein fröhlicher Tag sein. Wir starten einen Neubeginn, und da ist es nicht gut, über die Vergangenheit nachzudenken. Wir können die Zeit nicht zurückdrehen.«
»Hast ja recht.« Auch Mateis Augen waren feucht geworden. »Komm«, sagte sie und hielt Elin die Hand hin, »lass uns nachsehen, ob Wiebke schon in der Küche im Herrenhaus angekommen ist, Mama hab ich vorhin schon hinübergehen sehen.«
Draußen empfing sie der frische Geruch des Regens. Die Wolkenlücken waren inzwischen größer geworden, und bald würde die Sonne hervorkommen. Sie liefen rasch die Stufen zum Eingang des Haupthauses hinauf und kicherten plötzlich wie kleine Mädchen. Die Trübsal von eben schien wie weggeweht zu sein. In der Küche trafen sie auf Wiebke und Anna. Ihre Ziehmutter hatte beide Hände in einem Teig stecken. Ihr Haar hatte sie zu einem Dutt hochgebunden, doch einige Strähnen hatten sich gelöst. Ihre Wangen waren gerötet. Sie begrüßte die beiden mit einem Lächeln. »Da seid ihr ja endlich. Wir dachten schon, ihr wollt gar nicht mehr kommen.«
»Moin, ihr zwei Hübschen«, grüßte auch Wiebke. Sie holte gerade eine Schüssel aus dem Backofen. »Zur Feier des Tages hab ich uns zum Frühstück einen Mehlpudding gebacken. Dazu gibt es rote Grütze. Die habe ich noch vom letzten Jahr übrig. Ich hab gemeinsam mit Inke Unmengen davon eingekocht. Sie hat Beerensträucher im Garten, und die haben getragen wie lange nicht. Im Keller stehen noch zehn Gläser.« Wiebke, die über ihrem dunkelblauen Kleid eine schlichte weiße Küchenschürze trug, war in den letzten Wochen zu einem festen Bestandteil des Hauses geworden und ihnen bei den vielen anfallenden Arbeiten eine große Hilfe gewesen.
»Mehlpudding«, sagte Elin. »Liebe Güte. Den hab ich ewig nicht gegessen.« Sie setzten sich an den Tisch, und Wiebke stellte jeder von ihnen einen Kaffeepott vor die Nase. »Mit Milch und Zucker, wie ihr es gernhabt«, sagte sie. Es folgte der Pudding, der eher mit einem Kuchen vergleichbar war. Dessen Zubereitung war nicht sonderlich schwer. Er bestand aus Milch, Mehl, Butter, Zucker und Eiern und wurde eine Stunde lang in der Schüssel gebacken. Matei schob sich ein Stück in den Mund, und ihr Gesichtsausdruck wurde selig. »Genauso hat ihn Mama auch immer gemacht«, sagte sie. »Er schmeckt einfach himmlisch. Fehlt nur noch die selbst gemachte Preiselbeer-Tunke mit Zimt, und es wäre perfekt.«
»Gibt es an meiner roten Grütze etwa etwas auszusetzen?«, fragte Wiebke und stemmte die Hände in die Hüften. Ihr Tonfall war plötzlich ruppig.
»Nein, nein«, beeilte sich Elin zu sagen. »Sie schmeckt köstlich. Es war nur eine Kindheitserinnerung. Weiter nichts.«
»Wenn ihr Preiselbeer-Tunke haben wollt, dann müsst ihr in die Dünentäler gehen und Beeren sammeln. Dann koch ich welche ein, auch mit Zimt, wenn es denn unbedingt sein muss. Obwohl ich ja der Meinung bin, dat das Zeug darin nix zu suchen hat.«
»Ich wäre dann so weit fertig«, sagte nun Anna. Alle drei blickten in ihre Richtung. Sie hatte die Hände aus dem Teig gezogen und fragte: »Und was nun?«
»Das ist ein Hefeteig«, antwortete Wiebke. »Der muss an einem warmen Ort zum Aufgehen für eine Weile ruhen. Später machen wir dann die süßen Rosinenwecken daraus.«
Anna nickte und wusch sich die Hände. Elin grinste. Ihre Ziehmutter war nicht wiederzuerkennen. Von der damaligen Herrin des Hauses, die gern das Dienstpersonal durch die Gegend gescheucht hatte, war nichts mehr geblieben. Anna schien Freude am Haushalt gefunden zu haben und hatte eine besondere Vorliebe für das Backen entwickelt. Den lieben langen Tag verbrachte sie, eine Schürze um ihr schwarzes Kleid gebunden, in der Küche und probierte gemeinsam mit Wiebke neue Rezepte aus. Die vielen Kuchen und Plätzchen mussten dann natürlich probiert werden, was dazu geführt hatte, dass ihre Wangen wieder etwas voller geworden waren. Elin und Matei waren noch immer verwundert darüber, wie rasch Annas Veränderung zur tüchtigen Herbergsmutter vonstattengegangen war. Jede Entscheidung den Umbau betreffend ging über ihren Tisch, und sie führte streng über sämtliche Neuanschaffungen Buch. Es war schön zu sehen, wie sie mit jedem Tag mehr ins Leben zurückfand.
Ein Fuhrwerk hielt vor dem Haus. Auf dem Kutschbock saß Hinnerk Petersen. Der grauhaarige untersetzte Mann besaß unweit des Herrenhauses einen Bauernhof und war mit Paul gut befreundet gewesen. Für ihn stand es außer Frage, die drei Frauen bei ihrem Vorhaben zu unterstützen und ihnen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Heute galt es, die ersten Gäste am Hafen in Munkmarsch abzuholen.
»Hinnerk ist da«, sagte Elin und stopfte sich, während sie aufstand, das restliche Stück ihres Mehlpuddings in den Mund. »Es wird Zeit. Komm, Matei. Wir wollen ihn nicht warten lassen.«
Matei leerte rasch ihren Kaffeebecher. Auf dem Weg nach draußen legten sie sich jeweils ein wollenes Tuch um die Schultern. Inzwischen hatte die Sonne den Kampf gegen die Wolken gewonnen, doch es war noch kühl und leicht windig. Auch Wiebke und Anna traten nach draußen, um Hinnerk zu begrüßen, der bester Laune war. Er blieb auf seinem Kutschbock sitzen und grinste breit.
»Moin, die Damen.« Er nahm seine Pfeife aus dem Mund. »Von so vielen Schönheiten werde ich selten in Empfang genommen. Dat nenn ich mal eine Freude.«
»Lass das Süßholzgeraspel mal nicht deine Rieke hören«, sagte Wiebke lachend. »Die reißt dir den Kopf ab.«
»Ach, meine Rieke nimmt das nicht so genau«, antwortete er. »Die weiß ganz genau, wo ich zu Hause bin. Wer fährt denn jetzt mit? Hoffentlich nicht alle vier, sonst könnte es für die Gäste eng werden. Sind drei, oder?«
»Zwei nur«, meinte Anna. »Der Dritte reist über Hörnum an und wird vermutlich heute Nachmittag mit dem Bus aus Westerland eintreffen. Und natürlich fahren wir nicht alle mit. Nur Matei und Elin werden dich begleiten. Wiebke und ich richten derweil alles für den Begrüßungskaffee. Nach der beschwerlichen Reise haben die Herren gewiss Hunger.«
»Wenn ihnen die See nicht den Magen umgedreht hat«, erwiderte Hinnerk. »Aber heute ist es eher ruhig. Obwohl. Ich hab schon Gäste ganz ohne Seegang kotzen sehen. Sind halt nix gewohnt, die Landratten. Na dann mal los, ihr Lütten. Sonst kommen wir noch zu spät. Ihr beiden seid schmal und passt noch mit auf den Kutschbock.«
Matei schmunzelte, während sie hinter Elin auf den Wagen kletterte. Als Lütte hatte sie schon länger keiner mehr bezeichnet.
Die Fahrt begann. Zuerst ging es über die verschlungenen Wege von Keitum. Vorbei an alten, von blühenden Gärten umgebenen Kapitänshäusern mit ihren Reetdächern, viele von ihnen waren mit Moos bewachsen. Die Obstbäume standen in voller Pracht. Ihre rosa und weißen Blütenblätter wurden von dem leichten, von der Wattseite kommenden Wind durch die Luft gewirbelt und legten sich auf Wege und Wiesen. Gänseblümchen, Wiesenschaumkraut und Löwenzahn blühten um die Wette, ein an einem Zaun stehender Fliederbusch betörte sie mit seinem berauschenden Duft. Sie ließen das Dorf hinter sich und fuhren über freies Feld. Auf den Wiesen standen Schafe, Kühe und Pferde. Drei Zicklein brachten Hinnerk zum abrupten Abbremsen, denn sie überquerten meckernd vor ihnen den Weg. Unmengen an Wildgänsen hatten sich auf den Wattwiesen eingefunden. Ihr Schnattern war wunderschön anzuhören. Viele von ihnen hatten Junge, die hinter ihren Müttern herliefen. Am Wegesrand blühten Strandnelken in Hülle und Fülle, Schilf und Strandhafer wiegten sich im sanften Wind, auf dem Wasser funkelte das Sonnenlicht.
»Hach, es ist so wunderschön heute«, sagte Matei und streckte die Nase der Sonne entgegen. »Endlich haben sich die Wolken und der hartnäckige Seenebel der letzten Tage verzogen. Ich dachte schon, dieses Jahr würden wir wochenlang im Grau versinken. Und seht nur die vielen Küken der Wildgänse. Wie niedlich sie aussehen. Und dort vorne sind kleine Schäfchen.«
»Ja, unser Inselchen schmeichelt uns heute«, antwortete Hinnerk. »Hat aber auch einiges wiedergutzumachen. Die letzten Tage war dat wirklich gar scheußlich.«
Sie näherten sich dem im hellen Sonnenlicht vor ihnen liegenden Hafen von Munkmarsch, der durch seine kleine Größe und mit seinen wenigen Häusern spielzeughaft anmutete. An den Landungspfählen schaukelten bunt bemalte Fischerboote und Segler. Am Hafen gab es ein Hotel und ein Restaurant, von deren Terrassen aus hatte man einen guten Blick auf die zauberhafte Kulisse, die vielen Künstlern Inspiration gab. Am Hafen selbst warteten bereits zahlreiche Fuhrwerke auf die Sommerfrischler. Zumeist waren es Gastwirte aus der Umgebung, die hier ihre Gäste in Empfang nahmen, aber auch einige Kaufleute waren unter ihnen, die ihre bestellten Waren abholten. Hinnerk lenkte ihren Wagen neben den des Kaufmanns Carsten Lorenzen und begann einen Schnack mit dem bärtigen Sechzigjährigen. »Moin, Carsten. Bekommste wieder neue Ware?«
Carsten grüßte zurück. »Ich hoffe darauf. Kommt von einem Lieferanten aus Hamburg und hätte gestern schon da sein sollen. Weißwäsche, ist eine Bestellung von einem der neuen Gästehäuser in Westerland. Moild hat es gar nicht gefallen, dass sie die Kundschaft gestern vertrösten musste. Eine unpünktliche Lieferung kommt so gar nicht gut an, und es war eine große Bestellung.«
»Bestimmt kommt es heute«, versuchte Hinnerk, Carsten aufzuheitern. »Und die in dem Gästehaus sollen sich nicht so haben. Sylt ist eben ein Inselchen, zu dem alles mit dem Boot gebracht werden muss. Da kann es schon mal vorkommen, dat etwas später geliefert wird oder eine Nacht länger im Lagerhaus am Festland liegen bleibt. Denk mal an den Winter, wenn die Dampfer gar nicht mehr fahren. Da sind wir jedes Mal froh darüber, wenn die Männer mit den Booten übers Eis ziehen und wenigstens die Post abholen.«
»Einem Sylter musst du so eine Verspätung nicht erklären«, antwortete Carsten. »Aber die Leute kommen aus Berlin. Die sind natürlich anderen Service gewohnt. Und den Winter erleben die auf unserem Inselchen bestimmt nicht. Die machen wie all die anderen Städter Ende September die Schotten dicht und verschwinden in ihr Festlanddomizil. Ist doch immer so.« Er winkte seufzend ab.
Der Dampfer näherte sich dem Anleger. Auf dem Deck standen bereits die zahlreichen Passagiere. Die meisten von ihnen würden mit der bereitstehenden Inselbahn Richtung Westerland weiterreisen. Matei konnte auf dem Schiff auch einige Schafe ausmachen. Es war nichts Ungewöhnliches, dass Tiere mit den Personenfähren vom Festland transportiert wurden. Der Dampfer legte an, und die Passagiere strömten von Bord. Kofferträger, die am Anleger gewartet hatten, meist waren es junge Burschen, die sich ein paar Pfennige dazuverdienen wollten, boten ihre Dienste an. Matei und Elin waren vom Wagen gestiegen, und Matei hielt ihr mitgebrachtes Schild, auf dem Herrenhaus Keitum in großen Lettern geschrieben stand, in die Höhe.