9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €
Der dritte Teil und krönende Abschluss der großen Familiensaga von Anke Petersen voller Nordseezauber und Nostalgie um ein Hotel auf Amrum, das es wirklich gegeben hat. Juli 1914. Die Bewohner der Pension Stockmann in Norddorf sind in heller Aufregung, denn die Hochzeit von Tochter Nele mit einem Kaufmannssohn steht unmittelbar bevor. Nele ist überglücklich, einzig die Tatsache, dass ihre geliebten Eltern diesen Tag nicht mehr miterleben können, vermag ihre Freude zu trüben. Was keiner der anwesenden Gäste ahnt: Dies wird für lange Zeit der letzte unbeschwerte Tag nicht nur für die Insel Amrum sein, denn kurz darauf bricht der Erste Weltkrieg aus und verändert auch das Leben der Insulaner und der Familie Stockmann von Grund auf. Von nun an wird nichts mehr so sein, wie es war ... Band 1 der Familiensaga: "Hotel Inselblick. Wolken über dem Meer" Band 2: "Hotel Inselblick. Wind der Gezeiten" Band 3: "Hotel Inselblick. Stürmische See"
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 704
Anke Petersen
Roman
Knaur eBooks
Juli 1914. Die Bewohner der Pension Stockmann in Norddorf sind in heller Aufregung, denn die Hochzeit von Tochter Nele mit einem Kaufmannssohn steht unmittelbar bevor. Nele ist überglücklich, einzig die Tatsache, dass ihre geliebten Eltern diesen Tag nicht mehr miterleben können, vermag ihre Freude zu trüben. Was keiner der anwesenden Gäste ahnt: Dies wird für lange Zeit der letzte unbeschwerte Tag nicht nur für die Insel sein, denn kurz darauf bricht der Erste Weltkrieg aus und verändert auch das Leben der Insulaner und der Familie Stockmann von Grund auf …
Personenverzeichnis
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
Nachwort
Rezepte
Leseprobe »Sehnsucht nach dem Dünenhof«
Marta Stockmann
Ida Bertramsen, Tochter
Thaisen Bertramsen, Ehemann von Ida
Leni, Inke, Peter und Jan, Kinder von Ida und Thaisen
Nele Thieme, Enkeltochter von Marta
Johannes Steglitz, erster Ehemann von Nele
Thomas Weber, zweiter Ehemann von Nele
Ebba Janke, Köchin (im Ruhestand)
Gesine, Köchin
Uwe Diedrichsen, Ehemann von Ebba
Jasper Hansen, allgemeine Hilfskraft
Hannes, Kutscher, allgemeine Aushilfe
*Frauke Schamvogel (Witwe), Freundin der Familie
*Julius Schmidt, Inhaber des Gasthauses Honigparadies in Nebel
*Elisabeth Schmidt, Ehefrau
Marret Schmidt, Tochter
Martin Schmidt, Sohn
*Hugo Jannen, Inhaber des Hotel Seeheim in Norddorf
*Schwester Anna Detering, Diakonissin im Hospiz
*Heinrich Arpe, Lehrer aus Norddorf
mit * gekennzeichnete Personen sind historisch belegt
Norddorf, 26. Juni 1914
Heute beginne ich ein neues Notizbuch, das erste nach Wilhelms Tod. Es ist sonderbar, denn nie gab es ein Notizbuch ohne ihn, selbst in Hamburg nicht. Gestern saß er doch noch neben mir, gestern redeten wir noch miteinander über Belanglosigkeiten, Alltägliches. In diesem Buch wird er jedoch kein Teil des Alltags mehr sein, keines schlechten Alltags. Es ist ein guter Sommer mit schönem Wetter und zufriedenen Gästen. Er hätte ihn gemocht. Viele Stammgäste sind wieder bei uns, wie sollte es auch anders sein. Es fällt mir jedes Mal schwer, die Fragen nach Wilhelm zu beantworten. Die Beileidsbekundungen schmerzen. Wir wussten es beide. Wir wussten, dass er derjenige sein würde, der als Erster gehen würde. Doch wenn es geschieht, ist nichts mehr, wie es einmal war. Aber er wird immer Teil dieses Hauses und ein Teil von mir sein und bleiben, auch wenn er nicht mehr neben mir sitzt.
Marta war ungeduldig. Immer wieder wanderte ihr Blick zu einer auf der Kommode stehenden Uhr.
»Jetzt mach doch schneller«, sagte sie zu Ida. »Wir kommen noch zu spät.«
»Ich hab es ja gleich«, antwortete Ida. »Und wir kommen nicht zu spät. Ohne dich wird Nele niemals heiraten, und das weißt du auch.« Ida befestigte rasch die letzten Nadeln, mit denen das dreieckige Schultertuch an dem Mieder der Amrumer Tracht festgesteckt wurde. Dabei stach sie sich in der Hektik in den Finger.
»Jetzt hab ich mich auch noch gestochen. Heute kommt aber auch alles zusammen.« Sie steckte sich den Daumen in den Mund.
»So ist es immer, wenn etwas Besonderes ansteht«, sagte Marta seufzend. »Wie geht es denn Leni inzwischen. Hat sie zu spucken aufgehört?«
»Ja, hat sie. Und sie will unbedingt mit in die Kirche gehen, obwohl sie vorhin noch recht käsig um die Nase gewesen ist. Immerhin sind der Zwieback und der Kamillentee vom Frühstück dringeblieben.«
Marta wollte etwas sagen, doch Ida ließ ihre Mutter nicht zu Wort kommen. »Ich weiß, ich weiß. Ein spuckendes Blumenmädchen könnte die Zeremonie stören. Aber sie wäre untröstlich, wenn sie nicht mitkommen könnte. Seit Wochen hat sie sich auf diesen Tag gefreut.«
Ida machte sich daran, das Kopftuch zu falten. Martas Blick fiel auf die rote Haube, die neben der weißen Schürze auf der Kommode lag. Sie zu tragen war verheirateten Frauen vorbehalten, doch sie war nun verwitwet. Der Anblick der roten Haube trieb Marta die Tränen in die Augen. Sie wollte sie wegblinzeln, doch es gelang ihr nicht. Idas Blick fiel auf die rote Haube, und sie ließ die Hände sinken.
»Ach, Mama«, sagte sie, »nicht weinen. Er hätte es nicht gewollt.«
»Ich weiß«, antwortete Marta. »Es ist nur …« Sie brach den Satz ab und wischte sich die Tränen von den Wangen. »Es ist das erste Mal, dass ich die Tracht trage, ohne dass Wilhelm bei mir ist. Ich weiß, es ist so dumm. Ständig denke ich, es ist das erste Mal ohne ihn. Der erste Sonnenaufgang ohne ihn, das erste Mal Aufstehen ohne ihn, das erste Frühstück ohne ihn. Der Beginn einer neuen Saison ohne ihn. Und jetzt heiratet Nele ohne ihren Großvater. Er wollte sie zum Altar führen. Das hat er zu mir gesagt. Er wäre jetzt ihr Vater, hat er erklärt. Nun hat sie weder Vater noch Großvater. Wer soll sie denn in der Kirche begleiten? Sie kann doch nicht ganz allein den Mittelgang hinunterlaufen.«
»Thaisen wird sie führen«, antwortete Ida. »Sie hat ihn gefragt, und er macht es gern.«
»Das hat sie mir gar nicht erzählt«, antwortete Marta. »Aber es ist gut so. Ich meine, richtig. Er ist ihr Onkel, also Familie.«
»Thaisen ist deshalb schon ganz aufgeregt. Vorhin hat er sich dreimal seinen Schlips neu gebunden. Alle Augen werden auf mich gerichtet sein, hat er gesagt. Was ist, wenn ich stolpere?«
»So oder so ähnlich hat Wilhelm es vor jeder Hochzeit seiner Töchter zu mir gesagt. Und am Ende band jedes Mal ich ihm seinen Schlips.«
Marta lächelte, während Ida ihr die Haube aufsetzte und sie rasch mit Haarnadeln an der bereits gesteckten Frisur befestigte. Martas Haar war inzwischen vollständig ergraut. Tiefe Linien hatten sich um ihre Augen und Mundwinkel gegraben. Falten sind die Spuren des Lebens, kam es Ida in den Sinn. Wieder einer von Kalines Sprüchen. Jetzt war die Gute schon so viele Jahre tot, und trotzdem geisterte sie immer wieder durch ihre Gedanken. Die Spuren des Lebens. Besonders in den letzten Monaten schienen sie bei ihrer Mutter deutlicher geworden zu sein. Der Tod ihres Vaters war kein plötzliches Ereignis gewesen. Wilhelms Gesundheitszustand hatte sich bereits im letzten Sommer verschlechtert. Im Herbst überstand er nur langsam eine weitere Bronchitis, und in den letzten Wochen seines Lebens war er oftmals zu geschwächt gewesen, um aufstehen zu können. Von einer weiteren Lungenentzündung im Januar hatte er sich nicht mehr erholt und war an einem verregneten und stürmischen Winterabend für immer eingeschlafen. Einer seiner treuesten Freunde stand ihm in diesen schwierigen Zeiten als sein ständiger Begleiter zur Seite. Jasper. Er leistete ihm so oft wie möglich Gesellschaft, las ihm aus der Zeitung vor, an besseren Tagen spielten sie Karten. Der gute Jasper, weit über siebzig Jahre alt und immer noch recht rüstig. Das liegt am Korn, hatte er einmal zu Ida gesagt. Der desinfiziert. Ida hatte gelacht, doch irgendetwas musste an seiner Behauptung dran sein. Sie konnte sich nicht entsinnen, Jasper jemals krank erlebt zu haben. Inzwischen arbeitete er längst nicht mehr als Strandwart. Diese Aufgabe hatte vor einigen Jahren der von Pellworm stammende Jürgen Mathiesen übernommen. Jasper ließ es sich jedoch nicht nehmen, noch immer die Sandburgenwettbewerbe auszurichten. Ansonsten galt er im Haus als allgemeine Aushilfe. Er half, wo Not am Mann war, und pulte noch immer gern Krabben, am liebsten in der Sonne auf der Bank vor dem Haus. Häufig hielt er sich in Thaisens Werkstatt auf, die sich dieser im Anbau des Stalles eingerichtet hatte. Das Talent zum Bauen von Modell- oder Buddelschiffen fehlte Jasper, jedoch liebte er den Geruch des Holzes. Und er mochte Thaisen, mit dem es sich gut über Politik schnacken ließ. Und in der letzten Zeit gab es eine Menge, über das man reden konnte. Seit dem Attentat in Sarajevo schien das Reich in heller Aufregung, Krieg lag in der Luft der sommerlichen Tage. Die männlichen Gäste wurden immer unruhiger, und die neu eintreffenden Telegramme und Zeitungen wurden Tag für Tag ungeduldig erwartet.
Die Tür öffnete sich, und Ebba betrat, ebenfalls in Tracht gekleidet, den Raum. Ihr hatte ihre Tochter Gesa beim Ankleiden geholfen, die mit ihrer Familie extra zu Neles Hochzeit angereist war.
»Wo bleibt ihr denn?«, fragte Ebba ungeduldig. »Nele ist bereits fertig und will zum Wagen gehen. Ach, sie sieht entzückend aus. Und wo steckt eigentlich unser Blumenmädchen?«
»Ich dachte, sie wäre bei Gesine in der Küche«, antwortete Ida nuschelnd. Sie hatte zwei Haarnadeln zwischen die Lippen geklemmt.
»Nein, da ist sie nicht. Von dort komme ich gerade. Himmel, dieses Kind. Sie treibt mich noch mal in den Wahnsinn.« Ebba rang die Hände.
Wo sie recht hatte, dachte Ida. An ihrer kleinen Leni – sie war im Februar sechs Jahre alt geworden – war ein Junge verloren gegangen. Ständig trieb sie sich mit den Dorfjungen herum, kroch in den Bau von Karnickeln oder rollte die Dünen hinunter. Im letzten November war sie vom Strandvogt pitschnass nach Hause gebracht worden. Aus irgendwelchen ungeklärten Umständen, die Wahrheit war nicht aus ihr herauszubringen gewesen, waren die Kleine und die Jungen vom Bauern Flor aus Nebel in einen Teich gesprungen. Die Jungen konnten schwimmen, Leni leider nicht. Wäre der Strandvogt Erk Jensen nicht zufällig vorbeigekommen, wäre sie vermutlich ertrunken.
Von draußen drang ein gellender Schrei herein, der eindeutig dem kleinen Wirbelwind zuzuordnen war. Marta, Ida und Ebba eilten zum Fenster. Da stand sie, die kleine Leni in ihrem hübschen rosa Kleidchen, dessen Rock ein großer brauner Dreckfleck zierte. Ein Junge, er gehörte zu den Hotelgästen, hatte nichts Besseres zu tun, als mit Dreckklumpen, die er aus einer Pfütze kratzte, nach Leni zu werfen. Sein Gesichtsausdruck war gehässig, er rief irgendetwas, was weder Marta, Ida noch Ebba verstanden. Dann warf er den Klumpen nach Leni, die ihrerseits aus einer weiteren Pfütze den Matsch herausholte und diesen zu einem Geschoss formte. Bevor sie jedoch werfen konnte, traf sie der Dreckklumpen ihres Gegners an der Schulter, und der feuchte Schlamm spritzte bis auf ihre Wange.
»Na, sie hat sich ja flott erholt«, bemerkte Marta.
Ida öffnete das Fenster und rief: »Sofort aufhören. Seid ihr denn verrückt geworden? Leni, wie du aussiehst. Das schöne Kleid.«
Der Junge, der gerade dabei war, sich ein weiteres Wurfgeschoss aus der Pfütze zu organisieren, blickte alarmiert in ihre Richtung und rannte davon. Leni blieb zurück. Sie ließ ihre Hand sinken, und der feuchte Dreck tropfte auf den Boden. Ihre Miene wurde schuldbewusst.
Gesine kam, angelockt von dem Geschrei, aus der Küche gelaufen und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Leni, Kind. Wie siehst du denn aus!«, rief sie.
Ida, Marta und Ebba traten nach draußen.
»Was machst du denn, Leni?«, fragte Ida ihre Tochter. Sie vermied es, den Dreckspatz anzufassen, um die weiße Schürze ihrer Festtagstracht nicht zu verschmutzen. »Sieh nur, das schöne Kleid.«
»Er hat angefangen«, antwortete Leni trotzig und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Ich dachte, dir wäre übel«, meinte Ebba. »Vorhin warst du in der Küche noch ein Häufchen Elend.«
»Mir ist nicht mehr übel«, antwortete Leni patzig.
Nele trat nach draußen. Ihr schlichtes, cremefarbenes Kleid war am Dekolleté mit Spitze verziert. Ihr dunkelbraunes Haar war kunstvoll hochgesteckt. Sie hatte sich gegen einen Schleier entschieden, trug jedoch einen schmalen Blumenkranz aus kleinen Rosen und Schleierkraut auf dem Kopf.
»Nele, meine Liebe, wie schön du aussiehst«, sagte Marta.
»Im Gegensatz zu meinem Blumenmädchen«, entgegnete Nele und musterte Leni, eine Augenbraue hochgezogen.
»Das kriegen wir wieder hin«, erklärte Ida. »Wir ziehen rasch ein anderes Kleid an und waschen den Dreck ab. Dann ist sie wie neu. Leni, aber flott.« Sie deutete zum Eingang des Friesenhauses, das vor einigen Jahren neben der Dependance erbaut worden war und der Familie als privater Wohnsitz diente.
Jasper tauchte auf, leicht schwankend, und das bereits um elf Uhr morgens.
Ebba sah ihn missbilligend an und fragte: »Kann es sein, dass du betrunken bist?«
»Ich – betrunken«, antwortete Jasper. »Niemals.«
»In welchem Zustand ist der Bräutigam?«, erkundigte sich Marta, die ahnte, woher der Wind wehte.
»Fidel und fröhlich«, antwortete Jasper. »Er lief vorhin nur etwas schief. Aber das gibt sich.«
»Wollen wir es hoffen«, antwortete Marta seufzend.
Sie hätte niemals zulassen sollen, dass Jasper und Hugo Jannen mit Johannes einen Junggesellenabschied im Gasthaus Zum lustigen Seehund feierten. Der arme Mann konnte ja nicht wissen, worauf er sich da einließ.
Johannes Steglitz, Neles Zukünftiger, stammte aus Husum. Dort leitete er gemeinsam mit seinem Vater ein großes Handelskontor. Nele würde nach der Hochzeit zu ihm aufs Festland ziehen. Marta gefiel der Gedanke nicht, ihre Enkeltochter gehen zu lassen, auch wenn ihr Verhältnis zu Nele nicht sonderlich innig war. Marta wusste, dass sie Schuld an diesem Umstand hatte. Nach dem Schiffsunglück, bei dem ihre Tochter Rieke und ihr Schwiegersohn Jacob, Neles Eltern, ums Leben gekommen waren, hatte sie sich in ihrer Trauer vergraben und das heimgekehrte Kind mit Missachtung gestraft. Zu tief saß der Kummer um die verlorene Tochter. Nele ähnelte ihrer Mutter sehr. Es schien, als wäre sie eine jüngere Ausgabe von Rieke. Das gleiche kastanienbraune Haar, die gleichen Rehaugen. Sie hatte Nele allein gelassen und schämte sich noch heute dafür. Ida war diejenige gewesen, die sich damals um Nele gekümmert hatte. Die beiden waren inzwischen mehr als Tante und Nichte, sie wirkten eher wie Schwestern.
Die Gattin des Oberzahlmeisters Preller näherte sich ihnen. Die beiden kamen bereits seit vielen Jahren und zählten zu den Stammgästen.
»Meine liebes Fräulein Nele«, sagte sie, »wie hübsch Sie aussehen. Ich und mein Gatte wünschen Ihnen alles Gute für den künftigen Lebensweg, und natürlich viele Kinderlein.«
»Der Esel nennt sich selbst immer zuerst«, raunte Ebba Marta zu, die schmunzelte. Genau denselben Gedanken hatte sie auch gehabt. Sybille Preller war eine herzensgute Frau, jedoch nicht die Hellste.
Nele bedankte sich für die freundlichen Worte. Der Oberzahlmeister trat zu ihr. Er trug einen Picknickkorb, einen Klapptisch, über seiner Schulter hingen zwei Badetücher, und unter seinem Arm klemmte eine Zeitung.
»Alles Gute für Sie, Fräulein Nele«, sagte er. »Und dann haben Sie auch noch so ein schönes Wetterchen. Ist die reinste Freude.«
Nele bedankte sich erneut und sah Hilfe suchend zu ihrer Großmutter. Marta trat näher.
»Ach, diese entzückenden Trachten«, sagte Sybille Preller. »Sie sehen großartig darin aus. Ein Jammer, dass die Inseldamen diese nicht öfter tragen.«
»Das hier ist ja auch eine Festtagstracht«, erklärte Marta geduldig. »Sie wird nur zu besonderen Anlässen herausgeholt, und es dauert sehr lange, sie anzuziehen.«
»Verstehe«, antwortete Sybille Preller.
»Sybille, Liebes, wollen wir dann weiter?«, fragte ihr Gatte. »Wir möchten zum Strand und das schöne Wetter ausnutzen.«
»Wo kann man denn eine solche Tracht erwerben?«, erkundigte sich Sybille Preller, die Worte ihres Gatten ignorierend.
»Leider kann man die Trachten nicht kaufen«, antwortete Marta. »Die meisten werden innerhalb der Familien weitergegeben. Eine neue anfertigen zu lassen, das ist sehr teuer und zeitaufwendig.«
»Genauso wie das Anziehen«, wiederholte Ebba. »Da brauchen Sie mehr als drei Stunden für. Allein das Falten des Rockes dauert schon eine Stunde.«
»Ach tatsächlich. Nein, dann ist das wohl nichts für mich«, antwortete Sybille Preller enttäuscht. »Aber eigentlich ist das ja auch nur was für Bewohner der Insel. Wo soll ich eine solche Tracht in Berlin auch tragen. Es war nur so eine Idee.«
»Liebling, kommst du jetzt.« Die Stimme des Oberzahlmeisters klang energischer.
»Ist gut«, antwortete seine Gattin. »Wir gehen ja schon. Und nochmals alles Gute für Sie, Fräulein Nele. Sie sehen wirklich ganz bezaubernd aus.« Sie schenkte Nele ein Lächeln, dann folgte sie ihrem Gatten.
»Sie ist nett, aber eine Nervensäge«, sagte Ebba, nachdem die beiden außer Hörweite waren. Marta nickte.
Ida und Leni kamen zurück. Leni steckte jetzt in einem blauen Kleid, ihr blondes Haar war geflochten, und ein Blumenkränzchen zierte ihren Kopf. Den beiden folgte Thaisen, der einen schwarzen Anzug trug und sein blondes, normalerweise zerzaustes Haar mit Pomade gebändigt hatte.
»Dann wollen wir mal los«, sagte er.
Wie auf Kommando bog Hannes mit dem mit Blumen geschmückten Wagen um die Ecke.
»Ich habe gehört, hier gäbe es eine Braut zum Abholen«, sagte er grinsend, nachdem er vor ihnen gehalten hatte.
»Und wie es die hier gibt«, rief Leni fröhlich.
Thaisen half Nele beim Einsteigen. Ihr folgten Marta, Ida, Ebba und die kleine Leni. Thaisen nahm bei Hannes auf dem Kutschbock Platz. Hannes, der bereits seit vielen Jahren für die Familie Stockmann als Fahrer arbeitete und inzwischen zum Hausinventar zu gehören schien, trieb die Pferde an, und es ging in Richtung Nebel zur Kirche. Auf dem Weg dorthin sahen sie die Inselbahn, die vor einigen Jahren auf elektrischen Betrieb umgestellt worden war. Dass es auf Amrum Elektrizität gab, dafür hatte sich noch Heinrich Andresen starkgemacht. Damals war der Bau einer elektrischen Zentrale geplant worden, um die Häuser und Hotels Wittdüns mit Strom zu versorgen. Die Aktiengesellschaft von Andresen ging wenig später in Konkurs, doch das E-Werk im Zentrum von Wittdün wurde trotzdem – zusammen mit einem Weinrestaurant und dem Casino – erbaut. Schnell wurde jedoch klar, dass sich die wenigen 25-Watt-Birnen in den Häusern und die Beleuchtung der Promenade nicht rentierten, und so wurde überlegt, auch die anderen Dörfer und das Kurhaus zur Satteldüne an das Stromnetz anzuschließen. Dies geschah über die Inselbahn, die ebenfalls elektrisch wurde und mit ihren Oberleitungen die Dörfer versorgte. Allerdings hatte es in den letzten Jahren mit der Bahn immer wieder Schwierigkeiten gegeben. Im E-Werk in Wittdün war ein Feuer ausgebrochen, Sturmfluten unterspülten die Gleise, und es kam zu mehreren Eigentümerwechseln. Inzwischen gehörte die Inselbahn den Amrumern selbst, sodass der Betrieb in den letzten beiden Jahren einigermaßen reibungslos verlaufen war.
Sie erreichten das weitgehend noch immer von alten Friesenhäusern geprägte Nebel. Hier waren in den vergangenen Jahren nur wenige Neubauten, den Tourismus betreffend, errichtet worden. Das Bahnhofshotel und das Anwesen von Friedrichs gehörten dazu. Und Dr. Ides Sanatorium war vor einigen Jahren am Wattenmeer errichtet worden. Das Haus genoss in der Kinderheilkunde einen hervorragenden Ruf.
An der Kirche wurden sie bereits erwartet. Vor dem Gotteshaus warteten Neles zukünftige Schwiegereltern, Heinrich und Elfriede Steglitz, mit ihrer Tochter Annemarie. Deren beide Töchter, sie waren vier und acht Jahre alt, gehörten ebenfalls zu den Blumenmädchen. Stefan Krüger, der Pfarrer, stand ebenfalls vor dem Gotteshaus. Der hoch aufgeschossene Mann mit Halbglatze hatte vor einigen Jahren die Nachfolge von Ricklef Bertramsen übernommen, den ein Schlaganfall mitten aus dem Leben gerissen hatte.
Der Pfarrer reichte Nele lächelnd die Hand. »Da sind Sie ja endlich. Der arme Herr Bräutigam hatte schon Sorge, seine Braut würde nicht kommen.«
»Wir wurden leider aufgehalten«, entschuldigte Marta ihr Zuspätkommen.
»Ich dachte, die Blumenmädchen tragen alle Rosa«, sagte Annemarie, den Blick auf Leni gerichtet, die den Kopf einzog.
»Ein Malheur mit dem Morgenkakao. Da ließ sich nichts machen«, antwortete Ebba und setzte ein verbindliches Lächeln auf.
Annemarie nickte, erwiderte jedoch nichts. So recht schien sie Ebba den kleinen Schwindel nicht abzukaufen. Sie hatte in den letzten Tagen einen Eindruck von Lenis Verhalten bekommen und hielt sie für ein verzogenes Balg, dem eindeutig eine strenge Gouvernante fehlte. Das hatte sie während des Nachmittagskaffees zu Marta gesagt. Es ginge nichts über eine anständige Erzieherin, gern ein etwas älteres Semester, die den Kindern von Anfang an klare Grenzen aufzeigte. Marta hatte mit einem verbindlichen Lächeln genickt. Sie wusste, dass Ida einen Teufel tun und ein Kindermädchen einstellen würde. In dieser Hinsicht fehlte Kaline. Sie hatte eine ganz eigene Art gehabt, mit Kindern umzugehen. Neles zukünftige Kinder waren bereits jetzt zu bedauern. Es war geplant, dass Nele und Johannes ein Nebengebäude des steglitzschen Anwesens bezogen. Dieses lag, außerhalb von Husum, zauberhaft im Grünen. Es war zu hoffen, dass sich Nele von ihrer Schwägerin nicht in das Thema Kindererziehung würde reinreden lassen.
Die Damen folgten dem Pfarrer in das Innere des Gotteshauses, während Nele und Thaisen draußen blieben.
»Bereit für die Schlacht?«, fragte Thaisen und bot Nele seinen Arm an. Sie nickte und atmete tief durch. Vor dem Altar wartete ihr Johannes auf sie. Der Mann, in den sie sich auf den ersten Blick verliebt hatte. Damals, als sie in Wittdün in der Kolonialwarenhandlung von Peter Hansen Einkäufe erledigt hatte und unbedachterweise in ihn hineingelaufen war. Er war blond, hochgewachsen und mit strahlend blauen Augen. Wie ein Baum zum Anlehnen, hatte Ida einmal gesagt. So jemanden brauchte Nele. Einen Mann, der ihr das Gefühl von Sicherheit vermittelte. In Johannes hatte sie ihn gefunden.
Das Orgelspiel setzte ein, und Nele und Thaisen betraten die Kirche.
Norddorf, 28. Juli 1914
Heute gab es am Strand mal wieder Ärger, denn ein Herr wollte es sich nicht nehmen lassen, gemeinsam mit seiner Gattin ins Wasser zu gehen. Er hielt die Regelung der Damen- und Herrenbäder für überholt. Schließlich gäbe es auch in Wittdün ein Familienbad und auf den meisten anderen Inseln ebenfalls. Diese Diskussionen führen wir inzwischen häufiger. Aber der Norddorfer Gemeinderat lässt sich nicht dazu bewegen, endlich ein Familienbad an unserem Strand zu genehmigen. Die Herrschaften wittern in einem solchen noch immer Sodom und Gomorrha. Wie unsinnig das doch ist. Aber wenn sich die politischen Verhältnisse weiterhin verschärfen, werden wir sowieso bald andere Sorgen haben. Jasper hat gemeint, wenn es Krieg gibt, wird Amrum zum kriegsgefährdeten Gebiet erklärt, und dann müssten sämtliche Touristen abreisen. Ich hoffe inständig darauf, dass es nicht dazu kommen wird. Aber die Lage spitzt sich leider immer weiter zu.
Nele öffnete die Augen. Irgendetwas hatte sie geweckt. Es hatte sich wie ein Poltern angehört. Johannes war bereits aufgestanden. Vermutlich machte er seinen morgendlichen Strandspaziergang. Sie sah zum Fenster. Die Sonne war gerade aufgegangen und zauberte rotes Licht auf den Fensterrahmen. Erneut nahm sie ein eigentümliches Geräusch wahr. Es klang wie ein Stöhnen. Sie stand auf und öffnete ihre Zimmertür. Nun fluchte jemand, dessen Stimme sie nur zu gut kannte.
»Dumme Treppenstufe aber auch. So ein verdammter Mist.«
Es war Ebba.
Nele lief zur Treppe und entdeckte sie am unteren Ende sitzend. »Ebba, was ist geschehen?«, fragte Nele und eilte zu ihr.
»Was schon«, antwortete Ebba. »Ich hab Torben gesagt, dass die Treppenstufe lose ist. Aber der Dösbaddel von einem Hausmeister will ja nicht hören. Jetzt haben wir den Salat. Mein Knöchel, ich glaube, er ist gebrochen.«
Nele versuchte, Ebba zu trösten. »So schlimm wird es schon nicht sein. Welcher Fuß ist es denn?«
»Der da«, antwortete Ebba und deutete auf ihr rechtes Bein. Sie sah mitgenommen aus. Ihre Wangen waren gerötet, und ihr Dutt am Hinterkopf löste sich auf. Nele streckte die Hand aus. Doch noch ehe sie den Fuß überhaupt berührt hatte, jammerte Ebba schon los.
»Oh, au, das tut weh.«
»Ich hab doch noch gar nichts gemacht«, antwortete Nele. »Du stellst dich aber auch an.«
»Wie redest du denn mit mir?«, entgegnete Ebba entrüstet und verschränkte die Arme vor der Brust.
Nele seufzte innerlich und ermahnte sich, geduldig zu sein. Dass Ebba wehleidig war, war hinlänglich bekannt. Leider passierten ihr in der letzten Zeit öfter Missgeschicke. Dieser Umstand war ihrer schlechter werdenden Sehkraft geschuldet. Sie weigerte sich jedoch, die Brille zu tragen, die der Arzt ihr verordnet hatte. Anfangs war sie ganz begeistert davon gewesen, doch nach einer Weile meckerte sie an dem Drahtgestell herum. Es würde von der Nase rutschen, hinter den Ohren drücken, und die Gläser würden ständig beschlagen. So könne eine Köchin doch nicht arbeiten. Obwohl Ebba nicht mehr als Köchin arbeitete, jedenfalls war sie nicht mehr die Chefköchin. Gesine hatte vor einigen Jahren die Leitung der Hotelküche übernommen und hatte nun ihre liebe Mühe mit ihrer starrsinnigen Vorgängerin, die eigentlich ihren Ruhestand genießen sollte. Doch Ebba gefiel es gar nicht, aufs Altenteil abgeschoben zu werden. Sie war noch immer jeden Tag die Erste in der Küche und backte die Heißwecken, steckte ihre Nase in sämtliche Töpfe und stritt sich gern mit Gesine, deren Autorität sie des Öfteren infrage stellte. Marta war froh darüber, dass Gesine Ebba bereits seit Jahren kannte und mit ihren Launen zurechtkam. Eine neue Köchin hätte ihnen vermutlich innerhalb weniger Tage alles hingeschmissen. Doch trotz Ebbas manchmal unmöglichen Verhaltens dachte niemand daran, sie anderswo unterzubringen. Ebba gehörte zum Hotel Inselblick und war mit den Jahren Teil der Familie geworden. Und mit Familie war es eben ab und an kompliziert.
Unter ihnen wurde eine Tür geöffnet. Nele beugte sich über das Treppengeländer. Es war Jasper, der gerade seine Kammer verließ. Nele reagierte erleichtert. Wenn jemand es schaffte, Ebba wieder auf die Beine zu stellen, dann er.
»Jasper, komm schnell«, rief sie. »Ebba hatte einen Unfall.«
»Was ist denn passiert?«, fragte Jasper und sah auf die arme Ebba, die sich vergeblich aufzurappeln versuchte.
»Was wohl. Die vermaledeite Stufe. Ich habe Marta gleich gesagt, dass dieser Torben nichts taugt. Wird ja einen Grund gegeben haben, weshalb die den beim Hotel Central nicht mehr haben wollten. Aber mir glaubt ja keiner.«
Jasper sah zu Nele, die ein Grinsen unterdrückte. Torben war im Hotel Central nicht rausgeworfen worden, sondern freiwillig gegangen. Aber diese Geschichte stand auf einem anderen Blatt. Ebba ließ von der ersten Minute an kein gutes Haar an dem schlaksigen jungen Burschen, der den Platz von Fietje eingenommen hatte, der leider im letzten Jahr an einem Herzinfarkt verstorben war. Fietje war zehn Jahre lang der Hausmeister im Hotel gewesen, und Ebba und er hatten eine besondere Art von Freundschaft gepflegt. Sein Tod hatte sie sehr mitgenommen. Doch deshalb Torben zu verteufeln war nicht gerecht.
»Jetzt sehen wir erst einmal zu, dass wir dich wieder auf die Füße bringen.« Jasper ging nicht auf Ebbas Gezeter ein. »Und dann guck ich mir die Treppenstufe mal an. Wird kein Hexenwerk sein, sie zu reparieren.«
Er trat hinter Ebba und griff ihr unter die Achseln. Ruck, zuck stand sie auf den Beinen, klammerte sich jedoch am Treppengeländer fest. Den verletzten Fuß reckte sie in die Höhe.
Jasper und Nele schafften Ebba die Treppe nach unten und in die Hotelküche, wo sie sich auf das Kanapee neben der Tür sinken ließ. Marta, die am Küchentisch gesessen hatte, kam sofort mit besorgter Miene näher, ebenso wie Gesine.
»Was ist denn geschehen?«, fragte Marta.
Ebba schimpfte erneut los. Marta sah zu Jasper, der sich ein Grinsen nicht verkneifen konnte. Ihr Blick wanderte zu Nele und blieb an ihren nackten Füßen hängen.
»Jetzt beruhigen wir uns erst einmal«, sagte sie. »So schlimm wird es schon nicht sein. Nele geht sich jetzt etwas anziehen, und wir begutachten den Fuß. Gesine, hol doch rasch etwas zur Kühlung«, wies sie die Köchin an.
Nele reagierte erleichtert. Dem Herrn im Himmel sei Dank, war Marta gerade in der Küche. Wenn jemand es schaffte, Ebba zu beruhigen, dann sie. Ida betrat den Raum und erkundigte sich, was geschehen war.
»Was schon«, antwortete Ebba grummelnd. »Der Dösbaddel Torben hat die Treppe noch immer nicht repariert.«
»Dann werde ich ihm nachher gleich sagen, dass er sich darum kümmern soll«, antwortete Ida.
Nele bewunderte ihre Tante für ihre Geduld. Sie spielte ohne Murren weiterhin die zweite Geige hinter Marta. Dass Ida und Thaisen das Hotel Inselblick eines Tages weiterführen würden, war bereits ausgemacht. Doch das Hotel war über zwanzig Jahre Martas Lebensmittelpunkt gewesen, ihr Lebenstraum, könnte man sagen. In der Hamburger Pension ihrer Tante Nele aufgewachsen, hatte sie sich stets ein eigenes Hotel gewünscht. Wilhelm hatte ihr, seinem Pensionsmädchen, wie er sie zärtlich nannte, diesen Wunsch erfüllt. Und Marta war noch nicht gewillt, sich aus dem Tagesgeschäft zurückzuziehen.
Nele verließ die Küche und ging in ihre Kammer, um sich anzukleiden. Erst vor wenigen Tagen hatte sie diese gemeinsam mit Johannes mit Beschlag belegt. Eigentlich hatten sie nach der Hochzeit gleich nach Husum ziehen wollen. Aber es hatte mit den Handwerkern Verzögerungen gegeben, und ihr Häuschen war noch nicht fertig renoviert. Deshalb mussten sie ihren Aufenthalt auf der Insel verlängern. Johannes nannte es scherzhaft Sommerfrische. Sie waren im Dienstbotentrakt des Hotels untergebracht, der erst vor wenigen Jahren neu errichtet worden war und direkt an die Wirtschaftsräume und die Küche grenzte. Gegenüber lag die Dependance, daneben das Friesenhaus, dessen Bau sich Marta gewünscht hatte. Sie war nie erfreut darüber gewesen, dass das alte Schulhäuschen, in das sie und Wilhelm sich damals verliebt hatten, mit den Jahren von Anbauten umschlossen worden war und den Charme eines alten Friesenhauses verloren hatte. Das neu erbaute Friesenhaus war natürlich um einiges größer als das kleine Schulhäuschen, mit dem die Geschichte vom Hotel Inselblick begonnen hatte. Es war weiß getüncht, hatte eine große Wohnstube mit den für die Insel üblichen weiß-blauen Fliesen an den Wänden, eine Küche, einen Büroraum und ein Schlafgemach im Untergeschoss. Im ersten Stock wohnten Ida, Thaisen und Leni. Das Haus umgab ein für Amrum typisches Steinmäuerchen, auf dem Strandrosen in Hülle und Fülle blühten. Und selbstverständlich besaß es eine richtige Klöntür.
Nele öffnete ihren Kleiderschrank. Ihr Blick fiel auf ihr Hochzeitskleid, und sie wurde wehmütig. Anfangs hatte sie gar kein richtiges Hochzeitskleid haben wollen. Sie hätte auch in ihrem Sonntagskleid oder in ihrer Tracht geheiratet, aber Marta bestand darauf, ihr eines anfertigen zu lassen. Was sollten denn ihre zukünftigen Schwiegereltern, die recht wohlhabend waren, von ihr halten, wenn sie im Sonntagskleid zu ihrer eigenen Hochzeit kommen würde. Das würde ja so aussehen, als wäre Nele ein armes Mädchen, was sie weiß Gott nicht war. Sie brachte eine anständige Aussteuer in die Ehe mit, wie es sich gehörte.
Nele war kein Freund von hübschen Kleidern und hielt sich ungern in der Nähstube von Anna Mertens in Wittdün auf, die das Geschäft vor einigen Jahren von ihrer Tante Henriette Behrens übernommen hatte. Als Kind war sie oft gemeinsam mit ihrer Mutter dort gewesen. Rieke hatte schöne Kleider geliebt und sich zu jeder Gelegenheit eines anfertigen lassen. Sie konnte gar nicht genug davon bekommen, ihre Nase in Kataloge mit der neuesten Pariser Mode zu stecken. In dieser Hinsicht war sie ihr ganzes Leben lang der Hamburger Backfisch geblieben, der gern in Hornhardts Concertgarten und zu Tanzveranstaltungen gegangen war. Vermutlich war dies der Grund dafür, weshalb Nele das Tragen von hübschen Kleidern vehement ablehnte, die sie an ihre Mutter erinnerten, und ihre einfachen Röcke und Blusen bevorzugte. Denn der Schmerz über den Verlust ihrer Eltern war zu einem Teil von ihr geworden. Nele wusste, dass Rieke ihr das schönste und teuerste Hochzeitskleid gekauft hätte. Und ihr Vater, Jacob, hätte ihr ein unvergessliches Hochzeitsfest ausgerichtet und sie voller Stolz zum Altar geführt. Doch es hatte nicht sein sollen. Kaline sagte mal: »Die Vergangenheit kannste nicht ändern. Aber die Zukunft liegt in deiner Hand.« Die gute Kaline Peters, die nun bereits so viele Jahre tot war, tröstete sie alle auch heute noch mit ihren Lebensweisheiten.
Nele kleidete sich an. Sie wählte den üblichen dunkelblauen Rock und eine schlichte weiße Bluse dazu. Ihr braunes Haar bürstete sie rasch aus, dann steckte sie es am Hinterkopf fest. Heute Vormittag wollte sie gemeinsam mit Johannes nach Wittdün fahren, um einige Besorgungen zu erledigen.
Als sie in ihre Schuhe schlüpfte, klopfte jemand an die Tür. Nele rief »Herein«, und Ida betrat den Raum.
»Moin, Nele«, grüßte Ida und kam ohne Umschweife auf den Grund für ihr Kommen zu sprechen. »Unten ist der Teufel los. Ständig läutet das Telefon, und viele Gäste haben sich wegen der bevorstehenden Mobilmachung zur Abreise entschlossen.«
»Nun also doch?«, fragte Nele.
»Ganz sicher ist es wohl noch nicht«, antwortete Ida und schob eine ihrer blonden Haarsträhnen hinters Ohr, die für ihre Hochsteckfrisur zu kurz war. »Es sind heute Morgen gleich mehrere Telegramme eingetroffen, die davon berichteten. Thaisen hat gemeint, der Krieg könnte noch abgewendet werden. Aber viele der Gäste sehen das anders und reisen ab. Die Männer haben wohl nur drei Tage Zeit, um sich bei ihren Regimentern zu melden.«
»Verstehe«, antwortete Nele.
»Mama lässt fragen, ob du gemeinsam mit Jasper Ebba zum Badearzt ins Hospiz bringen kannst. Doktor Mertens hat dort heute Vormittag Sprechstunde. Der Knöchel ist ziemlich geschwollen. Am Ende ist er doch gebrochen.«
»Natürlich kann ich das«, erwiderte Nele.
Ida nickte, bedankte sich und wollte wieder gehen, doch Nele hielt sie am Arm zurück.
»Was ist mit Johannes und Thaisen?«
»Was soll sein?«, antwortete Ida. »Wenn die Mobilmachung tatsächlich kommt, müssen auch sie sich bei ihren Einheiten melden. Im Moment sind sie drüben in der Werkstatt. Es herrscht Fassungslosigkeit. Besonders Thaisen hofft noch immer darauf, dass es nicht zum Krieg kommen wird.«
Nele nickte. Idas Worte trafen sie, obwohl alle ahnten, dass es so kommen würde.
»Kann Ebba noch einen Moment warten?«, fragte Nele. »Ich muss zu Johannes.«
»Aber sicher«, antwortete Ida und ging.
Kurz darauf betrat Nele Thaisens Werkstatt, die er sich in dem Anbau des Schuppens eingerichtet hatte, in dem früher die männlichen Angestellten des Hotels untergebracht gewesen waren. Eigentlich hatten Ida und Thaisen nach ihrer Hochzeit nach Wyk ziehen und das Haus und die Werkstatt von Matz Heyen übernehmen wollen. Dem Mann, der Thaisen das Bauen von Modell- und Buddelschiffen beigebracht hatte und den er noch heute schmerzlich vermisste. Doch nur wenige Wochen nach ihrer Hochzeit war die alte Ran, der das Haus gehörte, verstorben, und ihr Nachlass war an eine ihrer Cousinen aus Sylt gefallen, die weder Thaisen noch Ida kannten. Die Frau hatte nichts Besseres zu tun gehabt, als Ida und Thaisen auf die Straße zu setzen und einen ihrer Söhne in dem Haus einzuquartieren. Thaisen und Ida hatten sich nach einer neuen Bleibe umsehen müssen. Schnell war klar gewesen, dass sie von Föhr nach Amrum zurückkehren würden. Anfangs lebten sie in einem angemieteten Häuschen in Nebel. Der Um- und Ausbau des Hotels ermöglichte es ihnen jedoch, dass sie bald auf das Gelände vom Hotel Inselblick umziehen konnten, sodass Thaisen in den letzten Jahren sein Geschäft weiter vorantreiben konnte. Inzwischen zählten viele Hotels, Gästehäuser und Läden auf den Inseln sowie auf dem Festland zu seiner Kundschaft.
In Thaisens Werkstatt schlug Nele gedrückte Stimmung entgegen. Thaisen und Johannes saßen nebeneinander an der Werkbank, jeder hatte eine Flasche Bier vor sich stehen. Nele setzte sich schweigend neben ihren Mann, griff nach seiner Flasche und nahm einen großen Schluck, obwohl sie eigentlich Bier nicht mochte. Sie verzog das Gesicht und stellte die Flasche zurück.
»Wo musst du hin?«, fragte sie Johannes.
»Landwehr-Infanterieregiment Nummer vierundsiebzig«, antwortete er. »Die sind in der Nähe von Husum stationiert.«
Nele nickte und antwortete: »Wann willst du abreisen?«
Er zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht. Vielleicht schon heute, spätestens morgen. Weit ist es ja nicht.«
Nele nickte erneut und sah zu Thaisen.
»Ich muss nach Wilhelmshaven zur Marine«, erklärte er.
»Was sagt Ida?«, fragte Nele.
»Was soll sie schon sagen?«, antwortete Thaisen. »Sie akzeptiert es wie wir alle. Es bleibt uns ja nichts anderes übrig.« Er stand auf. »Vermutlich werden die Fähren in der nächsten Zeit überfüllt sein. Die Insel ist voller Sommergäste, und die Mobilmachung wird sie zur Abreise zwingen. Wir könnten Tam Olsen fragen, ob er uns nach Dagebüll fährt. Lustfahrten will heute bestimmt niemand machen.«
Johannes erhob sich ebenfalls. »Dann geh ich mal packen.« Er legte den Arm um Nele und gab ihr einen kurzen Kuss. »Es wird schon gut gehen, mein Schatz. Dieser Krieg hält uns nur für wenige Wochen von unseren Plänen ab. Bald werden wir unser Häuschen beziehen. Du wirst sehen: Spätestens Weihnachten ist alles vorbei.«
Nele nickte und blinzelte die aufsteigenden Tränen zurück. Johannes und Thaisen verließen die Werkstatt. Sie folgte ihnen nicht sofort. Ihr Blick fiel auf ein auf der Werkbank liegendes, unfertiges Schiffsmodell. Es war ein Viermaster, der noch keine Segel hatte.
Thaisen hatte gerade damit begonnen, sich nach einem Mitarbeiter umzusehen, denn die Auftragslage war so gut, dass er die vielen Anfragen allein kaum noch bewältigen konnte. Aber es war schwierig, einen geeigneten Mann zu finden. Nun würde bis auf Weiteres auch Thaisen keine Schiffe mehr herstellen. Oder vielleicht doch. Am Ende war alles heiße Luft, und heute Abend wäre die Mobilmachung hinfällig. Und sollte es Krieg geben, so wäre er wohl nur von kurzer Dauer. Der Gardekürassier Diedrichsen – er zählte zu den Stammgästen des Hauses – hatte gestern Abend ebenfalls von nur wenigen Wochen gesprochen. Er meinte, Deutschland würde schöner und größer werden durch diesen Gang, durch das Blut seiner Söhne, und es würde nach dem Krieg eine neue Landkarte nötig sein. Nele wollte keine neue Landkarte, und in ihren Augen war alles schön genug. Aber die Meinung eines einfachen Inselmädchens interessierte niemanden.
Sie trat auf den im hellen Licht der Morgensonne liegenden Hof hinaus, wo ein heilloses Durcheinander herrschte.
Vor dem Hotel stapelten sich Koffer und Reisetaschen. Die Aushilfskofferträger, Louis und Albert, beide Söhne des Bauern Tönnissen aus Steenodde, hatten alle Mühe, den Gepäckberg zu bewältigen, der nicht kleiner zu werden schien. Die ersten abreisefertigen Gäste saßen bereits auf einem Wagen, unter ihnen waren der Oberzahlmeister Preller und seine Familie, eine Frau mit drei Kindern und der Königliche Hof- und Domsänger Lenzewski aus Berlin mit seiner Gattin, die seit Jahren zu den Stammgästen des Hotels gehörten. Die beiden Männer unterhielten sich lautstark, einer reckte die Zeitung in die Höhe. Eben half Hannes der Gattin des Gardekürassiers Diedrichsen auf den Wagen, der sich gerade von Marta verabschiedete und ihr kräftig die Hand schüttelte. Neles Blick blieb an Ebba hängen, die, etwas verloren wirkend, vor dem Haus auf einer Bank saß und auf sie zu warten schien. Ihr graues Haar war noch immer zerzaust, sie trug ihre Küchenschürze, die einige Flecken aufwies. Wie schnell es doch gehen konnte, dass so ein verknackster Knöchel zu einer Nebensächlichkeit wurde, dachte Nele.
Jasper trat neben sie und folgte ihrem Blick. »Da sitzt sie nun, und keiner kümmert sich«, sagte er und schüttelte den Kopf.
»Unsere Ebba hält das schon aus«, antwortete Nele und fragte: »Was denkst du? Wird es tatsächlich Krieg geben, oder machen sie nur die Pferde scheu?«
»Es kommt, wie es kommt. Gefallen tut es mir nicht. Liegt schon viel Säbelrasseln in der Luft«, antwortete Jasper, holte einen Flachmann aus der Hemdtasche, nahm einen kräftigen Schluck und hielt die Flasche Nele hin, die nicht Nein sagte. Der Schnaps rann brennend ihre Kehle hinunter und füllte ihren Bauch mit Wärme. Sie trank einen weiteren Schluck.
Einige Stunden später – es war bereits früher Abend – spazierten Johannes und Nele Hand in Hand zum Strand. Die Strandkörbe waren verwaist, die Strandrestauration hatte geschlossen. Sie schlenderten bis zur Wasserlinie. Die Sonne schien milchig durch einige Schleierwolken. Unweit von ihnen lief eine Frau, ein Kind an der Hand, Richtung Strandhallen des Hospizes.
Johannes hob eine Muschel auf und betrachtete sie. »Sie hat eine hübsche Färbung.«
Nele nickte. »Ja, das hat sie. Aber auch eine kleine Macke. Siehst du, hier unten.«
Er nickte und warf sie zurück ins Wasser. Sein Blick wanderte aufs Meer hinaus und blieb an einem Kutter hängen, der vermutlich auf dem Weg zum Wittdüner Hafen war.
»Es sieht alles so normal aus. So wie immer, friedlich und ruhig. Ich wünschte, es würde so bleiben.« Er sah Nele an und sagte: »Mama hat geschrieben. Sämtliche Handwerker sind abgereist, obwohl das Dach unseres Hauses noch nicht fertig ist. Sie hat gemeint, du könntest natürlich trotzdem kommen und ein Zimmer im Haus beziehen. Sie würde sich darüber freuen.«
Nele wusste, dass das Angebot ihrer Schwiegermutter nicht ehrlich gemeint war. Elfriede Steglitz hatte sich für ihren Sohn eine bessere Partie erhofft. Vor einer Weile hatte Nele durch Zufall ein Gespräch zwischen Elfriede und ihrem Gatten belauscht. Ein Mädchen eines Gutshofes aus der Nachbarschaft hätte es sein sollen, einfacher Landadel, jedoch mit einer erfolgreichen Pferdezucht. Doch dann war sie in Johannes’ Leben getreten, und Elfriedes Pläne einer perfekten Verbindung waren zerstört. Aber auch Neles Leben hatte Johannes durcheinandergewirbelt. Sie hatte mit einer Ausbildung zur Lehrerin begonnen, die sie nun nicht beenden würde, obwohl sie kurz vor dem Abschluss stand. Ihr größter Unterstützer auf der Insel, der Lehrer Heinrich Arpe, war untröstlich gewesen, als er von ihren Heirats- und Umsiedlungsplänen erfahren hatte. Gute Lehrer zu bekommen war nicht einfach, und die Kinder hatten Nele ins Herz geschlossen. Und nun wirbelte etwas viel Größeres Neles Leben erneut durcheinander und würde ihr den geliebten Mann nehmen. Einen der wenigen Menschen in ihrem Leben, zu denen sie Vertrauen hatte fassen können. Es ist die Angst, hatte sie einmal zu Ida gesagt, die Angst davor, wieder jemanden zu verlieren. Die letzten Worte ihrer Mutter würde sie nie vergessen können: Ohne ihn geht es nicht. Rieke hatte damals Neles Hand losgelassen und war nicht ins Rettungsboot gestiegen. Wie oft hatte sich Nele in den letzten Jahren gewünscht, sie wäre damals energischer gewesen, hätte sie zurückgehalten, sie gebeten, sie nicht allein zu lassen. Ach, wären sie doch niemals auf dieses Schiff gegangen.
»Das ist sehr nett von deiner Mutter«, erwiderte Nele. »Aber ich denke, ich werde fürs Erste auf Amrum bleiben. Ich habe vorhin mit Oma darüber geredet. Sie meinte, ich könnte im Hotel wohnen, solange ich möchte. Es ist nichts gegen …«
»Ich versteh das schon«, fiel er ihr ins Wort. »Hier bist du zu Hause, und alles ist vertraut. Und etwas Vertrautes tut gut in diesen unruhigen Zeiten.« Er legte die Arme um sie.
»Ich wünschte, ich könnte bei dir bleiben. Aber es ist nun einmal unsere Pflicht, dem Vaterland zu dienen. Und sollte es zum Krieg kommen, so wird dieser gewiss ein rasches Ende nehmen. Überall wird davon gesprochen, dass wir Weihnachten wieder zu Hause sind. Du wirst sehen: Wir werden das Fest gemeinsam mit meinen Eltern auf dem Gut mit einem großen Weihnachtsbaum feiern, so, wie ich es dir versprochen habe.«
Nele nickte. Mit einem richtigen Weihnachtsbaum. Davon hatte Johannes ihr schon erzählt. Er stand stets in der großen Halle des Gutshauses, war mit Strohsternen, Lametta und Kugeln geschmückt, und an Heiligabend wurden die unzähligen Kerzen entzündet. Nele kannte nur den Kenkenbuum. Ein Holzgestell, mit Buchsbaum umwickelt und mit Salzteigfiguren geschmückt; ihre Oma befestigte ebenfalls Kerzen daran. Er sah sehr festlich aus, genauso wie die geschmückte Stube. Doch einen richtigen Weihnachtsbaum hätte sie schon gern mal gehabt. Und vielleicht würde es ja mit Elfriede gar nicht so schlimm werden. An ihrem Hochzeitstag war sie sehr lieb gewesen.
Nele nickte und antwortete: »Das wäre schön.« Sie spürte die aufsteigenden Tränen und blinzelte.
»Ach, Liebes, nicht weinen«, sagte Johannes und wischte ihr eine Träne von der Wange. »Es wird alles gut werden, das weiß ich bestimmt. Bald schon bin ich wieder bei dir, und dann starten wir in unser gemeinsames Leben.« Er zog sie enger an sich, und seine Lippen berührten die ihren. Sie versank in seiner Umarmung und hoffte darauf, dass er recht und dieser scheußliche Spuk ein schnelles Ende haben würde. Wegen eines kleinen Landes wie Serbien konnte doch nicht die ganze Welt verrücktspielen.
Norddorf, 31. August 1914
Was für ein Tag. Nun endet er bald. In wenigen Minuten wird er Teil unserer Vergangenheit sein. Er scheint uns jedoch den Weg in eine ungewisse Zukunft bereitet zu haben. Ida hat mich heute Abend gefragt, ob es sich überhaupt noch lohne, die Betten für die zweite Belegung zurechtzumachen. Die Frage ist im Hinblick auf die vielen Absagen, die uns heute telefonisch oder telegrafisch erreichten, berechtigt. Ich habe ihr ehrlich geantwortet: Ich weiß es nicht. Ich bin müde und wünschte, Wilhelm wäre hier. Ob er Antworten finden würde? Vermutlich nicht. Aber es täte gut, von ihm in den Arm genommen zu werden und seinen Geruch einzuatmen. Schon durch seine bloße Anwesenheit hat er es oftmals geschafft, mich zu beruhigen. Jetzt ist er schon so viele Wochen nicht mehr bei mir. Es kommt mir vor, als wäre es gestern gewesen, als er von uns gegangen ist. Die Uhr hatte gerade halb vier nachmittags geschlagen, als er seinen letzten Atemzug tat. Danach war es still geworden, und ich glaubte, die Zeit müsste nun stehen bleiben. In diesem Moment tat sie es wohl auch, jedenfalls für mich. Für einen Augenblick schien die Welt in der Stille dieses Raumes erstarrt zu sein, in dem ich seinen Atem nicht mehr hörte. Wir wussten, dass es geschehen würde. Doch wenn der Tod seine Hand endgültig ausstreckt, dann ist alles anders. Auf diesen Moment kannst du dich nicht vorbereiten. Aber wenigstens durfte ich mich von ihm verabschieden. Bei Rieke konnte ich das nicht. Heute Nachmittag dachte ich an sie. Es war mal wieder Nele gewesen, die mich an sie erinnerte. Ich beobachtete sie dabei, wie sie einem Gast beim Aufsteigen auf den Wagen half. Wie sehr sie Rieke ähnelt. Sie zieht sogar manchmal dieselben Grimassen wie ihre Mutter. Darauf ansprechen darf man sie jedoch nicht. Es tut ihr weh, mit ihr verglichen zu werden. Ganz bewusst will Nele sich von Rieke abgrenzen. Es ist ihre Art, mit dem Verlust umzugehen. Und es ist ja auch richtig. Nele ist Nele und nicht eine Kopie ihrer Mutter. Hat Wilhelm das nicht auch mal zu mir gesagt? Ach, ich weiß es nicht mehr. Ich sollte schlafen gehen. Und vielleicht ist morgen der ganze Spuk mit der bevorstehenden Mobilmacherei ja wieder vorbei, und es wird doch keinen Krieg geben. Schön wäre es.
Es war früh am Tag, und der Norddorfer Bahnhof lag im Halbdunkel des ersten Morgengrauens. Trotzdem herrschte bereits dichtes Gedränge auf dem Bahnsteig. Ida hatte sich dazu bereit erklärt, eine Frau und ihre beiden Töchter – sie weilten zum ersten Mal auf Amrum und waren am gestrigen Abend mit dem letzten Dampfer aus Hamburg angereist – zurück nach Wittdün zu begleiten. Die Offiziersgattin erfuhr erst nach ihrer Ankunft davon, dass ihr Gatte bereits abgefahren war, und entschloss sich zur sofortigen Rückkehr. Ihren beiden Töchtern, acht und zehn Jahre alt, behagte dieser Umstand gar nicht. Sie hatten sich auf vier lange Wochen Sommerfrische, den Strand und das Meer gefreut und schauten entsprechend enttäuscht drein.
»Mein Friedrich gehört dem Württembergischen Regiment an«, sagte die Offiziersgattin zu Ida. »Oh, welch ein Unglück, dass mich sein Telegramm nicht mehr rechtzeitig erreicht hat. Ich kann nur hoffen, dass er noch zu Hause ist, wenn wir ankommen. Es muss sich doch um so vieles gekümmert werden.«
Ida nickte und bemühte sich darum, eine verständnisvolle Miene aufzusetzen. Ihr war die arrogant wirkende blonde Frau nicht sonderlich sympathisch, und die Kinder, die sie nicht müde wurde zu ermahnen, taten ihr leid.
Die Inselbahn fuhr ein. Ida hatte sie noch nie so lang gesehen. Die Bahn hatte ihren gesamten Wagenpark – zwei Motorenwagen, vier Personenwagen und genauso viele Gepäckwagen – gestellt, um den Ansturm der vielen Passagiere bewältigen zu können.
Die Reisenden drängten in die Wagen. Ida schaffte es, für sich, die Offiziersgattin und die beiden Kinder Sitzplätze zu organisieren. Neben ihr nahm eine ältere Dame Platz, deren Gatte aus Ermangelung eines Sitzplatzes sich in dem benachbarten Wagen auf einem Sitzplatz auf der vorderen Plattform niederließ.
»Guten Tag, die Damen«, grüßte die ältere Dame in die Runde. »Oder besser gesagt, Moin, wie man hier oben sagt. Was ein Gedränge aber auch. Es scheint, als wolle die gesamte Insel auf einen Schlag abreisen.«
»So ist es wohl auch«, erwiderte die Offiziersgattin spitz. Ihr schien nicht der Sinn nach Konversation zu stehen. Die ältere Dame bemerkte dies nicht, denn sie plapperte munter weiter: »Wir kommen aus Freiburg. Mein Mann ist dort als Musiklehrer tätig. Es könnte noch eine beschwerliche Heimreise werden.« Sie seufzte. »Meine Schwägerin hat gestern telegrafiert, dass im Reich ein rechtes Durcheinander wegen der Mobilmachung herrscht, besonders der Bahnverkehr wäre unzuverlässig.«
»Also, wir müssen in den Osten«, mischte sich ein unweit von ihnen sitzender Mann mittleren Alters in das Gespräch ein. »Ich arbeite als Pastor in einem kleinen Dorf in Ostpreußen namens Stallupönen. Wenn wir Pech haben, haben die Kosaken uns schon alles gestohlen und das Haus zerstört, bevor wir ankommen.«
Ida nickte nur, erwiderte jedoch nichts. Sie hatte in der letzten Nacht kaum geschlafen und fühlte sich erschöpft. Solche oder ähnliche Geschichten, wie sie der Mann und die ältere Dame erzählten, hatte sie gestern den ganzen Tag über gehört. Ständig hatte sie dieselben Fragen beantwortet und die gleichen Sätze wiederholt. Wann die Inselbahn fahren würde, ob es zusätzliche Fähren gäbe. Wie die Lage in Dagebüll wäre. Auf den Badeschnellzug müsste man sich verlassen können. Marta und Ida telefonierten, verteilten Telegramme, liefen von hier nach dort und wieder zurück. Immer neue Gerüchte geisterten durch die Gegend. Die Mobilmachung würde zurückgezogen, fände doch statt. Österreich-Ungarn habe Serbien den Krieg erklärt, der Kaiser Russland, oder doch nicht. Das ganze Hotel schien wie ein Taubenschlag zu sein. Eine Tatsache begann sich jedoch abzuzeichnen. Für die zweite Belegung sämtliche Zimmer zu richten war sinnlos. Die Hälfte der Reservierungen war bereits durchgestrichen, und heute würden gewiss weitere Absagen eintreffen. An den Verlust wollte Ida gar nicht erst denken. Es kam einer Katastrophe gleich.
Der Zug setzte sich in Bewegung. Leider wurde der hintere Wagenteil abgekoppelt, der wohl für einen anderen Motorenwagen bestimmt war. Dies führte dazu, dass das ältere Ehepaar getrennt wurde. Die Frau sprang sofort auf, eilte auf die hintere Plattform und begann, laut zu kreischen.
»Nein, nein. Das geht doch nicht. Anhalten. Sofort anhalten.«
Der Mann versuchte noch, durch einen schnellen Griff das Geländer des abfahrenden Wagens zu fassen, doch der Abstand war bereits zu groß. Ida, die einen Moment lang die Szene beobachtet hatte, erhob sich und legte den Arm um die Unglückliche, die zu weinen begann.
»Es wird alles gut werden, meine Liebe«, tröstete sie die Dame, die von der Situation sichtlich überfordert war. »Der andere Wagen wird sich gewiss gleich in Bewegung setzen, und in Wittdün gibt es ein Wiedersehen.«
Die Frau nickte und ließ sich nach einer Weile von Ida ins Abteil zurückführen. Dort fanden auch andere Fahrgäste tröstende Worte. Nur die Offiziersgattin schnaubte verächtlich, hielt sich jedoch mit einer abfälligen Bemerkung zurück.
In Nebel und an der Haltestelle am Kurhaus zur Satteldüne drängten weiter Fahrgäste ins Abteil. Die Luft wurde stickiger. Die Leute sprachen leise miteinander. Ein Mann hatte ein Telegramm aus England erhalten. Dort hielt man wohl einen Krieg für möglich und bereitete sich vor. Die Sonne ging auf, als sie am Leuchtturm vorüberfuhren. Ihre warmen Strahlen tauchten ihn in rotgoldenes Licht. Es würde ein schöner Sommertag werden. Normalerweise wäre sie gerade erst aufgestanden, hätte sich an den Frühstückstisch in der Hotelküche gesetzt und mit den dort zu dieser Zeit anwesenden Zimmermädchen den Dienstplan des Tages besprochen. Eines der Mädchen, ihr Name war Ina, und sie stammte von Föhr aus dem Dorf Nieblum, war schwanger. Mit ihr hatte sie besprechen wollen, wie es weitergehen würde. Ina war verlobt, die Heirat war für Ende September zum Saisonende vorgesehen gewesen. Thaisen hatte gestern gesagt, dass Inas Verlobter vermutlich zur Inselwache kommen würde wie viele Insulaner, die sich hier oben auskannten. Ida hatte sich gewünscht, dass auch Thaisen dorthin berufen und auf Amrum bleiben würde. Doch es sollte anders kommen. Für heute Nachmittag war Thaisens Abreise nach Wilhelmshaven geplant, wo er sich bei der Marine stellen musste. Tam Olsen, den Jasper gestern Abend beim üblichen Kartenspiel in der Kneipe Zum lustigen Seehund getroffen hatte, hatte sich dazu bereit erklärt, die männliche Belegschaft des Hotels aufs Festland zu bringen, damit den Männern wenigstens das Gedränge auf der Fähre erspart bliebe. Dazu zählten Thaisen, Johannes, der Gärtner Manfred, der aus Hamburg stammte und ebenfalls zur Marine musste, der Hausmeister Torben und der Barmann Sören, der aus Bremen kam und bereits seit fünf Jahren auf Amrum in verschiedenen Hotels tätig gewesen war. Seit zwei Jahren gehörte er zur Belegschaft des Hotels Inselblick. Wie es mit dem weiblichen Personal weitergehen würde, wussten sie noch nicht. Viele der Zimmer- und Küchenmädchen waren auf der Insel angeworbene Aushilfen. Vermutlich würden sie sie nach Hause schicken müssen.
Sie erreichten Wittdün. Wie befürchtet herrschte am Hafen dichtes Gedränge. Die Fähre war bereits in Sichtweite und der Anleger voller Menschen. Ida bemühte sich darum, die Offiziersgattin und ihre Kinder nicht zu verlieren. Die Fähre legte an, und der Gemeindevorsteher Wolf, der am Ende des Laufsteges stand, hatte alle Mühe damit, die Wartenden zu beruhigen. Unter ihnen war auch Schwester Anna vom Seehospiz, die eine Gruppe Kinder zur Fähre brachte. Die armen Kleinen würden die beschwerliche Heimreise allein antreten müssen. Schwester Anna entdeckte Ida im Gedränge und winkte ihr zu. Ida winkte lächelnd zurück. Es konnte noch so viel Unbill um sie herum sein, die braunhaarige Diakonissin, die seit einigen Jahren zur Sommersaison auf der Insel weilte, verlor ihre Freundlichkeit nicht. Mit der Enddreißigerin war im Seehospiz eine gute Seele eingezogen, die diesem Ort, den Ida früher stets gemieden hatte, zu einem besonderen Anziehungspunkt für sie machte.
Die von Schwester Anna betreuten Kinder waren zwischen zehn und vierzehn Jahre alt, aber auch ein paar Kleinere waren unter ihnen. Allesamt mussten nach Berlin, wie Ida erfuhr. Eines der Mädchen, Ida schätzte es auf fünf oder sechs Jahre, umklammerte fest seine Puppe. Ein älterer dunkelhaariger Junge hatte beschützend seinen Arm um das Kind gelegt. Vermutlich war er sein Bruder. Der Anblick der beiden rührte Ida, und sie dachte an ihre Tochter Leni. Dem Herrn im Himmel sei Dank, dass sie ihre Tochter nicht auf eine solch ungewisse Reise schicken musste. Es hatte lange gedauert, bis sie schwanger geworden war, und Ida war deshalb untröstlich gewesen. Ursachen für das Ausbleiben einer Schwangerschaft waren von den Ärzten, die sie konsultiert hatte, keine gefunden worden. Irgendwann hatten sie und Thaisen sich von dem Wunsch, eigene Kinder zu bekommen, verabschiedet. Thaisen litt darunter, kein Vater sein zu können. Er hatte sich stets einen ganzen Stall voller Kinder gewünscht. Ida stürzte sich in die Hotelarbeit, und er baute seine Werkstatt weiter aus. Ein Jahr darauf wurde Ida dann überraschenderweise doch schwanger, und nun brachte ihr kleiner Wirbelwind alles durcheinander.
Die Fähre legte an. Die wenigen ankommenden Reisenden hatten Mühe, sich auf den Anleger und durch das dichte Gedränge der abreisenden Passagiere zu kämpfen. Der Dampferkapitän trat neben den Gemeindevorsteher, und die beiden begannen, die an Bord gehenden Passagiere abzuzählen. Auch die Schützlinge von Schwester Anna und die Offiziersgattin und ihre Kinder waren unter ihnen. Als die polizeilich genehmigte Höchstzahl an Passagieren erreicht war, rief der Dampferkapitän laut »Halt« und hielt ein junges Ehepaar zurück. »Wir sind voll. Sie müssen auf die nächste Fähre warten.« Die Menschen murrten, irgendjemand schimpfte lautstark, dass das eine Sauerei wäre. Schwester Anna streckte und reckte sich, damit sie noch einen Blick auf ihre Schützlinge erhaschen konnte. Sie winkte und wünschte eine gute Reise. Die Fähre legte ab, und die meisten Wartenden verließen den Anleger. Die nächste Fähre nach Dagebüll würde erst wieder am späten Nachmittag eintreffen. Einige Reisende würden die Insel aber auch über den Anleger in Norddorf verlassen. Von dort aus ginge es nach Sylt und dann mit dem Salonschnelldampfer über Helgoland weiter nach Hamburg. Wie lange dieser Weg den Reisenden jedoch noch offenstand, das wusste niemand. Sollte der Krieg in den nächsten Stunden tatsächlich Gewissheit werden, würde diese Route mit Sicherheit gesperrt.
Ida verließ gemeinsam mit Schwester Anna den Bereich des Anlegers. Die Diakonissin rückte ihre weiße Haube zurecht, die in dem Trubel verrutscht war.
»Geht es nun gleich wieder zurück nach Norddorf?«, fragte Schwester Anna.
»Nein«, antwortete Ida. »Ich wollte ein geliehenes Buch zu Frauke in die Bücherei bringen, und es stehen noch Besorgungen in der Apotheke an.«
»Dann haben wir ja beinahe den gleichen Weg«, antwortete die Diakonissin lächelnd. »Jedenfalls, was die Apotheke angeht. Obwohl ich mir auch mal wieder ein Buch bei Frau Schamvogel leihen könnte. Zumeist bringt sie mir die Lektüre ins Hospiz, denn mir fehlt die Zeit, um nach Wittdün zu fahren, und sie weiß, wie gern ich lese. Besonders Kriminalgeschichten haben es mir angetan.«
Ida lächelte. Dass Schwester Anna in Literaturdingen auf Mord und Totschlag stehen würde, das hätte sie ihr nicht zugetraut. Die beiden Frauen machten sich auf den Weg zum Direktionsgebäude, in dem die Gemeindebibliothek im ersten Stock untergebracht war. »Besonders die Geschichten von E. Seller gefallen mir. Sie schreibt äußerst spannend. Und es ist nett, dass einige Romane auf Sylt spielen. Vielleicht hat sie ja auch mal Lust, einen Roman auf Amrum anzusiedeln. Das wäre wunderbar.«
Ida zuckte bei der Erwähnung des Namens Seller kurz zusammen. Sie erinnerte sich an die Schriftstellerin, die sich unmöglich benommen hatte und ihnen während ihres Aufenthaltes vor einigen Jahren mit ihrer aufdringlichen Art schrecklich auf die Nerven gegangen war.
»Vielleicht«, antwortete Ida und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Sie behielt jedoch für sich, dass besagte Autorin durchaus in Betracht gezogen hatte, Amrum als Handlungsort auszuwählen. Hatte nicht Frauke damals gesagt, wir würden den Umstand, sie vertrieben zu haben, eines Tages bereuen? Obwohl sie noch nie von Roman-Touristen auf Sylt gehört hatte. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass es besonders erhebend sein könnte, eine Düne zu besichtigen, hinter der eine Leiche gefunden worden war.
Sie erreichten das Direktionsgebäude, in dem sich auch die Apotheke befand. Ida hatte von Marta den Auftrag bekommen, eine Arnikasalbe für Ebbas Knöchel zu besorgen. Der Arzt hatte, einen Bruch betreffend, Entwarnung gegeben, aber mit einer kräftigen Verstauchung wäre nicht zu spaßen. Die nächsten Tage musste Ebba den Fuß ruhig halten, was ihr naturgemäß sehr schwerfiel. Wer sollte denn die Heißwecken für die Gäste backen? Marta hatte ihr hoch und heilig versprechen müssen, dies selbst zu tun, denn Ebba war der Meinung, dass Gesine nicht in der Lage dazu war, anständige Heißwecken herzustellen.
Nachdem die Besorgungen in der Apotheke erledigt waren, betraten Ida und Schwester Anna die Bücherei. Frauke Schamvogel saß allein am Empfangstisch, auf dem sich Unmengen von Büchern stapelten.
»Du liebe Güte, Frauke«, sagte Ida, nachdem sie gegrüßt hatte, »sind das etwa alles Retouren?«
»Was sonst«, erwiderte Frauke mit säuerlicher Miene. »Reisen ja alle ab. Moild, meine Aushilfe, ist gerade unterwegs und holt weitere Bücher in den Hotels ab, die dort bei den Rezeptionen hinterlegt wurden. Es wird Tage dauern, bis ich sie wieder in die Regale einsortiert habe. Und das alles ausgerechnet heute, wo mich mal wieder diese scheußlichen Kopfschmerzen plagen.« Frauke griff sich an die Schläfen, und das Monokel, das sie trug, fiel auf den Bibliothekskatalog. Eine tiefe Falte stand zwischen ihren Augenbrauen. Idas Blick wurde mitleidig. Nur zu gern hätte sie Frauke geholfen, doch heute fehlte ihr die Zeit dafür. Schließlich musste sie sich am Nachmittag von Thaisen verabschieden.
»Und wenn Sie morgen Ihre Arbeit fortsetzen?«, schlug Schwester Anna vor. »Ich könnte Ihnen am Nachmittag für zwei Stunden zur Hand gehen.«
»Morgen hätte auch ich Zeit«, sagte Ida. »Die Bücher laufen doch nicht weg, oder?«
Frauke ließ ihren Blick über die Bücherstapel schweifen, dann nickte sie. »Du hast recht, Ida. Die Bücher laufen nicht davon. Es ist sehr lieb, dass ihr mir eure Hilfe anbietet.«
»Wir helfen gern«, antwortete Schwester Anna. »Und zufälligerweise habe ich gerade in der Apotheke Aspirin besorgt. Wenn Sie möchten, hole ich schnell ein Glas Wasser, und Sie nehmen gleich eine Tablette. Gewiss geht es Ihrem Kopf dann schon bald wieder besser.«
»Das ist sehr lieb von Ihnen«, antwortete Frauke und wandte sich dann Ida zu. »Wie sieht es denn im Hotel aus?«
»Frag lieber nicht«, antwortete Ida. »Alle Gäste reisen ab, und es herrscht ein rechtes Durcheinander. Mama ist untröstlich. Ebba ist schlecht gelaunt, weil sie nicht rumlaufen kann, und fährt jeden an, der ihr zu nahe kommt. Die Zimmermädchen richten gerade die Zimmer für die zweite Saisonbelegung, aber ob da überhaupt noch Gäste anreisen werden, ist fraglich. Den ganzen Tag hagelt es Absagen. Unser gesamtes männliches Personal hat uns im Stich gelassen. Nur Jasper ist noch da. Thaisen und Johannes werden heute Nachmittag abreisen. Thaisen muss nach Wilhelmshaven zur Marine, und Johannes muss sich bei seinem Regiment stellen.«
Frauke nickte und stand auf. »Weißt du was«, sagte sie. »Ich komme mit dir nach Norddorf und gehe Marta und euch ein wenig zur Hand. Und wenn ich nur Ebba aufheitere.«
»Das wäre schon genug Hilfe. Kuchen haben wir auch noch in Hülle und Fülle, sollte dir der Sinn nach etwas Süßem stehen. Wir hatten für heute Nachmittag ein Kaffeekränzchen für die Damen geplant. Nur leider gibt es jetzt keine Damen mehr, die kommen könnten. Entweder sind sie bereits abgereist oder im Begriff, es zu tun.«