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Spontan verreisen, einfach weil Sie Lust darauf haben. Jeden Tag ausgedehnt frühstücken, weil kein Chef nach Ihnen ruft. Nie wieder ein schlechtes Gewissen haben, wenn Sie mal gar nichts tun. Klingt wie ein Traum? Mitnichten! Schon Udo Jürgens wusste: »Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an.« Und daran hält sich auch Jürgen Brater, wenn er in Ich bin alt, ich darf! das von all den komisch-absurden Abenteuern erzählt, die man als Rentner tagtäglich erlebt. Begleiten Sie ihn dabei, wenn er auf Altersgenossen wie Brigitte trifft, die meinen, stets alles schlechtreden zu müssen. Oder wenn er mit seinem besten Freund Wolfgang beim Stammtisch über das Leben im Unruhestand sinniert. Da werden schon mal unliebsame Bekannte in die Wüste geschickt, die Nacht zum Tag gemacht oder alte Zerwürfnisse endlich aus der Welt geschafft. Denn was ist das Beste am Älterwerden? Genau: Die wundervolle Freiheit, alles zu dürfen und nichts mehr zu müssen!
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Seitenzahl: 285
Jürgen Brater
ICH BIN ALT,ICH DARF DAS!
Jürgen Brater
ICH BIN ALT,ICH DARF DAS!
Von der wundervollen Freiheit, nicht mehr jung sein zu müssen
riva
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Originalausgabe
1. Auflage 2022
© 2022 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
Türkenstraße 89
80799 München
Tel.: 089 651285-0
Fax: 089 652096
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Redaktion: Petra Holzmann
Umschlaggestaltung: Manuela Amonde
Umschlagabbildung: Shutterstock.com/Roman Samborskyi, Anton Mukhin
Satz: Daniel Förster, Belgern
Druck: CPI
eBook by tool-e-byte
ISBN Print 978-3-7423-2101-5
ISBN E-Book (PDF) 978-3-7453-1873-9
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-7453-1874-6
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»Alt werden ist eine großartige Freiheit.«
Claire Bretécher,französische Autorin, 1940–2020
Inhalt
Die Freiheit nehm ich mir
Das größte Geschenk: Zeit
Immer länger alt
Ein Freund, ein guter Freund
Ab in die Wüste!
Besser spät als nie
Altersmilde heißt Verzeihen
Alter schützt vor Torheit nicht
Mark Twain hat recht
Cool bleiben!
Macht Ruhestand krank?
Tu’s doch einfach!
Das kleine Wörtchen »Danke«
Was heißt schon gesund?
Nein heißt Nein
Nichts als die Wahrheit …
Auf der Pasithea
Muss das sein?
Zeit, zu genießen
Nach mir die Sintflut
Corona: Vom Glück, nicht mehr jung sein zu müssen
»Jetzt sind die guten alten Zeiten, nach denen wir uns in zehn Jahren zurücksehnen.«
Peter Ustinov,britischer Schauspieler und Schriftsteller, 1921-2004
Montagmorgen.
Durch halb geschlossene Lider blinzle ich zur Uhr auf dem Nachtkästchen. Dabei weiß ich genau, dass es halb sieben ist, ein paar Minuten hin oder her. So wie jeden Morgen. Auf meine Blase ist halt Verlass. Seufzend schäle mich aus dem Bett und tappe zur Toilette. Drei Minuten später krieche ich wieder unter die warme Decke. Ein Blick zur Seite: Ella hat die Augen noch fest geschlossen. Das bedeutet, ich soll sie bitte nicht ansprechen. Im Wegdösen höre ich, wie im Nachbarhaus die Rollläden hochgezogen werden und der junge Mann aus dem Stockwerk über uns die Treppe herunterkommt. Die Arbeit ruft. Ihn, mich nicht. Einen kurzen Moment blitzt in mir der gehässige Wunsch auf, ihm viel Spaß im Job zu wünschen, doch nein, das würde ich selbst dann nicht tun, wenn ich dazu nicht ins Treppenhaus schlappen müsste. Schließlich ist mir durchaus an einer harmonischen Nachbarschaft gelegen.
Kurz denke ich daran, dass ich früher um diese Zeit auch schon eine ganze Weile zugange war, dann schlummere ich wieder ein. Als ich das nächste Mal erwache, ist es kurz nach acht. Ich denke noch eine Weile über meinen letzten Traum nach, dann wende ich mich Ella zu, die mich jetzt fröhlich anlächelt. Wir geben uns einen Guten-Morgen-Kuss, dann stehe ich auf, schlüpfe in meinen Bademantel und schlurfe die Treppen hinunter zum Briefkasten, um die Tageszeitung zu holen. Während ich meinen Blick gähnend über die Schlagzeilen wandern lasse, höre ich, wie Ella in der Küche die Kaffeemaschine in Gang setzt. Im Bett treffen wir uns wieder. Ich teile die Zeitung in zwei Hälften, und dann lesen wir beide - jeder hin und wieder an dem dampfenden Getränk nippend -, was es auf der Welt Neues gibt. Abwechselnd geben wir zu diesem und jenem Ereignis Kommentare ab, Ella liest mir den Wetterbericht vor, und ich freue mich, dass der heimische Fußballverein sein Auswärtsspiel gewonnen hat.
Das geht so bis etwa neun, halb zehn, dann stehen wir endgültig auf. Nachdem wir uns nacheinander im Bad zurechtgemacht oder - etwa jeden dritten Tag - geduscht haben, bereitet Ella, eine Melodie vor sich hin summend, das Frühstück vor, und ich mache mich auf den Weg zum nahe gelegenen Bäcker. Dort kaufe ich, wie jeden Morgen, drei Krustenbrötchen, erkundige mich bei der freundlichen Verkäuferin, während sie die Backwaren einpackt und mir Wechselgeld herausgibt, nach ihren kleinen Zwillingen, und bin eine Viertelstunde später schon wieder zu Hause. Vom Esstisch duften mir Wurst, Käse, Marmelade und ein frisch gekochtes Ei entgegen. Orangensaft leuchtet gelb aus zwei Gläsern. Das Frühstück ist für Ella und mich die tägliche Lieblingsmahlzeit, die wir, weiter Zeitung lesend, das darin enthaltene Kreuzworträtsel lösend und über dieses und jenes plaudernd, locker auf eineinhalb bis zwei Stunden ausdehnen können. Und während ich genüsslich in ein knuspriges Brötchen beiße, frage ich Ella, was heute ansteht. Das ist außer einem Termin beim Physiotherapeuten - Ella hat seit ein paar Wochen Probleme mit ihrem rechten Ellenbogen - nicht viel, darum beschließen wir, das schöne Wetter zu nutzen und zuerst einmal einen ausgiebigen Spaziergang durch den nahen Wald zu unternehmen.
Auf halber Strecke steht dort eine Bank mit in Herzen eingeritzten Initialen ehemaliger und aktueller Liebespaare, manche sogar mit exakter Datumsangabe. Dort legen wir eine Pause ein und lassen den Blick über eine von Gebüsch umgebene Wiese schweifen, auf der um diese Zeit immer mal wieder Rehe zu sehen sind. Doch heute bleibt die Bühne leer. Nur ein Hase hoppelt unschlüssig mal hier-, mal dorthin. Sieht aus, als suche er etwas. Ein Geschlechtspartner kann es um diese Jahreszeit eigentlich nicht sein. Aber wer weiß schon, was in so einem Hasenhirn vorgeht? Auf dem Weiterweg lässt sich kurz ein Eichhörnchen blicken, das an einer Douglasie hochsaust, dann ist es auch schon wieder im Geäst verschwunden. Wenige Minuten später hören wir von fern das charakteristische Klopfen eines Schwarzspechts und kurz darauf auch seinen unverwechselbaren Ruf. Wer mit wachen Sinnen durch die Natur geht, für den ist sie wie ein Theater. Stets gibt es etwas Neues zu sehen und zu hören und manchmal sogar zu riechen. So wie etwa eine knappe halbe Stunde später, als uns am Rand einer Fichtendickung das unverkennbare Aroma von Suppenwürze entgegenschlägt. Schwarzwild! Die Sauen müssen ganz in der Nähe stecken. Mein Jägerherz schlägt schneller, aber Ella hat keine Lust auf ein Zusammentreffen mit den borstigen Gesellen, und so spazieren wir weiter, ohne der Sache auf den Grund zu gehen.
Mein Smartphone piept: WhatsApp-Nachricht. Ich blicke auf das Display und lese Ella die Meldung vor: »Hallo, ihr zwei Hübschen. Wir treiben uns mit unserem Camper gerade am Lago Maggiore herum. Hättet ihr nicht Lust, auch zu kommen? Das Wetter ist traumhaft, und wir könnten ein paar vergnügte Tage miteinander verbringen. Liebe Grüße M. u. M.«
M. u. M., das sind Michael und Michaela. Zwei alte Freunde aus Augsburg, mit knapp über 70 etwa gleich alt wie wir. Früher haben Bekannte sie immer wieder damit aufgezogen, sie hätten sich bestimmt nur wegen der Namensgleichheit zusammengetan, aber die Geschichte fand irgendwann niemand mehr witzig, und seither freuen Ella und ich uns jedes Mal aufrichtig, wenn wir von den beiden hören. Seit ungefähr drei Jahren nutzen sie die Freiheit des Rentnerlebens, um mit ihrem Wohnmobil kreuz und quer durch Europa zu touren. Und ein paarmal haben wir uns tatsächlich irgendwo verabredet, haben selbst ein solches Gefährt gemietet und fröhliche Tage miteinander verbracht. Etwa auf Usedom, im Bayerischen Wald am Fuß des Großen Arbers, aber auch weiter weg in Apulien und der Provence. Das letzte Mal am Plattensee in Ungarn.
»Lago Maggiore«, sage ich zu Ella und blicke sie verträumt an. »Da ist der Comer See nicht weit.«
»Du meinst ...?«, fragt sie nachdenklich.
»Warum nicht?« Ich nicke lächelnd. »Wir waren länger nicht mehr bei Gianna und Damiano. Hättest du Lust?«
Gianna heißt mit vollem Namen Gianna Loredani. Gemeinsam mit ihrem Mann Damiano betreibt sie oberhalb des Comer Sees ein prächtiges Agriturismo, also so etwas wie einen Ferien-Bauernhof, wobei es sich genau genommen eher um eine kleine Obstplantage handelt, der ein uriges Restaurant, ein kleines Schwimmbecken und mehrere Gästezimmer angeschlossen sind. Ella und ich haben dort schon mehrfach wundervolle Tage verbracht und mit Rotwein am Pool den herrlichen Ausblick auf den See und anschließend Giannas Kochkünste genossen: Pasta in allen möglichen Variationen, Fleischgerichte wie Ossobuco, Tagliata di Manzo oder Saltimbocca alla Romana, Fisch gekocht und gebraten, und nicht zuletzt Ellas Favoriten: köstliche Meeresfrüchte mit allerlei duftenden Zutaten. Mittlerweile sind wir mit den Gastgebern per Du, und ich bin sicher, dass sie uns, wenn ich jetzt anriefe, mit Freude ein paar Tage bei sich aufnähmen, um uns zu verwöhnen. Wir könnten Schiffstouren auf dem See machen, stundenlang durch das wunderschöne Bellagio bummeln, in einem dortigen Restaurant am See tafeln und uns dabei den einen oder anderen guten Tropfen munden lassen. Wirklich verlockende Aussichten.
Ella wiegt den Kopf nachdenklich hin und her. »Klingt echt super. Aber denk an meine Physiotherapie. Und du hast am Freitag einen Zahnarzttermin.«
»Ließe sich beides problemlos verschieben.«
»Ja, sicher.« Sie denkt einen Augenblick konzentriert nach. Das erkennt man bei ihr daran, dass sie dabei immer die Augen nach oben dreht, so, als fände sie am Himmel die Erleuchtung. Dann spricht sie weiter: »In 14 Tagen feiert Ludwig seinen Siebzigsten. Da haben wir zugesagt. Der wäre bitter enttäuscht, wenn ...«
Ich lasse sie nicht ausreden. »Da wären wir längst wieder zurück. Also, was ist?«
Sie lächelt mich lieb an. »Bist du mir böse, wenn ich Nein sage? Ich hab’ irgendwie grad keine Lust zum Verreisen. Ich weiß auch nicht, warum.«
Ich lege meinen Arm um sie und ziehe sie ein wenig näher zu mir her. »Ach wo. Dann eben ein andermal. Aufgeschoben ist bekanntlich nicht aufgehoben. Aber ...« Ich drücke ihr einen Kuss auf die Nasenspitze.
»Aber was?«
»Ist es nicht herrlich, jederzeit einfach so mir nichts, dir nichts abhauen zu können? Ohne große Planung und Vorbereitung, einfach so?«
»Das stimmt«, pflichtet Ella mir bei. »Und ohne zu wissen, wann man wieder zurückkommt. Das hat schon was.«
Und während sie das sagt, tippe ich in mein Smartphone: »Lieb gemeint, danke. Aber zurzeit haben wir schlicht keinen Bock auf Reisen. Ein andermal gern. Euch noch viel Spaß in Bella Italia.«
»Liebst du das Leben? Dann vergeude keine Zeit, denn daraus besteht das Leben.«
Benjamin Franklin,amerikanischer Schriftsteller und Staatsmann, 1706-1790
Tatsächlich haben wir das schon öfter gemacht. Ganz spontan verreisen, meine ich. Meist mit einem halbwegs konkreten Ziel, mehrfach aber auch einfach drauflos, ohne zu wissen, wo der Ausflug enden würde. Und wann.
Das ist vielleicht das Beste am Ruhestand: dass man auf einmal jede Menge Zeit hat. Dass man ganz spontan, gewissermaßen aus dem Bauch heraus, entscheiden kann, was man tun will. Ja, dass man sogar auch dann kein schlechtes Gewissen haben muss, wenn man mal gar nichts tut. Weil man deswegen niemandem Rechenschaft schuldet. Und natürlich auch, dass »Stress« auf einmal ein Fremdwort ist.
Das wird mir schon am nächsten Morgen wieder sehr bewusst, als ich durchs Treppenhaus zum Briefkasten tappe, um die Zeitung zu holen. Da treffe ich nämlich auf Philipp. Der wohnt in unserem Haus im zweiten Stock, ist Realschullehrer und hat mir so früh am Tag gerade noch gefehlt. Wie erwartet, fängt er bei meinem Anblick sofort an, heftig zu jammern. Über die Scheißschule mit dem Scheißschulleiter und vor allem den Scheißschülern, die sich für nichts, aber auch gar nichts interessieren. Dabei ist Biologie doch ein hoch spannendes Fach, und Chemie nicht minder. Findet jedenfalls Philipp. Dass ich einmal von einem Bekannten, zufällig Vater einer seiner Schülerinnen, erfahren habe, Philipp strahle nach Aussage seiner Tochter permanent eine geradezu penetrante Lustlosigkeit aus und mache einen derart stinklangweiligen Unterricht, dass ihm - wie bei einer Predigt in der Kirche - beim besten Willen niemand zuhören könne, binde ich ihm jetzt besser nicht auf die Nase. Sonst wird es heute nichts mehr mit Frühstück. Fast habe ich schon gehofft, er würde sich wenigstens die sonst übliche Bemerkung verkneifen, wie gut ich es als Ruheständler doch hätte, so ganz ohne Vorgesetzte, Stress und ebenso undankbare wie unbelehrbare, dazu noch katastrophal schlecht erzogene Halbwüchsige. Doch da habe ich mich zu früh gefreut. Während Philipp sich in seine üblichen Tiraden hineinsteigert, wird er immer lauter und gestikuliert immer wütender. Jetzt wird er gleich für Lehrer den Ruhestand mit 50 fordern, geht es mir kurz durch den Kopf, doch da blickt er auf die Uhr, erschrickt sichtlich und lässt mich grußlos stehen.
»Augen auf bei der Berufswahl«, bin ich noch versucht, ihm nachzurufen, aber wozu? Was soll das bringen? Es gibt nun mal solche Null-Bock-Typen, denen es niemand recht machen kann, die an allem und jedem etwas auszusetzen haben. Kein Wunder, dass Philipps letzte Freundin ihm auch schon wieder weggelaufen ist. Ich zucke mit den Schultern und steige leise pfeifend die Treppe zu unserer Wohnung hinauf. Und dabei geht mir wieder das spontane Verreisen durch den Kopf.
Das letzte Mal war der aktuelle Anlass eine abendliche Fernsehsendung über die Schlei und die malerischen Orte an ihrem Ufer. »Da müssen wir auch mal hin«, säuselte Ella mit verträumtem Gesichtsausdruck und sprach mir dabei aus der Seele. Das »mal« war dann schon am nächsten Tag, einem Mittwoch. Die Zeiten, in denen wir derartige Aktionen, wenn überhaupt, nur am Wochenende in Angriff nehmen konnten oder lange im Voraus planen mussten, sind Gott sei Dank vorbei. Beim Frühstück blickten wir uns kurz an und wussten, wir dachten beide dasselbe. Die Koffer packen, online ein Hotel buchen und die Wohnung grob in Ordnung bringen, dauerte keine Stunde. Dann saßen wir im Auto und los ging’s. Zum Glück habe ich am Autofahren nach wie vor so viel Spaß, dass ich beim Einbiegen auf die A7 aus lauter Übermut das Radio lauter drehte und den Song, der gerade gespielt wurde, vergnügt mitsang. (Nur in fremden Großstädten fühle ich mich am Steuer zunehmend unwohl.)
Da wir es wirklich nicht eilig hatten und mich - das gebe ich ehrlich zu - lange Autofahrten von Jahr zu Jahr mehr anstrengen, unterbrachen wir am Nachmittag die Fahrt, mieteten uns für eine Nacht in einem schnuckeligen Landgasthof ein, wo wir nach einem ausgiebigen Spaziergang entlang eines schmalen Flüsschens ein ausgezeichnetes Abendessen mit Bier (ich) und Wein (Ella) sowie einem Verdauungsschnaps (wir beide) genossen. Dann gingen wir zu Bett und versuchten, noch ein wenig zu lesen. Doch daraus wurde nichts, weil uns beiden schon nach einer Viertelstunde die Augen zufielen. Am nächsten Morgen - ich weiß, das klingt jetzt fast ein wenig kitschig - wurden wir von der Sonne, zwitschernden Vögeln und dem Plätschern des Flüsschens geweckt. Kurz erwogen wir, den Hotelaufenthalt an der Schlei zu verschieben und noch ein paar Tage zu bleiben, doch dann entschlossen wir uns dagegen und setzten nach einem üppigen Frühstück unsere Fahrt fort. Unterwegs statteten wir noch dem Vogelpark in Walsrode einen Besuch ab und legten eine längere Pause am Nord-Ostsee-Kanal ein, wo ich immer wieder vom Anblick riesiger Frachtschiffe fasziniert bin, die quer durchs Land zu fahren scheinen. Am frühen Abend kamen wir schließlich in Kappeln an der Schlei an.
Kappeln ist ein wirklich hübsches, maritim anmutendes Städtchen. Gepflegte Häuser in schmalen Gassen mit einladenden Restaurants und eleganten Boutiquen, dazu ein Hafen, in dem uns neben zahlreichen schicken Privatbooten mehrere alte Traditionssegler imponierten. Während wir in einem Café das schöne Wetter, den Geruch nach Meer und die Schreie der Möwen genossen, meldete sich mein Smartphone. Unsere Tochter fragte an, ob wir schon absehen könnten, wann wir wieder nach Hause kämen.
»Spätestens, wenn es uns hier nicht mehr gefällt«, schrieb ich zurück. Und fügte nach kurzem Überlegen an: »Das kann dauern.«
Wir unternahmen stundenlange, von allerlei Pausen in diversen Lokalen unterbrochene Radtouren entlang der Schlei und hatten bei einer Wanderung durch das Naturschutzgebiet Geltinger Birk sogar das Glück, eine Herde Wildpferde, die berühmten Koniks, beobachten zu können. So wurden aus der ursprünglich geplanten einen Woche zwei. Das ist kein Problem, denn bei uns im Haus wohnt eine junge Dame, die sich, wenn man ihr eine entsprechende Nachricht schickt, gerne um unsere Post und die wenigen Zimmerpflanzen kümmert. Auf dem Nachhauseweg besuchten wir dann noch Verwandte in Bremen, mit denen wir eine Schifffahrt entlang der Flaniermeile Schlachte bis in die stadtbremischen Häfen unternahmen, dann ging es weiter zu einer alten Freundin von Ella, die heute mit ihrer Familie in der Nähe von Kassel lebt. Jeweils mit einem sehr vergnügten Abend, einer anschließenden Übernachtung und einem ausgiebigen Frühstück am nächsten Morgen.
Zwei Jahre zuvor hatten wir das Ganze - ich meine das spontane Verreisen mit unbestimmtem Ende - noch mehr auf die Spitze getrieben. Als M. und M. uns einluden, doch nach Südtirol zu kommen, wo sie sich gerade mit ihrem Camper aufhielten, zögerten wir nicht lange, mieteten kurzerhand ein kleines Wohnmobil und waren schon am übernächsten Tag bei ihnen. Und dann verlebten wir gemeinsam wunderbare Tage unter der italienischen Sonne mit leckerem Essen in urigen Lokalen und reichlich Rotwein. Nach einer knappen Woche ging es weiter in die Toskana, wo unsere Freunde bei Siena einen sehr hübschen Campingplatz kannten. Wir besuchten Florenz, hatten unseren Spaß am Schiefen Turm von Pisa und vertilgten in Lucca derartige Mengen diverser italienischer Eissorten, dass Ella sich in einem Gebüsch am Rand des Parkplatzes übergeben musste. Als wir endlich wieder die Heimfahrt antraten, waren sage und schreibe fast vier Wochen vergangen. Aber warum auch nicht? Schließlich wartete ja niemand auf uns, beziehungsweise konnten Kinder und Enkel ruhig ein bisschen länger warten.
Ist es nicht herrlich, so viel freie Zeit zu haben, über die man nach Belieben verfügen kann? Wobei diese mit spontanen Reisen zu verbringen, ja nur eine von unendlich vielen Möglichkeiten ist. So könnte ich etwa, wenn ich wollte, Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit von Anfang bis Ende lesen - immerhin mehr als 4000 Seiten. Vielleicht sogar in Originalsprache, was bei meinen allenfalls mittelmäßigen Französischkenntnissen sicher Jahre dauern würde. Verstehen Sie mich recht: Nicht, dass ich das ernsthaft vorhabe, aber es wäre ohne Weiteres möglich. Zeit für ein solches Vorhaben hätte ich jedenfalls mehr als genug. Ich finde überhaupt, dass allein schon das Wissen, sich ganz spontan, das heißt, ohne längere Vorausplanung, für etwas entscheiden zu können, und zwar auch dann, wenn sich das nicht in wenigen Tagen erledigen lässt, noch reizvoller ist als das konkrete Vorhaben selbst. Zwar hat der irische Dichter Jonathan Swift - das ist der mit Gullivers Reisen - einmal gesagt: »Was nützt die Freiheit des Denkens, wenn sie nicht zur Freiheit des Handelns führt?«, aber das sehe ich vollkommen anders. Allein schon morgens weckerlos aufzuwachen, ohne dass einen irgendwelche Verpflichtungen - bei mir war das ein Patiententermin nach dem anderen - aus dem Bett treiben, und dann erst beim Frühstück zu überlegen, was man den lieben langen Tag unternehmen könnte, ist für mich Luxus pur - den Ella und ich entsprechend genießen. Ich komme auf die vielen Möglichkeiten, die die üppige Freizeit mit sich bringt, noch in einem separaten Kapitel ausführlich zu sprechen.
Wobei das mit der üppigen Freizeit insofern ein zweischneidiges Schwert ist, als jedes Jahr gefühlt ein bisschen schneller vergeht als das vorausgegangene. Die Erfahrung haben Sie sicher auch schon gemacht. Besonders bewusst wird mir dieses Phänomen immer, wenn Ella mal wieder fragt: »Was machen wir eigentlich an unserem Hochzeitstag?« Dann habe ich regelmäßig das Gefühl, mich mit dem leidigen Thema doch erst vergangene Woche auseinandergesetzt zu haben. Was natürlich Blödsinn ist. Denn das letzte Gespräch, unser Ehejubiläum betreffend, liegt tatsächlich schon wieder ein Jahr zurück. »Die Jahre werden schneller, wenn sie knapper werden«, hat der Abt eines Benediktinerklosters hier in der Nähe einmal gesagt, und von Curd Jürgens stammt der Spruch: »Es ist wichtiger, den Jahren mehr Leben zu geben als dem Leben mehr Jahre.«
Ich selbst nütze meine altersbedingte Freiheit besonders gerne für mein liebstes Hobby, die Jagd. Im Sommer stehe ich - vollkommen freiwillig - nicht selten mitten in der Nacht, so gegen drei Uhr, auf und genieße dann auf einem Hochsitz am Waldrand ein vielstimmiges Vogelkonzert, während die Sonne langsam über den Horizont steigt. Dabei suchen meine Augen unablässig die Umgebung danach ab, ob sich vielleicht eine Rotte Wildschweine zeigt, die aus dem Getreide wieder zurück Richtung Wald zieht, eine Ricke mit ihren gepunkteten Kitzen oder ein, zwei Waschbären, von denen es hier seit Jahren immer mehr gibt. Genauso schön ist aber auch ein Ansitz am späten Abend, ganz besonders im Winter. Gibt es ein eindrucksvolleres Schauspiel, als wenn das Mondlicht die Schneekristalle wie Millionen Diamanten funkeln lässt? Wenn dann noch ein Waldkauz sein unheimliches »Huhuuu« durch die Nacht erklingen lässt und ein Fuchs auf der Suche nach einem fortpflanzungswilligen Weibchen über eine weiße Wiese schnürt - also, das ist sowas von großartig, Sie können es sich nicht vorstellen!
Allein schon der stundenlange Aufenthalt im Wald. Ganz allein, ohne dass mich jemand anspricht. Das satte Grün ringsum, die frische Luft, das wundervolle Gefühl, mit der Natur eins zu sein. Vogel- und andere Tierstimmen, und nicht zuletzt der einzigartige, immer wieder wechselnde Geruch. Einfach herrlich! Die Japaner haben aus dem Wissen um die beruhigende Wirkung sogar ein eigenes Therapiekonzept für gestresste Stadtbewohner entwickelt: das Waldbaden. Davon haben Sie sicher schon mal gehört. Man schlendert langsam zwischen den Bäumen hindurch und achtet dabei auf sämtliche Sinneseindrücke: wie es um einen herum aussieht, wie es sich anhört, wie es riecht und vor allem, wie man sich fühlt. Das allein trägt schon wesentlich zur wohltuend entspannenden Wirkung bei. Aber das ist noch nicht alles. Wissenschaftler haben nämlich nachgewiesen, dass das Grün der Bäume die Konzentration von Stresshormonen im Blut herabsetzt und dass bestimmte Duftstoffe, mit denen Pflanzen untereinander kommunizieren, sogenannte Terpene, die natürlichen Killerzellen anregen und so das Immunsystem stärken. Das Ganze, wohlgemerkt, ohne große körperliche Anstrengung, also ohne Joggen oder gymnastische Einlagen. Also für uns Ältere geradezu ideal. Allenfalls gelegentliche Meditations- und Atemübungen sind vorgesehen. Untersuchungen zeigen, dass auch noch Tage nach dem Aufenthalt im Wald der Stresshormon-Level niedriger und die Zahl der Immunzellen erhöht ist. Wenn man das weiß, hält man sich doch gleich noch lieber in der freien Natur auf.
Diese nächtlichen Aktionen kann ich aber nur deshalb uneingeschränkt genießen, weil ich weiß, dass ich die mich am darauffolgenden Tag unweigerlich überfallenden Müdigkeitsphasen jederzeit mit einem Schläfchen überbrücken kann - gerne auch mehrfach. Und zwar nicht nur am Samstag oder Sonntag, sondern auch mitten in der Woche. Doch auch an Tagen ohne vorausgehenden Nachtansitz gönne ich mir gerne mal einen kurzen Schlummer, einfach, weil mir gerade danach zumute ist, dazu noch regelmäßig nach dem Mittagessen einen sogenannten Power Nap. Wobei die Betonung auf »kurz« liegt. Denn länger als etwa eine Viertelstunde sollte das Schläfchen nicht dauern. Neuere Untersuchungen empfehlen als ideale Zeitspanne sogar nur zehn Minuten. Entscheidend ist, dass man dabei über die erste Einschlafphase nicht hinauskommt.
»Das wäre nichts für mich«, hat mir erst kürzlich Christian, ein alter Jagdfreund, erklärt, als ich ihm von der erholsamen Wirkung eines solchen Nach-Mittagessen-Schläfchens vorgeschwärmt habe. »Wenn ich erst mal einpenne, wache ich vor zwei Stunden nicht mehr auf. Und bin dann kaputter als vorher.«
»Alles Trainingssache«, habe ich ihn beruhigt. »Es kommt tatsächlich darauf an, dass du nicht in einen Tiefschlaf abgleitest, bei dem sich dein Kreislauf verlangsamt und dein Blutdruck absackt. Aus einer solchen Schlafphase erwachst du nämlich zwangsläufig in total matschigem Zustand. Schlaftrunkenheit nennt man sowas. Nach einem Power Nap bist du dagegen sofort wieder voll da. Dauert ein bisschen, bis sich dein Körper daran gewöhnt hat, danach empfindest du das tägliche Nickerchen aber als herrlich entspannende Wohltat - und willst bestimmt nicht mehr darauf verzichten. Einfach die ersten Male einen Wecker stellen. Und wenn’s läutet, unbedingt sofort hoch. Spätestens nach einer Woche funktioniert das ganz von selbst. Wobei ich einen kleinen Schönheitsfehler der Methode nicht verschweigen möchte: Hast du dich erst mal an den Power Nap gewöhnt, wartet dein Körper jeden Tag darauf. Wenn du dann mal beim besten Willen keine Gelegenheit dazu findest, fühlst du dich den ganzen Nachmittag schlapp und unkonzentriert.« Ob Christian meinen Rat befolgt hat, kann ich nicht sagen. Ich habe ihn seither nicht mehr gesehen. Falls ja, bin ich ziemlich sicher, dass der mittägliche Kurzschlummer auch bei ihm bald ein fester Bestandteil seiner täglichen Routine ist. Ich bin gespannt.
Jetzt werden Sie sich bestimmt fragen, ob ich denn überhaupt keine anderen Verpflichtungen habe. Natürlich habe ich die. Friseur- und Arzttermine zum Beispiel, dazu immer wieder mal private Einladungen: zu Geburtstags- und sonstigen Feiern, aber auch einfach so, um mit Freunden bei einem Glas Bier oder Wein zusammenzusitzen und zu quatschen. Zu Hause oder in einer Kneipe, wie’s eben gerade kommt. Doch dazwischen bleibt eine Menge Zeit, über die ich nach Belieben verfügen kann. Was zum Glück auch damit zusammenhängt, dass es bei meinen Arztbesuchen fast ausschließlich um Kontroll-, Vorsorge- oder hin und wieder auch Impftermine geht. Denn glücklicherweise erfreue ich mich einer recht stabilen Gesundheit. Den zu hohen Blutdruck habe ich mit einer morgendlichen Tablette gut im Griff, und bei den von Zeit zu Zeit aufflackernden Kreuzschmerzen helfen fast immer gezielte gymnastische Übungen, die ich eigentlich vorbeugend jeden Tag machen sollte. Aber dazu kann ich mich leider nur selten aufraffen und warte damit dummerweise meistens, bis mich stärker werdende Beschwerden dazu zwingen. Wobei es vor allem mein bescheuertes Iliosakralgelenk, und zwar das linke, ist, das mich immer wieder massiv quält. Falls Sie wissen wollen, was sich hinter dem komplizierten Begriff verbirgt: Das ist eine nur mäßig bewegliche gelenkige Verbindung zwischen Kreuzbein und Becken, die einen ganz schön piesacken kann! Wenn ich das Problem dann nach etlichen Spritzen und zahlreichen Besuchen beim Physiotherapeuten wieder halbwegs im Griff habe, nehme ich mir jedes Mal vor, künftig konsequenter zu sein. Aber kaum geht es mir halbwegs besser, schmelzen die guten Vorsätze wie Butter in der Sonne. Wie heißt es so schön: Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach. Ganz schön blöd, oder?
Nun ja, alles in allem kann ich mich, wie gesagt, über meine Gesundheit nicht beklagen, was im Übrigen auch für Ella gilt. Dabei fällt mir etwas ein, was ich an dieser Stelle unbedingt loswerden muss. Ich bin mir nämlich durchaus bewusst, dass meine Begeisterung für die Freiheit im Ruhestand keineswegs von sämtlichen Altersgenossen geteilt wird. Wer etwa, vielleicht auch noch schmerzgeplagt, im Krankenhaus liegt, für den ist die viele Zeit natürlich alles andere als ein Quell der Freude, sondern pures Missvergnügen, um nicht zu sagen: Qual. Der hat anderes im Sinn, als sich über spontane Reisen, Nächte im Wald oder andere vergnügliche Dinge zu freuen. Dasselbe gilt für diejenigen unter uns, die sich um einen pflegebedürftigen Angehörigen kümmern oder möglicherweise sogar den Verlust eines geliebten Menschen verkraften müssen. Ella und ich hatten vor nicht langer Zeit selbst den Tod eines guten Freundes zu beklagen, und ich versichere Ihnen, danach verging eine ganze Weile, in der uns nach allem anderen zumute war als nach zeitaufwendigem Freizeitvergnügen. Insofern bitte ich alle, denen es gerade nicht so gut geht, vorsorglich um Nachsicht, wenn ich im weiteren Verlauf dieses Buches von der Freiheit im Alter schwärme. Immerhin hat eine groß angelegte Umfrage einer bedeutenden Versicherungsgesellschaft ergeben, dass die überwiegende Mehrheit der Senioren mit ihrer Situation ausgesprochen zufrieden ist. Und in einer repräsentativen Studie von Forschern der Universität Köln zum Lebensgefühl der Generation 80+ gaben sogar vier von fünf Befragten an, es gehe ihnen gut oder sogar sehr gut und sie wollten, selbst wenn das möglich wäre, gar nicht mehr jung sein. Ich werde auf das Thema im nächsten Kapitel noch ausführlicher zu sprechen kommen.
Aber natürlich gibt es außer Reisen - wobei, wie gesagt, gerade das Spontane, Ungeplante am reizvollsten ist - sowie jagdlichen Aktivitäten und den Schläfchen während des Tages noch unzählige andere Möglichkeiten, die reichlich vorhandene Zeit vergnüglich zu nutzen. Wie heißt es so schön? Es kommt nicht so sehr darauf an, wie alt man ist, sondern wie man alt ist.
Auch damit werde ich mich in einem Extrakapitel noch ausführlich befassen. Was mich betrifft, so verbringe ich, wenn ich nicht gerade verreist oder im Wald bin, viel Zeit an meinem Computer. Was ich dort tue? Artikel für diverse Zeitschriften schreiben. Oder Bücher. So wie das, in dem Sie gerade lesen. Das hat sich nämlich, so wie alle anderen davor, keinesfalls von selbst geschrieben, sondern eine Menge Zeit und Mühe gekostet. Was mir jedoch, wie jedes Mal, sehr viel Spaß gemacht hat. Wäre es nicht so, würde ich mir schlicht und einfach die Freiheit herausnehmen, mit der Schreiberei aufzuhören. Würde meine vertraglichen Verpflichtungen noch gewissenhaft und termingerecht erfüllen, und das wäre es dann gewesen. Aber bis es so weit ist, vergehen hoffentlich noch ein paar Jahre.
»Mit sechsundsechzig Jahren, da fängt das Leben an.«
Udo Jürgens,österreichischer Komponist, Pianist und Sänger, 1934-2014
Ein Buch über die Freiheit des Alters zu schreiben, hätte vor hundert Jahren - in der Zeit also, in der mein Vater geboren ist - erheblich weniger Spaß gemacht. Und zwar schlicht deswegen, weil es seinerzeit viel weniger Senioren, also potenzielle Leser, gab als heute. Um 1920 lag die mittlere Lebenserwartung von Frauen bei rund 48 und bei Männern sogar bei nur 44 Jahren. Das heißt nicht, dass man seinerzeit keinen deutlich älteren Menschen begegnete - ein Großteil der niedrigen Lebenserwartung geht auf das Konto der hohen Säuglings- und Kleinkindersterblichkeit -, aber die waren im Gegensatz zu heute eine seltene Ausnahme.
Seither nahm die Lebenserwartung in ganz Europa kontinuierlich zu. Nach Angaben der OECD steigt sie Jahr für Jahr um volle drei Monate und wird 2040 voraussichtlich 90 Jahre erreichen. Tatsächlich nimmt die mittlere Lebenserwartung seit Langem Jahr für Jahr um drei Monate zu, das sind jeden Tag volle fünf Stunden. Was nicht mehr und nicht weniger bedeutet, als dass zwei der vier Kinder, die in den letzten beiden Jahren in unserer Nachbarschaft geboren wurden, statistisch gesehen beste Chancen haben, älter als 100 zu werden. Die Europäische Kommission geht jedenfalls davon aus, dass der Anteil der über 65-jährigen EU-Bürger bis 2060 auf fast 30 Prozent steigen wird. Damit wird der Lebensabschnitt, den wir nach dem aktiven Arbeitsleben, also im sogenannten Ruhestand, verbringen - mittlerweile macht er schon rund ein Viertel unserer Gesamtlebensdauer aus - immer länger. Logische Folge: Es gibt immer mehr Senioren. Bereits heute zählen sechs Millionen Menschen in Deutschland zur Bevölkerungsgruppe 80+ - womit diese die am stärksten wachsende ist. Und das Statistische Bundesamt hat berechnet, dass die Zahl der Hochbetagten bis 2050 auf zehn Millionen steigen wird. Das bedeutet, dass dann jeder achte Bundesbürger 80 Jahre und älter sein wird. Umgekehrt werden in gar nicht ferner Zukunft nur noch 20 Prozent der Erwerbspersonen älter als 30 sein. Und was das Beste ist: Der überwiegenden Mehrheit der Senioren geht es gesundheitlich und auch sonst gut bis sehr gut. Ich weiß, das habe ich schon erwähnt, aber das scheint mir so fundamental wichtig zu sein, dass es ruhig noch einmal gesagt werden soll. Für mein Buch über die Altersfreiheit gibt es also mehr als genügend potenzielle Leser. Und zwar nicht nur in Senioren- oder Pflegeheimen, nein, die allermeisten Betagten leben bis zum Tod in ihrer eigenen Wohnung.
Das größte und mit jedem weiteren Lebensjahr immer noch größer werdende Problem älterer Menschen ist gar nicht die nachlassende Gesundheit, sondern - neben dem Wunsch, so lange wie möglich unabhängig zu bleiben und nicht auf fremde Hilfe angewiesen zu sein - vielmehr die zunehmende Isolation, sprich Einsamkeit. Daran ist natürlich in erster Linie - auch wenn man das Thema gern schamhaft verschweigt - der Tod schuld, der sich seine Opfer nun mal bevorzugt aus den Reihen der Betagten holt. Oder anders gesagt: Je älter jemand wird, desto höher ist die Anzahl der Altersgenossen, die bereits das Zeitliche gesegnet und den Freundes- und Bekanntenkreis um eine Person ärmer zurückgelassen haben.
Nun könnte man ja denken, die Zurückgebliebenen, die sich doch allesamt nach mehr menschlichem Kontakt sehnen, würden sich einfach zusammenschließen, das heißt, sie würden die Löcher, die der Tod zwangsläufig in ihre Reihen reißt, mit anderen Menschen füllen, die dasselbe Schicksal erlitten haben. Aber das ist alles andere als einfach. Sehen Sie sich doch mal in Ihrem eigenen Freundeskreis um. Wie viele Personen sind da in den letzten drei Jahren dazugekommen? Vermutlich keine einzige. Und zwar vor allem deshalb nicht, weil man im Alter - darüber gibt es mehrere aufschlussreiche Studien - schlicht nicht mehr so leicht Freundschaft schließt. Damit Sie mich richtig verstehen: Wir sprechen hier nicht von lockeren Bekanntschaften, sondern von echten Freunden. Solchen, die ohne zu zögern ihren Urlaub abbrechen, wenn man sie braucht, vor denen man auch noch den letzten Winkel seines Herzens ausschütten kann und die mit einem - je nach Anlass - ebenso begeistert jubeln wie entsetzlich leiden.
Zu einem Großteil liegt das vermutlich daran, dass man einen Großteil der Freunde, die man hat, schon sehr, sehr lange kennt und mit ihnen Tausende von Erinnerungen teilt - nicht selten bis zurück zu Erlebnissen aus der Kindergartenzeit der eigenen Nachkommen, die ja längst selbst Eltern sind. Da hat ein Neuling, und mag er noch so freundlich und empathisch sein, einfach keine Chance. Wenn Barbara ihrer Busenfreundin Luise mit einem augenzwinkernden »Weißt du noch ...?« davon erzählt, wie ihre Tochter Gabriele - mittlerweile im Vorstand einer Bank tätig - damals dem Sohn des Spar-Filialleiters schöne Augen gemacht hat und er sie schnöde hat abblitzen lassen, weil sie ihm zu dünn war, ist eine neue Bekanntschaft gezwungen, sich das alles kommentarlos anzuhören, weil sie von dem, was da besprochen wird, schlicht keine Ahnung hat und die beteiligten Personen nicht kennt.
Als Ella und ich, damals noch kinderlos, vor mehr als 40 Jahren in die schwäbische Kleinstadt gezogen sind, in der wir seither leben, dauerte es deshalb auch eine ganze Weile, bis wir Freunde gefunden hatten. Und dann waren das vor allem solche, die wie wir keine Einheimischen waren. Ich weiß noch gut, wie mir damals, als ich - nicht zuletzt, um Anschluss zu finden - den Jagdschein gemacht habe, einer meiner Kurskameraden erzählte, Siegfried hätte ein Jahr vor uns dasselbe getan und wäre jetzt stolzer Jungjäger.
»Siegfried?«, fragte ich ahnungslos. »Welcher Siegfried?«
Die Verblüffung der Umstehenden, die alles mitangehört und dazu wissend genickt hatten, war gewaltig. Ich wusste nicht, wer Siegfried war? Gab es das? Kannte den nicht jeder? Mittlerweile ist mir nicht nur vollkommen klar, um wen es sich bei besagtem Siegfried handelt, sondern ich habe ihn sogar persönlich kennengelernt. Immerhin ist er derjenige, der das Revier neben meinem gepachtet hat, also einer meiner unmittelbaren Jagdnachbarn. Und zwar ein überaus freundlicher und hilfsbereiter. Weshalb ich das erzähle? Nun, vor allem deshalb, weil Siegfried - inzwischen hat er die 75 überschritten - die Freiheit, die ihm das Alter bietet, ganz anders nutzt als zu reisen, zu faulenzen oder Proust zu lesen. Weil er nämlich nach wie vor von früh bis spät arbeitet.