Ich habe nein gesagt - Annemarie Schoenle - E-Book
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Ich habe nein gesagt E-Book

Annemarie Schoenle

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Beschreibung

Gefangen in einer Ehe – und dem Unverständnis einer Familie: Annemarie Schoenles aufrüttelnder Roman »Ich habe Nein gesagt« als eBook bei dotbooks. Wenn die heile Welt Risse bekommt … Doris ist mit Werner verheiratet, die beiden haben eine achtjährige Tochter, scheinen eine ganz normale Ehe zu führen. Und dass Doris die früheren Zärtlichkeiten vermisst, das geht nun wirklich niemanden etwas an, oder? Doch dann beginnt Werner, seine schlechte Laune immer heftiger an ihr auszulassen. Als Doris in ihrer Not Trost bei einem anderen Mann sucht, dreht Werner durch: Er verprügelt und vergewaltigt seine Frau. Für Doris bricht eine Welt zusammen, sie will nur noch weg. Aber in ihrer Familie stößt sie auf Unverständnis und Ablehnung … Der ergreifende Roman über eine Frau, die in ihrer dunkelsten Stunde den Mut findet, zu sich selbst zu stehen – gegen alle Widerstände: »Schoenles Geschichte lässt keine einfache Parteinahme zu. Sie erzählt, wie Gewalt in einer scheinbar gewöhnlichen Beziehung ausbrechen kann und davon, wie hoffnungslos unterschiedlich Frauen und Männer empfinden, wenn es mit der Liebe zu Ende geht.« Der Spiegel Jetzt als eBook kaufen und genießen: »Ich habe Nein gesagt« von Annemarie Schoenle – erfolgreich verfilmt mit Martina Gedeck und Jörg Schüttauf – thematisiert Gewalt gegen Frauen und Vergewaltigung in der Ehe, vielschichtig, schonungslos, aufrüttelnd. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 391

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Über dieses Buch:

Wenn die heile Welt Risse bekommt … Doris ist mit Werner verheiratet. Die beiden haben eine achtjährige Tochter, scheinen eine ganz normale Ehe zu führen. Und dass Doris die früheren Zärtlichkeiten vermisst, das geht nun wirklich niemanden etwas an, oder? Doch dann beginnt Werner, seine schlechte Laune immer heftiger an ihr auszulassen. Als Doris in ihrer Not Trost bei einem anderen Mann sucht, dreht Werner durch: Er verprügelt und vergewaltigt seine Frau. Für Doris bricht eine Welt zusammen. Sie will nur noch weg. Aber in ihrer Familie stößt sie nur auf Unverständnis und Ablehnung … Der ergreifende Roman über eine Frau, die in ihrer dunkelsten Stunde den Mut findet, zu sich selbst zu stehen – gegen alle Widerstände.

»Schoenles Geschichte lässt keine einfache Parteinahme zu. Sie erzählt, wie Gewalt in einer scheinbar gewöhnlichen Beziehung ausbrechen kann ... und davon, wie hoffnungslos unterschiedlich Frauen und Männer empfinden, wenn es mit der Liebe zu Ende geht.« Der Spiegel

Über die Autorin:

Die Romane Annemarie Schoenles werden millionenfach gelesen, zudem ist sie eine der begehrtesten Drehbuchautorinnen Deutschlands (u. a. Grimme-Preis). Sie ist Mutter einer erwachsenen Tochter und lebt mit ihrem Mann in der Nähe von München.

Bei dotbooks erschienen bereits Annemarie Schoenles Romane »Frauen lügen besser«, »Frühstück zu viert«, »Verdammt, er liebt mich«, »Nur eine kleine Affäre«, »Du gehörst mir«, »Eine ungehorsame Frau«, »Ringelblume sucht Löwenzahn«, »Familie ist was Wunderbares«, »Abends nur noch Mondschein« und die Sammelbände »Frauen lügen besser & Nur eine kleine Affäre« »Ringelblume sucht Löwenzahn & Abends nur noch Mondschein« sowie die Erzählbände »Der Teufel steckt im Stöckelschuh«, »Die Rache kommt im Minirock«, »Die Luft ist wie Champagner«, »Das Leben ist ein Blumenstrauß«, »Dreitagebart trifft Minirock«, »Tanz im Regen« und »Zuckerherz und Liebesapfel«.

Die Website der Autorin: www.annemarieschoenle.de

***

Aktualisierte eBook-Neuausgabe Mai 2015

Copyright © der Originalausgabe 2001 bei Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München

Copyright © der aktualisierten Neuausgabe 2015 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung von shutterstock/sprinter81

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-95520-714-4

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Annemarie Schoenle

Ich habe nein gesagt

Roman

dotbooks.

»Gesetze sind der in bestimmte Formeln gebrachte und darin ausgedrückte soziale Zustand eines Landes, sie spiegeln denselben ab.«

August Bebel, 1883

Erst im Juli 1997 wurde in Deutschland die Vergewaltigung in der Ehe als solche definiert und unter Strafe gestellt.

ERSTES KAPITEL

1

Der Bluterguss, direkt unterm Auge, ist so groß wie ein Fünfmarkstück. Ich verreibe vorsichtig Make-up auf den Wangen und tupfe Puder auf. Dann nehme ich einen dunkelblauen Lidstift. Tanja steht neben mir. Wir lächeln uns an. Ich male einen Schmetterling auf das Fünfmarkstück und decke das Stückchen Haut, das bereits verschorft ist, mit Glitzersalbe ab. »Warum malst du keinen gelben Schmetterling, Mama?«, fragt Tanja.

Warum muss ich überhaupt Schmetterlinge malen? Vielleicht, weil ich für irgendetwas um Vergebung bat? Vielleicht bin ich schuldig und unschuldig zugleich. Mein widerspenstiges Wesen? Mein Hunger nach einem anderen Leben? »Man muss wissen, wo man hingehört«, sagt Werner immer. Er weiß es. Die Beine fest auf der Erde. Den Gegner ausdribbeln. Ein Tor ist, wenn der Ball im Netz liegt. Und die Abseitsfalle ist legitim.

2

Es war der Abend nach meinem Geburtstag. Vom Vortag war noch Bratensülze da. Ich sah Werner zu, wie er große Stücke Sülze in den Mund schob und Bier trank. Er trank es immer aus der Flasche, da konnte ich reden, was ich wollte. Ich erzählte ihm, dass der Filialleiter im Drogeriemarkt vorhatte, alle Regale umzustellen und Spiegel einbauen zu lassen, damit der Laden größer wirkt. Werner sah mich schweigend an. Wieder ein Stück Bratensülze, ein Schluck Bier. Er war schlecht gelaunt. Sein Blick schweifte umher. Ein Funkeln in seinen Augen. Er ärgerte sich. Und seine Hände, sie lagen breit auf dem Tisch, die Finger bogen sich nervös nach oben. Manchmal träumte ich von seinen Händen. Ich sah sie Bierkästen hochheben, über meinen Körper fahren oder einen Schraubenschlüssel umklammern. Sie waren immer in Bewegung. Kräftige Hände. Sympathisch. Und trotzdem machten sie mir Angst.

Er arbeitete als Mechaniker in Rickis Auto-Center. Die Auftragsblöcke waren voll, jeder wollte sein Auto zuerst repariert haben. Im Allgemeinen kam Werner gut mit den Kunden aus, er hatte etwas Verlässliches, er war freundlich und erzählte gern mal einen Witz. Aber wenn Typen in Nadelstreifen angebraust kamen und alles schon vorgestern geregelt haben wollten, wurde er stur. Die können mich mal, sagte er dann und reparierte absichtlich zuerst den alten Karren eines Kumpels aus seinem Fußballclub.

Im Fernsehen lief ein Spielfilm. Zwei schöne Menschen in einer schönen Wohnung hatten das grundlegende Problem, dass sie einander nicht mehr verstanden. Er sagte sanft: »Lass uns drüber reden!« Sie nickte. »Ja, du hast Recht. Reden wir drüber!« Wenn ich solche Filme sah, wurde ich zum besseren Menschen. Dann konnte ich mir vorstellen, mit Werner so liebevoll und sanft wie die Filmheldin zu sprechen. »Lass uns drüber reden, warum ich nicht mehr mit dir schlafen kann.« Und er: »Liegt es an mir? Erklär es mir, Darling. Ich hör' dir zu, alles wird gut, du wirst sehen.«

Werner hielt die Flasche an den Mund. »Hier sieht's aus wie im Schweinestall. Mensch, Doris ...« Er trank. Sein Kehlkopf bewegte sich. Dieses Bild lässt mich nicht los. Der zurückgelegte Kopf, die arbeitenden Halsmuskeln, sein kräftiges Handgelenk. Als würde mit einem Schlag deutlich werden, was mich anzog und abstieß zugleich. Arme, die sich um dich schließen und dir das Gefühl geben, nicht allein zu sein. Ein vertrautes Gesicht und forschende Augen, hell, blau, freundlich. Und dann von einer Minute zur anderen Muskeln, die sich verhärten, und ein Blick, kälter als Eis. Und wieder einen Moment später bewunderst du ihn. Ein Mann, der zupackt, der gern mit seinen Händen arbeitet, der geschickt ist und fleißig. Dem Schweißperlen auf der Stirn stehen, die in der Sonne glitzern, wenn er Reifen auf einen Stapel wuchtet oder ein Drehkreuz exakt auf die Mutter setzt und um die eigene Achse kurbelt. Als ich ihn heiratete, dachte ich, er sei trotz seiner rauen Schale einfühlsam. Vielleicht war er das auch – bei anderen Menschen. Aber ich war sein Eigentum, sein Besitz, von jenem Tag an, da wir wussten, dass wir zusammenbleiben würden. Wenn du etwas besitzt, willst du es behalten. Es gehört dir. Du wirst sorgsam damit umgehen. Wirst dein Eigentum verteidigen. Bist der Herr, der Inhaber, der Nutznießer natürlich auch. Kannst das Eigentum auch zerstören, wenn es dir keine Freude mehr bereitet.

»Ich habe Überstunden gemacht«, antwortete ich. »Du weißt ja ... der Umbau.«

»Wo ist Tanja?«

»Sie schläft.«

Ich legte meine Beine auf den Hocker, der an der Stirnseite des Tisches stand. Werner, die Bierflasche wieder am Mund, betrachtete meine Schenkel. Ein leichtes Lächeln. Hastig setzte ich mich gerade und zog den Rock über die Knie. Reiner Instinkt, aber falsch, ganz falsch. Die Muskeln an Werners Hals arbeiteten wieder. Sein Gesicht rötete sich. Eine unerträgliche Situation, wenn beide wissen, was los ist, aber keiner spricht es aus. Er stand auf, ging auf den Flur und trat die Tür mit einem Knall zu. Alles in mir verkrampfte sich. Der Mann im Fernsehen streichelte seiner Partnerin zärtlich übers Gesicht, sie schmiegte sich in seine Arme, und er sagte: »Ich würde nie etwas tun, das dich verletzt. Nicht absichtlich.« Und sie antwortete: »Ich weiß. Ich liebe dich.«

Werner kam ins Zimmer zurück. Eingezogene Lippen, zwei tiefe Falten zwischen den Augen. Mayday, mayday, ich gehe unter, dachte ich.

»Also?«

»Also was?«

»Spül ab! Oder hast du dazu auch keine ... Lust?«

Ich rührte mich nicht.

Er ging zu meiner Nähmaschine. Seitlich lag ein Stoß mit Notenblättern und Liedertexten. Er packte die ganzen Papiere und hielt sie hoch.

»Aber dafür hast du Zeit.«

»So wie du für deine Fußballmagazine.«

Wir starrten uns an. Ich verzog den Mund, ein klein wenig nur, ein bisschen Spott, obwohl ich eigentlich hätte vorsichtig sein müssen. Aber ich konnte nie vorsichtig genug sein, also warum dann überhaupt diese ganze beschissene, ängstliche Vorsicht, gegen die mein Stolz sich aufbäumte. Zeig nie, dass du Angst hast, hatte mein Vater früher immer gesagt. Er hatte ständig Angst. Dass er kein Engagement mehr bekam. Dass er Texte vergaß. Dass der Regisseur nicht mit ihm zufrieden war. Oh, Papa, du hattest Recht. Angst, die du zeigst, macht den anderen hart. Er nimmt sie und schlägt damit zu. Also Schultern gerade und den Kopf nach hinten. Ich bin ich, oder nicht?

Zuerst schubste er mich nur ein bisschen. »Sag schon, warum bei uns nie etwas Ordentliches auf den Tisch kommt! Sag, warum du so schlampig bist! Was bist 'n für eine Frau?« Er redete Tacheles mit mir. »Mit Doris muss man Tacheles reden«, sein Standardsatz.

Ich widersprach ihm, ich riss mich los, ich lachte spöttisch, während alles in mir zitterte. Wir stritten. Mir fiel ein, was ich meiner Mutter über ihn erzählt hatte, als wir wussten, dass wir heiraten wollten. »Er ist ein ruhiger Kerl, Mama. Nur in Rage darf man ihn nicht bringen.« Ich lächelte, als ich das sagte, zärtlich, weil ich mir sein Gesicht vorstellte und seine Augen, die mich so nett ansahen. Da ging für mich die Sonne auf.

Die Erinnerung tat weh. Zornig packte ich seinen Teller und schmiss ihn in die Spüle. »Ich bin nicht dein Dienstmädchen.«

Sein Handknöchel traf mich mit so jäher Wucht, dass ich völlig benommen war. Ein knirschendes Geräusch, als würde man meine Knochen mit Sandpapier bearbeiten. Dann ein Stich in der Schläfe. Ich schrie auf und verstummte im gleichen Moment. Tanja schlief nebenan. Tanja war sieben Jahre alt. In ihrer Welt gab es noch Engel und Feen und Zauberstäbe. Die Bösen wurden bestraft, über den Guten öffnete sich der Himmel. Sterntaler regneten auf die Erde und verhießen Glückseligkeit bis ans Ende der Tage.

Ein Wirbel von Gefühlen. Empörung, Zorn. Schlechtes Gewissen. Verdiente ich den Schmerz? Bestimmt verdiente ich ihn. Ich war keine richtige Frau. Nein, falsch, ungerecht, ich habe auch eine Stimme, und die möchte jetzt zurückschreien und sich wehren.

»Bist 'n richtiges Antiweib.« Er sagte es leise, voller Verachtung. Ich wurde ganz klein. Der Schmerz verrutschte, saß jetzt in meiner Kehle. Das schmutzige Geschirr, die Schuhe auch noch nicht geputzt. Und letzte Nacht? Eine Niete im Bett. Schlechte Hausfrau und sexuelles Brachland, das lässt sich kein Mann bieten. Du hast doch alles, hörte ich meine Mutter sagen. Einen Mann, der dich liebt, ein nettes Kind, einen Arbeitsplatz ...

Ist das Liebe? Und der Job im Drogeriemarkt! Nagellack einsortieren, Spülmittel auspacken, Regale wischen. Ich bin zweiunddreißig Jahre alt und wollte mal etwas Besonderes werden. Mein Gott, versteht das denn keiner? Meine Haut ist mir zu eng. Sie ist zu eng.

3

Der »Theaterkeller« gehörte dem reichen Hotelier Brinkmann, der halb Greifenbach besaß. Eine Pizzeria, die Sportgaststätte, den »Greifenbacher Hof« mit seinen exklusiven Fremdenzimmern und einem Tagungsraum. Die Kellerräume des Hotels stellte Brinkmann der Laienspielgruppe zur Verfügung. Ein Aufführungsraum mit kleinen Tischen, auf denen Lampen mit hellen Schirmchen standen, die Bühne nicht allzu groß, in den Zimmern dahinter wurden Requisiten untergebracht, oder sie dienten als Garderoben. Wenn eine Vorführung stattfand, brachte eine Bedienung die Getränke und das Essen nach unten. Einmal hatte die Gruppe einen Laienspielpreis gewonnen. Die Urkunde hing am Eingang des Hotels neben der Speisekarte.

Boris Lansky leitete die Gruppe schon seit Jahren. Er arbeitete im Landratsamt. Früher war er Schauspieler, er hatte mit meinem Vater zusammen sogar einmal bei einer Aufführung der »Maria Stuart« auf der Bühne gestanden. Vater spielte den Leicester, Lansky den jungen Mortimer. Noch heute höre ich Vaters Stimme: »›Ich lebe noch! Ich trag es noch zu leben ...‹ Und am Schluss, Doris«, sagte er mit leuchtenden Augen, »ruft Elisabeth nach Leicester, und man antwortet ihr: ›Der Graf lässt sich entschuldigen, er ist zu Schiff nach Frankreich.‹ Und hoch aufgerichtet, gefasst und streng steht Elisabeth da ... der Vorhang geht zu ...« Vaters Stimme verliert sich. Wie in Zeitlupe fällt sein Bild auseinander.

Er brachte sich um, als er keine Rollen mehr bekam. Lansky bekam auch keine mehr, aber der ging zum Landratsamt. Komisch, nicht? Ich denke oft darüber nach. Mein Vater war wie ein Segler auf der Suche nach seinen Idealen und Hoffnungen, doch als er erkannte, dass die Entfernung immer gleich blieb und nie überbrückt werden konnte, nahm er einen Strick, kletterte durch die Luke auf den Speicher und erhängte sich. Der Graf lässt sich entschuldigen ...

Lansky dagegen zog sich geschickt und kräftig aus dem Sumpf, wie Mutter bitter anmerkte. Er wurde Verwaltungsangestellter, fertigte im Landratsamt Tag für Tag Statistiken über Flurschäden an und gründete die Theatergruppe. Er lebte einfach weiter. Wieso konnte er weiterleben und mein Vater nicht? War er stärker oder schwächer? Hat mein Vater mich geliebt, und wenn er es tat, wie konnte er sich umbringen? Als er sich den Strick um den Hals legte, war dies ein winziger Moment der Nichtliebe – aber für wen? Für mich, für uns, für ihn? Auf jeden Fall war es das Tapferste, das er jemals getan hatte, auch wenn ihn meine Mutter wegen dieses Selbstmords verachtet hat. Sie würde sich nie umbringen. Sie ist stark und entschlossen, sie war es auch nach Papas Tod. Nur ihr Gesicht hatte sich verändert. Wo es vorher noch weiche, lächelnde Stellen gab, waren jetzt strenge Falten und tiefe Furchen. Sie hatte meinen Vater spüren lassen, dass er seinen Glanz verlor. Dass kein Fleisch mehr auf dem Teller lag und das Bankkonto ständig leer war. »Versager!« Lange hatte sie gebraucht, bis sie es aussprach, aber dann konnte sie es nicht mehr zurücknehmen, vielleicht wollte sie das auch nicht. Vater wurde ganz still danach, und heute begreife ich, dass er sich damals so klein fühlte, wie ich es tue, wenn Werner mich ein »Antiweib« schilt. Ja – und dann der Strick. Wie verzweifelt muss man sein und wie mutig, ihn sich tatsächlich um den Hals zu legen? Mutter war natürlich anderer Ansicht. »Feige davongemacht hat er sich«, sagte sie verbittert. Vielleicht hat er sich deshalb davongemacht. Weil die, die uns lieben, uns so schreckliche Dinge antun. Vielleicht wollte Vater uns auch bestrafen?

In der Schule knufften sie sich verstohlen in die Seite, wenn ich von Vaters Theaterstücken erzählte. Altmodische Kacke, sagten sie, aber ich nahm sie nicht ernst. Sie hatten keine Ahnung, diese kleinkarierten Spießer, die nicht mal einen ordentlichen Aufsatz zu Papier bringen konnten. Ich war erst zwölf, Vater lebte noch, und ich wusste, dass ich später einmal auf der Bühne stehen würde wie er. Ich saß am Fenster, im Nebenzimmer das Geratter von Mutters Nähmaschine, und schloss einen Pakt mit Gott. Wenn ER mich Schauspielerin werden ließ, dann würde ich seinen Namen preisen und jeden Sonntag in die Kirche gehen. Ich würde Mama ein Schneideratelier einrichten und Papa einen Cadillac kaufen. Berühmt würde ich werden. Ich wollte, dass die Leute ins Theater strömten und in ihre Taschentücher schluchzten, wenn ich mich als Gretchen über mein Spinnrad beugte und der Nacht meinen Liebesschmerz anvertraute. Ich wollte, dass mein bleiches schönes Gesicht sie in Verzückung versetzte, riesige Blumensträuße würden in meiner Garderobe abgegeben werden, ein Filmproduzent würde in seinem protzigen Auto durch Greifenbachs Straßen rollen, vor meiner Tür halten, er würde aussteigen, schwarzer Pullover, schwarze Hosen, weißer Schal, an der Tür klingeln, und die Greifenbacher Spießer würden neidisch aus ihren Fenstern mit den gerüschten Blümchenvorhängen glotzen.

4

Ich hatte die Anzeige in der Zeitung entdeckt. Die Laienspielgruppe suchte talentierte Leute für die nächste Revueaufführung. Mein Herz schien still zu stehen für einen Moment, dann pochte es schneller und schneller. Revue ... Ich konnte ein bisschen singen, hatte auch mal einen Steppkurs besucht. Im »Havanna«, unserer Stammkneipe, in der am Wochenende immer eine Tanzband gastierte, drückten sie mir oft das Mikrofon in die Hand und baten mich um ein Lied. Sie richteten einen Scheinwerfer auf mich, ich zierte mich ein wenig, machte einen kleinen Witz, sah im Hintergrund Werner und Ricki an der Bar stehen, Ricki amüsiert, Werner stolz, auch wenn er es verbarg, und dann sang ich. Ein altes Doris-Day-Lied. »When I was just a little girl I asked my mother, what will I be?« Ich ging mit dem Mikro von Tisch zu Tisch, die Leute sangen mit, hinterher gab's mächtigen Applaus, und ich fühlte mich leicht wie ein Vogel in der Luft. Für mich war Singen, Tanzen oder Theaterspielen wie Trampolinspringen. Die Erde loslassen. Frei sein. Ich kaufte mir Liedertexte und Notenbücher und holte Vaters Reclamheftchen aus dem Schrank. Doris, die nur Verkäuferin geworden war. Aber wer sagte denn, das dies die Endstation bedeutete?

5

Der Assistent von Lansky führte mich auf die hell erleuchtete Bühne zum Klavier, an dem ein glatzköpfiger junger Mann auf mich wartete. Einen Moment lang starrte er den Schmetterling auf meiner Wange an, dann verzog er den Mund zu einem höflichen Lächeln. Unten im Zuschauerraum saß Lansky. Neben ihm stand Tanja. Sie hielt die Daumen in ihren kleinen Fäusten fest. Der Assistent setzte sich neben Lansky. Beide blickten mich erwartungsvoll an, Lansky nickte auffordernd. Ich wurde nervös, mein Mund war staubtrocken.

»Also ... ich heiße Doris. Doris Wengler. Ich hab's aus der Zeitung, dass ihr noch Leute sucht für eure Theatergruppe. Und da hab' ich mir gedacht, ich probier's einfach mal.«

Lansky legte den Kopf schief und taxierte mich. »Was tust du sonst? Verheiratet? Hausfrau?«

»Ja. Und Verkäuferin. Im Drogeriemarkt. Aber ich interessiere mich wahnsinnig für Schauspieler und ... Stücke ...« Meine Zunge pappte am Gaumen. »Ich habe auch eine ganz gute Stimme.« Hatte ich die? Ich konnte mir gar nicht vorstellen, aus meiner Kehle auch nur den winzigsten Laut hervorzubringen. Sogar das Schlucken fiel mir schwer. Aber wenn ich es jetzt nicht schaffte, dann war der Zug abgefahren. Eine Laienspielgruppe war besser als gar nichts.

Lansky zündete sich eine Zigarette an.

»Ganz früher wollte ich mal zur Schauspielschule. Sprechen lernen, tanzen und all so was.«

Lansky nickte.

»Aber meine Mutter meinte, das sei eine Spinnerei, und mein Vater ...« Verdammt. Es fiel mir schwer, über Vater zu sprechen. »Sie haben ihn übrigens gekannt. Olaf Henrich. Sie haben sogar mal zusammen gespielt. Die ›Maria Stuart‹. Sie waren der Mortimer und mein Vater ... Er hat oft von Ihnen erzählt.«

Lansky runzelte die Stirn. »Henrich? Richtig. Das Stadttheater. Was ist eigentlich aus ihm geworden? Aus deinem Vater, meine ich.«

»Er ... ist gestorben. Er hat noch ein paar Jahre an kleinen Provinztheatern gearbeitet. Einmal hatte er sogar ein Angebot aus der Schweiz. Aber meine Mutter wollte nicht mit ... und bald darauf ... Er hat Selbstmord gemacht.«

Lansky schwieg betroffen. Dann stand er auf und kam zur Bühne. »Das tut mir Leid.« Er machte ein nachdenkliches Gesicht. Ob ihm einfiel, dass er mit meinem Vater manchmal in der Theaterkantine ein Bier getrunken hatte? Dass sie Pläne schmiedeten, die Kollegen durchhechelten?

Er schüttelte leicht den Kopf. »Verrückt.« Und dann noch einmal: »Tut mir wirklich Leid.« Er blickte zu mir hoch, in seinen Augen tanzten kleine Lichtreflexe. »Du hast also sein Talent geerbt.«

»Ich weiß nicht. Vielleicht.«

»Bist du gern Verkäuferin?«

»Klar. Ist mein Traumjob.« Als er nicht reagierte, setzte ich nach: »Ein kleiner Witz.«

Lansky lachte und ging zu seinem Platz zurück. »Na ja, dann ... dann fang mal an! Irgendwas. Vielleicht ein Lied, ein alter Schlager oder so ...«

Ich war unschlüssig. Ich wollte unbedingt, dass er mehr in mir sah als die kleine Verkäuferin, die Nagellack und Waschpulver einsortierte und der alten Frau Koschnik Toilettenpapier in den Einkaufswagen häufte. Die »Dreigroschenoper«? »Und wenn dann der Kopf rollt, sage ich: hoppla ...«

Unten sprang Tanja auf und ab. »Que será«, flüsterte sie laut zu mir herauf. Ich musste lächeln. Wie sie an mich glaubte! Sich nichts sehnlicher wünschte, als dass ich erhielt, was ich mir erträumte.

Ich begann zu singen und dachte dabei an Papa. »Das Leben ist mehr als Geldverdienen oder das, was die Leute von dir halten. Glaub mir, Doris, hör nicht auf die Einfalt der Dummen! Jeder Mensch ist was Besonderes und kann was Besonderes aus sich machen ...«

»When I was just a little girl I asked my father, what will I be?« sang ich. Denn ich sang für ihn, auch wenn meine Stimme jetzt zitterte und ich an einer Stelle nicht den richtigen Ton traf.

6

Der Greifenbacher Fußballclub besaß ein nettes Stadion außerhalb der Stadt. Ich fuhr mit Tanja die mit Birken gesäumte Landstraße entlang. Die Fensterscheiben des Autos hatte ich nach unten gekurbelt. Im Radio spielten sie einen alten Countrysong. Die Luft roch nach nassen Blättern und Erde, der Himmel war dunstig, und von den kleinen Wegen, die sich im Wald verloren, stieg Feuchtigkeit auf.

Oktober ... mein Lieblingsmonat. Früher besaßen wir eine Hütte am Fluss, eine Art Gartenhäuschen, das wir vom Fischereiverband gemietet hatten. Meine Mutter schätzte die Ausflüge zur Hütte nicht. Sie hasste es, zu Hause Schnitzel zu braten und Kartoffelsalat in eine Plastikdose zu packen. Sie mochte auch den Nebel am Wasser nicht, er ruinierte ihre Frisur. Wenn man das Frisur nennen kann, klagte sie, diese paar Flusen, die ich am Kopf habe. Sie war eine praktische Frau, nüchtern, geradeheraus und bei den Leuten sehr angesehen. Oft erzählte sie davon, wie ebenjene Leute, die eine so hohe Meinung von ihr hatten, den Kopf schüttelten, als sie meinen Vater heiratete. Ein junger Nichtsnutz, sehr liebenswert, aber trotzdem, Erika, sagten sie, das hält nicht, du wirst sehen. Greifenbach war damals ein Ort mit zwanzigtausend Einwohnern, das Gewerbezentrum und die Reihenhaussiedlungen außerhalb der Stadt waren noch nicht gebaut. Hier wurde man Handwerker, Anwalt, Notar, oder man ging in die Großstadt, um in einer der Firmen unterzukommen, die diese neumodischen Computerjobs anboten. Der Sohn des evangelischen Pfarrers hatte Musik studiert und spielte in einem Sinfonieorchester. Natürlich konnte man auch Schauspieler werden. Die Greifenbacher waren stolz darauf, dass eine der ihren, eine Brigitte Mossling, die sich jetzt Britta Moss nannte, eine Dauerrolle in einer Fernsehserie erhalten hatte. Aber mit Olaf Henrich war es etwas anderes. Sohn einer Flüchtlingsfrau aus dem Osten, groß, blond, hoch gewachsen. Er wollte kein Fernsehstar werden. Verschwendung, sagte er. Ein Schauspieler war man in seinen Augen nur, wenn man auf der Bühne stand. Gleich nach dem Abitur besuchte er eine Schauspielschule und bekam nach seinem Abschluss sofort ein Angebot in München. Kleinere Rollen, die er gut spielte, aber der entscheidende Durchbruch blieb ihm versagt. Sein Vertrag wurde nicht verlängert. Also gastierte er an zweitrangigen Bühnen. Er spielte alles. Den Hamlet, den Romeo, den Don Carlos. Er spielte ihn auch in Greifenbach, am Stadttheater. An diesem Abend sah meine Mutter Olaf Henrich zum ersten Mal. Sie hatte einen harten Tag hinter sich. Eine Kundin, die mit nichts zufrieden

war. Ein verschnittenes Muster. Eine falsche Stofflieferung. Um sie zu trösten, schenkte ihr die Chefin des Ateliers die Theaterkarte. Wohl eher deshalb, weil sie sich nichts aus Klassikern machte, was Mutter sehr gut begriff. Na und? Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul, dachte sie sich wohl und malte sich schon bei der Heimfahrt im Bus aus, was sie anziehen und welche Schuhe sie tragen würde. Bereits vor dem ersten Klingelzeichen leistete sie sich an der Theaterbar ein Glas Sekt. Ahnte sie, dass dieser Abend ihr ganzes Leben verändern würde? Denn als sie ihn sah – ein hastiger Blick ins Programm ... Olaf Henrich –, als sie ihn sah, da verließ sie Greifenbachs Enge, verließ ihr eigenes nüchternes Ich und spürte, wie bei seinem Anblick ihre Brust sich mit Leichtigkeit füllte. Wie ein junger Gott stand er auf der Bühne, Lichtkegel fielen auf sein blondes Haar, seine Augen leuchteten, seine Stimme drang Mutter bis ins Herz. Eine neue Welt tat sich auf. Wie klein und gering erschienen ihr die eigenen Sorgen. Wie grau ihr Schneideratelier, wie dürftig ihr streng gezirkeltes Leben. Dort oben auf der Bühne offenbarten sich die großen Gefühle. Leidenschaftliche Liebe, ewig währende Freundschaft und der Tod so herzzerreißend schön, dass sie wie verzaubert auf ihrem Stuhl sitzen blieb, während Greifenbachs Bildungsbürger – insgeheim froh, die kulturelle Pflichtübung hinter sich zu haben – hinaus in die warme Sommernacht strömten. Und dann tat sie etwas, das außerhalb ihres Vorstellungsvermögens lag. Sie ging hinter die Bühne, klopfte an Vaters Garderobe, die nur ein muffiger, enger Raum war, und bat ihn um ein Autogramm. Und Vater, beschwingt von den Jubel- und Bravorufen der Zuschauer, fand diese scheue junge Frau mit dem feinen Haar und den braunen Augen einfach zauberhaft. Er führte sie in das einzige Weinlokal, das Greifenbach besaß, bestellte Speckkuchen und Bowle und erzählte von seinen Engagements. Die halbe Nacht lang hing Mutter an seinen Lippen und tauchte ein in die Welt der Königinnen und Fürsten, der Kobolde und Hexen, die in der Walpurgisnacht durch die Lüfte brausten.

Von diesem Tag an saß sie fast jeden Abend im Theater, und als die Saison vorbei war und zum letzten Mal im fünften Akt mein Vater in die staubdurchflirrte Luft mit tiefer, zärtlicher Stimme rief: »Bin ich nicht stark, Elisabeth? Ich halte in meinen Armen Sie und wanke nicht ...«, da weinte sie. Sie weinte auch noch, als Vater sie wieder in das kleine Weinlokal führte, und er war so gerührt über ihre Trauer und ihre bedingungslose Zuneigung, dass er dem Zigeunerorchester einen Zwanzigmarkschein gab, damit sie Mutters Lieblingsmelodien spielten. Und Mutter streifte zum ersten Mal in ihrem Leben alle Schwere ab, ihr Gesicht erglühte, sie sang die Lieder mit und entzückte die Leute an den Nebentischen mit ihrer verzweifelten Fröhlichkeit, die nicht an morgen, sondern nur an heute denken wollte. Nach jedem Lied klatschten die Menschen und prosteten ihr zu. Es war die Vision einer anderen Art von Liebe, einer anderen Art von Leben, die sie so verzweifelt erstrahlen ließ. Voller Angst bemühte sie sich, ihren Prinzen festzuhalten, koste es, was es wolle. Auch ihre Vorstellung von Zukunft wollte sie opfern, wenn er nur blieb. Sie sprang auf und tanzte. Die Musik, die Hitze im Raum, die Panik beim Gedanken an die Trennung. Sie war krank vor Hoffnungslosigkeit – oder einfach nur glücklich ... oder verrückt?

Mein Vater verliebte sich. Er war Schauspieler, er begriff, welche Meisterleistung meine Mutter vollbrachte. Sie hatte nur eine winzige Szene, einen einzigen Auftritt, um ihn davon zu überzeugen, dass sie die Beste war, die Idealbesetzung. Sie spielte diese Rolle nicht, sie stürzte sich in sie hinein, als hinge ihr Leben davon ab – und siegte. Wie ein Blitz, eine Erkenntnis durchfuhr es meinen Vater. Mit ihr zusammen konnte er jedermann sein. Der Schauspieler, der Liebhaber, der Mann von nebenan, der am Abend am Tisch saß und sein Bier trank. Ja, er traf die richtige Wahl, in diesem Moment, im Kerzenlicht, dessen war er sich sicher. Diese Frau in der Rolle ihres Lebens war zäh und weich zugleich. Er ahnte, dass sie alles, was sie anpackte, zu einem guten Ende bringen würde. Sie würde das harte Licht des Tages von ihm fernhalten, würde Partnerin und Publikum zugleich sein. Er war beeindruckt, wie hübsch sie war, wie adrett sie sich zurechtmachte, wie geschickt ihre Finger hantierten, sie hatte ganz zarte Hände mit weißen Knöchelchen wie ein Kind.

Zwei Monate später heirateten sie. Vater bekam ein festes Engagement am Stadttheater, Mutter blieb im Atelier, bis sie schwanger wurde. Eine schöne Geschichte, könnte man sagen, und wie alle schönen Geschichten traurig. Denn Mutter hatte sich einen Stern vom Himmel geholt. Und dann sperrte sie ihn ein in das kleine Reihenhaus, das sie nach der Hochzeit mieteten, und wartete darauf, dass der Stern glühte und ihr Leben feiner machte. Bis sie erkannte, dass der Alltag Vater den Glanz entzog und dass es ein Unmaß an Energie erfordern würde, ihn glauben zu machen, dass das Leben im Reihenhaus, die Spaziergänge am Sonntag und all die scharfäugig beobachtende Betulichkeit einer Kleinstadt sein Himmel seien. Diese Energie besaßen beide nicht, und so war am Ende ihre Geschichte keine Liebesgeschichte mehr, sondern nur die Geschichte über eine Liebe, die starb.

7

Das Fußballstadion lag abseits der Landstraße. Ich bog in einen Schotterweg ein, parkte am Rand eines Maisfeldes und stieg mit Tanja aus. Das Spiel musste jeden Moment zu Ende sein. Werner saß auf der Trainerbank und feuerte seine Spieler an. Der Schlusspfiff, alle sprangen auf, Werner umarmte ein paar Leute und streckte den Daumen in die Luft. Gewonnen also. Eine Reporterin lief auf ihn zu, knipste ein paar Bilder und interviewte ihn. Er unterhielt sich angeregt mit ihr, lachte und blickte immer wieder zu seinen Spielern hinüber, die ihren Torwart in die Luft warfen und sich aufführten wie kleine Jungs. Die Zuschauer verließen die Tribüne.

Werner war seit drei Jahren Trainer, das war seine Welt, diese rauen Männerfreundschaften, einer für den anderen, komme, was da mag. Schultern, auf die man klopfte, Hände, die aneinander patschten ... »Give-me-five, Kumpel«, und im Duschraum die Bierflaschen, die umherwanderten. Primaten. Sich auf die Brust trommelnd, den Gegner in Schach haltend und den Weibchen imponierend. Abends im Vereinslokal das Fachsimpeln über Mannschaftsaufstellungen und Spielzüge. Das Training unter der Woche und am Samstag die Spiele. Noch ein paar Punkte, und sie rückten in die Kreisliga auf. Bierselige Feste, ein paar Schnäpse, ein Blondinenwitz. Zu Hause dann die Frau. Guter schneller Sex, so wie man's mit einem Augenzwinkern in der Kneipe angekündigt hatte.

»Bin ich nicht stark, Elisabeth? Ich halte in meinem Armen Sie und wanke nicht ...« Ja, da war ein weiter Weg hin. Gefühlsduseleien waren nicht gefragt. Eher Actionfilme und flapsige Sprüche.

Werner hob Tanja hoch und küsste sie. »Na, mein Schatz?« Dann sah er mich an, sein Blick huschte verlegen über mein verletztes Gesicht. Ganz leicht schüttelte er den Kopf, als sei es ihm unverständlich, wie er mir das habe antun können. Oft schon hatte ich versucht, mit ihm darüber zu sprechen, aber er fand keine Erklärung. »Du hast so eine Art an dir ... da raste ich einfach aus.« Meine Art. Was war meine Art?

Doch in diesem Moment genoss ich seine Betroffenheit. So konnte ich besser anbringen, was ich ihm sagen wollte. Ich umfasste seine Hand. »Die haben mich genommen, Werner.«

Er blickte mich verständnislos an.

»Die Theatergruppe. Ich habe denen ›Que será‹ vorgesungen.«

»Was für ein Ding?«

Ich lachte und trällerte die erste Liedzeile. Tat ganz begeistert und konnte mein eigenes Herzklopfen hören. Er blickte mich eindringlich an – schwer zu deuten, sein Gesichtsausdruck. Als sei ich ein recht seltenes Exemplar der menschlichen Gattung, oder vielleicht war es auch nur Misstrauen, vielleicht glaubte er, ich ginge wegen der anderen Männer in so eine Gruppe. Im Hintergrund ein Siegesgesang seiner Spieler. Das stimmte ihn gnädig. Er seufzte. »Na, ja. Wenn's dich glücklich macht.« Dann ein nettes Lächeln. »Ich kapier' zwar nicht, was daran schön sein soll, ich würde sterben vor Angst, wenn ich auf 'ne Bühne müsste ...« Er legte eine Hand auf Tanjas Kopf, die andere strich ganz zart über mein Gesicht. »Freut mich für dich, Doris. Echt.«

Oh, was für Tag! Als würde die Sonne am Rand der Welt aufsteigen, als würde man den lieben Gott umarmen. Alles würde gut werden. Werner würde stolz auf mich sein. Und ich würde, beschwingt von dem neuen Leben, das sich mir auftat, ein viel wichtigerer Mensch werden, auch eine bessere Frau, und vielleicht konnten wir dann in aller Ruhe über unsere Probleme sprechen. Wenn man vor einem Menschen Respekt hat, dachte ich, dann war man eher geneigt, ihm zuzuhören.

Werner wollte mit seinen Jungs unter die Dusche. »Seid ihr dann zu Hause?«

»Wir sind doch mit Ricki verabredet. Und Tanja schläft bei der Omi, nicht wahr?«

Tanja nickte eifrig. Sie war oft bei meiner Mutter. Jeden Tag nach der Schule und an all den Abenden, wenn Werner und ich ausgingen.

Werner stöhnte. »Scheiße! Hab' ich ganz vergessen. Aber ich komme nach. Okay?« Er lächelte uns noch einmal zu und trabte zu seinen Spielern hinüber. Wir sahen ihm nach. Im Nu war er umringt. Mein Glücksgefühl verstärkte sich. Wenn er seine Welt hatte und ich die meine, dann besaßen wir doch beide, was wir uns erträumten. Das musste uns doch einander näher bringen. Oder nicht?

8

Das »Havanna« war bis auf den letzten Platz besetzt. An einer Seite befanden sich Nischen mit größeren Tischen, die Bartheke war lang und schwang in einem Halbkreis bis hin zu den Toilettenabgängen. In der Mitte die Tanzfläche mit schwarzem Spiegelglas. Die Band spielte gerade Dixie.

Ricki und Elke standen an der Bar, der Rest unserer Clique saß in einer der Nischen. Ricki war Werners bester Freund. Ich lernte die beiden auf einem Frühlingsfest kennen. Sie schossen mir rote Papierrosen, luden mich ins Bierzelt ein und fuhren hinterher mit mir Achterbahn. Sie baggerten mich beide an, Ricki auf seine zurückhaltende, ein wenig spöttische Art, während Werner von Anfang an seinen Arm besitzergreifend um meine Hüften legte und mir sagte, ich sei die schönste Frau, die er je in Greifenbach gesehen habe. Ich verliebte mich Hals über Kopf in ihn. Liebe hat auch etwas mit dem Aussehen zu tun, anfangs jedenfalls, und ich mochte Werners breite Schultern, seine großen Hände, die er trotz seines Berufs penibel sauber hielt, und seine blauen Augen, in denen man alles lesen konnte: Freude, Ärger, Zuneigung. Mit Ricki war das anders. Bei ihm wusste man nie, woran man war. Er war in Greifenbach als Playboy verschrien, weil er Geld hatte, eine schicke Wohnung und einen Sportwagen. Die Kfz-Werkstatt, in der Werner arbeitete, gehörte ihm. Letzte Woche wurde Rickis Auto-Salon eröffnet. Alles, was er anfasste, wurde zum Erfolg.

Elke kannte ich vom Drogeriemarkt. Wir arbeiteten schon seit etlichen Jahren zusammen und mochten uns, vielleicht, weil wir so verschieden waren. Sie machte sich nichts aus meinen Liebesromanen, die ich so gern las, sie war völlig unmusikalisch, und das letzte Theaterstück, das sie gesehen hatte, war »Frau Holle« in einer Aufführung im Turnsaal der Gesamtschule. Wir hatten viel Spaß zusammen, und mich amüsierte die Art, wie Elke mich bemutterte, obwohl sie nur ein Jahr älter war als ich. Ein warmherziger Mensch. Keine Finten, keine Verstellung, ihre Sicht der Dinge war nicht diffus und Stimmungen unterworfen wie die meine. Nein. Sie hatte ein Gespür für das Richtige, vielleicht war sie manchmal zu streng mit ihrer Umgebung, aber dies wurde gemildert durch ihren Humor. Immer hatten wir uns etwas zu erzählen und prusteten oft vor verhaltenem Lachen, wenn der Filialleiter in seinem grauen Kittel, umherstolzierend wie ein Dorfgockel, seine Anweisungen in unsere Richtung krähte.

Insgeheim war Elke ein wenig in Ricki verliebt, aber er behandelte sie sehr kumpelhaft, ganz anders, als er mich behandelte. Wenn er mit mir sprach, erwärmten sich seine Augen, oft ließ er Anspielungen fallen, dass ich ihm das Herz gebrochen habe, als ich Werner heiratete. Ich wusste nie, ob er das ernst meinte, und manchmal, das gebe ich gerne zu, stellte ich mir vor, wie mein Leben mit ihm verlaufen wäre. Kein Drogeriemarkt und keine Sorgen ums Geld. Eine andere Art des Zusammenlebens. Aufregender, zärtlicher. Aber er war nicht so verlässlich wie Werner, dem seine Familie über alles ging und der sich nichts sehnlicher wünschte als einen guten Job, eine nette Frau und ein fröhliches Kind. Werner und Elke waren leicht zufrieden zu stellen, Ricki nicht. Ich auch nicht.

Ich umarmte Elke und hielt den Daumen hoch wie vorher Werner nach dem gewonnenen Spiel.

»Ich hab's geschafft, die nehmen mich«, flüsterte ich ihr ins Ohr.

Sie strahlte mich an. »Mensch, Doris. Ist ja super!« Ihre Freude war echt, so war das mit ihr. Selbstlos, und immer zur Stelle, wenn man sie brauchte.

Ich wandte mich an Ricki und küsste ihn auf beide Wangen. »Hey, du. Ich bin richtig stolz auf dich.« Ricki drückte mir ein Sektglas in die Hand. Wir prosteten uns zu.

»Auf die neue Autofiliale!«

»Glaubst du, er redet noch mit uns, wenn er Millionär ist?«, fragte Elke.

»Vielleicht bin ich's schon?«, konterte Ricki. Er bedeutete dem Wirt, eine neue Flasche zu entkorken. Das mochte ich an ihm. Diese lässige Art, das kleine spöttische Lächeln, das sich immer in seinen Mundwinkeln hielt, als würde er sich selbst nicht so ganz ernst nehmen. Er war fast einen Kopf größer als Werner, sehr schlank und hatte dunkle Haare. Wenn er mit mir tanzte, roch ich sein Rasierwasser und spürte, wie federleicht er sich bewegte. Gänzlich anders als Werner, der sich nichts aus Tanzen machte und eher schwerfällig wirkte.

Der Wirt schenkte die Gläser voll. »Wenn ich mir vorstelle«, sagte ich stolz, als gehöre Ricki mir, »mit einer klitzekleinen Werkstatt hast du angefangen.«

»Und jetzt bist du der große Automacker«, setzte Elke nach.

Ricki wurde verlegen. Er ließ seinen Blick über die Tanzenden schweifen, musterte eine schlanke Blondine und sagte: »Ich habe Glück gehabt, das ist alles.«

Elke war schon ein wenig beschwipst. »Du bist doch Widder, oder?«

Ricki krümmte seine zwei Zeigefinger und hielt sie an seinen Kopf. »Nichts, was er nicht packt.« Er hob Elke vom Barhocker und trug sie auf die Tanzfläche. Sie kreischte vor Vergnügen. Ein kleiner Stich der Eifersucht ... Warum tanzte er nicht mit mir? Ich betrachtete die jungen Leute am Tresen und stellte mir vor, dass sie alle ein weit aufregenderes Leben als ich führten. Sie wirkten so frei und unbeschwert, ließen die Eiswürfel in ihren Gläsern kreisen und erzählten lautstark, was sie während der Woche erlebt hatten. Ich trank ein paar Schlucke Sekt und bemerkte, dass Ricki zu mir herüberschaute. Da stellte ich das Glas ab, rutschte vom Barhocker und tanzte auf ihn zu. »Jetzt bin ich dran«, sagte ich, und Ricki legte seine Arme um mich und zog mich an sich.

»Na, Prinzessin?« Sehr liebevoll.

Von einem Moment zum anderen wurde ich traurig. Ein seltsames Gefühl durchströmte mich. Als hätte ich etwas verloren, oder als würde ich etwas nicht besitzen, von dem ich wusste, dass es da war und dass ich es brauchte. Ricki blickte nachdenklich auf meinen Schmetterling im Gesicht. Ich wandte mich ab, sein Blick war mir unangenehm. Gleichzeitig empfand ich es als rätselhaft, dass er nie über meine Beulen, meine Blutergüsse und verschorften Wunden sprach. Auch ihm musste klar sein, dass ich nicht so ungeschickt sein konnte, ständig mit dem Kopf an Türrahmen oder Fensterklinken zu stoßen oder was sonst für Ausreden ich mir schon hatte einfallen lassen. Da war eine strikte Grenze. Sag nicht, was bei dir zu Hause abläuft! Werner ist mein Freund ...

Plötzlich brach die Musik ab. »Wir haben noch einen Grund zu feiern, people«, rief Elke ins Mikrofon. Wir blieben alle stehen, und Elke deutete zu mir herüber. »Unsere Doris ... wird ... Theaterstar. Applaus für Doris, bitte schön!«

Unsere Freunde, die in der Nische saßen, klatschten und johlten, und die, die mich nicht kannten, schauten mich an und klatschten auch. Elke kam mit dem Mikro auf mich zu. »Komm – sing was!«

Ich zögerte. Der Bandleader richtete einen Scheinwerfer auf mich.

»›Perhaps‹?«, drängte Elke.

Ich nahm das Mikrofon. Und sofort durchströmte mich wieder diese glückselige Atemlosigkeit, wenn ich eine andere sein durfte als die, die man glaubte zu kennen. Ich drängte mich nicht danach, im Mittelpunkt zu stehen, nein, ich wollte nur ... leben. Auf die Leute zugehen, spüren, dass ich ihnen Freude bereitete, dass sie mich liebten. Dieses prickelnde Gefühl, das selbst bei einem so improvisierten Auftritt bis in die Fingerspitzen drang, der Überschwang, die Euphorie. Das ähnliche Empfinden an anderen Tagen, in ruhigeren Momenten, wenn ich über Bücher und Filme nachdachte oder Kleider entwarf. Da hielt sich ein Wissen in mir, dass es mehr gab als Arbeit, Job und Wohnung. Als das Kulturreferat vor einigen Jahren einmal Laienspieler suchte, um für das Greifenbacher Altenheim einen Theaterabend zu inszenieren, meldete ich mich. Ich spielte in einem Sketch eine alte Frau, die von der Familie ins Heim abgeschoben werden sollte. Es bereitete mir solche Freude, in die Persönlichkeit dieser greisen Frau zu schlüpfen und zu fühlen, was sie gefühlt haben würde. Ich beobachtete alte Frauen, die auf einer Parkbank saßen. Wie sie redeten. Wie sie schwiegen. Wie sie aus einer Tüte Kuchen holten und ihn gierig aßen. Wie sie die Wege entlangschlurften. Wie sie sich bückten. Am Tag der Aufführung war ich nicht mehr Doris Wengler, Verkäuferin, verheiratet und Mutter eines kleinen Mädchens. Ich war eine dieser alten Frauen. Ohne Hoffnung, ohne Lebensqualität und im Grunde ungeliebt. Ich bekam großen Applaus, und am nächsten Tag stand in der Zeitung, wie ergreifend mein Spiel gewesen sei. Alle gratulierten mir und meinten, sie hätten fast geweint, als ich mit zitternden Händen und krummen Beinen auf der Bühne gesessen und meinen traurigen Monolog gesprochen hatte. Sogar Werner lobte mich. »Weiß ich wenigstens, wie es sein wird, wenn wir goldene Hochzeit feiern«, sagte er.

Ich räusperte mich, lächelte und begann zu singen. Ging auf Ricki zu, sah ihm in die Augen und sang weiter. Er fühlte sich geschmeichelt. Für einen Moment schien es, als stünden wir allein auf der Tanzfläche, nur er und ich, die Luft um uns herum wie elektrisch geladen. Da bemerkte ich Werner, der das Lokal betrat und sich suchend umblickte. Er blieb am Eingang stehen und hörte zu. Ich verließ Ricki und wartete, dass Werner zu mir kam. Er hatte Jeans an und ein Sweatshirt, er wirkte kompakt und ungelenk gegen Ricki, und eine winzige Sekunde lang war ich gerührt. Werner. Der es so schwer gehabt hatte. Von seiner Mutter ins Heim abgeschoben wurde. Dessen Arme von der harten Arbeit dick mit Muskeln bepackt waren. Wenn er seine Hände spreizte, konnte er meinen ganzen Rücken damit bedecken und mich an sich drücken. Früher wurde ich rot, wenn er mich berührte.

In der einen Hand hielt ich das Mikrofon, mit der anderen strich ich ihm zärtlich übers Gesicht. Der Scheinwerfer beleuchtete uns. »You neuer say you love me«, sang ich.

9

Wir kommen vom »Havanna« nach Hause. Ich bin immer noch wie aufgedreht. Ich putze mir die Zähne, ziehe mein Nachthemd an und gehe ins Schlafzimmer. Werner liegt nackt im Bett und lächelt mir entgegen. Übermütig lasse ich mich auf ihn fallen und sage: »Die haben mich wirklich genommen. Ich kann es noch gar nicht glauben.« Er geht gar nicht darauf ein. Mit einem Schwung richtet er sich auf und liegt auf mir. Fährt mit der Hand unter mein Hemd.

Mein Glück ist fort. Dunkle Nacht. Ich könnte ihn wegschieben, könnte aufspringen und ins Badezimmer laufen, mit dem Klodeckel klappern, die Spülung ziehen und ... dann? Ich schließe die Augen. Seine Hände halten sich nicht auf mit Zärtlichkeit. Er zerrt mein Hemd ein wenig nach oben, nur so weit, dass er meine Beine spreizen und in mich eindringen kann. Er hat sich die Zähne nicht geputzt. Sein Atem riecht nach Bier. Er murmelt, was er immer murmelt. »Mmm ... oh ... Doris.« Er bewegt sich in mir. Es tut weh. Dann stützt er sich mit beiden Händen auf dem Kopfkissen ab und stößt zu. Schnell. Schneller. In meinen Gedanken bin ich ihm weit voraus, fast könnte ich lachen, so weit voraus bin ich. Ich kenne jede Bewegung, jedes Stöhnen, den raschen Höhepunkt und die Art, wie er sich nachher von meinen Hüften rollen wird. Ich öffne die Augen. Er hat die seinen jetzt geschlossen. Ein fremdes Gesicht. Angestrengt. Er bewegt sich auf und ab, völlig auf sich konzentriert. Ich bin gar nicht vorhanden. Ich bin nur etwas, das er in diesem Moment braucht. Gebraucht. Wenn ich zählen würde, wie früher die Schäfchen, bevor ich einschlief, dann wäre es eine kleine Schafherde. Ja ... ja ... ja ... oh ... ja. Zwanzig Schafe und ein müder Schäfer. Er lässt sich zur Seite fallen und atmet stark. Starrt zur Decke. Wendet den Kopf zu mir.

»Was ist los mit dir?«

Wut steigt in mir auf. Was los ist mit mir? Was ist los mit ihm? Oder soll ich ihm sagen, dass ich mitgezählt habe? Nein, stopp, das wäre gefährlich. Er hat etwas getrunken. Also schweige ich. Ich denke: Es gibt mich. Es gibt mich.

Er packt mich am Arm. »Sag schon!«

Ich setze mich auf und zünde mir eine Zigarette an. »Das weißt du ganz genau. Du bist kein bisschen nett ... oder zärtlich.«

Er verdreht die Augen. »Mein Gott, Doris. Es ist halb drei Uhr morgens.« Er wendet mir den Rücken zu und zieht die Bettdecke hoch. Böse Stille. Dann höre ich, dass er eingeschlafen ist.

Jetzt bin ich frei. Endlich frei. Ein wundersam leichtes Gefühl, als wäre ich allein im Zimmer. Ich kann nachdenken. Zum Beispiel: Gibt es Tageszeiten für Zärtlichkeit? Wann ist man zärtlich? Von sechs bis sieben? Früher? Später? Und dann die altbekannten Fragen:

War er immer so?

Ja.

Warum ist dir das nicht von Anfang an aufgefallen?

Weil ich verliebt war.

Hattest du je mit ihm einen Orgasmus?

In einer halben Minute hat man keinen Orgasmus.

Trotzdem hast du ihn geheiratet.

Weil ich dachte, er ändert sich.

Ich drücke die Fingernägel in meine Handflächen. Ich bin voller Zorn, und mein Herz ist wie ein Klumpen in meiner Brust.