Ich lebe und ihr seid tot - Emmanuel Carrère - E-Book

Ich lebe und ihr seid tot E-Book

Emmanuel Carrère

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Beschreibung

Philip K. Dick (1928–1982) gehört zu den einflussreichsten US-amerikanischen Autoren des 20. Jahrhunderts. Seine Romane und Kurzgeschichten wurden nicht nur vielfach verfilmt – Blade Runner, Total Recall und Minority Report waren internationale Kinoerfolge –, sondern dienten unzähligen anderen Autoren, darunter Emmanuel Carrère, als Inspirationsquelle. Zeit seines Lebens trieb Dick die Frage um, welche inneren und äußeren Mächte unser Denken, Fühlen und Handeln lenken. In den phantastischsten Szenarien malte er aus, wel­che verheerenden Auswirkungen es hat, wenn ein Mensch sich dessen, was er glaubt, sieht oder weiß, nicht mehr sicher sein kann, ja wenn er sich fragen muss, ob er überhaupt ein Mensch ist. Seine 1977 in einer legendären Rede geäußerte Mutmaßung, wir lebten in der Simulation einer Künstlichen Intelligenz, lässt sich in ihrer prophetischen Kraft erst heute wirklich ermessen. Doch waren seine mystischen Visionen und seine Überzeugung, von FBI und KGB beschattet zu werden, nur auf drogeninduzierte Psychosen zurückzuführen, oder »erinnerte« er sich wirklich an eine parallele Gegenwart, die anderen verborgen war? Emmanuel Carrère erzählt Dicks Leben vom Plattenverkäufer bis zum selbsternannten Messias in einem Amerika, das schon vor Jahrzehnten von Paranoia und Spaltung geprägt war, als leichtfüßigen, hypnotischen Roman. Er legt dabei erstaunliche Lesarten für die Gegenwart und die aktuelle Rolle von Technik und Macht frei und wirft existenzielle Fragen auf, die bis zu den Wurzeln der westlichen Zivilisation reichen.

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Seitenzahl: 549

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ich lebe und ihr seid tot

Die Parallelwelten des Philip K. Dick

Emmanuel Carrère

Ich lebe und ihr seid tot

Die Parallelwelten des Philip K. Dick

Aus dem Französischen von Claudia Hamm

Für Anne

Inhalt

1: Berkeley

2: Grüne Männchen

3: George Smith und George Scruggs

4: Was er in Wirklichkeit machte

5: Ratte mit Trauschein

6: Dschung Fu, die innere Wahrheit

7: Die Idiotie

8: Wahnsinn zu zweit

9: Realpräsenz

10: Go, die Umwälzung, die Mauserung

11: Was ist menschlich?

12: Porträt des Künstlers als Ketzer

13: Wo die Toten leben

14: Freaks

15: Flow, My Tears

16: Seelenwinter

17: Das Reich ist nie untergegangen

18: Der Sturz des Tyrannen

19: Wem der dicke Pferdeliebhaber begegnete

20: Endstation

21: Kritische Masse

22: Auf die er gewartet hatte

23: Vorletzte Wahrheiten

24: Das Unentscheidbare

Nachbemerkung (1993)

Anmerkung der Übersetzerin (2025)

Nachweise

»Ich bin mir sicher, dass Sie mir nicht glauben und dass Sie mir nicht einmal glauben, dass ich glaube, was ich hier sage. Aber es ist wahr. Und egal, ob Sie mir glauben oder nicht, glauben Sie mir zumindest das: Ich mache keine Witze. Das Ganze ist sehr ernst und sehr wichtig. Bitte machen Sie sich klar, dass es auch für mich verrückt ist, so etwas zu sagen, aber es ist so: Eine Menge Leute behaupten, sich an ein früheres Leben zu erinnern. Ich behaupte, mich an ein anderes jetziges Leben zu erinnern. Ich kenne keine anderen Aussagen dieser Art, aber ich nehme an, ich bin nicht der Einzige, der diese Erfahrung gemacht hat. Was vielleicht einzigartig ist, ist der Wunsch, darüber zu sprechen.«

Auszug aus Philip K. Dicks Rede in Metz

vom 24. September 1977

1

Berkeley

Am 16. Dezember 1928 heiratete Dorothy Kindred in Chicago Edgar Dick und brachte sechs Wochen vor dem Geburtstermin schmächtige Zwillinge zur Welt. Sie erhielten die Namen Philip und Jane. Weil ihre Mutter nicht genug Milch hatte, sich offenbar nicht auskannte und weder Verwandte noch ein Arzt ihr vorschlugen zuzufüttern, ließ sie die beiden während ihrer ersten Lebenswochen hungern. Am 26. Januar 1929 starb Jane.

Sie wurde auf dem Friedhof in Fort Morgan, Colorado begraben, von dort stammte die Familie väterlicherseits. Auf dem Grabstein gravierte man neben ihrem Vornamen den ihres Bruders ein, der überlebt hatte, dazu ihr gemeinsames Geburtsdatum, dann einen Bindestrich, dann nichts. Kurze Zeit später zogen die Dicks nach Kalifornien.

Auf den wenigen Familienfotos, die es gibt, hat Edgar Dick ein langes, schmales Gesicht und trägt einen Zweireiher und einen Filzhut, wie man es von FBI-Agenten aus Filmen über die Prohibition kennt. Er war auch tatsächlich Staatsbeamter, allerdings im Landwirtschaftsministerium. Seine Aufgabe bestand darin zu kontrollieren, ob das von Bauern als geschlachtet deklarierte Vieh auch wirklich geschlachtet worden war, und wenn nicht, es selbst zu schlachten – für jedes getötete Tier gab es für die Bauern eine Prämie und dementsprechend Betrug. Am Steuer seines Buick patrouillierte er durch die im Zuge der Weltwirtschaftskrise verarmten Landschaften und zwischen misstrauischen, zerlumpten Leuten herum, die imstande waren, dem Kontrolleur gehässig die Ratte unter die Nase zu halten, die sie gerade auf einem provisorischen Grill gebraten hatten. Sein Trost während dieser Touren war es, hin und wieder auf ehemalige Soldaten zu treffen, wie er selbst einer war. Als Freiwilliger hatte er von seinem Einsatz in Europa ein paar Souvenirs seines Heldentums mitgebracht: den militärischen Grad eines Feldwebels und eine Gasmaske, die er einmal aus ihrer Hülle zog, um seinen dreijährigen Sohn zum Lachen zu bringen. Doch Phil lachte nicht. Angesichts der undurchsichtigen Riesenaugen und des schwarzen Gummirüssels, der unheilvoll herunterbaumelte, schrie er vor Panik und glaubte, ein Monster oder Rieseninsekt habe seinen Vater ersetzt. Noch Wochen danach musterte er dessen wieder normales Gesicht und fürchtete, weitere Zeichen des Austauschs zu entdecken. Zärtlichkeiten verstärkten sein Misstrauen nur noch. Infolge dieses Patzers begann Dorothy, die ihre ganz eigenen Vorstellungen von Kindererziehung hatte, jedes Mal, wenn sie Edgars verlegenem Blick begegnete, den ihren zum Himmel zu heben und genervt zu schnauben.

Als Edgar sie nach seiner Rückkehr von der Front geheiratet hatte, hieß es, Dorothy ähnele Greta Garbo. Mit dem Alter und verschiedenen überstandenen Krankheiten sah sie jedoch zunehmend wie ein Schreckgespenst aus, das keinerlei Sinnlichkeit, aber doch eine gewisse autoritäre Verführungskraft ausstrahlte. Als Bulimie-Leserin teilte sie die Menschheit in zwei Lager ein: die, die einer kreativen Tätigkeit nachgehen, und die, die das nicht tun. Da sie nicht wahrhaben wollte, dass es auch außerhalb der ersten Kategorie ernstzunehmende Menschen gab, verbrachte sie ihr Leben offensbar in einer Art puritanischem, rein intellektuellem Bovarismus, ohne je die Tür zu jenem Kreis von Auserwählten aufzustoßen, die veröffentlichte Autoren in ihren Augen darstellten. Sie verachtete ihren Mann, der sich, abgesehen von militärischen Dingen, nur für Football interessierte. Der wiederum versuchte, seine Leidenschaft mit Phil zu teilen, und nahm ihn heimlich mit ins Stadion, ohne dessen Mutter etwas zu sagen. Doch der Kleine, der zu ihr hielt, auch wenn er sich damit brüstete, nicht auf sie zu hören, weigerte sich zu verstehen, warum Erwachsene wegen eines lächerlichen Balls ein solches Aufheben machten.

Seine Kindheit ähnelte der von Nabokovs Luschin oder von Glenn Gould, seinem Altersgenossen und in mancher Hinsicht geistigem Cousin: kleinen, pummeligen, verstockten Jungen, aus denen man Schachmeister beziehungsweise Wunderpianisten gemacht hatte. Man lobte ihn für seine ruhige Art und seine frühe Begeisterung für Musik. Sein größter Spaß war es, sich in alten Pappkartons zu verstecken und stundenlang in ihrer Deckung auszuharren.

Als er fünf Jahre alt war, ließen seine Eltern sich scheiden, und zwar auf Dorothys Betreiben hin, der ein Psychiater versichert hatte, das Kind würde unter der Trennung nicht leiden (darüber sollte er sich sein ganzes Leben lang beklagen). Edgar wollte die Verbindung nicht abreißen lassen, doch bei seinen ersten Besuchen wurde er so frostig empfangen, dass er aufgab und nach Nevada zog. Dorothy wiederum, die die Hoffnung hegte, eine interessantere und besser bezahlte Stelle zu finden als das Sekretärinnenvorzimmer, in dem sie vor sich hinvegetierte, ließ sich mit ihrem Sohn in Washington nieder.

Dort verbrachten sie drei schreckliche Jahre. Phil war in Chicago zu jung gewesen, um sich an irgendetwas anderes erinnern zu können als das milde Westküstenklima, und mit schmerzlicher Bestürzung lernte er Regen, Kälte, Armut und Einsamkeit kennen. Seine Mutter arbeitete den ganzen Tag im Children’s Bureau des Familienministeriums und korrigierte die Druckfahnen von pädagogischen Broschüren. Wenn er aus der Quäkerschule zurückkam, in der sie ihn angemeldet hatte und wo man sich in einem Stuhlkreis in der Hoffnung zusammensetzte, der Heilige Geist möge zu einem sprechen, wartete er stundenlang allein in ihrer dunklen, tristen Wohnung auf sie. Da sie immer zu spät und zu müde nach Hause kam, um ihm noch Geschichten zu erzählen, musste er sich die, die er schon kannte, selbst erzählen. Seine liebste war das Märchen von den drei Wünschen, die eine Fee einem Bauernpaar gewährt. »Ich hätte gern eine fette Wurst!«, ruft die Frau. Schon liegt die Wurst vor ihr, was den Mann rasend macht: »Bist du wahnsinnig, einen der Wünsche so zu verplempern? Soll dir die Wurst doch ewig an der Nase baumeln!« Und schon verlängert sich die Nase der Frau um eine Wurst, und nur der dritte Wunsch kann sie wieder davon befreien. Nach diesem Vorbild erfand der Junge endlose Variationen. Dann lernte er lesen und entdeckte Pu der Bär. Und ein bisschen später beeindruckte ihn eine Kinderversion von Quo vadis?. Durchs Erzählen wurde alles, was man ihm in der Quäkerschule beibrachte, lebendig. Seine Mutter sollte nie erfahren, dass er einen ganzen Winter lang allein und ohne mit irgendwem darüber zu sprechen spielte, er sei ein in den Katakomben versteckter Frühchrist.

1938 fand Dorothy eine Stelle im Forest Office von Kalifornien, das sich auf dem Campus von Berkeley befand. Nach ihrem Exil in Washington konnten Mutter und Sohn befreit aufatmen. Sie hatten das Gefühl, wieder zu Hause und außerdem am Mittelpunkt der Welt zu sein – so wie jeder, der mehr als eine Woche in Berkeley verbringt. Sobald sie sich eingerichtet hatten, schien es keinen anderen Ort auf der Welt mehr zu geben. Als Feministin und Pazifistin, die sich für Kultur und fortschrittliche Ideen interessierte, blühte Dorothy in dieser Enklave auf, in der man zugleich Beamtin und Suffragette sein konnte, ohne irgendjemanden damit zu empören. Phil wiederum liebte die sich spiegelnde Bucht, die Rasenflächen, den kleinen Fluss auf dem Campus, wo die Stadtkinder völlig frei spielen konnten, und das Glockenspiel vom Sather Tower, das sein friedliches, fröhliches Gebimmel über die Dächer ergoss, als wolle es die so gelingend dahinrinnenden Stunden belohnen. Die Schule mochte er nicht besonders, doch da er an Asthma und Herzrasen litt, durfte er dem Unterricht oft fernbleiben, und selbst wenn er keinen Anfall hatte, deckte Dorothy bereitwillig sein Schwänzen und ließ ihn zu Hause herumtrödeln. Tatsächlich freute sie sich inständig, dass er so wenig nach seinem Vater kam und Sport, Klamauk und den ganzen Gemeinschaftsquatsch hasste, der zu nichts anderem gut war, als diese großen Trampel von Durchschnittsamerikanern hervorzubringen, wie sein Vater einer war. In ihren Augen gehörte Phil natürlich zu jenen Künstlertypen und Albatrossen, deren riesige Flügel sie beim Gehen behindern.

Schon mit zwölf mochte er, was er sein ganzes Leben lang mögen wird: Musikhören, Lesen und Maschineschreiben. Von seiner Mutter ließ er sich Klassikplatten schenken, zu Anfang solche mit 78 Umdrehungen, und entwickelte ein Talent, auf das sowohl er als auch sie mordsstolz waren: schon nach wenigen Takten jede Oper, jede Symphonie und jedes Konzert wiederzuerkennen, die in seiner Gegenwart gespielt oder auch nur gesummt wurden. Er sammelte Illustrierte, in denen es unter dem Deckmantel der Populärwissenschaft um versunkene Kontinente ging, um Pyramiden, auf denen ein Fluch lastete, oder um Schiffe, die auf mysteriöse Weise in der Sargassosee verschwunden waren. Zum Titel hatten sich diese Zeitschriften vielsagende Attribute gewählt: Astounding, Amazing, Unknown … Doch er las ebenso die Erzählungen von Edgar Allan Poe und H. P. Lovecraft, dem Einsiedler aus Providence, dessen Helden so ungeheuerliche Gräuel erlebten, dass sie unfähig waren, sie zu beschreiben.

Schon bald begann er, diese Vorbilder nachzuahmen. In Washington hatte er einige finstere Gedichte zusammengekritzelt, in denen eine Katze einen Vogel bei lebendigem Leib verschlang, eine Ameise die Leiche einer Hummel herumzerrte oder eine in Tränen aufgelöste Familie einen blinden Hund begrub. Das Tippen setzte seine Fantasie frei. Und sobald er eine Schreibmaschine besaß, wurde er ein Virtuose darauf: Denen zufolge, die ihn kannten, konnte niemand so schnell und so lange tippen wie er, die Tasten schienen seine Finger geradezu zu suchen. Innerhalb von zehn Tagen schrieb er seinen ersten Roman: eine Fortsetzung von Gullivers Reisen, dessen Manuskript verloren ging. Seine ersten veröffentlichten Texte – makabre, von Poe inspirierte Erzählungen – erschienen in der Rubrik »Nachwuchstalente« der Berkeley Gazette. Doch die Literaturredakteurin des Magazins, die als »Tante Flo« firmierte und Realismus (à la Tschechow oder Nathanael West) propagierte, hielt ihn an, seine Fantasie zu zügeln und über das zu schreiben, was er kannte: das Alltagsleben und kleine, reale Dinge. Da Phil sich unverstanden fühlte, gründete er seine eigene Zeitschrift und war ihr einziger Redakteur. Ich hoffe, bei dem ein oder anderen auf Zustimmung zu treffen, wenn ich im Titel dieser Zeitschrift (The Truth), dem Editorial zu ihrer einzigen Ausgabe (»Wir versprechen, hier nur über Dinge zu schreiben, die ohne jeden Zweifel wahr sind«) und der Tatsache, dass diese kompromisslose Wahrheit die Frucht von Träumereien eines dreizehnjährigen Schreibschülers war und die Form von intergalaktischen Abenteuern hatte, gewisse Vorzeichen erkenne.

Zu dieser Zeit hatte Phil eines Nachts einen Traum, der danach mehrmals wiederkehrte. Darin sah er sich bei einem Buchhändler stehen und nach einer Nummer von Astounding suchen, die in seiner Sammlung fehlte. In dieser sehr seltenen, unbezahlbaren Nummer war eine Geschichte erschienen mit dem Titel »Das Reich ist nie untergegangen«. Wenn er dieser habhaft werden und sie lesen könnte, dann wüsste er alles. Der erste Traum brach ab, bevor er den Stapel abgewetzter Magazine hatte durchschauen können, in dem sich, wie er glaubte, das wertvolle Exemplar befand. Mit flammender Ungeduld wartete er darauf, dass der Traum zurückkehre, und als es so weit war und er erleichtert feststellte, dass der Stapel sich noch an derselben Stelle in der Buchhandlung befand, suchte er ihn fiebrig noch einmal durch. Von Traum zu Traum trug er ihn weiter ab, doch vor der letzten Nummer wachte er jedes Mal auf. Er verbrachte seine Tage damit, den Titel der Geschichte vor sich hin zu murmeln, und sein Klang hörte sich schließlich an wie das Pulsen des Bluts in seinen Ohren, wenn er Fieber hatte. Er stellte sich die Buchstaben vor, aus denen dieser Titel bestand, und auch die Coverillustration. Die Illustration beunruhigte ihn, obwohl oder weil er sie nur verschwommen sah. Nach ein paar Wochen mischte sich Angst in sein Begehren. Er wusste, wenn er »Das Reich ist nie untergegangen« läse, wären ihm alle Geheimnisse der Welt offenbart, doch er ahnte auch, dass dieses Wissen Gefahr bedeutete. Lovecraft hatte gewarnt: Wenn wir alles wüssten, würden wir vor Entsetzen wahnsinnig werden. Schließlich stellte Phil sich vor, sein Traum sei eine teuflische Falle und die im Stapel verborgene Ausgabe ein verstecktes Monster, das ihn verschlänge, sobald er am Ende der Rutsche, die in seinen Schlund führte, ankäme. Statt den Stapel wie zu Anfang durchzuhasten, versuchte er nun, die Bewegung seiner Finger, die ein Magazin nach dem anderen abtrugen und sich dem schrecklichen letzten näherten, zu verlangsamen. Ihm graute vor dem Schlafen, und er trainierte sich darauf, wachzubleiben.

Dann verschwand der Traum ohne ersichtlichen Grund. Er wartete darauf, dass er wiederkehre, erst voller Angst, dann wieder voller Ungeduld. Nach zwei Wochen hätte er alles dafür gegeben. Er erinnerte sich an das Märchen von den drei Wünschen, in dem jeder für die Wiedergutmachung der Katastrophe verschwendet wird, in die der kopflos formulierte vorige geführt hat: Erst hatte er sich gewünscht, »Das Reich ist nie untergegangen« zu lesen, dann, als er die Gefahr gespürt hatte, hatte er gehofft, die Lektüre möge ihm erspart bleiben, und jetzt wollte er es wieder lesen, und wenn man ihm die Erfüllung dieses Wunsches nun verwehrte, dann vielleicht aus Barmherzigkeit, dachte er, weil ihm kein vierter Wunsch freistand. Der Traum kam nicht wieder, trotz allem enttäuschte ihn das. Er sehnte sich danach. Dann vergaß er ihn.

Da war also ein etwas pummeliger, kurzatmiger Junge, der lebte allein mit seiner Mutter. Sie hießen Philip und Dorothy und hatten ein spezielles Ritual. Wenn jeder abends in seinem Zimmer im Bett lag, sprachen sie durch die offene Tür miteinander. Ihre Lieblingsthemen waren Bücher, Krankheiten und vermeintlich wirksame Heilmittel. Als diagnostizierte Hypochonderin besaß Dorothy einen Arzneischrank, der genauso reich bestückt war wie die Plattensammlung ihres Sohnes und auch genauso offen für Neues. Als nach dem Krieg die ersten Beruhigungsmittel auftauchten, gehörte sie zu den Pionierinnen dieses Chemie-Eldorados und probierte Thorazine, Valium, Tofranil und Librium aus, sobald sie auf den Markt kamen, verglich die Dämmerzustände, in die sie versetzten, und empfahl sie ihrem Umfeld weiter.

Hin und wieder sah Phil seinen Vater, der in der Zwischenzeit wieder geheiratet hatte und in Pasadena lebte, wo er Radiomoderator bei einem lokalen Sender geworden war. Dieser Beruf machte großen Eindruck auf den schüchternen Teenager, der davon träumte, Einfluss auf andere ausüben zu können. So wie jeder war Phil während des Kriegs Patriot gewesen, doch die Propaganda von Goebbels hatte ihn ebenso fasziniert. Er war stolz darauf, einen Plan, den er eigentlich ablehnte, trotzdem bewundern zu können, wenn die Ausführung perfekt war. Ein Tribun, eine Führernatur schlummerte in ihm, doch da er niemanden hinter sich zu scharen vermochte, blieb er in seinem stillen Kämmerlein.

Ja, mangels Alternativen tat er tatsächlich genau das am liebsten: sich in sein stilles Kämmerlein zu verziehen und seine Besitztümer zu horten. Regelmäßig bat seine Mutter ihn, er möge sein Zimmer aufräumen, in dem eine Unordnung herrschte, die typisch ist für Maniker, die wie Sherlock Holmes eine Akte an der auf ihr liegenden Staubschicht datieren können und Wert darauf legen, sich als einzige in diesem Chaos auszukennen: einem auf unsichtbare Weise sortierten Haufen Plunder aus Flugzeug- und Busmodellen, Schachspielen, Science-Fiction-Magazinen und, besser versteckt als alles andere, Nacktfotos von Mädchen.

Denn natürlich begann er sich für Mädchen zu interessieren. Ohne Ergebnis zwar, dafür fehlte es ihm an Selbstbewusstsein, doch genug, um an der Symbiose mit Dorothy zu rütteln. Hilflos kam diese zu dem Schluss, dass der Schulfrust, die Introvertiertheit und die Angstattacken ihres Sohnes wohl der Dienste eines Psychiaters bedurften. Vierzehn Jahre war er alt, als sie ihn zum ersten aus einer ganzen Liste von Kollegen fuhr, die praktisch bis zu seinem Tod nicht mehr abriss.

Nach ein paar Sitzungen und der begleitenden Lektüre von Büchern, die seine Mutter fiebrig mit Anmerkungen versehen hatte, sprach der junge Dick selbstbewusst von Neurosen, Komplexen und Phobien und unterzog seine Mitschüler Persönlichkeitstests, aus denen er unterschiedlich schmeichelhafte und nicht immer gleichermaßen willkommene Schlüsse zog, ohne je die Quelle seines Wissens preiszugeben.

Gegen Ende der 1930er-Jahre hatte die Entwicklung dieser Tests die Vorstellungen des Durchschnittsamerikaners davon, was in seinem und dem Kopf seines Nachbarn vor sich ging, erheblich verändert. Zum Zeitpunkt der Kriegserklärung hatten sie an den Tag gebracht, dass mehr als zwei von vierzehn Millionen Einberufenen an neuropsychiatrischen Störungen litten, die einer Behinderung gleichkamen. Angesichts dieser Zahl, mit der niemand gerechnet hatte, bevor wissenschaftlich anerkannte Parameter sie ergeben hatten, war man in Panik geraten und hatte enorme Summen in den Sektor mentale Gesundheit gesteckt und den Boom der Psychoanalyse befördert, auf die man nun setzte, um aus diesen Halbirren verantwortungsbewusste und ausgeglichene Staatsbürger zu machen.

Eine solche Zuversicht mag naiv erscheinen, vor allem aber amüsierte sie den alten Sigmund Freud, der sich bei seiner Ankunft in New York rühmte, der Neuen Welt die Pest zu bringen. Doch die amerikanischen Psychiater und Psychoanalytiker, die es mit dem Unterschied zwischen ihren Disziplinen nicht so genau nahmen wie ihre Kollegen in Europa, passten den Freudianismus ihrer pragmatischen Sichtweise an und zielten weniger auf Selbsterkenntnis und Selbstannahme einschließlich persönlicher Absonderlichkeiten als auf die Anpassung an soziale Normen. Die Testungen, die sie massenhaft durchführten, bewerteten eher die Fortschritte des Patienten hinsichtlich eines einzigen Ziels: ob er normal funktionierte. Oder zumindest den Anschein machte, normal zu funktionieren.

Ich erinnere mich, dass ich als Kind, und schon damals kurzsichtig, einmal einen Augenarzt aus dem Konzept brachte, indem ich die Buchstaben auf dem Plakat, mit denen die Sehstärke gemessen werden sollte, auswendig aufsagte: Wenn ich doch alles lesen könne, plädierte ich, selbst die winzigen Buchstaben ganz unten, bräuchte ich doch keine Brille (es hat nicht funktioniert). Als Teenager war Dick mit seinen Tests ebenso vertraut, doch er benutzte seine Kenntnisse auf sehr viel virtuosere Weise. Mit Intuition und der frisch gewonnenen Erfahrung machte er sich die Starrheit des Systems zunutze und lernte, den Fallen auszuweichen, die in die Testfragen eingebaut waren, und zu erraten, welche Antworten von ihm erwartet wurden. Wie ein Schüler, der sich zuvor das Buch des Lehrers besorgt hatte, wusste er, welche Kästchen er im Wordsworth Personal Data Sheet oder im Minnesota Multiphasic Personality Inventory ankreuzen musste, um die Erwartungen seines Gegenübers zu erfüllen, und welches Bild in welcher Aufgabe beim Rorschach-Test zu erkennen war, um dieses zu verblüffen, und nach eigenem Gutdünken erwies er sich so mal als normal, mal als normal anormal, als anormal anormal oder anormal normal (das war sein größter Triumph) und trieb seinen ersten Psychiater durch die gezielte Variation seiner Symptome geradezu zur Verzweiflung.

Ein deutlich intelligenterer Psychoanalytiker aus San Francisco trat dessen Nachfolge an: ein Jungianer – das, was man in Berkeley seit Kurzem als für kreative Geister reservierte Crème de la Crème betrachtete. Zweimal die Woche nahm Phil nun die Fähre über die Bay. Einem Freund, der sich über diese unüblichen Ausflüge wunderte, erzählte er, er besuche Kurse für Hochbegabte mit außergewöhnlich hohem IQ, und – er hätte es nicht zuzugeben brauchen – habe getrickst, um die Tests zu bestehen. Der Freund grinste, wie man eben unter schlechten Schülern grinst, die stolz darauf sind, solche zu sein, doch Phil warf barsch ein, ein Hochstapler, der es schafft, als Genie durchzugehen, lege doch mehr Genialität an den Tag als ein echtes Genie, und der Freund schaute ihn etwa so an wie sein erster Psychiater am Ende ihrer gemeinsamen Zeit. Danach mied er ihn.

Im Verlauf seiner zweiten Therapie entdeckte Phil, wie außergewöhnlich stark die Geschichte von Jane auf psychologieinteressierte Personen wirkte und welche Aufmerksamkeit Kenner einem Trauma dieses Kalibers widmeten. Er begriff, dass es ihn interessant machte, von seiner toten Zwillingsschwester zu erzählen, und er brachte lange Sitzungen damit zu, sich zu fragen, wer ihm zu welcher Gelegenheit eigentlich vom Drama ihrer Geburt erzählt hatte. Ganz bestimmt seine Mutter, und ganz bestimmt sehr früh. Irgendwie kam ihm vor, als hätte er immer schon davon gewusst. Er erinnerte sich, in seiner Kleinkindzeit eine imaginäre Freundin namens Jane gehabt zu haben, die schwarze Augen und Haare hatte und sich mit wilder Frechheit aus den gefährlichsten Situationen herauszumanövrieren wusste – im Gegensatz zu ihm, dem Tollpatsch, der sich immer noch im hintersten Winkel seiner alten Pappkartons verkroch. Ebenso behauptete er, sich erinnern zu können, dass seine Mutter in einem Wutanfall einmal geschrien habe, es wäre besser gewesen, wenn er gestorben wäre statt Jane.

Als er erfuhr, was eine kastrierende Mutter ist, erschien ihm diese Enthüllung zwar irgendwie wie ein Verrat (bezahlte Dorothy den Kerl etwa dafür, dass er schlecht über sie redete?), doch sie traf nicht auf taube Ohren und verwandelte sich alsbald in Sorge. Mit einer solchen Mutter, einem abwesenden Vater und einer so ausgeprägten Leidenschaft für alles Künstlerische und Geistige, war er da nicht prädestiniert, schwul zu werden?

In seiner Pubertät hatte er davor panische Angst, aber nicht nur davor. Er hatte auch Höhenangst und Platzangst. Er fürchtete sich vor öffentlichen Verkehrsmitteln und war unfähig, in der Öffentlichkeit auch nur irgendetwas zu essen, nicht einmal ein Sandwich. Mit fünfzehn bekam er bei einem Symphoniekonzert einen Panikanfall: Er hatte den Eindruck, untergegangen zu sein und die Welt durch das Sehrohr eines U-Boots wahrzunehmen.

Ein andermal wurde ihm im Kino übel, als er in einer Wochenschau amerikanische Truppen auf einer Pazifikinsel japanische Soldaten mit Flammenwerfern massakrieren sah. Das Schlimmste dabei war allerdings nicht so sehr das Leid der Japaner, sondern die Begeisterung der Kinobesucher, die hingerissen zuschauten, wie sich diese Makaken in brennende Fackeln verwandelten. Er stürmte hinaus, die panische Dorothy hinterher, und jahrelang setzte er keinen Fuß mehr in einen Kinosaal.

Solche Anfälle erschwerten auch seinen weiteren Schulbesuch. Also ging er nicht mehr in den Unterricht, sondern lernte von zu Hause aus und hörte dabei Schallplatten. Ein Fach passte besonders gut zu dieser Geräuschkulisse und gefiel ihm deshalb von allen am besten: Deutsch, das er gegen Kriegsende aus Trotz und Angeberei als lebende Fremdsprache gewählt hatte und in der er eine Dichtung entdeckte, die wie dazu gemacht schien, um gesungen zu werden. Die Melodien von Schubert, Schumann und Brahms kamen in sein Leben. Er konnte sich nichts Besseres vorstellen, als es damit zu verbringen, diese zu hören, und mit sechzehn beschloss er, einen Beruf daraus zu machen.

Er fand einen Halbtagsjob in einem Geschäft namens University Music. Dort wurden Schallplatten, Radios, Plattenspieler und die ersten Fernseher verkauft. Oder repariert, wobei die Reparateure eine Aristokratie bildeten, zu deren Kompetenz der junge Phil neidvoll aufsah. Das englische Verb to fix – das sowohl »festmachen« als auch »in Ordnung bringen«, »binden« und »zusammenhalten« bedeutet und darüber hinaus, und mehr als das deutsche »fixieren«, eine Vorstellung von hart erkämpfter Stabilität weckt – beinhaltete alles, was er an der menschlichen Schaffenskraft am meisten schätzte; die Helden seiner späteren Bücher sollten ewige Bastler sein, kleine, an die Werkbank genagelte Handwerker. Für einen Jungen, der wie ein Verrückter las und in der intellektuellsten Universitätsstadt überhaupt aufwuchs, mag das seltsam erscheinen, doch er entschied sich sehr früh – und noch bevor man ihm vorwerfen konnte, er würde nur die Trauben verachten, an die er nicht heranreichte –, auf welcher Seite er stand. Seine Spielwiese sollte also nicht die Universität werden und ebenso wenig die Cafés, in denen vorlaute Studenten das Rad neu erfanden, sondern das kleine Geschäft, der Laden, vor dem man morgens den Gehsteig fegt, bevor man die Rollläden hochzieht und die ersten Kunden erwartet.

Seine Arbeit bestand darin, die von den Händlern zugeschickten Kartons mit Klassikplatten zu öffnen, diese in die entsprechenden Fächer einzusortieren und sich den Kopf zu zerbrechen, wohin damit, wenn ein Album Werke verschiedener Komponisten enthielt, außerdem, einige mit Rabatt für die eigene Sammlung zu kaufen, mit den Kunden oder anderen Verkäufern über die Vorzüge der verschiedenen Zauberflöte-Versionen zu fachsimpeln, den Holzboden zu fegen und in den Toiletten hinter der Hörkabine Nummer 3 die Klopapierrollen aufzufüllen. University Music war seine Welt, eine stabile, vertraute Welt, in der ihm nichts Schlimmes zustoßen konnte. Dort fühlte er sich vor Panikattacken und Platzangstanfällen sicher. Dort gewann er an Selbstvertrauen. Wenn ihm eine Kundin gefiel, lud er sie in eine Kabine ein und legte ihr die ersten Alben dieses wunderbaren jungen Baritons namens Dietrich Fischer-Dieskau auf, der Schubert-Lieder sang wie nie jemand zuvor. Und während sich die Platte drehte, schaute er die Frau mit seinen tiefblauen Augen an und summte die Musik mit seiner schönen, tiefen, ein wenig belegten Stimme mit, die seit Kurzem sein Pubertätsgefistel abgelöst hatte.

Um dieses Register der Verführung weiterzuentwickeln, träumte er davon, die Radiosendung zu moderieren, die sein Chef bei einem lokalen Sender unterstützte. Doch leider erlaubte man ihm nur, das Programm zusammenzustellen; das Monopol über das Mikro behielt ein Typ mit pomadisierten Haaren, kariertem Jackett und zweifarbigen Schuhen, den er von ganzem Herzen hasste. In einem seiner liebsten Tagträume fantasierte er, er sei ein Astronaut, der die von einer Atomkatastrophe zerstörte Erde umrunde. Auf dem Satelliten, auf dem er verdammt war, bis zu seinem Tod um die Erde zu kreisen, da es keine Technik gab, um ihn wieder herunterzuholen, empfing er die Funksprüche der auf dem verwüsteten Planeten verstreuten Überlebenden. Er sendete seinerseits welche zurück, und diese versuchte man unten etwa so einzufangen wie die Franzosen während der Besatzung die aus London. Er ließ Schallplatten laufen, las aus Büchern vor und gab Informationen weiter. Durch ihn blieben die auf der Erde versprengten Gruppen in Verbindung, und seine warme Stimme schenkte ihnen Mut, um durchzuhalten. Man versammelte sich vor sorgsam zusammengebastelten Detektorempfängern, um ihm zuzuhören, und die Menschen betrachteten diese als ihr wertvollstes Gut. Ohne diese Empfänger und ohne diesen einsamen DJ, der da oben über sie wachte, wären sie wieder zu wilden Tieren geworden. Sollte es noch einmal eine Zivilisation geben, dann unter seiner Ägide. Und der köstlichste Moment dieses Tagtraums war der, da er der Versuchung trotzen musste, sich von den Menschen anbeten zu lassen wie ein Gott. Er widerstand ihr, aber nur knapp.

Über seinen Auszug aus dem mütterlichen Nest gehen die Berichte auseinander. Während Phil sich darüber beklagt, Dorothy habe ihm diesen sehr schwer gemacht und gedroht, die Polizei zu rufen, um ihn daran zu hindern, auszuziehen und schwul zu werden – was zwangsläufig passieren würde, wenn sie nicht mehr da wäre, um auf ihn aufzupassen –, beteuert Dorothy ganz im Gegenteil, sie habe ihn vor die Tür setzen müssen, da er schon längst über das Alter hinaus gewesen sei, um zu Hause zu wohnen. Wie auch immer, er verfrachtete seine Bücher-, Schallplatten- und Zeitschriftensammlungen und seinen wertvollen Magnavox-Plattenspieler in eine Wohnung, die von einem Grüppchen studentischer Bohemiens bewohnt wurde, und unter ihrem Einfluss entwickelten sich seine literarischen Vorlieben weiter. In diesem Milieu, in dem Belesenheit kultisch verehrt wurde, hatte nur die sogenannte Hochliteratur ein Existenzrecht – sich mit populäreren Genres wohlwollend zu befassen, kam erst später in Mode. Als braves Chamäleon hörte Dick also auf, Science-Fiction zu lesen, versteckte seine Schundheftchen, die ihn in seiner Pubertät so begeistert hatten, und pflegte nur noch mit Joyce, Kafka, Pound, Wittgenstein und Albert Camus Umgang. Ein idealer Abend bestand für ihn nun darin, mit Avantgardedichtern Buxtehude oder Monteverdi zu hören und dabei auswendig ganze Passagen von Finnegans Wake zu zitieren und darin den Einfluss von Dante nachzuweisen. Jeder um ihn herum versuchte sich im Schreiben und tauschte, von einem frenetischen Namedropping begleitet, Manuskripte und Ratschläge aus. Außer einer Reihe von Erzählungen, die er vergeblich versuchte, in Zeitschriften unterzubringen, schrieb Dick in dieser Zeit zwei Romane, von denen man nur weiß, was er selbst später davon erzählte: Der erste sei ein langer innerer Monolog gewesen, der von einer unmöglichen Suche nach Liebe und von Jung’schen Archetypen erzählt habe, und der zweite habe das komplizierte Geflecht aus Lügen und Verschwiegenem in einer Dreiecksbeziehung im maoistischen China beschrieben.

Zur selben Zeit verlor er mit einer Kundin des Ladens, die zu bezirzen ihn ein draufgängerischerer Angestellter ermutigt hatte, seine Jungfräulichkeit – und damit auch seine Angst, schwul zu sein. Er hatte sich geweigert, ihr die schnulzigen Weihnachtslieder zu verkaufen, für die sie eigentlich gekommen war, und ihr stattdessen in der Kabine seine Lieblingsplatten vorgespielt, sie mit ins Untergeschoss genommen, das die Reparateure zur Mittagszeit immer verließen, und sie eine Woche später geheiratet und damit unter der Hand seine lange Karriere als zwanghafter Monogamist eingeleitet. Sie mieteten zusammen eine triste Einzimmerwohnung, wo Phil sowohl die Nöte eines Lebens als mittelloses Paar kennenlernte als auch die mangelnde Seelenverwandtschaft mit seiner Frau. Wenn er ihr aus William James’ Die Vielfalt religiöser Erfahrung oder seinen eigenen Erzählungen vorlas, schlief sie ein; Finnegans Wake fand sie unverständlich; und die Platten, die er pausenlos hörte, ertrug sie nicht. Nach ein paar Wochen drohte sie, sie zu zerschmettern: Die Trennung wurde unumgänglich. Angeblich befand der Richter zwar, eine solche Drohung sei ein schwacher Scheidungsgrund, dennoch verfolgte sie Dick noch lange. In seinem Buch 1984 stellt sich Orwell vor, wie die Polizei auf jeden Bürger individuell Druck auszuüben versucht, indem sie sich bemüht herauszufinden, was ihm am meisten Angst bereitet: Für den einen ist es die Vorstellung, lebendig begraben zu werden, für den anderen, von einer Ratte verschlungen zu werden. Dass man seine wertvollen Platten zerbrechen könnte, hatte für Dick dieselbe Anmutung von absolutem Horror. In jedem seiner Bücher verpassen grausame Ehefrauen ihrem Wrack von Ehemann einen Schlag dieser Art, und in seinem vorletzten Roman greift Jahwe persönlich auf diese Drohung zurück, um die Hauptfigur aufzurütteln, die sich weigert, Seinen Willen geschehen zu lassen.

Mit seiner zweiten Frau rückte diese Gefahr in weite Ferne; auch sie lernte er im Plattenladen kennen, als sie dort die Abteilung mit italienischen Opern durchstöberte. Als gebranntes Kind prüfte er diesmal zuerst ihre Vorlieben und wartete mit seinen Annäherungsversuchen so lange, bis er sich sicher war, dass sie dieselben Interpretationen mochte wie er. Kleo Apostolides war neunzehn Jahre alt, eine griechischstämmige, dunkelhaarige, ziemlich hübsche Studentin und Vielleserin und, nimmt man den späteren Dick’schen Ehefrauenstandard zum Maßstab, außergewöhnlich geerdet. Sie heirateten im Juni 1950 und kauften auf Kredit ein baufälliges Häuschen im unteren Teil von Berkeley, einem Arbeiterviertel. Das Dach des Hauses leckte, die Farbe blätterte von den Wänden ab, und während der starken Regenfälle im Winter mussten sie überall Eimer aufstellen, um eine Überschwemmung zu verhindern. Doch weder Phil noch Kleo dachten daran, das Haus zu renovieren – der eine aus Gleichgültigkeit, weil er den Großteil seines Geldes für Platten ausgab und seine Freizeit damit verbrachte, sie zu hören, und die andere aus freier Entscheidung für ein Bohemeleben und alles, was dem bürgerlichen Lebensstil zuwiderlief. Als tapfere kleine Streiterin des örtlichen Radikalismus trug Kleo Jeans und Hornbrille, summte Lieder der Internationalen Brigaden, in denen es darum ging, mit hasserfülltem Herzen in Madrid einzumarschieren, und sprach über alles mit derselben Leidenschaft, egal, ob sie sich begeisterte oder empörte. Besonders gern empörte sie sich.

Um ihr Politikstudium zu finanzieren, jobbte sie an verschiedenen Orten. Phil wiederum verbrachte inzwischen den ganzen Tag bei University Music. Anders als fast jeder andere in Berkeley war er kein Student. Nur wenige Tage, nachdem er sich für Seminare zum Sturm und Drang und zur Philosophie Humes eingeschrieben hatte, hatte eine besonders schlimme Panikattacke seine akademische Karriere zunichtegemacht. Da er keinerlei Ambitionen auf einen sozialen Aufstieg hegte – und das ist das Mindeste, was man dazu sagen kann –, trauerte er dieser auch nicht lange nach. Sobald er allerdings Vollzeitplattenhändler geworden war, ohne andere Perspektive als die, den Laden irgendwann selbst zu übernehmen, und auch die lag in weiter Ferne, musste er feststellen, dass er diese Entscheidung bereute, denn über die Jahre drohte sie, eine pittoreske Gestalt aus ihm zu machen, die von Generationen von Studenten in Berkeley mit freundlicher Gleichgültigkeit behandelt werden würde: der alte, ach so belesene Verkäufer von University Music, der jederzeit zu einem Schwätzchen bereit war, sobald man ihn auf den deutschen Idealismus oder das hohe C ansprach, das Elisabeth Schwarzkopf von Kirsten Flagstad aus der Furtwängler-Aufnahme des Tristan übernommen hat.

Doch dann machte er noch während seiner Zeit bei University Music eine entscheidende Begegnung: mit einem Schriftsteller namens Anthony Boucher, einer Art Allrounder der Trivialliteratur, der unter verschiedenen Pseudonymen Krimis und Science-Fiction-Romane schrieb, rezensierte und herausgab. Dass ein Erwachsener, ein ausgemachter Musikliebhaber und in jeder Hinsicht distinguierter Mann, dieses Genre nicht verachtete, von dem er geglaubt hatte, sich abwenden zu müssen, um nicht als minderbemittelt zu gelten, löste bei Dick zuerst große Verblüffung und dann Erleichterung aus. Seine Schüchternheit hielt ihn zwar davon ab, am Creative-Writing-Kurs teilzunehmen, den Boucher einmal die Woche bei sich zu Hause veranstaltete, doch Kleo nahm ein paar Texte ihres Mannes mit hin, darunter eine Science-Fiction-Erzählung. Zweite Überraschung: Genau diese wurde als vielversprechend bewertet. Von diesem Urteil ermutigt, gab Dick seine Versuche von psychologischer Feinzeichnung und inneren Monologen auf und ließ seiner Einbildungskraft freien Lauf, und zwar bis zu den Sternen. Und so brachte die Zeitschrift, deren Chefredakteur Boucher war, im Oktober 1951 die erste »professionelle« Erzählung von Philip K. Dick heraus: »Roog«. Darin verfolgt ein Hund bellend Müllmänner, weil er bemerkt hat, dass sie keine wirklichen Müllmänner sind, sondern Außerirdische, die begonnen haben, die Abfälle der Erdlinge mitzunehmen und zu analysieren, um später, vermutet man, die Erdlinge selbst mitzunehmen.

Für den Text bekam er zwar nur wenig Geld, aber immerhin bekam er welches. Dick schloss daraus, dass man auch so sein Leben verdienen könne. In einer Mischung aus Angst und Begeisterung gab er seine Stelle bei University Music auf und betrachtete sich fortan als Vollzeitschriftsteller. Er nahm sich einen Agenten. Im Jahr 1952 verkaufte er vier Erzählungen, 1953 dreißig, 1954 achtundzwanzig und 1955 seine erste Anthologie und seinen ersten Roman.

2

Grüne Männchen

Als Dick sich mit vierundzwanzig Jahren zum professionellen Science-Fiction-Autor erklärte, hätte er nie geglaubt, dass diese Entscheidung sein ganzes Leben bestimmen würde. Aus seiner Sicht hatte er einfach eine Gelegenheit ergriffen und vorläufig angemessen auf eine ebenso vorläufige Situation reagiert. Nachdem er bereits eine akademische Karriere für sich ausgeschlossen hatte, waren ihm durch seine gesammelten Phobien auch die meisten anderen Berufe versagt, die einem normalen amerikanischen Erwachsenen zur Auswahl gestanden hätten. Zumindest das hatten ihm die Tests gezeigt. Er wusste zwar, dass er sie hätte manipulieren und für die Dauer eines Bewerbungsgesprächs den seriösen jungen Mann geben können, den ein Personalchef ohne zu zögern einstellt, doch er hätte seine Umgebung nicht Tag für Tag in einem Büro täuschen können. Im Übrigen hatte er auch keinerlei Bedürfnisse, die ein Büroleben hätte befriedigen können. Zwar zog ihn die Macht an, auch wenn er es nicht zugeben wollte, aber sicherlich nicht die, die ein mittlerer Angestellter auf seine Untergebenen oder ein leitender Angestellter auf seine mittleren Angestellten ausübt. Was das White-collar-Leben anging, das die Werbung einem Land als erstrebenswert hinstellte, das erst seit Kurzem seine Wirtschaftskraft entdeckt hatte, so konnte ein Berkeley-Bewohner die Brown’sche Bewegung dieser lächelnden Roboter mit Krawatte nur als grotesk ansehen, die frühmorgens in ihrem Vorstadtzug alle dasselbe Aftershave ausdünsteten und abends, nachdem sie sich kurz für nichts aufgeregt hatten, zu ihren Vorstadthäusern und blonden, lächelnden Ehefrauen zurückkehrten, die ihnen einen Martini reichten und alle mit derselben Stimme fragten: »Und, Darling, hattest du einen schönen Tag?« Da kultivierte man doch lieber seine Schrulligkeit und insbesondere seine pubertäre und etwas regressive Vorliebe für Science-Fiction, denn dafür gab es einen geradezu explodierenden Markt, der offen genug war, um einem jungen Schriftsteller, dessen »literarische« Texte niemand haben wollte, ein Auskommen zu ermöglichen – das zwar mickrig war, okay, aber ausreichte, um seine Fingerübungen zu machen und den einzigen Beruf zu erlernen, der seinen Ansprüchen entsprach. Natürlich musste man das Spiel mitspielen, das heißt im Akkord produzieren und Kürzungen, unmögliche Titel und grelle Illustrationen akzeptieren, auf denen grüne Männchen mit Stielaugen zu sehen waren. Hätte man die Bibel in einem Science-Fiction-Verlag herausgebracht, scherzte Boucher, wären es zwei Bände mit je zwanzigtausend Wörtern gewesen, wovon der erste, das Alte Testament, Der Meister des Chaos und der zweite Das Ding mit den drei Seelen geheißen hätte. Aber das Ganze war ja kein Dauerzustand, hoffte Dick. Bald würde man seine Erzählungen im New Yorker lesen, seine echten Bücher würden bei echten Verlagen herauskommen und echte Kritiken erhalten, man würde über ihn sprechen wie über Norman Mailer oder Nelson Algren, und diese unrühmliche Lehrzeit würde seiner Biografie nur den ordinären Touch verleihen, der einem großen amerikanischen Romanautor geziemt.

Das Eigenartige ist, dass genau das nicht passierte. Seine »ernsthaften« Werke, die Mainstream-Bücher, wie man in Amerika sagt, waren vielleicht nicht besonders gut, aber es wurden auch wesentlich schlechtere veröffentlicht, und wenn so viele Schriftsteller als Entdeckungen gefeiert werden, bevor man sie wieder vergisst, hätte eigentlich auch Dick seine Chance bekommen und im eigentlich gar nicht so verschlossenen Salon der bürgerlichen Literatur seine kleine Runde gedreht haben müssen, so wie jeder. Doch irgendetwas stand ihm im Weg, und dieses Etwas hielt er zunächst für unerklärliches Pech und dann, aber erst viel später, für ein Zeichen einer unvergleichlich höheren Berufung.

In den Fünfzigerjahren schrieb er neben circa vierundzwanzig Science-Fiction-Erzählungen und sieben SF-Romanen nicht weniger als acht Mainstream-Romane, von denen kein einziger publiziert wurde. Diese Schlappe konnte Kleo jedoch nicht entmutigen; sie glaubte an den Mythos des verkannten Künstlers und des lustigen Bohemelebens: Ein Künstler musste mit seiner Art von Geist unverstanden sein, zumindest am Anfang, und das Bohemeleben musste lustig sein, so wie Soldaten brutale, tressenbesetzte Tiere und Hollywoodfilme dumme, kommerzielle Maschinen sein mussten. Wenn sie die Absageschreiben, die in einem alarmierenden Rhythmus in ihrem Briefkasten eintrafen, an die Wand pinnte – an einem Tag fanden sie siebzehn davon auf einmal vor –, zweifelte sie nicht eine Sekunde lang daran, damit zum einen die Dummheit der Zombies in grauen Anzügen zur Schau zu stellen, die in der Verlagswelt das Sagen hatten, und zum anderen die Originalität ihres Mannes, die bald schon erkannt werden würde. Die Zeitungen begannen von der beat generation zu sprechen und damit ein plausibles Vorbild für die Figur des aufsässigen, saloppen Schriftstellers zu liefern, dessen Uniform Phil zumindest trug: Jeans, Holzfällerhemd und alte Armeestiefel. Kleo träumte vom Ruhm eines Jack Kerouac für ihn, und die seltenen Male, die sie gemeinsam mit Phil auf die andere Seite der Bay nach San Francisco fuhr, versuchte sie, ihn in die kleinen, verrauchten Cafés von North Beach zu lotsen, wo die Beatniks Jazz hörten und bis spätnachts aus ihren Büchern lasen.

Doch leider mochte Phil weder die andere Seite der Bay noch verrauchte Cafés und ebenso wenig Jazz oder Schriftstellerstelldicheins. Er hatte panische Angst, dass jemand ihn fragen würde, was er denn geschrieben habe, denn er kannte das überhebliche Lächeln, mit dem auch der obskurste veröffentlichte Dichter auf das Genuschel reagierte, in dem Phil die Wörter »Science-Fiction« zu ertränken versuchte. Da er weniger zuversichtlich und weniger schnell empört war als seine Frau, hegte Phil seine Zweifel, ob Erfolglosigkeit wirklich das Stigma des Genies sei, und weil er Kleo nicht zu bitten wagte, die Trophäen seiner Erfolglosigkeit abzuhängen – »was«, hätte sie gerufen, »sag bloß, du schämst dich?« –, wandte er nur seinen unglücklichen Blick ab, sobald er auf diese Mauer der Ablehnung blickte. Lieber zog er, wenn er allein war, den völlig unbedeutenden Brief eines Mainstream-Romanautors namens Herb Gold aus der Brieftasche und betrachtete ihn wie eine Reliquie. Auch wenn Phil ihn kaum kannte, hatte dieser die Güte gehabt, ihn »lieber Kollege« zu nennen, als sei auch er ein echter Schriftsteller.

Die Abwertung, die er im Beisein derer empfand, die er gern als seinesgleichen betrachtet hätte, verspürte er bald auch in Gesellschaft von normalen Leuten, solchen, die Karriere machten, in schönen Häusern wohnten und Geld verdienten. Natürlich hätte er auf ihren Erfolg herabsehen können, so wie Kleo, doch er wusste, dass sie ihrerseits auf sein Scheitern herabsahen. Der Stolz, sich freischaffend nennen zu können und es keinem Chef recht tun zu müssen, fiel angesichts der ständigen Demütigung der Armut für ihn kaum ins Gewicht. In der Nähe ihres Hauses gab es einen Laden für Hundefutter, The Lucky Dog Pet Store, wo er manchmal Pferdefleisch kaufen ging, das in Amerika nicht als Nahrungsmittel für Menschen galt. Eines Tages musterte ihn der Verkäufer und nagelte ihn mit einem Satz auf den Status des Losers fest: »Zumindest essen sie das ja nicht selbst, oder?« Als Phil Kleo davon erzählte, brach sie in Lachen aus, und um ihn zu trösten, erklärte sie ihm, was sein Vorname auf Griechisch bedeutet: Philippus, derjenige, der die Pferde liebt. Aber, fragte er, musste diese Liebe zu den Pferden denn so weit gehen, dass er ihr Fleisch aß? Hätte sie ihn, ganz im Gegenteil, nicht in Angst und Schrecken versetzen und davon abhalten müssen? Die Hindus essen keine Kühe, weil sie sie als heilige Tiere verehren; die Juden dagegen essen kein Schwein, weil sie es für ein schändliches Tier halten. Im Sinne der vergleichenden Religionswissenschaft konnten also beide Thesen Gültigkeit beanspruchen, schlussfolgerten sie. Dennoch aßen sie weiter Pferd, und dennoch war das im Kalifornien von 1955 eine Nahrung von Aussätzigen.

Aus der Zeit, als Phil noch einen anderen Beruf hatte, war ihm die Gewohnheit geblieben, in der Nacht zu schreiben. Morgens spazierte er in einem immer kleiner werdenden Radius um sein Haus und schaute die Kisten mit verbilligten Schallplatten durch, vor allem aber saß er in seinem brachliegenden Gärtchen und las, statt in seinem Haus herumzuwerkeln, wie es sicher sein Nachbar getan hätte, wenn dieser über seine Zeit hätte frei verfügen können. Wenn er zur Arbeit fuhr, warf er Phil einen scheelen, misstrauischen Blick zu, und wenn er weg war, warf Phil heimlich einen schüchternen, sehnsüchtigen zu dessen Frau hinüber, die zu dem Zeitpunkt, wenn er darüber nachdachte, zu Bett zu gehen, gerade mit ihrer Morgentoilette begann. Zarte Flirts müssen sich angebahnt haben, und bis 1958 blieben sie folgenlos.

Was las er? Alles quer Beet: Dostojewski, Lukrez, die Protokolle der Nürnberger Prozesse, deutsche Lyrik, deutsche Philosophie, Science-Fiction und Psychoanalyse, dabei vor allem Jung, dessen gesammelte Werke er mit jedem Einzelband zusammenkaufte, der in der großen Bollingen-Ausgabe erschien. Auf diese Weise stieß er auf die Septem Sermones ad Mortuos, die der junge Schweizer Arzt 1916 unter dem Pseudonym Basilides veröffentlicht hatte – er hatte es einem Gnostiker des 2. Jahrhunderts aus Alexandria entlehnt. In einem archaisierenden Stil berichtet Jungs Prosatext von einer Art mystischen Erfahrung voller unerklärlicher Töne und Bilder und von Erleuchtungen, die von Leuten wie dem Propheten Elija oder Simon dem Magier oder aber einem gewissen Philemon beschrieben wurden, in dem Jung eine Instanz seines eigenen Geistes sah, allerdings gebildeter und weiser, als er es war. Dick war fasziniert von diesem bizarren Text, und ein paar Tage lang spielte er mit dem Gedanken, einen Roman daraus zu machen: die Lebensgeschichte eines imaginären Schriftstellers nach dem Vorbild von Thomas Manns Doktor Faustus, der gerade erschienen war und den er mit glühender Begeisterung gelesen hatte; dann vergaß er das Ganze.

Überhaupt finden sich in den Mainstream-Romanen, die er zu dieser Zeit schrieb, kaum Spuren seiner Lektüren wieder. Stattdessen sieht man darin Reparateure alter Fernsehapparate ihre Kreise ziehen oder verängstigte Plattenverkäufer, die gerne DJs wären, oder Paare, die schlecht zusammenpassen. Wobei »Kreise ziehen« übertrieben ist: Eher stecken sie in einem trostlosen Alltag fest oder schleppen sich mühsam auf einem Weg dahin, der von der Depression in die Verzweiflung führt. Um diese schlaffen, ausufernden Bücher voller Dialoge von dräuender Sinnlosigkeit schreiben zu können, die die tiefe Melancholie ihres Autors im Rohzustand offenbarten und durch die er Thomas Mann zu ähneln glaubte, hätte er bezahlt. Für die Geschichten von grünen Männchen und fliegenden Untertassen dagegen wurde er bezahlt, und im besten Fall machten sie ihn zu einem zweiten A. E. Van Vogt, neben dem er auf einem jener Treffen fotografiert worden war, mit denen Liebhaber dieses Genres ihren Herdentrieb von Außenseitern unter Beweis stellen. Das Foto war in einem Fanmagazin unter dem Titel »Der Alte und der Neue« erschienen: Seine dreijährige Karriere hatte ihn also in den Rang eines Nachwuchstalents erhoben.

Die Spezialität von Van Vogt und ein paar anderen, darunter Lafayette Ron Hubbard, der später die Scientology-Sekte gründen sollte, war eine galaktische Neuauflage der Spielmannsepik unter dem Namen Space Opera. Darin sah man mutige Erdlinge Horden von Mutanten vernichten, die von sonst woher gekommen waren, und die Texte strotzten vor Titanenkämpfen, Initiationsriten und der Zurschaustellung übernatürlicher Kräfte. In Konkurrenz zu diesem so naiven wie gerissenen Genre, dem kritische Geister nicht ganz grundlos vorwarfen, ein entrechtetes Publikum mit kompensatorischen Fantasien zu füttern, gab es noch eine zweite, ihren Vertretern zufolge erwachsenere Schule, die von der Bezeichnung »Science-Fiction« nur den ersten Teil beanspruchte und vor allem darauf abzielte, mit großer Exaktheit die Zukunft vorauszusagen: Ihre Autoren zerbrachen sich den Kopf darüber, die Weiterentwicklung von bestehenden oder zumindest plausiblen Technologien abzuschätzen, weil sie hofften, Leser ihrer Bücher im Jahr 2000 seien dann nicht völlig orientierungslos.

Spontan neigte Dick kein bisschen zu diesen hemdsärmeligen oder technischen Vorstellungswelten. Dennoch unterwarf er sich zu Beginn seiner Karriere dem Markt, schrieb Weltraumopern à la Van Vogt und abonnierte verschiedene populärwissenschaftliche Zeitschriften, um auf dem Laufenden zu sein. Nachdem er in einer davon über den Schlag gelesen hatte, den russische Wissenschaftler der speziellen Relativitätstheorie versetzt hätten, trieb seine Gewissenhaftigkeit ihn so weit, dass er einem der erwähnten Forscher, Professor Alexander Toptschijew von der sowjetischen Akademie der Wissenschaften, einen Brief schrieb, weil er hoffte, darüber Auskünfte aus erster Hand zu erhalten, also etwas wie einen Scoop für Physiker, der ihm Stoff für eine Erzählung hätte liefern können. Doch er erhielt nie eine Antwort, und die Verleger erkannten ziemlich schnell, dass wissenschaftliche Genauigkeit todlangweilige Texte erzeugte, sodass man sich zurückbesann und lieber wieder irgendwelchen Blödsinn erfand wie eine rückwärts laufende Zeit, Reisen in die vierte Dimension oder Weltraumtaxis, die einen fürs Abendprogramm auf die Ringe des Saturns befördern.

Gegen Mitte der Fünfzigerjahre kam eine neue Mode auf, und mit dieser fühlte er sich deutlich wohler. Autoren wie Robert Sheckley, Fredric Brown oder Richard Matheson begannen mit trockenem, schwarzem Humor Erzählungen zu schreiben, die in einem Alltag angesiedelt waren, der sich durch ihre verdrehten Plots in einen Albtraum verwandelte. Oft waren sie auf eine Pointe oder eine Schlusswende hin geschrieben, die jede Orientierung aushebelte und auf hinterlistige Weise die Ordnung der Dinge unterlief. In Frankreich ist diese Schule zwischen traditioneller Phantastik und Science-Fiction kaum bekannt – das habe ich selbst erfahren, als ich den Roman Der Schnurrbart herausbrachte, der fast ein Pastiche von Matheson ist, dessen Namen aber kein einziger Kritiker erwähnte, während in den meisten Besprechungen immer wieder der von Kafka fiel. Falls sie es doch ist, dann durchs Fernsehen oder Kino: Ihr Geist weht durch Serien wie Twilight Zone oder Invasion von der Wega, deren Drehbücher von den genannten Autoren stammen, oder durch den prototypischen Film von Don Siegel Invasion of the Body Snatchers (Die Dämonischen).

Sein Plot ist folgender: In einer kleinen amerikanischen Stadt ergreifen seltsame Hülsenfrüchte Besitz von den Einwohnern. Rein äußerlich bleiben diese unverändert, sie sind immer noch der Arzt, die Tabakhändlerin oder der Barkeeper von nebenan, den jeder kennt und mag, doch sie sind nicht mehr sie selbst, sondern Mutanten: Außerirdische, die heimtückisch unseren Planeten erobern wollen. Der zu Beginn ahnungslose Held bemerkt bei manchen seiner Nachbarn und Angehörigen ein seltsames Verhalten, er beginnt sich Fragen zu stellen und nach vernünftigen Antworten zu suchen, bis sich eine unvernünftige und unmögliche, aber wahre Erklärung aufdrängt: Die Schoten, die in den Gewächshäusern reifen, nehmen beim Wachsen die Gestalt von menschlichen Körpern an, und zwar die der Bewohner, die am Ende ersetzt und entsorgt werden. Man muss also allen misstrauen. Hinter jedem bekannten oder geliebten Gesicht kann sich ein kaltes Monster verstecken. Nichts erlaubt einem, die echten Menschen, so es noch welche gibt, von denen zu unterscheiden, die »ersetzt« wurden. Und der Held droht selbst ersetzt zu werden. Er würde gern sicherstellen, dass er von überlebenden Menschen in einem solchen Fall außer Gefecht gesetzt würde, um anderen nicht schaden zu können. Doch er weiß genau, sollte das passieren, würde er es nicht mehr wollen und nur noch danach trachten, genau das zu tun: den Menschen zu schaden, weil er selbst keiner mehr wäre, weil er nicht mehr er selbst wäre.

Da Dick sich in Kinosälen unwohl fühlte, sah er den Film nicht, als er herauskam, doch man erzählte ihm davon, und einige Tage lang dachte er, die Idee dazu sei ihm geklaut worden. Denn zwei Jahre zuvor hatte er eine Erzählung über dasselbe Thema veröffentlicht und darin die Perspektive eines kleinen Jungen eingenommen, der überzeugt ist, sein Vater sei durch eine monströse Kreatur ersetzt worden. Je größer die Ähnlichkeit, desto sicherer ist sich das Kind, dass es sich um einen Ersatz handelt, und während es in der Müllverbrennungsanlage der Garage nach Überresten seines echten Vaters sucht, beklagt sich der Hochstapler im Wohnzimmer bei der Mutter über die ausufernde Fantasie des gemeinsamen Sohnes.

Dick holte Erkundigungen ein und fand heraus, dass der Film jedoch auf einer Erzählung von Jack Finney basierte, die ein paar Monate vor seiner erschienen war. Also schloss er zu Recht daraus, die Idee habe eben in der Luft gelegen.

3

George Smith und George Scruggs

In diesen Zeiten von Kaltem Krieg und Hexenjagd misstraute jeder jedem. Zum einen verdächtigte das durch die Verschwörungstheorien des Senators Joseph McCarthy elektrisierte FBI jeden amerikanischen Bürger, ein verdeckter Kommunist zu sein – auch wenn es im ganzen Land selbst Edgar Hoover zufolge kaum mehr als fünfundzwanzigtausend Mitglieder dieser Partei gab, einschließlich der vom Staat in einem Verhältnis von eins zu sechs eingeschleusten Maulwürfe. Zum anderen verdächtigten die nicht unbedingt kommunistischen, aber als Kommunisten verdächtigten amerikanischen Bürger ihrerseits ihre Nachbarn, sie verdächtigende Polizisten oder zumindest Informanten zu sein, die bereit waren, sie anzuzeigen. Die Übeltäter, die sich in Body Snatchers und in Dutzenden von ähnlichen Erzählungen unter die Leute mischten, konnten also genauso gut Agenten Moskaus sein wie solche des FBI, die erstere entlarven sollten – die Intention der Autoren war hier weniger maßgeblich als die Rezeptionsbereitschaft des Publikums. Jeder argwöhnte in dem so schrecklich vertrauten, unveränderten Gesicht seines Nachbarn mehr oder weniger bewusst seinen Feind: der Farmer aus dem Mittleren Westen die dreckige Rotsocke und der Ureinwohner von Berkeley das Bullenschwein.

Seit den Dreißigerjahren war Berkeley die rote Hauptstadt der USA. Nicht nur, weil es dort einen Kern von »echten« Kommunisten gab, das heißt Mitgliedern der entsprechenden amerikanischen Partei, sondern auch, weil sich dort mehr oder weniger jeder als Sympathisant empfand und einen marxistischen Dialekt sprach, in dem »Kapitalist« »Faschist« hieß und jeden bezeichnete, der irgendeine Beziehung zu den Behörden unterhielt oder auch nur Krawatte trug.

Dick war in diesem Milieu aufgewachsen. Seine Babysitterin, eine gewisse Olive Holt, hatte immer wieder das schöne Leben, das Arbeiter in der Sowjetunion führten, dem traurigen Schicksal des amerikanischen Proletariers gegenübergestellt, dessen Schweiß und Blut nur die Vampire der Wall Street reich machten. Dicks Mutter war zwar nicht der Partei beigetreten, doch sie stimmte diesen Reden zu. Seine Frau schwang mehr oder weniger dieselben, und manchmal ging sie nach ihren Vorlesungen der Politikwissenschaften noch zu entsprechenden Meetings und übernahm deren Slogans. Dick selbst hegte wenig Sympathien für den Kommunismus, und bei den Freunden, die Kleo mit nach Hause brachte, galt er als ausgemachter Reaktionär. Aus seinen Lektüren, insbesondere von Orwell und Hannah Arendt, hatte er sich eine politische Philosophie abgeleitet, die Kommunismus und Faschismus gleichermaßen verurteilte, ersterem die vermeintlich besseren Ziele absprach und ausschließlich die Ergebnisse betrachtete, das heißt die Errichtung totalitärer Regimes. Als er darüber einmal mit einem Kommunisten diskutierte, brachte ihn dessen Dogmatismus und Borniertheit regelrecht zur Weißglut. Nichtsdestotrotz bewunderte er die großen Revolutionäre, zählte sich instinktiv zu den Verfolgten, und auch wenn er die Sowjetunion nicht mochte, hasste er doch die Bourgeoisie, die sich von dieser bedroht fühlte. Insofern unterschied er sich in nichts von seiner Umgebung, in der man »radikal« war, das heißt nach der erstaunlich genauen Formulierung des FBI: »positiv eingestellt gegenüber Gruppen und Personen, die selbst dem Kommunismus gegenüber positiv eingestellt sind«.

Die so eingestellten Personen hatten durchaus den glänzenden Karrierestart des republikanischen Senators von Kalifornien Richard Nixon mitbekommen, der Ende der Vierzigerjahre in Orange County aufgetaucht war. Diese tausend Kilometer weiter südlich gelegene, abscheulich reaktionäre Gegend, in die kein Mensch je einen Fuß hineingesetzt hatte und hätte, war für Berkeley eine Art Antiwelt, etwas wie in Frankreich für eine Kommune von Altachtundsechzigern in der Ardèche-Gegend das von Front national wählenden Rentnern bevölkerte Département Var. Nixon war deren perfekte Emanation: ein hinterhältiger Rohling mit bläulichem Kinn und pomadisierten Haaren, der sich mit einem Stetson vor seiner Waffensammlung ablichten ließ. Die Frage, ob man einem solchen Typen einen Gebrauchtwagen abkaufen würde, war zwar noch nicht explizit gestellt worden, doch man nannte ihn bereits »Tricky Dick«, Dick den Trickser, und vom frühesten Beginn ihrer beider Karrieren an sah der Dick, von dem ich erzähle, in dem anderen seinen persönlichen Feind. In der Berkeley Gazette berichtete man, Nixon habe behaarte Fingerglieder und verdanke seine Wahl einer erbitterten Schmutzkampagne gegen seine demokratische Rivalin, der er vorwarf, Lesbe und »rot bis zur Unterwäsche« zu sein. Niemanden überraschte es, als Senator Nixon zum Mitglied des Ausschusses für unamerikanische Umtriebe ernannt wurde und dort durch besonderen Eifer auffiel. Im Vergleich zu ihm war McCarthy ein harmloser Schreihals, den der Kongress leicht zum Schweigen bringen konnte, sobald er genug von ihm hatte. Nixon dagegen brachte niemand zum Schweigen: Er schrie nicht, sondern trieb seine Spielchen im Verborgenen. Als Phil Dick 1952 seine erste Erzählung veröffentlichte, war Tricky Dick als Mitstreiter von Eisenhower bereits Vizepräsident der USA geworden. Die Zeit, in der sich Babysitterinnen offen zum Kommunismus bekennen konnten, war ein für alle Mal vorbei.

An einem Wintertag im Jahr 1955 hörte Dick allein zu Hause eine Beethoven-Symphonie, als zwei Männer an der Tür klingelten, die er zunächst für Vertreter hielt. Der eine war groß und dick, der andere klein und dünn, ein Unterschied, der durch ihre identische Aufmachung besonders ins Auge fiel: Beide trugen graue Dreiteiler, Filzhüte und polierte schwarze Schuhe wie Die Unbestechlichen, von denen im Fernsehen gerade die ersten Folgen angelaufen waren, und wie sein Vater, der so engstirnig, verbohrt und konservativ geworden war, dass Dick ihn schon seit mehreren Jahren nicht mehr gesehen hatte – genauer gesagt seit Hiroshima, weil Edgar seinem Sohn nicht hatte durchgehen lassen wollen, dass dieser Amerikas drastischen Warnschuss an die Schlitzaugen verurteilte.

Die beiden Männer hatten jedoch nichts zu verkaufen. Stattdessen streckten sie ihm ihre FBI-Ausweise hin. Um lässig zu wirken, wollte auch Dick einen Scherz machen. Er hatte ihn im New Yorker in der Rubrik »Stadtgespräch« gelesen: Ein Nachbar eines verdächtigen Individuums wird von FBI-Agenten verhört und erklärt, der Betreffende höre oft Symphonien. »Ach wirklich, Symphonien«, fragen die FBI-Agenten, »und in welcher Sprache?«

Doch so simpel gestrickt der Witz auch war, beim Erzählen verhaspelte sich Dick. Und wie immer, wenn er aufgeregt war, fiel seine Stimme in das schrille Falsett seiner Pubertät zurück. Die beiden Agenten auf der Türschwelle zuckten nicht einmal mit den Mundwinkeln.

»Die waren sicher nicht von uns«, sagte einer von ihnen.

Sie gingen ins Haus und erblickten die Schreibmaschine und den Plattenspieler – Dick stellte ihn hastig aus. Ganz offensichtlich hielten sie nicht viel davon, dass dieser große, hemdsärmelige, schlecht rasierte Typ um elf Uhr morgens zu Hause herumhing, statt in irgendeinem Büro, einer Werkstatt oder einem Laden zu arbeiten, so wie jeder. Der korpulentere der beiden fragte ihn, was er da schreibe, und Dicks Antwort amüsierte ihn: Geschichten von Marsbewohnern, kleinen, grünen Männlein, solches Kinderzeug, aha. Nein, er selbst lese sowas natürlich nicht, aber er kenne sich schon aus … Sein Lächeln ließ eine Verachtung durchblicken, die Dick bereits gewohnt war, ihn im Fall eines solchen Gesprächspartners aber besonders ärgerte. Einen Moment lang hatte er geglaubt, man interessiere sich für ihn, gerade weil er Science-Fiction-Autor war. Ein solches Misstrauen wäre logisch gewesen; wäre er FBI-Agent gewesen, hätte er es gehegt. Ein Science-Fiction-Autor richtet sich an ein Massenpublikum, an ungebildete Leute, die nichts anderes lesen und entsprechend beeinflussbar sind; er hat dieselbe Macht, die Gemüter der Leute zu manipulieren, wie ein Wasserbauingenieur, Gift in die Trinkwasseranlage einer Großstadt zu kippen, ganz zu schweigen davon, dass er in der Annahme, nur seiner Fantasie zu folgen, technische Geheimnisse aufdecken und ausplaudern könnte, die für die Verteidigung des Landes zentral sind. Ja, wäre Dick ein Hexenjäger gewesen, hätte er sich keine Gedanken um angesagte Schriftsteller von der Ostküste oder ostentativ rote Regisseure aus Hollywood gemacht, die garantiert nur den Auftrag hatten, die Öffentlichkeit abzulenken, nein, er hätte sich nicht über den Tisch ziehen lassen, sondern rund um die Uhr die wahren Meinungsmanipulatoren überwacht, die, die mithilfe dieser Teenie- und Arbeiterliteratur, die alle zu verachten vorgaben, an der Quelle agitierten.

»Verfolgen Sie irgendwelche politischen Aktivitäten, Mister Dick?«, fragte ihn der dicke Agent.

Nein, antwortete er wahrheitsgemäß. Tatsächlich hatte er sich noch nie für irgendetwas eingesetzt und nie gewählt; das Subversivste, was man in seinem Leben finden konnte, war seine Leidenschaft für Dostojewski und die Oper Boris Godunow, von der er zwei verschiedene Aufnahmen besaß.

»Aber Ihre Frau gehört doch dem Studentenflügel der Sozialistischen Arbeiterpartei an«, bohrte der dicke Agent nach. »Erzählt sie Ihnen denn nichts von den Versammlungen, an denen sie teilnimmt?«

»Nein. Sie weiß, dass mich das nicht interessiert.«

»Aber wenn Sie Interesse daran zeigen würden, würde sie Ihnen doch bestimmt davon erzählen. Glauben Sie nicht, das wäre gut?«

Dick konnte nicht glauben, dass man ihm so unumwunden vorschlug, seine Frau zu bespitzeln. So einfach konnte das nicht zugehen; hatte er es vielleicht mit falschen FBI-Agenten zu tun? Warum wendeten sie sich überhaupt an ihn, wo doch alle Welt, selbst Kleo, wusste, dass die PST und all die kleinen linken Parteien von Maulwürfen nur so durchseucht waren? Und selbst wenn man aus irgendeinem Grund tatsächlich ihn gebraucht hätte, hätte es doch lange, subtile Annäherungsversuche geben müssen, man hätte ihm eine Falle stellen und den Deal erst dann vorschlagen müssen, wenn er keine Möglichkeit mehr gehabt hätte, ihn auszuschlagen. Aber vielleicht bestand die Falle ja genau darin, und er erkannte sie nur nicht.

Da er nicht wusste, was die Frage wirklich zu bedeuten hatte, stellte er sich dumm und wiederholte: Nein, das interessiere ihn nicht. Auch den dünnen, schweigsamen Agenten schien es nicht besonders zu interessieren, er stand an Dicks Schreibtisch und las ungestört die Seite, die in die Maschine eingespannt war. Dann wollte sein dicker Kollege wissen, ob er Sympathien für die Kommunistische Partei hege.

Intellektuell war das kein bisschen der Fall, doch auch diesmal verstand er den Sinn der Frage nicht. Welche Antwort erwarteten sie von ihm, da es doch verboten war, Kommunist zu sein? Plötzlich erinnerte er sich an die eines berühmten englischen Spions auf eine ähnliche Frage. Seine Schlagfertigkeit hatte ihn begeistert, und er hatte schon lange vergeblich auf eine Gelegenheit gewartet, sie irgendwo anzubringen.

»Nein«, sagte er, »ich hege keine Sympathien für die Kommunistische Partei. Aber Sie wissen ja, wenn ich es täte, würde ich dasselbe antworten.«

So schlagend das Argument auch war, so sehr schien es die beiden doch aus dem Konzept zu bringen, sie schauten sich an, dann verabschiedeten sie sich und kündigten an, sie kämen wieder. Als Dick allein war, fragte er sich, ob er geschickt zwei Dummköpfe in die Flucht geschlagen hatte oder selbst in eine geschickte Falle gegangen war. Und beim Nachgrübeln erinnerte er sich an einen Satz, den er sich einmal in einem Buch von Bertolt Brecht angestrichen hatte, dem notorischen Commie und Lieblingsautor seiner Frau: »Er lachte, weil seine Feinde ihn nicht kriegen konnten; doch er wusste nicht, dass sie sich gerade darin übten, ihn nicht zu kriegen.«

Kleo nahm die ganze Sache zunächst sehr ernst und posaunte überall herum, die USA seien ein faschistisches Land geworden. Dann beruhigte sich alles wieder. Eine Zeitlang kamen George Smith