Ich habe mich verträumt - Kristan Higgins - E-Book

Ich habe mich verträumt E-Book

Kristan Higgins

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Beschreibung

Er ist groß, gut aussehend, erfolgreich, liebevoll, einfühlsam - und existiert nur in ihrer Fantasie. Weil Grace es leid ist, sich ständig Bemerkungen über ihren Singlestatus anzuhören, erfindet sie kurzerhand einen Verehrer. Dumm nur, dass sich die Geschichte schnell herumspricht - und auch ihrem neuen Nachbarn Cal zu Ohren kommt. Der erstaunlich viel Ähnlichkeit mit ihrem Traummann hat... Doch bevor Grace sich näher mit ihm beschäftigen kann, muss sie ein paar katastrophale Blind Dates hinter sich bringen, ihren Exfreund auf seiner Hochzeit mit einem Kinnhaken niederstrecken und ein paar Senioren Tanzunterricht geben.

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Seitenzahl: 546

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Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

Kristan Higgins

Ich habe mich verträumt

Roman

Aus dem Amerikanischen von Annette Hahn

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH, Valentinskamp 24, 20354 Hamburg Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2013 by MIRA Taschenbuch in der Harlequin Enterprises GmbH Deutsche Erstveröffentlichung

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe: Too Good to be True Copyright © 2009 by Kristan Higgins erschienen bei: HQN Books, Toronto

Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln Redaktion: Daniela Peter Titelabbildung: Thinkstock / Getty Images, München; pecher und soiron, Köln Satz: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN 978-3-86278-774-6

www.mira-taschenbuch.de

Dieses Buch ist meiner Großmutter Helen Kristan gewidmet – der wunderbarsten Frau, die ich je kannte.

PROLOG

Einen festen Freund zu erfinden ist für mich nichts Neues. Das gebe ich offen zu. Manche Leute sehen sich beim Schaufensterbummel Sachen an, die sie sich nie leisten können. Andere berauschen sich an Internetfotos von Cluburlauben, die sie niemals buchen werden. Und einige stellen sich vor, dass sie einen richtig netten Typen kennenlernen, obwohl sie es in Wahrheit nicht tun.

Das erste Mal passierte es, als ich in der sechsten Klasse war. Große Pause. Heather B., Heather F. und Jessica A., die drei beliebtesten Mädchen, standen wie immer in einem Kreis von Bewunderern. Sie trugen Lipgloss und Lidschatten, hatten niedliche kleine Handtaschen und … Freunde. Jungs. Mit einem Jungen zu „gehen“, hieß damals nichts weiter, als dass er einen vielleicht grüßte, wenn man sich im Schulgebäude begegnete, aber trotzdem war es ein Statussymbol. Mit dem ich nicht aufwarten konnte, ebenso wenig wie mit Lidschatten. Heather F. beobachtete ihren Auserwählten Joey Ames dabei, wie er sich einen Frosch in die Hose steckte (aus Beweggründen, die wohl nur ein Junge der sechsten Klasse nachvollziehen könnte), und sagte daraufhin, dass sie sich überlege, mit Joey Schluss zu machen und vielleicht mit Jason zu gehen.

Und plötzlich, ohne großartig nachzudenken, erzählte ich einfach drauflos, dass ich auch mit jemandem zusammen sei … einem Jungen aus einer anderen Stadt. Die drei beliebten Mädchen drehten sich abrupt und offenkundig interessiert zu mir um, und schon erzählte ich von Tyler, einem richtig süßen, klugen und zuvorkommenden Jungen. Nein, mit vierzehn war er fast schon ein Mann. Seine Familie besaß eine Pferde-Ranch und wollte, dass ich dem neugeborenen Fohlen einen Namen gab, und später würde ich es abrichten, sodass es nur mir gehorchen würde, mir allein.

So einen Jungen haben wir doch alle mal erfunden, oder? Was war schlimm daran, zu glauben – na ja, beinahe zu glauben –, dass irgendwo da draußen als Ausgleich zu diesen Hosenfroschtypen ein Junge von der Pferde-Ranch existierte? Es war fast so, wie an Gott zu glauben – man musste es einfach, denn was wäre die Alternative gewesen? Die anderen Mädchen kauften es mir ab, bombardierten mich mit Fragen und begegneten mir von nun an mit Respekt. Heather B. lud mich zu ihrer bevorstehenden Geburtstagsparty ein, und ich nahm dankend an. Natürlich würde ich dann die traurige Nachricht überbringen müssen, dass Tylers Ranch abgebrannt und die Familie samt meinem Fohlen Midnight Sun nach Oregon gezogen sei. Möglicherweise ahnten die Heathers und der Rest meiner Klassenkameraden die Wahrheit, aber ich merkte, dass mir das im Grunde egal war. Mir Tyler vorzustellen … hatte sich einfach großartig angefühlt.

Später, als ich fünfzehn war und wir aus der beschaulichen Stadt Mount Vernon im Staat New York in die ungleich noblere Ortschaft Avon in Connecticut umzogen, in der alle Mädchen glatte, glänzende Haare und strahlend weiße Zähne hatten, erfand ich einen neuen Jungen. Jack, der zurückgelassene Freund in meiner Heimat. Ach, er sah ja so gut aus (wie ein Foto in meinem Portemonnaie bewies, das ich sorgfältig aus einem J.Crew-Katalog ausgeschnitten hatte)! Jacks Vater besaß ein edles Restaurant namens Le Cirque (hey, ich war fünfzehn …). Jack und ich ließen die Sache langsam angehen … Ja, wir hatten uns schon geküsst, tatsächlich hatten wir auch schon ein bisschen gefummelt, aber er hatte so viel Respekt, dass er mich nicht weiter bedrängt hatte. Damit wollten wir warten, bis wir älter wären. Vielleicht würden wir uns bald die Verlobung versprechen, und weil seine Familie mich so sehr liebte, würde Jack mir einen Ring bei Tiffany’s kaufen, nicht mit einem Diamanten, aber vielleicht mit einem Saphir, ähnlich dem von Prinzessin Diana, nur etwas kleiner.

Leider muss ich gestehen, dass ich etwa vier Monate nach Beginn meines zweiten Highschool-Jahres mit Jack Schluss machte, um für die Jungen vor Ort verfügbar zu sein. Doch mein Plan ging nicht auf … die Jungen vor Ort waren nicht sonderlich interessiert. Jedenfalls nicht an mir. Wenn allerdings meine ältere Schwester Margaret mich hin und wieder mal in ihren Semesterferien von der Schule abholte, verfielen alle Jungs angesichts ihrer klaren, strahlenden Schönheit umgehend in ehrfürchtiges Schweigen. Sogar meine jüngere Schwester, die damals erst in der Siebten war, zeigte bereits erste Anzeichen, zu einer wahren Schönheit heranzuwachsen. Ich hingegen blieb ungebunden und wünschte sehnlich, ich hätte mit meinem erfundenen Freund niemals Schluss gemacht. Es war ein herrlich warmes und befriedigendes Gefühl gewesen, mir vorzustellen, dass solch ein Junge mich mochte.

Dann kam Jean-Philippe. Jean-Philippe wurde erfunden, um einen nervigen und unglaublich aufdringlichen Jungen auf dem College abzuwehren. Er war Chemie-Student und litt, im Nachhinein betrachtet, vermutlich unter dem Asperger-Syndrom, was ihn gegenüber allen abweisenden Andeutungen meinerseits immun machte. Anstatt ihm geradeheraus zu sagen, dass ich ihn nicht mochte (das erschien mir zu grausam), bat ich meine Zimmerkollegin, mir Nachrichten aufzuschreiben und für alle sichtbar an die Tür zu kleben: „Grace – schon wieder Anruf von J-P, Du sollst in den Semesterferien nach Paris kommen und ihn tout de suite zurückrufen.“

Ich liebte Jean-Philippe. Ich liebte die Vorstellung, dass irgendein gut gekleideter Franzose auf mich abfuhr. Dass er über die Brücken von Paris schlenderte, trübsinnig in die Seine starrte und sich tief seufzend nach mir verzehrte, während er Schokoladencroissants aß und guten Wein trank. Oh, was war ich in Jean-Philippe verliebt – fast so sehr wie in Rhett Butler, dem ich seit meinem vierzehnten Lebensjahr treu ergeben war!

Meine ganzen Zwanziger hindurch und selbst jetzt noch mit dreißig war es für mich so gut wie überlebensnotwendig, einen ausgedachten Freund zu präsentieren. Florence, eine der älteren Damen im Seniorenheim Golden Meadows, bot mir erst vor Kurzem während der Gesellschaftstanzstunde, bei der ich als Lehrerin aushelfe, ihren Neffen an. „Ach, Schätzchen, Sie würden Bertie einfach lieben!“, zwitscherte sie, während ich versuchte, sie zur Rechtsdrehung beim langsamen Walzer zu bringen. „Kann ich Ihnen seine Nummer geben? Er ist Arzt – Podologe. Da gibt es allerdings ein winziges Problem. Die Mädchen heutzutage sind einfach viel zu wählerisch. Zu meiner Zeit war man als unverheiratete Frau über dreißig ja so gut wie tot. Nur weil Bertie einen Männerbusen hat … na und? Seine Mutter war auch gut bestückt, oh ja, die hatte einen Vorbau …“

Und schon sprang mein erfundener Freund hervor. „Hm, das klingt wirklich ganz reizend, Florence … aber ich habe gerade erst jemanden kennengelernt, und wir …“

Ich machte das nicht nur vor anderen, ich gebe es zu. Meine erfundenen Freunde benutze ich auch als … nun ja, sagen wir mal, als Bewältigungsstrategie.

Vor ein paar Wochen, zum Beispiel, fuhr ich über eine dunkle, verlassene Strecke der Route 9 in Connecticut nach Hause, dachte an meinen Exverlobten und seine neue Liebe, als mir plötzlich ein Reifen platzte. Wie es bei Nahtoderfahrungen typisch ist, brausten mir, während ich mit dem Lenkrad kämpfte, um mich nicht zu überschlagen, tausend Gedanken durch den Kopf. Erstens, dass ich zu meiner Beerdigung nichts anzuziehen hätte (ruhig, nur ruhig, du willst dich nicht überschlagen). Zweitens, dass ich für den Fall eines offenen Sarges hoffte, dass mein Haar zumindest im Tod nicht so kraus sein würde wie zu Lebzeiten (gegenlenken, gegenlenken, das Heck bricht aus). Des Weiteren, dass meine Schwestern am Boden zerstört und meine Eltern apathisch vor Gram wären, sodass ihre endlosen Seitenhiebe zumindest für diesen Tag verstummen würden (Gas geben, nur ein bisschen, dann kommt der Wagen wieder in die Spur). Und dass Andrew, verdammt noch eins, von jeder Menge Schuldgefühlen geplagt wäre! Für den Rest seines Lebens würde er sich Vorwürfe machen, dass er mich abserviert hatte (so, jetzt langsam abbremsen, Warnblinker an, wunderbar, wir leben noch).

Als das Auto sicher auf dem Seitenstreifen anhielt, saß ich zitternd und zähneklappernd da und spürte mein Herz im Brustkorb rappeln wie einen losen Fensterladen im Sturm. „Liebergottimhimmelseidank“, stoßseufzte ich und tastete nach meinem Handy.

Natürlich hatte ich wieder mal keinen Empfang. Ich wartete ein paar Minuten und setzte dann resigniert zu dem an, was getan werden musste. Ich stieg in den kalten Märzregen hinaus, untersuchte den geplatzten Reifen, öffnete den Kofferraum und zog Wagenheber und Ersatzreifen hervor. Obwohl ich diese spezielle Arbeit noch nie verrichtet hatte, tüftelte ich aus, wie es gehen musste, während hin und wieder andere Wagen an mir vorbeibrausten und mich mit eisigem Matsch noch mehr durchweichten. Ich quetschte mir die Hand und zog mir eine Blutblase zu, brach einen Fingernagel ab, ruinierte meine Schuhe und war über und über mit Schlamm und Wagenschmiere besudelt.

Niemand hielt an, um zu helfen. Kein einziger verdammter Wagen. Es fuhr noch nicht mal jemand langsamer. Fluchend, unter der Grausamkeit der Welt leidend, aber auch ein bisschen stolz, dass ich allein einen Reifen gewechselt hatte, kletterte ich zähneklappernd und mit blauen Lippen wieder ins Auto. Auf der Rückfahrt dachte ich nur noch an ein heißes Bad, einen heißen Grog, meinen Flanellpyjama und die neue Folge von Project Runway im Fernsehen. Stattdessen erwartete mich eine weitere Katastrophe.

Alle Anzeichen deuteten darauf hin, dass Angus, mein West Highland Terrier, sich durch die Kindersicherung der frisch gestrichenen Schranktür gefressen, den Mülleimer herausgezogen, umgekippt und das zweifelhafte Hühnchen gefressen hatte, das ich am Morgen weggeworfen hatte. Die Zweifel waren nun allerdings ausgeräumt – das Hühnchen war definitiv schlecht gewesen. Mein armer Hund hatte es mit solcher Vehemenz wieder von sich gegeben, dass meine Küchenwände bis obenhin mit Hundekotze bespritzt waren – ein Klecks gelbgrüner Galle hatte es bis auf das Ziffernblatt meiner Fritz-the-Cat-Uhr geschafft. Eine Spur noch feuchten Hundedurchfalls führte ins Wohnzimmer, wo ich Angus ausgestreckt auf dem frisch gereinigten pastellfarbenen Orientteppich liegen sah. Mein Hund rülpste laut, bellte kurz und wedelte inmitten all der stinkenden Auswürfe schuldbewusst und voller Liebe mit dem Schwanz.

Keine Badewanne. Kein Tim Gunn in Project Runway. Kein steifer Grog.

Was das alles mit einem ausgedachten festen Freund zu tun hat? Nun ja, während ich den Teppich mit Bleichmittel und Wasser schrubbte und versuchte, Angus seelisch auf das Zäpfchen vorzubereiten, zu dem der Tierarzt geraten hatte, stellte ich mir Folgendes vor:

Ich fuhr gerade nach Hause, als mir der Reifen platzte. Ich hielt an, nahm mein Handy, palaver, palaver, bla, bla, bla. Aber was war das? Ein Wagen fuhr langsamer und blieb hinter mir stehen. Genauer betrachtet, war es ein … ah, ja, es war ein umweltfreundliches Hybrid-Auto mit, oh, einer Arztplakette! Ein guter Samariter in Gestalt eines groß gewachsenen, schlanken Mannes Mitte bis Ende dreißig näherte sich meinem Wagen. Er beugte sich zu meinem Fenster hinunter, und da war er … der Moment, in dem du jemanden ansiehst und … Kabumm! Du weißt einfach: Er ist es!

In meiner Fantasie nahm ich das Hilfsangebot des guten Samariters an. Zehn Minuten später hatte er das Ersatzrad montiert, den geplatzten Reifen im Kofferraum verstaut und mir seine Visitenkarte gegeben. Wyatt Soundso, Dr. med., Kinderchirurgie. Ah!

„Rufen Sie mich an, wenn Sie zu Hause sind, damit ich weiß, dass alles gut gegangen ist, okay?“, bat er mich lächelnd. Kabumm! Während ich mich am Anblick seiner attraktiven Grübchen und langen Wimpern ergötzte, kritzelte er noch seine Privatnummer auf die Rückseite.

Mit dieser Vorstellung war das Saubermachen bedeutend angenehmer.

Natürlich war mir völlig klar, dass kein freundlicher, gut aussehender Arzt meinen Reifen gewechselt hatte. Es war einfach eine Art gesunder Realitätsflucht, okay? Nein, es gab keinen Wyatt (den Namen hatte ich schon immer gemocht – er klang gewichtig und edel). Leider Gottes war so ein Typ zu gut, um wahr zu sein. Ich lief auch nicht herum und erzählte von dem Kinderarzt, der mir den Reifen gewechselt hätte, natürlich nicht! Nein. Wie schon gesagt, war das nur meine ganz private, kleine Bewältigungsstrategie. Schon seit Jahren hatte ich keinen erfundenen Freund mehr öffentlich präsentiert.

Bis vor Kurzem.

1. KAPITEL

Und so hat Lincoln mit diesem einen Gesetz den Lauf der amerikanischen Geschichte verändert. Er war einer der meistgehassten Politiker seiner Zeit, trotzdem hat er die Einheit der Union bewahrt und gilt heute als einer der bedeutendsten Präsidenten, die unser Land je hatte. Und vielleicht je gehabt haben wird.“

Ich hatte mich in Fahrt geredet. Wir nahmen gerade den Sezessionskrieg durch, und dies war mein Lieblingskurs. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer schienen allerdings im Freitagsnachmittagskoma zu liegen. Tommy Michener, an den meisten Tagen mein bester Schüler, starrte sehnsüchtig auf Kerry Blake, die sich genüsslich streckte, um Tommy mit dem Anblick dessen zu quälen, was er nicht haben konnte, und gleichzeitig Hunter Graystone IV. einzuladen, es sich zu nehmen. Parallel dazu senkte Emma Kirk betreten den Kopf. Sie war ein hübsches, liebes Mädchen, das das Pech hatte, als Externe am Unterricht teilzunehmen, sodass sie von den coolen Kids ausgeschlossen wurde, die allesamt Internatsschüler waren. Außerdem war sie heimlich in Tommy verliebt und sich seiner Besessenheit von Kerry nur zu sehr bewusst, das arme Ding. „Also, wer kann die konträren Standpunkte zusammenfassen? Irgendjemand?“

Von draußen drang Gelächter herein. Englischlehrerin Kiki Gomez hielt ihren Unterricht im Freien ab, da es ein schöner, lauer Tag war. Im Gegensatz zu meinen wirkten ihre Schüler nicht müde und abgeschlafft. Mist. Ich hätte auch nach draußen gehen sollen.

„Ich gebe euch einen Tipp“, fuhr ich mit Blick in ihre verständnislosen Gesichter fort. „Bundesstaatliche Rechte versus überstaatliche Kontrolle. Union versus Sezession. Die Freiheit, unabhängig zu regieren, versus die Freiheit aller Menschen. Sklavenhaltung oder keine Sklavenhaltung. Klingelt da etwas?“

Doch was in diesem Moment klingelte, war nur die Schulglocke. Meine lethargischen Schüler erwachten zu neuem Leben und sprangen zur Tür. Ich versuchte, es nicht persönlich zu nehmen. Normalerweise zeigten meine Oberstufenschüler mehr Engagement, aber es war Freitag. Zu Beginn der Woche waren sie mit Arbeiten traktiert worden, und heute Abend fand eine Tanzveranstaltung statt. Ich verstand das.

Manning Academy gehörte zu den Privatschulen, die typisch für Neuengland waren. Imposante Backsteinbauten mit den obligatorischen Efeuranken, Magnolien und Hartriegelsträuchern, smaragdgrün leuchtenden Fußball- und Lacrosse-Feldern und dem Versprechen, dass wir Ihr Kind für den Gegenwert eines kleinen Einfamilienhauses an die Hochschule Ihrer Wahl bringen– Princeton, Harvard, Stanford, Georgetown. Die 1880 gegründete Schule war eine kleine Welt für sich. Viele der Lehrer wohnten auf dem Campus, aber diejenigen von uns, die es nicht taten – mich eingeschlossen – warteten ebenso begierig wie die Schüler auf das letzte Klingeln am Freitagnachmittag, um nach Hause eilen zu können.

Allerdings nicht an diesem Freitag. An diesem Freitag wäre ich liebend gern in der Schule geblieben, hätte Aufsicht beim Tanzabend oder beim Lacrosse-Training geführt. Egal, ich hätte sogar Toiletten geputzt. Alles wäre mir lieber gewesen als mein eigener Termin.

„Hallo Grace!“ Kiki streckte ihren Kopf durch die Tür meines Kursraumes.

„Hallo Kiki. Das klang lustig bei euch da draußen.“

„Wir lesen gerade Herr der Fliegen“, erklärte sie.

„Ach, kein Wunder, dass ihr so fröhlich wart! Es geht doch nichts über ein bisschen Töten, um den Tag zu versüßen.“

Sie grinste. „Und, Grace? Hast du einen Begleiter gefunden?“

Ich schnitt eine Grimasse. „Nein, hab ich nicht. Das wird nicht lustig.“

„Ach, verdammt“, meinte sie mitfühlend. „Das tut mir leid.“

„Tja, es ist nicht das Ende der Welt“, erwiderte ich tapfer.

„Bist du sicher?“ Wie ich war auch Kiki Single. Und niemand außer einer alleinstehenden Frau in den Dreißigern wusste besser, dass es die Hölle war, bei einer Hochzeit ohne Begleitung aufzukreuzen. In wenigen Stunden würde meine Cousine Kitty – die mir mal als Kind den Pony bis zu den Haarwurzeln abgeschnitten hatte – heiraten. Zum dritten Mal. In einem Kleid wie Prinzessin Diana.

„Sieh mal, da ist Eric!“, rief Kiki und deutete auf mein Ostfenster. „Danke, Gott!“

Eric war der Kerl, der jeden Frühling und Herbst an der Manning die Fenster putzte. Wir hatten zwar erst Anfang April, doch es war mild und sonnig, und Eric hatte sein T-Shirt ausgezogen. Seiner durchtrainierten Schönheit bewusst, lächelte er uns an, sprühte und wischte.

„Frag ihn!“, schlug Kiki vor, während wir ihn fasziniert beobachteten.

„Er ist verheiratet“, entgegnete ich, ohne den Blick abzuwenden. Eric zu beäugen war das Intimste, was ich seit langer Zeit mit einem Mann gemacht hatte.

„Glücklich verheiratet?“, fragte Kiki nach, die offenbar nicht abgeneigt gewesen wäre, ein oder zwei Ehen zu zerstören, um sich einen Mann zu angeln.

„Ja. Er liebt seine Frau abgöttisch.“

„Ich hasse das“, murmelte sie.

„Ich weiß. Es ist unfair.“

Die männliche Perfektion namens Eric zwinkerte uns zu, warf eine Kusshand und ließ den Abzieher hin und her über die Fensterscheibe gleiten, wobei sich seine Schultermuskeln und sein Waschbrettbauch anbetungswürdig spannten und sein Haar in der Sonne glänzte.

„Ich sollte jetzt wirklich los“, sagte ich, ohne mich zu rühren. „Ich muss mich noch umziehen und alles.“ Allein der Gedanke verursachte mir schon Bauchkrämpfe. „Kiki, bist du sicher, dass du niemanden weißt, den ich mitnehmen kann? Wen auch immer! Ich will da wirklich nicht alleine hin.“

„Nein, mir fällt niemand ein“, erwiderte sie seufzend. „Vielleicht solltest du jemanden anheuern, wie in diesem Film mit Debra Messing.“

„Das ist eine kleine Stadt. Ein Gigolo würde sicher auffallen. Und wäre meinem guten Ruf sicher auch nicht gerade zuträglich. ‚Lehrerin der Manning heuert Prostituierten an. Eltern besorgt.‘ So in der Art.“

„Was ist mit Julian?“, hakte sie nach. Julian war mein ältester Freund, der oft mit mir und Kiki zusammen unseren „Frauenabend“ verbrachte.

„Ach, meine Familie kennt ihn schon. Der würde nicht durchgehen.“

„Was – als fester Freund oder als hetero?“

„Beides, schätze ich.“

„Das ist zu schade. Immerhin ist er ein toller Tänzer.“

„Ja, das ist er.“ Ich sah auf die Uhr, und das Tröpfeln der Furcht, das sich die ganze Woche immer mal wieder eingestellt hatte, wurde zur Sintflut. Es lag nicht nur daran, dass ich ohne Begleitung zu Kittys Hochzeit gehen würde. Seit unserer Trennung würde ich Andrew zum dritten Mal sehen, und ein Mann an meiner Seite würde die Begegnung definitiv leichter machen.

Tja. Sosehr ich auch wünschte, einfach zu Hause bleiben und Vom Winde verweht lesen oder einen Film ansehen zu können, musste ich dennoch zu der Feier gehen. Ohnehin war ich in letzter Zeit viel zu oft zu Hause geblieben. Mein Vater, mein schwuler bester Freund und mein Hund – auch wenn sie wunderbare Gefährten waren – sollten nicht die einzigen männlichen Geschöpfe in meinem Leben sein. Und es bestand die mikroskopisch kleine Chance, dass ich auf ebendieser Hochzeit jemanden kennenlernen würde.

„Vielleicht geht Eric trotzdem mit“, meinte Kiki, ging zum Fenster und machte es auf. „Es muss ja niemand wissen, dass er verheiratet ist.“

„Kiki, nein!“, protestierte ich.

Doch sie ignorierte mich. „Eric, Grace muss heute Abend zu einer Hochzeit und ihr Exverlobter wird da sein und sie hat niemanden, der sie begleitet. Könnten Sie mit ihr hingehen? Und so tun, als würden Sie sie anbeten und so?“

„Oh, nein danke!“, rief ich hastig. Meine Wangen brannten.

„Ihr Ex, hm?“, meinte Eric, ohne mit dem Fensterputzen aufzuhören.

„Ja. Eigentlich kann ich mir gleich die Pulsadern aufschneiden.“ Ich lächelte, um zu zeigen, dass ich es nicht ernst meinte.

„Sind Sie sicher, dass Sie sie nicht begleiten können?“, fragte Kiki nach.

„Meine Frau hätte damit sicher ein Problem“, antwortete Eric. „Tut mir leid, Grace. Viel Glück.“

„Danke“, erwiderte ich. „Es klingt schlimmer, als es ist.“

„Ist sie nicht tapfer?“, meinte Kiki. Eric stimmte zu und wechselte zum nächsten Fenster. Während sie ihn dabei beobachtete, fiel Kiki beinahe hinterher. Seufzend lehnte sie sich wieder zurück. „Du gehst also allein“, sagte sie mit einer Stimme, mit der ein Arzt „Tut mir leid, es ist tödlich“ sagen würde.

„Immerhin habe ich es versucht“, erinnerte ich sie. „Johnny, mein Pizzalieferant, hat eine Verabredung mit Knoblauch und Anchovis, stell dir vor! Brandon aus dem Seniorenheim meinte, er würde sich lieber erhängen, als jemanden zu einer Hochzeit zu begleiten. Und wie ich erst vor Kurzem herausgefunden habe, ist der knackige Knabe in der Apotheke erst siebzehn. Er meinte zwar, er würde gern mitkommen, aber seine Mutter, die Apothekerin, murmelte sofort etwas von Verführung Minderjähriger, sodass ich von nun an zur Apotheke in Farmington fahren muss.“

„Ups.“

„Ach, egal. Ich habe niemanden gefunden, also gehe ich allein, bin tapfer und schleppe einen Kellner ab. Wenn ich Glück habe.“ Ich grinste. Tapfer.

Kiki lachte. „Single zu sein ist Scheiße“, verkündete sie. „Und als Single auf eine Hochzeit zu gehen …“ Sie erschauerte.

„Danke für deine aufmunternden Worte“, erwiderte ich.

Vier Stunden später schmorte ich in der Hölle.

Die allzu vertraute und fast Übelkeit erregende Kombination aus Hoffnung und Verzweiflung brannte mir im Magen. Eigentlich hatte ich gedacht, ich hätte mich in letzter Zeit wacker gehalten. Vor fünfzehn Monaten hatte mich mein Verlobter abserviert, aber ich kauerte nicht am Daumen lutschend in Fötushaltung auf dem Boden. Ich ging zur Arbeit und hielt meinen Unterricht ab … und das sogar sehr gut, wie ich fand. Ich ging unter Leute. Okay, meine Aktivitäten beschränkten sich in erster Linie auf den Tanzkurs im Seniorenheim und das Nachstellen von Bürgerkriegsschlachten, aber ich ging unter Leute. Und ja, ich hätte wirklich liebend gern einen neuen Freund gehabt – am besten eine Mischung aus Atticus Finch und Tim Gunn mit dem Aussehen von George Clooney –, aber das war leider reine Theorie.

Hier war ich also wieder mal auf einer Hochzeit – der vierten seit dem Abservieren, der vierten ohne Begleitung – und versuchte tapfer, Fröhlichkeit zu verbreiten, damit meine Verwandten aufhörten, mich zu bemitleiden und mit merkwürdig aussehenden entfernten Cousins zu verkuppeln. Dabei versuchte ich, den „Look“ zu perfektionieren – amüsiertes Interesse, innere Zufriedenheit und vollkommenes Wohlgefühl. Nach dem Motto: Hallo, es geht mir ganz und gar gut dabei, wieder mal allein auf einer Hochzeit zu sein, und ich suche auch gar nicht verzweifelt nach einem Mann, aber wenn Sie zufällig hetero, unter fünfundvierzig, attraktiv, finanziell abgesichert und moralisch unbedenklich sind, kommen Sie her! Sobald ich den „Look“ beherrschte, würde ich als Nächstes Atome spalten, da es ungefähr dasselbe Maß an Fähigkeiten erforderte.

Aber wer wusste schon, was passieren würde? Vielleicht würde gerade heute mein Blick auf jemanden fallen, der ebenfalls Single und auf der Suche war, ohne verzweifelt oder bemitleidenswert zu wirken – nehmen wir, rein theoretisch, mal an, ein Kinderchirurg – und Kabumm! Wir würden es einfach wissen.

Leider ließ meine Frisur mich bestenfalls zigeunermäßig hübsch und verwegen aussehen, wahrscheinlich aber eher wie eine Reinkarnation der Schauspielerin Gilda Radner (die mit den wilden Frisselhaaren). Ich nahm mir vor, einen Exorzisten ausfindig zu machen, der die bösen Geister aus meinen Haaren vertreiben sollte, die dafür berüchtigt waren, dass sie Kämme zerbrechen und Haarbürsten fressen konnten.

Hmm. Da war tatsächlich ein süßer Kerl. Ein bisschen strebermäßig, dünn, Brille – definitiv mein Typ. Als er merkte, dass ich ihn ansah, griff er sofort hinter sich und suchte nach einer Hand, die zu einem Arm gehörte, der zu einer Frau gehörte, die er demonstrativ anstrahlte. Er drückte ihr einen Kuss auf die Lippen und blickte sich dann wieder nervös zu mir um. Schon gut, schon gut, keine Panik, Mister, dachte ich. Die Botschaft ist angekommen.

Tatsächlich schienen alle Männer unter vierzig vergeben zu sein. Allerdings gab es ein paar Achtzigjährige, von denen mich einer angrinste. Hmm. War achtzig zu alt? Womöglich sollte ich es tatsächlich einmal mit einem Sugardaddy versuchen. Vielleicht verschwendete ich mit Männern, die noch eine funktionierende Prostata und eigene Knie besaßen, nur meine Zeit. Der alte Herr hob die buschigen Brauen, aber seine Einladung an mich, sein süßes, junges Ding zu sein, endete abrupt, als seine Frau ihm den Ellbogen in die Seite rammte und mich böse anfunkelte.

„Keine Sorge, Grace. Du kommst auch bald an die Reihe“, dröhnte jemand mit nebelhornlauter Stimme.

„Man kann nie wissen, Tante Mavis“, erwiderte ich mit lieblichem Lächeln. Es war bereits das achte Mal heute Abend, dass ich diesen Spruch hörte, und allmählich zog ich in Erwägung, ihn mir auf die Stirn tätowieren zu lassen. Ich mache mir keine Sorgen. Bald komme ich an die Reihe.

„Ist es schwer, sie zusammen zu sehen?“, tönte Mavis.

„Nein. Überhaupt nicht“, log ich lächelnd. „Ich freue mich, dass sie zusammen sind.“ Gut, „freuen“ war vielleicht ein bisschen übertrieben, aber trotzdem. Was sollte ich sonst sagen? Es war kompliziert.

„Du bist so tapfer“, lobte Mavis. „Du bist wirklich eine ausgesprochen tapfere Frau, Grace Emerson.“ Dann stampfte sie davon, um sich ein neues Opfer zu suchen.

„Okay, raus mit der Sprache“, verlangte meine Schwester Margaret und ließ sich neben mir auf einen Stuhl plumpsen. „Suchst du nach einem scharfen Gegenstand, um dir die Pulsadern aufzuschlitzen? Oder willst du lieber ein bisschen Kohlenmonoxid schnüffeln?“

„Hör dich nur an, du Ausbund an Anteilnahme. Deine schwesterliche Fürsorge treibt mir geradezu die Tränen in die Augen.“

Sie grinste. „Und? Sag’s deiner großen Schwester.“

Ich nahm einen großen Schluck Gin Tonic. „Es nervt mich schrecklich, ständig alle sagen zu hören, wie tapfer ich sei, als wäre ich ein Soldat, der auf eine Granate getreten ist. Single zu sein ist nicht das Schlimmste auf der Welt.“

„Ich wünsche mir ständig, Single zu sein“, erwiderte Margs, als ihr Ehemann sich näherte.

„Hallo Stuart!“, grüßte ich meinen Schwager herzlich. „Ich habe dich heute gar nicht in der Schule gesehen.“ Stuart war der Schulpsychologe an der Manning, und tatsächlich hatte er mich vor sechs Jahren auf die freie Stelle als Geschichtslehrerin hingewiesen. Er war so etwas wie ein lebendes Stereotyp seiner Art … Oxford-Hemden unter Rautenpullundern, Slipper mit Ledertroddeln, obligatorischer Bart. Ein freundlicher, ruhiger Mann. Er hatte Margaret während des Studiums kennengelernt und war seitdem ihr ergebener Diener.

„Na, Grace, wie läuft es?“, erkundigte er sich und reichte mir eine frische Version meines Standardgetränks, Gin Tonic mit Zitronenscheibe.

„Danke der Nachfrage, mir geht’s toll“, antwortete ich.

„Hallo Margaret, hallo Stuart!“, rief meine Tante Reggie von der Tanzfläche aus. Dann sah sie mich und erstarrte. „Oh, hallo Grace, was siehst du hübsch aus! Und Kopf hoch, meine Liebe. Nicht lange, und du wirst auf deiner eigenen Hochzeit tanzen!“

„Danke, Tante Reggie“, sagte ich und warf meiner Schwester einen bedeutsamen Blick zu. Nach einem kurzen traurigen Lächeln in meine Richtung tanzte Reggie wieder davon, um wie üblich Klatsch und Tratsch zu verbreiten.

„Ich halte das immer noch für ein starkes Stück“, kommentierte Margs. „Wie konnten Andrew und Natalie bloß … Was, in Dreiteufelsnamen, haben sie sich nur dabei gedacht? Und wo sind sie überhaupt?“

„Grace, wie geht es dir? Machst du nur gute Miene zum bösen Spiel oder bist du wirklich okay?“ Jetzt kam Mom an unseren Tisch, gefolgt von Dad, der seine Mutter im Rollstuhl dazu schob.

„Es geht ihr gut, Nancy!“, sagte er scharf. „Sieh sie doch an! Findest du nicht, dass sie gut aussieht? Lass sie in Ruhe und rede nicht darüber.“

„Ach, sei still, Jim. Ich kenne meine Kinder, und dieses leidet. Gute Eltern können das erkennen.“ Ihr Blick war bedeutsam und eisig zugleich.

„Gute Eltern? Ich bin ein guter Vater“, gab Dad umgehend zurück.

„Es geht mir prima, Mom. Dad hat recht. Alles bestens. Hey, sieht Kitty nicht super aus?“

„Fast so schön wie bei ihrer ersten Hochzeit“, kommentierte Margaret.

„Hast du Andrew gesehen?“, wollte Mom wissen. „Ist es schwer für dich, Schätzchen?“

Mémé, meine dreiundneunzigjährige Großmutter, klimperte mit dem Eis in ihrem Cocktailglas. „Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt. Wenn Grace ihren Mann nicht halten kann …“

„Oh, es lebt“, staunte Margaret.

Mémé ignorierte sie und sah mich aus feuchten Augen abschätzend an. „Ich hatte nie Schwierigkeiten, einen Mann zu finden. Die Männer liebten mich. Zu meiner Zeit war ich eine Schönheit, musst du wissen.“

„Und das bist du immer noch“, sagte ich. „Wie machst du das nur, Mémé? Du siehst keinen Tag älter aus als hundertzehn.“

„Also bitte, Grace“, murmelte mein Vater. „Du musst doch nicht auch noch Öl ins Feuer kippen.“

„Lach nur, Grace. Wenigstens hat kein Verlobter mich je abserviert.“ Mémé kippte den Rest ihres Manhattans hinunter und hielt Dad das Glas hin, der es ihr pflichtschuldig abnahm.

„Du brauchst keinen Mann“, stellte meine Mutter entschieden fest. „Keine Frau braucht einen.“ Wiederum war ihr bedeutungsschwerer Blick auf meinen Dad gerichtet.

„Was soll das denn nun bedeuten?“, gab der zurück.

„Das bedeutet, was es bedeutet“, erwiderte sie schnippisch.

Dad verdrehte die Augen. „Stuart, komm, wir holen eine neue Runde. Grace, ich bin heute an deinem Haus vorbeigefahren, und du brauchst wirklich neue Fenster. Margaret, gute Arbeit an dem Bleeker-Fall, Schätzchen.“ Es war Dads Art, so viele Themen wie möglich in eine Konversation zu schieben, wenn er zwischen seiner und meiner Mutter schon einmal Gelegenheit bekam, das Wort zu ergreifen. „Und Grace, vergiss Bull Run nächstes Wochenende nicht. Wir sind die Konföderierten.“

Dad und ich waren Mitglieder von Brother Against Brother, einer der größten Nachspielgruppen von Bürgerkriegsszenen. Vielleicht haben Sie uns schon gesehen … wir sind die Verrückten, die sich für Paraden und nachgestellte Schlachten auf Wiesen und Feldern verkleiden, sich gegenseitig mit Platzpatronen abschießen und in wonniger Pein zu Boden sinken. Obwohl in Connecticut kaum irgendwelche Bürgerkriegsschlachten stattgefunden hatten (leider!), ignorieren wir Fanatiker von Brother Against Brother diese unbedeutende Tatsache geflissentlich. Unser Terminkalender beginnt Anfang des Frühjahrs, wenn wir ein paar Schlachten ortsfern nachstellen, danach geht es zu den Schauplätzen echter Schlachten in den Süden, wo wir uns mit anderen Nachspielgruppen treffen und unserer Leidenschaft frönen. Sie würden sich wundern, wie viele es von uns gibt!

„Dein Vater und diese idiotischen Schlachten“, murmelte Mom und rückte Mémés Kragen zurecht. Mémé war entweder eingeschlafen oder gestorben … ach, nein, ihre knochige Brust hob und senkte sich noch. „Ich sehe mir so etwas natürlich nicht an. Ich muss mich auf meine Kunst konzentrieren. Ihr kommt doch zur Ausstellung am Wochenende, oder?“

Margaret und ich tauschten einen Blick und gaben unverbindliche Laute von uns. Moms Kunst war ein Thema, das man besser mied.

„Grace!“, bellte Mémé nach ihrem plötzlichen Erwachen. „Geh nach vorn! Kitty wirft ihren Brautstrauß. Geh! Nun geh schon!“ Sie drehte ihren Rollstuhl herum und fing an, ihn gegen meine Schienbeine zu rammen – etwa so rücksichtslos, wie Ramses den fliehenden israelischen Sklaven nachgestellt hatte.

„Mémé! Bitte! Du tust mir weh!“ Ich wich zurück, doch das hielt sie nicht auf.

„Geh schon! Du brauchst jede Hilfe, die du kriegen kannst, Kind!“

Mom verdrehte die Augen. „Lass sie in Ruhe, Eleanor. Siehst du nicht, dass sie schon genug leidet? Grace, Schätzchen, du musst da nicht hingehen, wenn es dich traurig macht. Alle werden das verstehen.“

„Es ist okay“, sagte ich laut und strich mit der Hand über mein wildes Haar, das sich aus den Haarklammern gelöst hatte. „Ich werde gehen.“ Denn wenn ich es nicht täte, würde es verdammt noch mal schlimmer werden. Arme Grace, sieh sie nur an, sitzt da wie ein überfahrenes Opossum am Straßenrand, kann noch nicht einmal aufstehen. Außerdem hinterließ Mémés Rollstuhl allmählich Spuren auf meinem Kleid.

Und so schritt ich mit etwa derselben Begeisterung wie Anne Boleyn auf dem Weg zum Schafott zur Tanzfläche. Ich versuchte, mich möglichst unauffällig unter die anderen Frauen zu mischen, und stellte mich ganz hinten auf, wo ich kaum eine Chance haben würde, den Brautstrauß zu fangen. Über die Stereoanlage dröhnte Cat Scratch Fever – erstklassiger Metalrock –, und ich musste grinsen.

Dann entdeckte ich Andrew. Er sah mich direkt an, schuldbewusst wie die Sünde. Seine Freundin war nirgends zu erblicken. Mein Herz machte einen Satz.

Natürlich hatte ich gewusst, dass er hier war. Es war sogar meine Idee gewesen, ihn einzuladen. Aber ihn zu sehen, noch dazu in dem Wissen, dass er heute mit Natalie seinen ersten offiziellen Auftritt als Paar hatte, verursachte mir feuchte Hände und einen Eisklumpen im Bauch. Andrew Carson war immerhin der Mann gewesen, den ich hatte heiraten wollen. Der Mann, mit dem ich bis drei Wochen vor dem geplanten Hochzeitstermin zusammen gewesen war. Der Mann, der mich verlassen hatte, weil er sich in eine andere verliebt hatte.

Auf die zweite Hochzeit meiner Cousine Kitty vor ein paar Jahren hatte Andrew mich begleitet. Wir waren damals schon eine Weile zusammen gewesen, und als der Brautstrauß geworfen wurde, war ich mehr oder weniger glücklich hingegangen, hatte verlegen getan, aber gleichzeitig in meinem Status als liierte Frau geschwelgt. Ich hatte den Strauß nicht gefangen, und Andrew hatte mir den Arm um die Schultern gelegt und gesagt: „Ich finde, du hättest dich schon ein bisschen mehr anstrengen können.“ Ich wusste noch genau, was für ein aufgeregtes Kribbeln ich bei seinen Worten empfunden hatte.

Jetzt war er mit seiner neuen Freundin hier. Natalie mit den langen, glatten, blonden Haaren. Natalie mit den ewig langen Beinen. Natalie, die Architektin.

Natalie, meine geliebte jüngere Schwester, die sich heute verständlicherweise sehr bedeckt hielt.

Kitty warf das Bouquet. Ihre Schwester, meine Cousine Anne, fing es auf, was zweifellos gut abgesprochen und geprobt worden war. Die Zeit der Folter war vorbei. Aber nein, Kitty hatte mich entdeckt, raffte ihre Röcke und eilte zu mir. „Du wirst auch bald an die Reihe kommen, Grace“, verkündete sie laut. „Geht es dir gut?“

„Sicher“, erwiderte ich. „Ich komme mir vor wie bei einem Déjà-vu! Schon wieder Frühling, schon wieder eine deiner Hochzeiten!“

„Du Ärmste.“ Mitfühlend, aber nicht minder selbstgefällig drückte sie meinen Arm, musterte meinen Pony (oh ja, der war in den letzten fünfzehn Jahren deutlich nachgewachsen!) und kehrte zu ihrem Bräutigam und den drei Kindern aus erster und zweiter Ehe zurück.

Dreiunddreißig Minuten später entschied ich, dass ich lange genug tapfer gewesen war. Kittys Feier war in vollem Gange, und obwohl die Musik sehr ansprechend war und es mich in den Füßen juckte, der Menge zu zeigen, wie eine Rumba auszusehen hatte, wollte ich doch lieber nach Hause. Falls ein alleinstehender, gut aussehender, finanziell abgesicherter Mann anwesend war, so hielt er sich unter einem Tisch versteckt. Noch ein kurzer Stopp im Waschraum und ich wäre weg.

Ich schob die Tür auf, warf einen schnellen, entsetzten Blick in den Spiegel – ich hatte nicht gewusst, dass mein Haar sich dermaßen stark kräuseln konnte, es stand fast waagrecht vom Kopf ab –, und wollte gerade in eine der Kabinen gehen, als ich ein Geräusch hörte. Ein trauriges Geräusch. Ich spähte unter der Kabinentür hindurch. Hübsche Schuhe: hochhackige Sandaletten aus blauem Wildleder.

„Ähem … ist alles in Ordnung?“, fragte ich laut und runzelte die Stirn. Diese Schuhe hatte ich irgendwo schon einmal gesehen.

„Grace?“, ertönte eine schwache Stimme. Kein Wunder, dass mir die Schuhe bekannt vorkamen. Meine jüngere Schwester und ich hatten sie letzten Winter zusammen gekauft.

„Natalie? Schätzchen, bist du okay?“

Ich hörte Stoff rascheln, dann stieß meine Schwester die Tür auf. Sie versuchte zu lächeln, doch ihre klaren blauen Augen waren nass vor Tränen. Mir fiel auf, dass ihre Wimperntusche nicht verschmierte. Natalie sah tragisch und gleichzeitig umwerfend aus, wie Ilsa, als sie Rick am Flughafen von Casablanca Lebewohl sagt.

„Was ist los, Nat?“, wollte ich wissen.

„Ach, es ist nichts …“ Ihre Lippen zitterten. „Alles in Ordnung.“

Ich zögerte. „Ist etwas mit Andrew?“

Ihre Fassade bröckelte. „Hm … na ja … Ich glaube nicht, dass es zwischen uns funktioniert.“ Ihre Stimme brach und verriet ihre Verzweiflung. Sie biss sich auf die Lippe und blickte zu Boden.

„Warum?“ In meinem Herzen rangen Besorgnis und Erleichterung. Gut, es würde mich nicht umbringen, wenn es mit Nat und Andrew nicht klappte, aber es lag eigentlich nicht in Natalies Natur, melodramatisch zu sein. Tatsächlich war es zwölf Jahre her, seit ich sie das letzte Mal weinen gesehen hatte – das war, als ich aufs College ging.

„Ach … es ist einfach keine gute Idee“, flüsterte sie. „Aber das ist schon in Ordnung.“

„Was ist passiert?“, fragte ich nach. Spontan bekam ich das Bedürfnis, Andrew zu schütteln. „Was hat er getan?“

„Nichts“, versicherte sie hastig. „Es ist nur, dass … äh …“

„Was?“, fragte ich wieder, diesmal mit mehr Nachdruck. Sie sah mich nicht an. Ach, verdammt! „Ist es wegen mir, Nat?“

Sie schwieg.

Ich seufzte. „Nattie, bitte, antworte mir.“

Nun sah sie mich kurz an, dann wieder zu Boden. „Du bist noch nicht über ihn hinweg, oder?“, flüsterte sie. „Obwohl du gesagt hast, du seist es … Vorhin, als der Brautstrauß geworfen wurde, habe ich dein Gesicht gesehen, und … ach, Grace, es tut mir ja so leid. Ich hätte nie versuchen sollen …“

„Natalie“, unterbrach ich sie, „ich bin über ihn hinweg. Ganz bestimmt. Das verspreche ich.“

Daraufhin sah sie mich so schuldbewusst und kläglich an, dass mir die nächsten Worte einfach so aus dem Mund sprudelten, ohne dass ich weiter darüber nachdachte. „Die Wahrheit ist, Nat, dass ich einen neuen Freund habe.“

Ups. Ich hatte das nicht wirklich sagen wollen, aber es wirkte wie ein Zauber. Natalie sah zu mir hoch, blinzelte, und während zwei weitere Tränen über ihre geröteten Wangen liefen, schimmerte Hoffnung in ihrem Blick auf. „Wirklich?“

„Ja“, log ich und kramte ein Taschentuch hervor, um ihr die Tränen abzutupfen. „Schon seit ein paar Wochen.“

Schlagartig sah Natalie fröhlicher aus. „Warum hast du ihn heute nicht mitgebracht?“, wollte sie wissen.

„Ach, du weißt schon. Hochzeiten. Alle sind immer gleich so aufgeregt, wenn man da jemanden mitbringt.“

„Aber du hast mir gar nichts erzählt.“ Sie runzelte leicht die Stirn.

„Na ja, ich wollte nichts sagen, bevor ich nicht sicher bin, dass es spruchreif ist.“ Ich lächelte wieder, da der Gedanke mir selbst gut gefiel – es war wie in alten Zeiten –, und diesmal erwiderte Nat mein Lächeln.

„Wie heißt er denn?“, wollte sie wissen.

Ich zögerte nur einen winzigen Moment. „Wyatt“, antwortete ich dann in Erinnerung an meine Reifenpannenfantasie. „Er ist Arzt.“

2. KAPITEL

Unnötig zu erwähnen, dass der Rest des Abends für alle Beteiligten besser verlief. Natalie zog mich zurück zum Tisch, an dem unsere Familie saß, und bestand darauf, dass ich noch bliebe, da sie vorher viel zu nervös gewesen war, um überhaupt mit mir zu sprechen.

„Grace ist mit jemandem zusammen!“, verkündete sie mit glänzenden Augen. Margaret, die gerade mehr oder weniger begeistert Mémés Ausführungen über ihre Nasenpolypen lauschte, sah sofort zu mir hoch. Mom und Dad unterbrachen ihr Gezänk und bombardierten mich mit Fragen, aber ich beschwichtigte sie erst einmal mit meiner „Es ist noch zu früh, um darüber zu reden“-Version. Margaret hob eine Augenbraue, sagte jedoch nichts. Aus dem Augenwinkel hielt ich Ausschau nach Andrew – er und Natalie hielten schon den ganzen Abend aus Rücksicht auf meine Gefühle Abstand voneinander –, konnte ihn aber nicht entdecken.

„Und womit verdient dieser Jemand seinen Lebensunterhalt?“, wollte Mémé wissen. „Er ist doch wohl keiner von diesen verarmten Lehrern, wie ich hoffe. Deine Schwestern haben es geschafft, gut bezahlte Arbeit zu finden, Grace. Ich weiß nicht, warum du das nicht kannst.“

„Er ist Arzt“, antwortete ich und nahm einen großen Schluck Gin Tonic, den der Kellner gerade vorbeigebracht hatte.

„Was für ein Arzt, Schnups?“, fragte Dad nach.

„Kinderarzt. Chirurg“, erwiderte ich, ohne zu zögern. Und noch ein Schluck. Hoffentlich würden sie die Röte meiner Wangen meinem Cocktail zuschreiben und nicht meinem Lügen.

„Wie schön“, seufzte Nat und lächelte engelsgleich. „Ach, Grace!“

„Wunderbar“, sagte auch Dad. „Halt ihn fest, Grace.“

„Sie muss niemanden festhalten, Jim“, schalt Mom umgehend. „Also wirklich, du bist doch ihr Vater! Warum redest du ihr solchen Schwachsinn ein?“ Und schon steckten die beiden im nächsten Streit. Wie gut, dass sie sich wenigstens um die arme Grace keine Sorgen mehr machen mussten!

Unter dem Vorwand, mein Handy vergessen zu haben und dringend meinen wunderbaren Arztfreund anrufen zu wollen, nahm ich bald darauf ein Taxi nach Hause. Es gelang mir auch, einen direkten Wortwechsel mit Andrew zu vermeiden. Das Thema Natalie und Andrew schob ich in guter Scarlett-O’Hara-Manier einfach beiseite – Morgen will ich über all das nachdenken – und konzentrierte mich stattdessen auf meinen neuen erfundenen Freund. Wie gut, dass mir vor ein paar Wochen der Reifen geplatzt war, sonst hätte ich diese Nummer nicht so schnell aus dem Ärmel ziehen können.

Wie schön wäre es gewesen, wenn es Wyatt, den Kinderchirurgen, in echt gäbe! Erst recht, wenn er auch ein guter Tänzer wäre, und sei es nur mit einem einfachen Foxtrott-Grundschritt. Wenn er Mémé hätte bezirzen und Mom über ihre Skulpturen befragen können, ohne bei der Beschreibung peinlich berührt zusammenzuzucken. Wenn er, wie Stuart, ein Golfer gewesen wäre und die beiden sich morgens auf dem Golfplatz verabredet hätten. Wenn er zufällig ein bisschen über den Bürgerkrieg gewusst hätte. Wenn er gelegentlich mitten im Satz innegehalten hätte, weil ihm bei meinem Anblick spontan entfallen wäre, was er hatte sagen wollen. Wenn er hier gewesen wäre, um mich nach oben ins Schlafzimmer zu führen, mir das unbequeme Kleid auszuziehen und mich kräftig durchzuvögeln.

Das Taxi bog in meine Straße und hielt an. Ich bezahlte den Fahrer, stieg aus und stand eine Minute lang nur da, um mein Haus zu betrachten. Es war ein kleines, dreistöckiges Häuschen im viktorianischen Stil, schmal und hoch. Ein paar wackere Narzissen standen am Wegesrand, und bald würden die Tulpenbeete in roter und gelber Pracht erblühen. Im Mai würden die Fliederbüsche an der Ostseite das ganze Haus mit ihrem unvergleichlichen Duft erfüllen. Die meiste Zeit des Sommers würde ich auf der Veranda verbringen, lesen, Artikel für diverse Fachzeitschriften schreiben und meine Farne und Begonien gießen. Mein Zuhause. Als ich es gekauft hatte – ich korrigiere: Als Andrew und ich es gekauft hatten –, war es heruntergekommen und vernachlässigt gewesen. Jetzt war es eine Sehenswürdigkeit. Meine Sehenswürdigkeit, da Andrew mich verlassen hatte, bevor die neue Isolierung hochgezogen, Innenwände eingerissen und innen und außen neue Anstriche gemacht worden waren.

Als er meine hohen Absätze auf den Steinplatten klackern hörte, reckte Angus hinter dem Wohnzimmerfenster den Kopf. Ich musste grinsen … und begann dann, ein wenig zu schwanken. Offenbar war ich ein winziges bisschen angetrunken, was noch deutlicher wurde, als ich ergebnislos nach meinem Schlüssel kramte. Doch, da! Schlüssel ins Türschloss stecken, drehen … „Hallo Angus McFangus! Mommy ist wieder da!“

Mein kleiner Hund stürmte auf mich zu und drehte, von meinem bloßen Dasein überwältigt, mehrere Triumphrunden durch das Erdgeschoss– Wohnzimmer, Esszimmer, Küche, Flur und von vorn. „Hast du deine Mommy vermisst?“, fragte ich jedes Mal, als er an mir vorbeisauste. „Hast du … Mommy … vermisst?“ Irgendwann hatte er seine überschüssige Energie verbraucht und präsentierte mir sein Opfer des Abends, eine zerfledderte Taschentuchschachtel, die er mir stolz zu Füßen legte.

„Danke, Angus“, sagte ich in dem Bewusstsein, dass dies ein Geschenk an mich war. Angus sank hechelnd zu Boden und sah mich aus vor Bewunderung leuchtenden schwarzen Knopfaugen an, die Hinterbeine ausgestreckt, als würde er fliegen: seine, wie ich sie nannte, Superhundpose. Ich setzte mich vor ihm in einen Sessel, streifte die Schuhe ab und kraulte seinen süßen kleinen Kopf. „Rate mal, mein Süßer! Wir haben jetzt einen Freund!“, verkündete ich. Er leckte mir fröhlich die Hand, rülpste und rannte in die Küche. Gute Idee! Ich würde mir als Betthupferl noch etwas Ben & Jerry’s gönnen. In der Küche angekommen, sah ich kurz aus dem Fenster … und erstarrte.

An der Seite des Nachbarhauses schlich ein Mann entlang.

Es war natürlich schon dunkel draußen, doch im Licht der Straßenlaterne war der Mann deutlich zu sehen, wie er langsam am Nachbargebäude entlangging. Er sah sich nach links und rechts um, hielt inne, stieg dann langsam und vorsichtig die Stufen zur Seitentür hinauf und fasste an den Türknauf. Offenbar war die Tür verschlossen. Er sah unter der Türmatte nach. Nichts. Versuchte erneut, den Türknauf zu drehen.

Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. Noch nie zuvor hatte ich beobachtet, wie in ein Haus eingebrochen wurde. In der Maple Street 36 wohnte zudem überhaupt niemand. Seit ich vor zwei Jahren nach Peterston gezogen war, hatte niemand das Nachbarhaus auch nur angesehen. Es war ein ziemlich heruntergekommener Flachbau, in den man viel Arbeit stecken müsste. Ich hatte mich oft gefragt, warum niemand es kaufte und herrichtete. Sicher gab es nichts darin, das es wert gewesen wäre, es zu stehlen …

Ich schluckte laut hörbar, und mit einem Schlag wurde mir bewusst, dass der Einbrecher, falls er in meine Richtung sähe, mich klar und deutlich erkennen könnte, da mein Licht brannte und meine Vorhänge geöffnet waren. Ohne den Blick von dem Mann zu nehmen, hob ich langsam einen Arm zur Seite und schaltete das Licht aus.

Der Verdächtige, wie ich ihn in Gedanken bereits nannte, rammte jetzt seine Schulter in die Tür. Als nichts passierte, versuchte er es erneut, kräftiger diesmal. Ich zuckte zusammen, als seine Schulter die Tür traf. Nichts. Auch ein drittes Mal brachte keinen Erfolg. Der Mann ging zu einem Fenster, legte die Hände um die Augen und spähte ins Haus.

Das alles kam mir sehr verdächtig vor. Nun versuchte der Mann, das Fenster zu öffnen, doch er hatte wiederum kein Glück. Gut, vielleicht hatte ich zu viele Folgen Law & Order gesehen– Trost und Glück der Single-Frauen landaus, landein–, aber in diesem Fall wurde doch ganz offensichtlich ein Verbrechen verübt. Nicht gut. Was, wenn der Einbrecher gleich zu mir käme? In seinen bisherigen zwei Lebensjahren hatte Angus seine Beschützerqualitäten noch nie unter Beweis stellen müssen. Schuhe zu zerkauen und Klorollen zu zerfetzen – das beherrschte er tadellos. Aber mich vor einem durchschnittlich großen Mann zu beschützen? Der noch dazu ziemlich muskulös wirkte?

Ich ließ die üblichen Horrorszenarien an meinem geistigen Auge vorbeiziehen und suchte Trost in ihrer tatsächlich geringen Wahrscheinlichkeit. Der Mann, der es gerade beim nächsten Fenster versuchte, war offensichtlich kein Mörder, der nach einem Versteck für eine Leiche suchte. Vermutlich hatte er auch kein Heroin im Wert von einer Million Dollar im Kofferraum. Und ich hoffte inständig, dass er nicht die Absicht hegte, eine durchschnittlich große Frau in einem Loch in seinem Keller festzuketten und so lange auszuhungern, bis er ihre Haut zu einem neuen Kleid vernähen könnte, wie der Typ aus Das Schweigen der Lämmer.

Der Einbrecher probierte es ein weiteres Mal an der Tür. Okay, Kumpel, dachte ich. Genug ist genug. Zeit, die Polizei zu rufen. Selbst wenn er kein Mörder war, so suchte er doch offensichtlich ein Haus zum Einbrechen. Gut, ich hatte zwei Gin Tonic getrunken (oder waren es drei gewesen?), und Trinken war nicht gerade meine Stärke, aber trotzdem. Egal, von welcher Seite ich es betrachtete, die Aktivitäten am Nachbarhaus wirkten verdammt noch mal verdächtig. Der Mann ging jetzt hinter das Haus, vermutlich, um erneut einen Zugang zu finden. Wie auch immer. Zeit, meine Steuergelder sinnvoll zu nutzen und die Polizei zu rufen.

„Hier Notrufzentrale, bitte geben Sie Ihren Notruf ab.“

„Hallo, wie geht es Ihnen?“, fragte ich.

„Haben Sie einen Notfall zu melden, Ma’am?“

„Oh, na ja, wissen Sie, ich bin nicht sicher“, erwiderte ich und kniff die Augen zusammen, um den Einbrecher besser beobachten zu können. Allerdings sah ich ihn nicht mehr, weil er hinter dem Haus verschwunden war. „Ich glaube, in das Haus neben meinem wird eingebrochen. Ich wohne Maple Street 34 in Peterston. Grace Emerson.“

„Einen Moment, bitte.“ Ich hörte das Rauschen eines Funkgeräts im Hintergrund. „Eine Streife ist in Ihrer Nähe, Ma’am“, sagte die Frau nach einer Weile. „Und wir werden gleich eine Einheit losschicken. Was genau sehen Sie gerade?“

„Äh, gerade jetzt sehe ich nichts. Aber vorhin hat er … die Bude ausspioniert.“ Ich zuckte zusammen. Die Bude ausspioniert? Wer war ich, Tony Soprano? „Ich meine, er ist um das Haus gegangen und hat Türen und Fenster ausprobiert. Es wohnt dort niemand, wissen Sie?“

„Danke, Ma’am. Die Polizei müsste jeden Augenblick da sein. Soll ich so lange am Telefon bleiben?“, wollte sie wissen.

„Nein, ist schon gut.“ Ich wollte nicht wie eine Memme wirken. „Vielen Dank.“ Ich legte auf und kam mir einigermaßen heldenhaft vor. Hallo, ich bin eine echte Nachbarschaftswache!

Von der Küche aus konnte ich den Mann nicht mehr sehen, also schlich ich ins Esszimmer (ups, leicht schwankend … vielleicht waren es doch drei Gin Tonic gewesen). Durch das Fenster war nichts zu erkennen und ich hörte auch keine Sirene. Wo waren die Polizisten nur? Vielleicht wäre ich doch besser in der Leitung geblieben. Was, wenn der Einbrecher merkte, dass es drüben nichts zu holen gab, und dann auf die Idee käme, hier zu suchen? Ich hatte viele nette Sachen. Das Sofa hatte fast zwei Riesen gekostet. Mein Computer war das Neueste vom Neuen. Zu meinem letzten Geburtstag hatten Mom und Dad mir einen exzellenten Plasmafernseher geschenkt.

Ich sah mich um. Also gut, es war vielleicht ein bisschen blöd, aber ich würde mich sicherer fühlen, wenn ich … nun ja, nicht gerade bewaffnet wäre, aber etwas in der Art. Ich besaß keine Pistole, dafür war ich nicht der Typ. Mein Blick fiel auf den Messerblock. Nein … das schien mir dann doch übertrieben. Gut, ich hatte zwei Gewehre auf dem Dachboden, ganz zu schweigen vom Bajonett und all dem anderen Bürgerkriegszeug, aber wir benutzten nur Platzpatronen, und ich konnte mir nicht vorstellen, jemanden mit dem Bajonett aufzuspießen, egal, wie viel Spaß ich beim Nachstellen solcher Kampfszenen auch haben mochte.

Ich schlich ins Wohnzimmer, öffnete den Schrank und wog meine Optionen ab. Bügel– ungeeignet. Schirm– zu leicht. Aber Moment mal. Da hinten lag mein alter Feldhockeyschläger aus der Highschool. Aus Gründen der Nostalgie hatte ich ihn all die Jahre aufgehoben, um mich an die kurze Zeit meines Athletendaseins zu erinnern, und jetzt war ich froh. Es war nicht gerade eine Waffe, aber dennoch ein Schutz. Perfekt.

Angus lag mittlerweile schlafend auf dem roten Samtkissen in seinem Körbchen in der Küche. Er hatte sich auf den Rücken gerollt, die haarigen Pfoten in die Luft gestreckt, den Unterüber den Oberkiefer gepresst und wirkte nicht gerade so, als könnte er im Notfall zur unersetzlichen Hilfe werden. „Reiß dich am Riemen“, flüsterte ich. „Niedlich zu sein ist nicht alles, weißt du?“

Er nieste, und ich duckte mich. Hatte der Einbrecher das gehört? Vielleicht sogar mein Telefongespräch? Ich wagte einen Blick aus dem Esszimmerfenster – immer noch keine Polizei. Und auch nebenan war nichts Besonderes mehr zu erkennen. Vielleicht war der Verdächtige weg?

Oder auf dem Weg hierher. Zu mir. Oder meinen Sachen. Oder mir. Man konnte nie wissen.

Der Hockeyschläger in meiner Hand beruhigte mich etwas. Vielleicht sollte ich nach oben schleichen und mich auf dem Dachboden einschließen, überlegte ich. Mich neben die Gewehre setzen, selbst wenn sie keine Munition enthielten. Die Polizei würde doch sicher allein mit ihm fertig werden. Wie aufs Stichwort kam nun ein schwarz-weißer Streifenwagen die Straße entlanggetuckert und hielt direkt vor dem Haus der Darrens. Fantastisch. Ich war in Sicherheit. Nun konnte ich beruhigt wieder ins Esszimmer schleichen und kontrollieren, ob der Einbrecher irgendwo zu sehen war.

Nein. Nichts. Nur das leise Klopfen der Fliederzweige gegen meine Fenster. Und wo ich schon bei den Fenstern war – Dad hatte recht. Sie mussten erneuert werden. Ich spürte einen Luftzug, obwohl es nicht besonders windig draußen war. Meine letzte Heizkostenabrechnung war mörderisch hoch gewesen.

Just in diesem Moment klopfte es an die Tür. Ah, die Polizei. Wer hatte behauptet, sie sei nie da, wenn man sie brauche? Wie vom Blitz getroffen zuckte Angus zusammen, rannte zur Tür, sprang mit allen vieren gleichzeitig in die Luft und begann zu kläffen. Jap! Japjapjapjapjap! „Schsch!“, kommandierte ich. „Sitz. Platz. Beruhige dich, Kleiner.“

Mit dem Schläger in der Hand öffnete ich die Haustür.

Doch es war nicht die Polizei. Vor mir stand der Einbrecher. „Hallo“, sagte er.

Ich hörte den Aufprall des Schlägers, bevor mir noch bewusst wurde, dass ich mich bewegt hatte. Dann nahm mein geschocktes Hirn alle möglichen Sachen auf einmal auf. Den dumpfen Aufprall von Holz auf Mensch. Den Nachhall der Bewegung in meinem Arm. Den verdutzten Gesichtsausdruck des Einbrechers, während er den Arm hob, um sein Auge zu schützen. Meine zitternden Beine. Das langsame Einknicken des Mannes in die Knie. Angus’ hysterisches Kläffen.

„Autsch“, sagte der Einbrecher schwach.

„Raus mit Ihnen“, piepste ich mit drohend erhobenem Schläger. Ich schlotterte am ganzen Körper.

„Du lieber Himmel … Gute Frau!“, murmelte er, mehr überrascht als alles andere. Angus knurrte wie ein erbostes Löwenbaby, biss dem Mann in den Jackenärmel und warf – fröhlich schwanzwedelnd – den kleinen Kopf hin und her, um irgendwelchen Schaden anzurichten. Auch er zitterte am ganzen Körper vor Erregung, sein Frauchen verteidigen zu können.

Sollte ich den Schläger weglegen? Oder würde der Mann dann die Gelegenheit nutzen, mich zu packen? War das nicht der Fehler, den fast alle Frauen machten, bevor sie in die Grube im Keller geworfen und ausgehungert wurden, um die Haut zu lockern?

„Polizei! Hände hoch!“

Richtig! Die Polizei! Gott sei Dank! Zwei Polizisten rannten durch meinen Vorgarten.

„Hände hoch! Wird’s bald?“

Ich gehorchte, und der Hockeyschläger glitt mir aus den Fingern, prallte am Kopf des Einbrechers ab und landete auf der Veranda. „Gütiger Gott!“, stöhnte der Einbrecher gequält und zuckte zusammen. Angus ließ seinen Ärmel los und machte sich stattdessen über den Schläger her, den er aufgeregt anknurrte und ankläffte.

Der Einbrecher sah zu mir hoch. Die Haut um sein Auge war bereits feuerrot. Und – herrje! – war das etwa Blut?

„Hände auf den Kopf, Freundchen“, sagte einer der Polizisten und zog seine Handschellen hervor.

„Das glaube ich ja nicht“, sagte der Einbrecher und gehorchte mit der (wie ich mir einbildete) erschöpften Resignation eines Mannes, der das nicht zum ersten Mal erlebte. „Was habe ich getan?“

Der Polizist antwortete nicht, sondern zog nur die Handschellen fest. „Bitte gehen Sie ins Haus, Ma’am“, sagte der andere.

Ich löste mich aus meiner Starre und ging auf wackligen Beinen hinein. Angus schleifte den Hockeyschläger hinter sich her, ließ ihn dann fallen und umkreiste mit vergnügten Sprüngen meine Fußknöchel. Ich sackte aufs Sofa und nahm meinen Hund in die Arme, woraufhin er mir eifrig das Kinn leckte, zweimal bellte und anfing, auf meinen Haaren herumzukauen.

„Sind Sie Ms Emerson?“, erkundigte sich der Polizist nach einem vorsichtigen Schritt über den Hockeyschläger hinweg.

Immer noch heftig zitternd nickte ich. Mein Herz raste wie Seabiscuit im Endspurt seines Rennens.

„Also. Was ist hier passiert?“

„Ich sah, wie dieser Mann in das Haus gegenüber einbrechen wollte“, antwortete ich, während ich mein Haar aus Angus’ Fängen befreite. Meine Stimme klang ungewohnt hoch. „In dem übrigens niemand wohnt. Dann habe ich die Polizei gerufen, und auf einmal stand er auf meiner Veranda. Deshalb habe ich mich mit einem Feldhockeyschläger gewehrt. Ich habe auf der Highschool gespielt.“

Ich lehnte mich wieder zurück, schluckte, sah aus dem Fenster, atmete ein paar Mal tief durch und versuchte, nicht zu hyperventilieren. Der Polizist wartete einen Moment, und ich streichelte Angus’ raues Fell, sodass er genüsslich fiepte. Jetzt, wo ich darüber nachdachte, war es vielleicht nicht unbedingt nötig gewesen, dem Einbrecher eins überzuziehen. Mir fiel ein, dass er „Hallo“ gesagt hatte. Zumindest hatte ich eine vage Erinnerung daran. Ja, er hatte „Hallo“ gesagt. Begrüßten Einbrecher ihre Opfer normalerweise? Hallo. Ich würde gern Ihr Haus ausrauben. Passt es Ihnen gerade?

„Geht es Ihnen gut?“, erkundigte sich der Polizist. Ich nickte. „Hat er Sie verletzt? Sie bedroht?“ Ich schüttelte den Kopf. „Warum haben Sie die Tür geöffnet, Miss? Das war nicht besonders klug.“ Missbilligend runzelte er die Stirn.

„Ich, äh … dachte, das wären Sie. Ich habe Ihren Wagen gesehen. Und nein, er hat mir nichts getan. Er …“ hat nur Hallo gesagt. „Er sah nur … verdächtig aus? Irgendwie? Er ist ums Haus geschlichen und hat sich umgesehen. Hineingespäht, meine ich. Und da wohnt niemand. Seit ich hier wohne, hat da niemand gewohnt. Und ich wollte ihn eigentlich nicht schlagen.“

Na, das klang ja wirklich sehr intelligent!

Der Polizist sah mich zweifelnd an und schrieb etwas in sein kleines schwarzes Buch. „Haben Sie getrunken, Ma’am?“

„Ein bisschen“, antwortete ich schuldbewusst. „Ich bin aber nicht Auto gefahren. Ich war auf einer Hochzeit. Meine Cousine. Sie ist nicht besonders nett. Jedenfalls hatte ich einen Cocktail. Einen Gin Tonic. Na ja, wohl eher zweieinhalb. Vielleicht auch drei?“

Der Polizist klappte sein Notizbuch zu und seufzte.

„Butch?“ Der zweite Polizist streckte den Kopf durch die Tür. „Wir haben ein Problem.“

„Ist er weggerannt?“, platzte ich heraus. „Geflohen?“

Der zweite Polizist sah mich mitleidig an. „Nein, Ma’am, er sitzt auf Ihrer Verandatreppe. Und er trägt Handschellen, Sie brauchen sich also keine Sorgen zu machen. Butch, könntest du wohl mal eine Minute herkommen?“

Butch ging weg, seine Waffe blitzte im Licht. Ich nahm Angus fest in die Arme, schlich auf Zehenspitzen zum Wohnzimmerfenster und schob den Vorhang zurück (blaue Wildseide, sehr hübsch). Der Einbrecher saß mit dem Rücken zu mir auf meiner Treppe, während Officer Butch und sein Kollege sich berieten.

Nun, da ich nicht mehr von Todesangst geschüttelt war, betrachtete ich den Mann genauer. Er hatte strubbeliges braunes Haar und war eigentlich recht attraktiv. Breite Schultern … Wie gut, dass ich mit ihm nicht in eine Schlägerei geraten war! Also … in mehr Schlägerei, meine ich. Muskulöse Arme, so wie der Stoff sich über dem Bizeps spannte. Das konnte allerdings auch von der verdrehten Haltung mit den hinter dem Rücken gefesselten Händen kommen.

Als würde er meine Blicke spüren, drehte der Einbrecher sich zu mir um. Erschrocken fuhr ich zurück. Sein Auge war bereits zugeschwollen. Verdammt. Ich hatte nicht die Absicht gehabt, ihn zu verletzen. Im Grunde hatte ich überhaupt nichts beabsichtigt … ich hatte nur spontan reagiert.

Officer Butch kam wieder ins Haus.

„Braucht er Eis?“, flüsterte ich.

„Nein, ist schon in Ordnung, Ma’am. Er sagt, er wohnt nebenan, aber wir müssen ihn mit aufs Revier nehmen und seine Aussage überprüfen. Würden Sie mir für Rückfragen bitte Ihre Telefonnummer geben?“

„Sicher“, sagte ich und sagte meine Telefonnummer auf. Dann erst begriff ich, was der Polizist gesagt hatte. Wohnt nebenan.

Was bedeutete, dass es mein neuer Nachbar war, dem ich gerade ein blaues Auge verpasst hatte.

3. KAPITEL

Das Erste, was ich am nächsten Tag nach dem Aufwachen tat, war, aus dem Bett zu rollen und durch meinen Katernebel auf das Nachbarhaus zu spähen. Alles ruhig. Kein Lebenszeichen. Zu meinem dröhnenden Kopf gesellte sich das schlechte Gewissen, als ich wieder das Bild des völlig verdutzten Einbrechers – oder Nicht-Einbrechers – vor Augen hatte. Ich würde bei der Polizei anrufen und nachfragen müssen, was weiter passiert war. Vielleicht sollte ich meinen Dad informieren – er war Anwalt. Für Steuerrecht zwar, aber trotzdem. Margaret war Strafverteidigerin. Vielleicht wäre sie die bessere Wahl.

Mist, verdammt. Ich wünschte, ich hätte den Typen nicht geschlagen. Tja. Unfälle passieren. Immerhin war er mitten in der Nacht ums Haus geschlichen, oder? Was erwartete er? Dass ich ihn auf einen Kaffee hereinbat? Außerdem … vielleicht hatte er gelogen. Vielleicht war „Ich wohne nebenan“ nur ein Täuschungsmanöver gewesen. Vielleicht hatte ich der Gesellschaft einen Dienst erwiesen. Trotzdem war es neu für mich, jemanden zu schlagen. Ich hoffte sehr, der Typ war nicht allzu stark verletzt. Oder sauer.

Der Anblick meines Kleides, das ich im Trubel der letzten Nacht nicht ordentlich aufgehängt hatte, erinnerte mich an Kittys Hochzeit. An Andrew und Natalie … zusammen. An Wyatt, meinen erfundenen neuen festen Freund. Ich lächelte. Schon wieder ein ausgedachter Freund. Ich hatte es erneut gewagt.

Möglicherweise haben Sie den Eindruck bekommen, dass Natalie … nun, nicht unbedingt verzogen, aber vielleicht überbehütet war. Damit hätten Sie recht. Sie wurde von unseren Eltern, von Margs – die mit ihrer Liebe sonst eher zurückhaltend umging – und auch von Mémé geradezu vergöttert. Besonders aber von mir. Tatsächlich hatte ich die erste klare Erinnerung meines Lebens an Natalie. Es war mein vierter Geburtstag gewesen und Mémé war da, um auf uns aufzupassen. Sie rauchte in unserer Küche eine Zigarette. Im Ofen garte mein Geburtstagskuchen, und der warme Duft von Vanille mischte sich nicht unangenehm mit dem Rauch ihrer Kool Lights.