Ich liebe Schlager - Bernd Mannhardt - E-Book

Ich liebe Schlager E-Book

Bernd Mannhardt

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Beschreibung

Schlagerfan Thomas »Thommi« Andras ist erschöpft – Diagnose: Schlager-Burnout! Nicht nur mit dem Versuch, den Schlager als Weltkulturerbe anerkannt zu bekommen, hat er sich verausgabt, sondern auch mit einem Bericht für die Vereinspostille seines Schlager-Fanclubs: Kaisermania, Backstage mit Star-Interview. Dazu reist Thommi nach Dresden. Dorthin unterwegs wird er verstrickt in einen Roadtrip mit True-Crime-Potenzial. Und dass Vereinskameradin Marlene des Schlager-Kaisers Motto »Sehnsucht, Sex und Seitensprünge« allzu wörtlich nimmt, bringt Thommi in Sachen Work-Life-Balance auch nicht weiter. Eine gute Fügung also, dass Thommi in den sicheren Hafen der psychosomatischen Klinik Johann Strauss überwiesen wird. Dort lernt er einen Schlagertexter kennen, und seine Leidensgeschichte nimmt eine überraschende Wendung.

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BERND MANNHARDT

ICH LIEBE SCHLAGER

EINE BESCHWINGTE ANAMNESE

Satirischer Roman

Personen – mit Ausnahme der zitierten – und Handlung dieser Satire sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig. Die Orte der Handlung existieren zwar, dienen jedoch lediglich als Kulissen.

Zitate dienen gemäß § 51a UrhG zu Zwecken des Karikierens und Parodierens; sie dienen nicht der vordergründigen Illustration oder Verzierung.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten.Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Urhebers unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen, Verfilmungen, Vortrag sowie Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie auf Internet-Plattformen.

© Bernd Mannhardt 2024Lektorat: Moritz Siegel, DresdenUmschlag: Norbert Lücken, Berlin (unter Verwendung eines vom Autor aus inhaltlichen Gründen per KI generierten Bildes)Satz E-Book: Dr. Bernd Floßmann, Berlin www.ihrtraumvombuch.deISBN (Print) 978-3-759825-58-2

www.bernd-mannhardt.de

Der übermäßige Konsum von Schlager kann zu geistigen, aber auch emotionalen Irritationen führen und großes Leid verursachen.

DR. INGO HINRICHSEN, LEITER DER SCHLAGER-STATION AN DER PSYCHOSOMATISCHEN FACHKLINIK JOHANN STRAUSS IN BAD SINGEN

HAUPTPERSONEN

Thomas »Thommi« Andras (38) ist Wirtschaftsinformatiker und verliebt in Schlager-Erfolgsstatistiken. Aber auch sonst hat er es mit dem Schlager übertrieben – Diagnose: Schlager-Burnout. Er wird in die psychosomatische Klinik Johann Strauss überwiesen.

 

Marlene (40)nimmt das Schlager-Motto »Sehnsucht, Sex und Seitensprünge«allzu wörtlich, was …

 

… Eike (39),ihr Ehemann,überhaupt nicht komisch findet. Er schwört Rache.

 

Mama, Thommis Mutter (58), betreibt auf’m Wedding ein kleines Schlager-Café. An Thommis Sechzehntem führte sie ihren Sohn in die kulinarische Welt der erwachsenen Schlagerfans ein: Schlager-Bierchen.

 

Boris Dimitroff (28) vom Fahrdienst Gloria kutschiert Thommi von Berlin nach Dresden zur Kaisermania, verfolgt dabei ein ureigenes Interesse.

 

Renate Rühmkopf (46) ist Vorsitzende des Schlager ist geil! e.V. und jagt Thommi nicht nur als Kassierer aus dem Vorstand, sondern ganz aus dem Verein, weil er Gelder veruntreut haben soll.

 

Ferdinand Bülow (60) kennt sich als Anwalt gut aus mit dem Lug und Trug seiner Mandanten. Für Thommi bringt dies die entscheidende Wendung.

 

Dr. Ingo Hinrichen (35) ist bei Johann der Mann für Psycho-Einzelgespräche. Er zeigt sich in Sachen Schlager bemerkenswert trittsicher wie auch sangesfreudig.

 

Prof. Dr. Ursula Lied (54) ist eine Koryphäe für Schlager-Burnout und leitet nicht nur die Klinik, sondern auch das dortige Schlagertext-Seminar. Hier lernt auch Thommi besser verstehen, was ihn am Schlager so fertig gemacht hat: die Schlager-Texte.

 

Manfred von Versen (48) ist Profi-Texter und unterstützt Ursula im Texter-Seminar mit praktischen Schreibübungen.

1.

EINCHECKEN

»Deutsche Chansons heißen Schlager, weil sie einen in die Flucht schlagen«⁠1, las ich vor geraumer Zeit auf einem Zitate-Portal – und war nun doch schon einigermaßen verwundert. Starker Tobak, hatte ich gedacht.

Auf der Suche nach einem fröhlichen Sinnspruch zum Schlager hatte ich vier oder fünf Sprüche-Lexika durchgeackert – aber Fehlanzeige! Wohin ich auch blickte, es stand überwiegend negativ Intendiertes zu lesen – wie eben auch folgende Entgleisung: »Es ist ein bedrückendes Gefühl, dass zu jeder beliebigen Stunde des Tages irgendwo ein paar Leute zum nächsten Schlager ausholen.« Ach, nö!

Nicht dass uns jetzt ein Missverständnis aufkommt: Mir liegt Felicità nahe und Frohsinn im Blut; zudem habe ich durchaus was übrig für entlarvende Satire, beißenden Spott – nur, bitteschön: Alles zu seiner Zeit!

Marlene, eine Vereinskameradin aus’m Schlager ist geil! e. V., wurde vierzig. Als kleine Aufmerksamkeit mit individueller Note wollte ich ihr eine selbst entworfene HappyPostcard zukommen lassen, also eine Karte mit witzigem oder aufregendem, jedenfalls nicht langweiligem Spruch zum Schlager – konkret: Es war mir um ein Goodie gegangen, wie es landläufig heißt, das – zum Anlass eines Geburtstages passend – positive Signale aussendet und komplementär funktioniert zum noch einzutütenden Sechserpack Moët & Chandon Brut Imperial (Piccolöchen der Extraklasse). Das war mir Marlene wert!

Problem: Die positiv intendierten Geistesblitze, die es vereinzelt gab, hätten nichts reißen können, weil sie verschnarcht klangen – wie beispielsweise »Ein guter Schlager kann mich regelrecht anrühren« ⁠2– oder gar onkelhaft: »Ein Schlager ist für meine Begriffe ein Märchen für Erwachsene.«

Kurz: Mangels eines Sinnspruchs, der dem besagten Anlass und nicht zuletzt Marlene gerecht würde, entschied ich mich, Verse aus einem Schlagertext zu nutzen – Zeilen vom Grandseigneur des deutschen Schlagers, also vom letzten deutschen Kaiser, der des Sommers in Dresden residiert (genauer: am Kaiserufer, kartografisch bislang noch Königsufer) und auf den Kaiserwiesen (einer Open-Air-Location, beim Katasteramt bislang noch Königswiesen) Roli gerufen wird.

Zweifelsohne war es kein Zufall, dass meine Wahl auf Roli fiel, den Schlager-Sirius am Schlager-Himmel: Ich wusste, dass Marlene auf den Altmeister tonaler Frivolitäten stand, so dass ich ihr eine goldfarbene, mit silbernen Sternchen verzierte Lyrics-Card aus Büttenkarton herstellen ließ: Unten rechts wurde der Majestät Merchandising platziert – ein Dreizack in Magenta! –, und die Verse in Prägedruck rückten ins Zentrum des Druckwerks.

Rolis Lyrics kommen, wie ich finde, wie bei einem Großdichter mit wahrlich emotionalem Tiefgang und poetischer Raffinesse daher, was unter Schlagertexten auch insofern eher selten ist, als der ehemalige Junge aus’m Wedding mit nunmehr rund 70 Lenzen bemerkenswert vital auf die Tube drückt: »Wenn du merkst, dass allein gar nicht glücklich macht / Wenn du merkst, dass man zu zweit so viel besser lacht / Ist dein Bett doch zu kalt, ruf mich einfach an / Sag mir wie, sag mir wo, sag mir wann.«

»Ach was, Sirius!«, könnten nun Nörgler dazwischenfunken. »Astronomisch betrachtet ein hinkender Vergleich! Sirius ist kein einzelner Stern, sondern ein Doppelsternsystem.«

»Genau!«, würde ich zuerst bestätigen und dann zu bedenken geben: »Unser Roli ist auch ein Doppelsystem: Einerseits brillierte er mit deutschsprachigem Liedgut auch in rein orchestralen Live-Konzerten wie jenem in der Semperoper, andererseits gab er uns mit Sinatra-Cover beim Wiener Opernball den Frankie – wobei er summa summarum in der Performance der Kraft schöner Worte vertraut, also ohne überbordenden Budenzauber mit Blendgranaten und Balletteinlagen: alles wunderbar gediegen, konzentriert, hüftschonend. Also, bitte!«

Marlene habe sich, so wurde mir zwei Wochen nach Absenden des Präsents vertraulich gesteckt, auch über den Schampus sehr gefreut – nicht zuletzt aber über die ausgewählten Verse. Sie bedaure es zutiefst, dass sie sich bei mir nicht persönlich hatte bedanken können, aber Eike, ihr Ehemann, sei im letzten halben Jahr zum eifersüchtigen Gesellen mutiert und habe Marlene mit Scheidung gedroht, falls sie mit mir auch nur ein einziges weiteres Mal in Kontakt trete.

Ach, herrje! Hatten Marlene und ich des Kaisers Motto »Sehnsucht, Sex und Seitensprünge« zu wörtlich genommen?

Denkbar. Aber dazu später.

Noch mal zum Frohsinn: Dass ich zum Lachen nicht in den Keller gehe, könnte nicht nur Marlene bestätigen, sondern ein jeder Schlagerenthusiast aus’m Verein. Da war ich bekannt wie ein bunter Hund – auch als Kassierer, weil vor gut einem Vierteljahr geschasst. Mir war vorgeworfen worden, Geld im fünfstelligen Bereich aus der Vereinsschatulle veruntreut zu haben. Ach, wie irrig!

Es stimmt zwar, dass ich ein Bündel Mitgliedsbeiträge der Kasse entnommen hatte – genauer gesagt dem Konto –, jedoch nicht, um am Ende des Tages mich selbst zu bereichern, wie man heute so sagt. Es war mir dabei um Investitionen in die Zukunft des deutschsprachigen Schlagers allgemein gegangen und um das Überleben des Vereins im Besonderen.

Bedenken wir bitte einmal: Wohl nicht zufällig waren gerade dann, als unser Kaiser mehrtägig in Dresden Hof hielt, in Zeitungsrubriken wie »Spruch des Tages« verbale Angriffe zu vernehmen. Die offenkundige Absicht, am Fundament der kulturellen Heimstatt von Millionen herumzustochern, lag blank zutage wie ein gewetztes Messer. Beispiele gefällig? – Bitteschön: »Es gibt keine einzige Musik der Welt, die sich selbst so erniedrigt wie der Schlager«⁠3 oder »Schlager sind Texte, die gesungen werden müssen, weil sie zu dumm sind, um gesprochen zu werden« oder »Alles am Schlager ist echt, weil es so wunderschön falsch ist«. Au weia!

Falls dieses Bombardement der schlechten Laune über kurz oder lang beim Publikum und in der Folge bei den Produzenten und Programmverantwortlichen der Sender verfängt, dachte ich, droht eine Welle von emotionaler Obdachlosigkeit. Dagegen musste etwas unternommen werden! Aber nein, nicht Auge um Auge, Zahn um Zahn – also nicht mittels verbalen Zurückballerns, sondern immer schön konstruktiv bleibend und nachhaltig agierend. Künstlerischer Artenschutz war zu initiieren – das heißt: Dem weit über 100 Jahre alten Liedgut war zu einem beständigen, weitere Generationen überdauernden Platz in der öffentlichen Wahrnehmung zu verhelfen: Listung als Immaterielles Kulturerbe der Menschheit!

Das klänge nun doch schon etwas überspannt? – Langsam, langsam! Damit die Strategie mit Leben erfüllt werden konnte, musste taktisch klug agiert werden: Einreichung einer repräsentativen Bewerbung bei der zuständigen Institution: UNESCO! Es galt, in Form und Inhalt überzeugende Materialien von Medien-Profis herstellen zu lassen – vom Image-Film über Video-Porträts bis hin zum Exklusiv-Interview mit dem Kaiser –, und das war nicht für lau zu haben. Aber auch dazu später.

So viel sei allerdings jetzt schon gesagt: Um das Verfahren bei den Vereinten Nationen seriös eingetütet zu bekommen, glich mein Job (im Ehrenamt) einem 24/7-Engagement. Gewiss bewahrheitete sich dabei auch die Binsenweisheit »Wo gehobelt wird, fallen Späne«. Dennoch kann ich sagen: Es gibt Leute aus’m Verein, die nach wie vor zu mir stehen. Das tut gut!

Zuerst des Amtes enthoben zu werden, dann aus’m Verein zu fliegen – das musste auch erst mal verdaut werden! Mein Ex-Vorstandskollegium sprach vornehm von »Vereinsausschluss« und begründete dies mit: »Vereinsschädigendes Verhalten«. Es war aber insofern eine umstrittene Entscheidung gewesen, als sich meine Ex-Mitstreitenden im Vorstand bei der Beurteilung der Lage uneinig zeigten, also das Vereinshaupt sich spaltete – und zwar in zwei annähernd gleich große Teile, wie ein zerhacktes Holz. Aber natürlich, auch eine knappe Mehrheit war eine Mehrheit!

Was ich aber eigentlich sagen will, ist: Mich erreicht auch heute noch Post der Solidarität. Vielen Dank dafür! Und liebe Grüße aus der Klinik.

Es war ein Spätsommertag, als ich in die psychosomatische Klinik Johann Strauss eincheckte; ich war guter Dinge und das Wetter ganz famos. Auch die idyllische Lage Johanns im Luftkurort Bad Singen, umgeben von norddeutscher Wald- und Heidelandschaft mit reizvollen Auen, ließ mich dem Aufenthalt voll Hoffnung entgegensehen, in Bälde wieder zu Kräften zu kommen. Erst drei Monate zuvor war für mich noch nicht abzusehen gewesen, ob sich die Nebelwand, die sich vor meinem mentalen Horizont aufgebaut hatte, jemals wieder verflüchtigen würde.

Es war so gewesen: Nach meinem Rausschmiss aus’m Verein ploppte eine nie gekannte Niedergeschlagenheit auf. Zwei Tage danach meldete ich mich bei meinem Arbeitgeber, dem Statistischen Landesamt, Arbeitsgruppe Zensus, krank und konsultierte meinen Hausarzt Daniel. Diesem berichtete ich von meiner latenten Müdigkeit, gepaart mit Ohrensausen; auch von meinem langjährigen Ehrenamt für den Schlager allgemein und für den Verein im Besonderen, von der erfahrenen Demütigung – sowie von Marlene.

»Es überschlägt sich alles!«, klagte ich.

Daniel nickte und schaute mir in die Augen. Stille kehrte ein, und unausgesprochene Empathie flutete den Raum. Dann sprach er doch noch: »Alles klar!« Er wedelte mit einem Gelben. »Ich ziehe Sie aus dem Verkehr, mit Schlager-Burnout ist nicht zu spaßen.« Er klang besorgt und füllte dann sogleich eine Überweisung aus. »Da muss ein Facharzt ’ran«, konstatierte er, und wenig später lernte ich Klara kennen, ihres Zeichens Psychiaterin – aber dazu bald; jetzt mal eben noch dazu, wo ich mich aktuell befinde.

Johann ist eine auf Musik-Schäden jedweder Art spezialisierte Klinik. Warum sie so heißt, liegt für einen gut informierten Schlagerfreund wie mich auf der Hand: Ihr Namenspatron Johann Strauss (der Jüngere) hatte 1873 den ersten deutschsprachigen Schlager geschaffen, versteckt in »Die Fledermaus«, zweiter Akt, Szene 10: Csárdás – Klänge der Heimat. Nach der Uraufführung der Operette am Theater an der Wien war das Lied – als Auskoppelung vom Album, wie man heute sagen würde – eingeschlagen wie eine Bombe: »Durst’ge Zecher, greift zum Becher, / lasst ihn kreisen, lasst ihn kreisen / schnell von Hand zu Hand!«⁠4

Marie Charlotte Cäcilie Geistinger, von Hause aus Sopranistin, hatte den Gassenhauer in spe geschmettert und war damit über Nacht zur Königin der Opera buffa avanciert. Sollten Sie von Marie noch nichts gehört haben, dann mal eben Folgendes zur schlagerhistorischen Einordnung: Ihr damaliger Status war vergleichbar mit dem heutigen unserer singenden Hochseilartistin Helene. Das nur am Rande.

Das Aufnahmegespräch im Johann führte Ingo mit mir, also der Hinrichsen, Doktor der Psychologie. Bei ihm würde ich auch meine Einzelgespräche haben, wie er mir gleich zur Begrüßung sagte. Er schlug vor, dass wir uns zwar siezen sollten, aber dennoch mit unseren Vornamen anreden könnten.

»Das vermindert unnötige Distanz.«

»Gerne!«, sagte ich und streckte ihm meine Hand entgegen. »Ich bin der Thomas, mich nennen aber alle Thommi.«

Mein Gegenüber schlug ein. »Willkommen bei Johann, Thommi, ich bin der Ingo.«

Der Therapeut war mir sympathisch: Sein Blick war freundlich, zugewandt, offen. »Von mir aus können wir uns auch duzen«, haute ich heraus und berichtete gleich: »Gestern … Talkshow … also, da war ein Theologe zu Gast. Der hat den Moderator ungefragt geduzt. Auf die Frage, ob er immer gleich duze, kam die Antwort: Warum sollte ich ausgerechnet Sie siezen, wenn ich doch selbst Gott duze? – Hahaha!«

»Hahaha!«, erwiderte Ingo. »Sie haben Humor, das ist bekanntlich die beste Medizin.« Er dachte kurz nach und sagte dann: »Die Botschaft des Theologen verstehe ich so: Alle Menschen sind gleich! Theoretisch ist das zwar richtig, aber praktisch nicht relevant.«

»So?«

»Nehmen Sie uns beide: Wir sitzen uns nicht in gleichen, sondern in verschiedenen Rollen gegenüber. Das mit dem Siezen mit Vornamen ist ein Kompromiss, finde ich, der uns schützt!«

»Wovor denn?«

Ingo zwinkerte mir zu: »Du Arschloch sagt sich einfach leichter als Sie Arschloch! – Hahaha!«

»Hahaha! – Überzeugt!« – Ach schön, dachte ich, auch Ingo lacht gerne … Und schon umwob mich das wunderbare Gefühl, bei ihm gut aufgehoben zu sein. Offenbar war es ein

Heilkünstler mit Bodenhaftung, der mir hier in zwei, drei Metern Entfernung in einem muschelartigen Rattan-Sessel mit Rückenlehne bis hoch zum Hinterkopf gegenübersaß. Es hatte etwas von einem Thron. Auf Ingos übereinandergeschlagenen Knien lag ein Notizblock, seitlich zu seinen Füßen stapelten sich Patientenmäppchen. Vermutlich, dachte ich, liegt das meinige obenauf.

Meine Sitzgelegenheit war im Übrigen eine ähnliche wie die von Ingo, die Rückenlehne reichte jedoch nur bis zu den Schultern. Zweifelsohne waren wir nicht gleich, aber das tat dem Setting für mein Gefühl gar keinen Abbruch, denn der mir zugewiesene Platz war ausgesprochen bequem.

»Thommi, in unserer Zusammenarbeit werden die Ursachen Ihres Problems zentrales Thema sein«, gab Ingo einen Ausblick auf das, was kommen sollte. »Wir schauen, wie Sie Ihr Verhalten ändern könnten, um die Beschwerden in den Griff zu bekommen. Sie werden Anwendungen und Techniken zur physischen und psychischen Entspannung kennenlernen.«

»Davon hab ich schon auf Johanns Webseite gelesen«, ließ ich den interessierten Patienten raushängen – und scherzte: »Fango und Tango, nicht wahr?«

»Hahaha – Tango! … Leider nein, aber immerhin: Indoor können wir Ihnen Ergometer, outdoor Nordic Walking bieten, und zum Auspowern können Sie in die Muckibude gehen. Aber auch Herunterfahren ist wichtig: meditative Übungen. Es geht auch darum, dass Sie zur Ruhe kommen.« Ingo machte sich Notizen.

»Sie sagten Ursachen …«, hakte ich nach.

»Ja?«

»Also … ähm … es ist verdammt viel geschehen … Da

können Sie sich gar keine Vorstellung von machen!«

»Umso wichtiger, dass Sie mir davon berichten – gerne auch schriftlich. Würden Sie in den ersten Tagen aufschreiben wollen, was geschehen ist? Schreiben ist ein gutes Mittel, um zu reflektieren, was warum geschah. Was halten Sie davon?«

»Ich mache das, was Sie empfehlen«, sagte ich. »Umgekehrt ergäbe ja auch keinen Sinn, nicht wahr? – Hahaha!«

»Hahaha!«, erwiderte Ingo. Er schlug seinen Notizblock auf und nahm einen Stift zur Hand. »Thommi, zu Beginn werden wir uns um die Problemanalyse kümmern. Gemeinsam gucken wir, wie Sie so ticken.«

»Ticken … ein gutes Stichwort!«

»Inwiefern?«

Ich zögerte etwas, gab mir dann einen Ruck: »Darf ich offen zu Ihnen sprechen?«

»Unbedingt! Alles, was wir bereden, bleibt unter uns.«

»Gut … also, es ist ja so: Manchmal fühle ich mich wie eine Zeitbombe!«

»Wie meinen Sie das genau?«, hakte Ingo nach.

Guck an, dachte ich, er will es ganz genau wissen – wie schön! Endlich mal jemand, von dem ich ernst genommen werde. Das war bisher weniger der Fall gewesen: Wenn ich anfänglich berichtete, dass mich Schlager fix und alle gemacht hatte, erntete ich im besten Fall mitleidsvolle, im schlechtesten ungläubige Blicke. Dass Schlager auch Krisen auslösen kann, hatte offenbar niemand ernsthaft auf’m Schirm – vielleicht auch Daniel nicht. Er hatte mich zwar an Klara weitergereicht, aber wie er zum Schlager-Burnout persönlich stand, hatte er mir nicht gesteckt gehabt.

Klara indessen schon – gleich beim Kennenlerngespräch: Nachdem mich die Psychotherapeutin gefragt hatte, wie sie mir helfen könne, antwortete ich auf meine – zugegeben etwas spezielle – Art und Weise: Über die Jahre meines Engagements im Schlager ist geil! e. V. hatte ich mir angewöhnt, Gedanken mit Schlager-Zitaten auszudrücken, gerne auch singend. Ich schmetterte Klara also entgegen: »In meinem Herzen flattert leise / Ein kleiner bunter Schmetterling / Den schickt die Sehnsucht auf die Reise / Wenn ich von meinen Träumen sing / Ich seh ein Land, es liegt noch weit / Wo Liebe wohnt und Zärtlichkeit / Zeig mir den Platz an der Sonne, wo alle Menschen sich versteh’n / Liebe allein ist die Sonne / Drum darf die Liebe nie untergeh’n.«⁠5 – Ich hatte gedacht, das sei zum Einstieg eine gute Antwort auf die Frage, warum ich vor ihr saß.

Klara schien einen Moment lang dem Gehörten nachzuspüren. Aber dann explodierte sie wie ein Lava speiender Vulkan: »Hahaha!« Es rüttelte und schüttelte sie. »Hahaha!« Dann versuchte sie, sich wieder einzukriegen, zu relativieren: »Ich … ha … lache Sie … haha … nicht aus … hahaha … sondern nur an: Hahahahahahahahaha!« Unter Tränen des Amüsements fragte sie mich schnappatmend: »Wollen Sie … ha … der neue … haha … Udo Jürgens werden? – Hahaha!«

»Ich hasse weiße Bademäntel!«, erwiderte ich. Ich hielt das für eine adäquate Antwort, die unmissverständlich für ein Nein stand. Aber Klara schlug sich jauchzend auf die Oberschenkel.

»Der Witz ist gut! – Hahahahahaha!«, sagte sie.

»Danke«, sagte ich und dachte: Oh Mann, Klara kannst du vergessen. Ich zweifelte, ob ihr die Dimension der Belastung eines Schlager-Burnouts überhaupt ein Begriff war, und fühlte mich mal wieder nicht ernst genommen. So stand ich auf. »Danke für Ihre Zeit«, sagte ich und hob die Hand zum Gruß. »Ich finde allein hinaus.«

Nachdem ich die Praxistür von außen zugezogen hatte, war noch bis in den Hausflur zu vernehmen, dass die Therapeutin offenbar in einem fürchterlichen Lachkrampf feststeckte.

Aber Schwamm drüber! Jetzt war ich ja bei Johann, nur das zählte: Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein, dachte ich. Das Zitat stammte zwar – was gut informierte Schlagerfreunde wie ich natürlich wissen – nicht aus einem Schlager, sondern aus einer in Verse geschmiedeten Tragödie eines Geheimrats anno 1808, traf nichtsdestotrotz aber wie die Faust aufs Auge.

Jetzt aber doch zurück zu Ingos Frage! Das Ticken einerseits und die Zeitbombe andererseits wollte ich – zitierfreudig, wie ich war – singend beantworten. Nach dem Erlebnis mit Klara war das kein leichtes Unterfangen, aber weil ich Ingo vertraute, begann ich, mit den Fingern der Rechten rhythmisch zu schnippen. Ich groovte mich ein, und Ingo verstand wohl, denn er schnipste mit.

Cool, dachte ich, mein Zutrauen ist gerechtfertigt! Und schon schaltete ich frohgemut in den Deutschrap-Modus: »Ich ticke laut, und glaube mir, ich ticke aus / Ich zieh deutschen Rap an den Ohren lang / Und dann sehen sie aus wie Micky Maus.«

»Sudden heißt der Rapper«, sagte Ingo.

»Zeitbombe der Titel«, ergänzte ich.

»Vom Album Arschloch«, wusste er – und begann nun seinerseits, mit hoch in die Luft gestreckten Händen den Viervierteltakt zu klatschen. Ingo performte die Anschlusszeilen: »Rapper wollen Features, doch ich gehe nie ans Handy / Weil die Opfer mir ein’ vom Pferd erzählen wie die Wendy.«

Wie geil ist das denn, dachte ich, coole Socke! Und ein »Wow!« entfleuchte mir, während der Therapeut, als wäre nichts weiter gewesen, den Schreibblock in die eine Hand nahm, um mit der anderen das zu seinen Füßen obenauf liegende Patientenmäppchen aufzunehmen.

»Ich weiß Ihre Begeisterung zu schätzen, Thommi, danke!«, sagte er. »Aber therapeutisch gesehen hole ich Sie nur dort ab, wo Sie stehen.«

»Das muss man aber auch erst mal können!«, lobte ich.

»Thommi, Sie sind bei Johann! Am Klinik-Eingang steht ›Fachklinik für Musik-Syndrome‹. Die Rap-Station befindet sich zwar eine Etage tiefer, aber wir arbeiten hier auch interdisziplinär.« Er blickte in meine Patientenakte. »Bei Ihnen steht explizit Schlager-Syndrom mit der Symptomatik Burnout. Ich überlege gerade, ob wir es vielleicht eher mit einem Rap-Schaden zu tun haben.«

»Bei Rap bin ich draußen«, sagte ich. »War mir auf Dauer zu aggressiv.« Um zu verdeutlichen, was ich meinte, rutschte ich mit meinem Sessel an Ingos Thron heran und schlug mit der flachen Hand im Takt auf dessen Rattan-Armlehne: »Glaubt mir, es gibt kein Entkommen / Ich mache noch ein paar Songs, und dann explodiere ich / Ich kack deutschem Rap in die Fresse, bis sein Kiefer bricht.«

»Gut!«, sagte Ingo. »Wollte nur sicher gehen, dass Sie bei mir richtig sind.« Er machte sich Notizen. Ich schob mich zurück in die Ausgangposition, während Ingo fragte: »Sind wir im Geschäft? Schreiben Sie das, was Sie bewegt, auf?«

»Ja. Aber wo soll ich denn da beginnen? Es ist wirklich schrecklich viel geschehen!«

»Nehmen Sie es spielerisch, Thommi. Wer memoriert, begibt sich eh auf einen Querfeldein-Parcours zwischen Wahrheit und Dichtung. Lassen Sie Ihre Gedanken einfach fließen!«

»Ich werde es versuchen.«

»Prima! – Aber jetzt kommen Sie erst mal bei Johann an«, sagte er. »Richten Sie sich in aller Ruhe auf’m Zimmer ein.«

»Mache ich! Eine Frage hätte ich aber noch: Soll ich Ihnen beim nächsten Mal meine eigenen Schlagertexte vorlegen?«

Ingos Stirn legte sich in Falten: »Sie schreiben so etwas selbst?!« Das klang, als sähe er auf einmal ein besonderes Problem-Potenzial.

»Nur für den Hausgebrauch«, hielt ich den Ball flach. »Zudem seit zwei Jahren nur noch fragmentarisch, über Refrains komme ich nicht mehr hinaus: Meine Schublade ist voll – die psychische.«

Ingo nickte. »Schlagertexte«, brabbelte er nachdenklich und setzte zugleich erneut seinen Stift aufs Papier.

Aus einem unbestimmten Impuls heraus sagte ich: »Die einen Schlagerfreunde schreiben Liedtexte und träumen davon, dass ihr Star sie singt, die anderen kleben sich seinen Namenszug quer über die Autoscheibe.«

»Vorne oder hinten? – Hahaha!«

»Der Joke ist auch nicht ohne«, merkte ich an. »Hat was!«

»Im Ernst, Thommi: Sie müssen sich für Ihr Hobby nicht entschuldigen«, sagte Ingo. »Es ist immer gut, kreativ zu sein. Gegen Ende Ihres Aufenthalts bei uns können Sie ein Schlagertext-Seminar besuchen; ein Profi lässt sich in die Karten blicken. Ziel dieses Angebots ist es, dass die Patienten besser verstehen, was sie über die Jahre so fertig gemacht hat. Beim Schlager ist es wie mit Genussmitteln: Wir sollten stets um die potenziellen Risiken und Nebenwirkungen wissen.«

Ingo stand auf, ich tat es ihm gleich. Er kam auf mich zu und reichte mir seine Rechte zur Verabschiedung. »Der nächste Patient wird schon mit den Hufen scharren«, meinte er – und tatsächlich: Im Wartebereich des Flurs saß bereits ein Burni-Kollege: ein großer, etwas untersetzter Mann, der Jeans, Westernhemd und Cowboystiefel trug. Auf seinen Oberschenkeln lag eine Gitarre.

»Guten Tag, ich bin Ingo Hinrichsen!«, machte der Therapeut sich bemerkbar. »Sie wollen zu mir, richtig?«

Der Mann nickte, stand auf, schnallte sich die Gitarre um und schlug einen fetten Akkord an: »Hey Boss, ich brauch mehr Geld!«

»Verstehe«, sagte Ingo. »Aber kommen Sie doch erst mal herein in die gute Stube.«

Bevor der Therapeut die Tür von innen schloss, hörte ich ihn noch »Herzlich willkommen bei Johann!« sagen – und den Patienten erwidern: »Angenehm, Gunter!«

Allem Anschein nach hält sich der Mann für Gunter Ga-briel, dachte ich, guck an. Und während ich, nahezu beschwingt von der guten Erfahrung mit Ingo, aufs Zimmer ging, sinnierte ich: Vielleicht covert der Mann den Gunter ja nicht nur, sondern versucht gar, dessen Leben zu imitieren? Wenn dem so wäre, läge wegen des Boss-Songs die Vermutung nahe, dass sich der eingebildete Gunter musikalisch in der Blütezeit des echten Gabriel tummelt – was, wie ein gut informierter Schlagerfreund wie ich weiß, die 1970er waren.

Dann überlegte ich weiter: Wenn sich der Mann, der sich Gunter nennt, musikalisch dann ein, zwei Schritte nach vorne wagt, also hinein in die Achtziger? – Um seinem Idol möglichst ähnlich zu sein, müsste dann auch er sich mit Immobilien verzocken, die Ehe verbocken, mit dem Trinken anfangen … Gott oh Gott oh Gott!

Meine Problemlage schien mir da auf einmal vergleichsweise überschaubar.

2.

TÄNZCHEN

Ich war auf’m Zimmer angekommen, hatte den Koffer ausgepackt, die Klamotten im Kleiderschrank verstaut und den Klapprechner aufs Beistelltischchen gestellt. An dem saß ich nun. Den Laptop hatte ich dabei, weil da meine eigenen Schlagertexte drin waren; ich hatte noch zu Hause gedacht, dass die Lyrics hier bei Johann jemand sehen wollen könnte, und Ingos Reaktion auf meine Info, selbst Lyrics verfasst zu haben, hatte mir Gewissheit gegeben, mit meiner Vermutung goldrichtig gelegen zu haben.

Nun fuhr ich den Rechner hoch. Höchst motiviert, wie ich war, wollte ich sogleich mit meiner Krankheitsstory beginnen – aber ich starrte nur aufs virtuelle leere Blatt wie der Hase auf die Schlange und fragte mich: Wie nur beginnen? Gott sei Dank fiel mir ein, was Ingo geraten hatte: »Lassen sie Ihre Gedanken einfach fließen!« – Das war aber einfacher gesagt, als getan.

Ich schloss die Augen, atmetet tief ein und aus; einen Moment später hob ich die Lider wieder und legte in aller Ruhe und Gelassenheit beide Hände locker auf die Tastatur. Das kurze Innehalten trug Früchte: Wie ferngesteuert setzte sich mein Zweifingersystem in Bewegung, und schon stand mein allererster Satz da, der da lautete: »Ich heiße Thomas Andras und wurde am 23. Januar 1985 geboren.« Ach wie schön, es ging voran!

Nachdem ich mir meinen Textanfang ein-, zweimal vergegenwärtigt hatte, drängte sich mein seit Kindertagen bestehendes Schlager-Urproblem wieder in den Vordergrund: Der Vorname! Thomas steht hier naturgemäß ja in unmittelbarer Nähe zu Andras, und – jetzt kommt’s! – vernuschelt man da R und A, dann klingt Andras nach Anders.

Eine undeutliche Aussprache, von wem und in welchem Kontext auch immer, könnte mich über kurz oder lang in einen phonetischen und gleichermaßen otologischen Konflikt katapultieren: Eine Namensverwechslung mit Thomas Anders löst erstens eine temporäre Identitätskrise bei mir aus, weil ich zweitens diesen Thomas nicht abkann, da mir drittens sein Hochfrequenzgesang bei Modern Talking im Gehörgang Schmerzen verursacht.

Bedenken wir bitte einmal: Ich mochte fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein, als sich beim HNO-Arzt herausstellte, dass ich an Hyperakusis litt: Hohe Frequenzen gingen ins Ohr und blieben im Kopf – das heißt, die Stimme von Thomas Anders löste bei mir reale Kopfschmerzen aus. Es soll auch an Hyperakusis Leidende geben, bei denen das Gleiche mit tiefen Frequenzen passiert, wie bei jenen von Gunther Emmerlich – bei mir aber: Thomas!

Es war so gewesen: An meinem vierten Geburtstag – ein oder zwei Jahre bevor mir die Hyperakusis diagnostiziert wurde – sahen Mama und ich fern, was wir ganz gerne taten, und es lief mal wieder eine Musiksendung, in der ModernTalking auftrat. Kaum war Anders zu hören, hielt ich mir die Ohren zu – mehr noch: Ich vergrub meinen Kopf ins Sofakissen (sicher ist sicher, mochte ich gedacht haben). Aus den Augenwinkeln heraus nahm ich wahr, dass Mama mein Abtauchen wohl ziemlich lustig fand: Sie lachte – was ich, wegen zugehaltener Ohren, natürlich mehr sah als hörte. Warum Mama lachte, verstand ich damals nicht, und Mama konnte ja nicht wissen, dass mein akustischer Fluchtversuch auf ein Handicap zurückging. Sie dachte wahrscheinlich, ich wolle just Verstecken spielen, was ich ja auch gerne tat – und zwar vornehmlich im Kindergarten, wenn auch auf meine ganz eigene Art und Weise.

Dazu kam es folgendermaßen: An einem schönen Frühsommertag tobten wir Knirpse im Garten der Kita herum. Plötzlich stand Benjamin, ein Kitakamerad mit ungewöhnlich hoher und lauter Stimme, dicht neben mir. Ohne Vorwarnung brüllte er: »Verstecken, verstecken!« Reflexhaft hielt ich mir mit beiden Händen die Ohren zu, denn bei jedem vernommenen Laut spürte ich einen Nadelstich zuerst im einen, dann im anderen Ohr.

Ich brüllte zurück: »Leise, leise, / ganz seine Weise / hupft der Floh / ohne Sprungbrett über die Matratze, / -tratze, -tratze.« Das war ein Kinderreim, den wir tags zuvor ganz frisch in der Kita gelernt hatten. Aber Benjamin sah sich dadurch nun wohl erst recht motiviert – er bestand auf seinem Spielvorschlag: »Verstecken, verstecken!«

Um mich aus der prekären Lage zu befreien, rannte ich los, und Benjamin blökte mir, als wäre er eine Schallplatte mit Sprung, immerfort »Verstecken, verstecken!« hinterher. Auf sechs oder sieben Meter Entfernung schien mir sein Fortissimo – »Verstecken, verstecken!« – dann doch aushaltbar. Ich blieb stehen, drehte mich zu Benjamin um und rief ihm aus sicherer Entfernung einen weiteren Reim entgegen, den uns ebenfalls die Erzieherin kürzlich gesteckt hatte: »Im Walde stehen Buchen, / und du musst suchen!«

Wie mir Mama Jahre später, als ich schon die Grundschule besuchte, berichtete, gelang es der Kindergärtnerin erst nach mehreren Anläufen, mich davon zu überzeugen, dass ich mich auch richtig verstecken müsse – ich war einfach stehengeblieben. Nein, ich sei nicht zu dumm gewesen, das Spielziel zu begreifen, meinte Mama, mir sei vielleicht einfach das Wort »richtig« nicht geläufig gewesen – oder es habe mir schlichtweg genügt, dass ich Benjamin, der mich suchen sollte, nun selbst nicht mehr sah (nachdem ich meine Hände zuerst von den Ohren genommen, dann aufs Gesicht gelegt hatte). Vielleicht war es mir auch einfach nicht möglich gewesen, einen Perspektivwechsel, wie es heute heißt, vollziehen zu können, um mich richtig zu verstecken. Heute denke ich, dass ich mit der Perspektive eines Nadelkissens auf zwei Beinen wohl voll und ganz ausgelastet gewesen war. Ich erinnere mich aber, auch bei meiner Version des Versteckspiels dennoch meinen Spaß gehabt zu haben – insbesondere an solchen Kita-Tagen, an denen mir Benjamins infernales Gepiepse nicht so viel ausmachte, weil es entweder meine Tagesform hergab oder ich mir zuvor genügend Brotkrümel ins Ohr gestopft hatte.

Heute jedenfalls kann ich Mama keinen Vorwurf machen, mich vor des anderen Thomas’ Tönen nicht geschützt, ja sich gar über mich amüsiert zu haben, als ich mich vor Pein in die Couch vergrub. Im Gegenteil: Ich halte ihr sehr zugute, dass sie, nachdem ihr mein Hörproblem bekannt war, sofort in die fürsorgliche Spur ging und mir richtige Ohrstöpsel besorgte. In der Kita hatte man sich Sorgen um mich gemacht, nachdem aufgeflogen war, dass ich mir dann und wann klammheimlich mein Frühstücksbrot nicht in den Mund, sondern in die Ohren stopfte. Die Kitaleitung hatte Mama darüber informiert und empfohlen, mit mir einen Kinderarzt aufzusuchen, was Mama sogleich auch tat. Und als für den Kinderarzt nach ein paar physischen, aber auch psychischen Reaktionstests klar war, dass ich keinen an der Klatsche hätte, überwies er mich an seinen HNO-Fachkollegen.

Im Übrigen: Dass Mama gerne Modern Talking guckte, hatte nicht zuletzt damit zu tun, dass sie für den Anders schwärmte; das steckte sie mir an meinem 16. Geburtstag – und zwar auf meine Nachfrage hin, warum sie mich ausgerechnet Thomas hatte nennen müssen. Aber dazu gleich.

Eijeijeijei, mir fällt auf: Meine Gedanken flitzen hin und her – mal vor in die Vergangenheit, mal zurück in die Gegenwart. Etwas verwirrend, nicht wahr? Ich hoffe, Sie können und mögen mir dennoch weiter folgen. Ingo hatte ja gesagt, dass ich meine Gedanken »einfach fließen« lassen solle! Na, nun haben wir den Salat. Hilft aber nichts … Danke für Ihr Verständnis!

Es gibt noch eine weitere – und, wie ich finde, nicht minder wichtige – Erklärung dafür, dass ich als Thomas mit dem Thomas hadere. Bitte – Achtung, Zeitsprung nach vorne jetzt! – bedenken wir einmal: Als ich während meines Studiums der Wirtschaftsinformatik nebenbei beim Statistischen Bundesamt jobbte, Arbeitsgruppe »Beliebte Kindernamen im Wandel der Zeit«, wurde mir klar, warum mir mein Vorname spätestens seit der Schulzeit suspekt vorgekommen war. Denn wie man als Junge hieß – jetzt wieder gedanklich der Rückwärtsgang! –, war ab der Oberschule, Klassenstufe 7, ja ziemlich wichtig! Stand Thomas bei meiner Geburt, 1985, noch auf Platz 13 in den Namens-Charts – Christian, Daniel und Sebastian belegten die ersten drei Plätze –, war der Name ab 1996 in diesen Charts überhaupt nicht mehr existent! Lukas, Jan und Tim waren in den Zeiten meiner Pubertät nicht nur die statistischen Spitzenreiter, sondern standen auch real in der Gunst der Mädchen ganz, ganz weit vorne: Lukas, Jan und Tim hatten als Erste Freundinnen; die schönsten Mädchen der Klasse steckten ihnen Zettelchen mit »Willst Du mit mir gehen?« zu, und es erübrigt sich wohl der Hinweis, dass ich als Thomas keinen einzigen Schnipsel erhielt.

Dann, Jahre später – 2003, kurz vor dem Abi – ließ ich mich aus Angst, keine Freundin mehr abzubekommen, auf die Annäherung einer Mitschülerin ein; sie hieß Alexandra. Präziser – und mit unserm Udo, dem Jürgens – gesagt: »17 Jahr’, blondes Haar, so stand sie vor mir (woahoh) / 17 Jahr’, blondes Haar, wie find’ ich zu ihr? / Lalala, lalala, lalalalala / Lalala, lalala, lalalalala«

Ach Gottchen, Alexandra! Sie war weder hübsch noch hässlich, weder dünn noch dick; eindeutig war nur, dass sie Mundgeruch hatte. Ich dachte: Ja, gut, kann man nichts machen, Mädchen riechen vielleicht nun mal so und haben hoffentlich andere Vorzüge als gut zu riechen.

Auch Alexandra war, wie ich selbst, in den aktuellen Namens-Charts nicht vertreten, was ich zu diesem Zeitpunkt aber nicht wusste, weil ich von dieser Statistik noch nichts wusste. Immerhin ging ich davon aus, dass zwischen ihr und mir wenn schon keine Seelen-, so doch wenigstens eine Loser-Verwandtschaft bestehen müsse, die eine Basis fürs Miteinander sein könnte.

Aber denkste! Schon nach 14 Tagen machte Alexandra wieder Schluss mit mir. Sie meinte, sie fände mich zwar ganz nett, sei nun aber in den Lukas, einen Schüler aus der Parallelklasse, verknallt. Sie habe Lukas wiedererkannt, erklärte sie; mit ihm sei sie in dieselbe Grundschule gegangen, und sie habe schon damals ein Auge auf ihn geworfen gehabt, sei an ihn aber nicht herangekommen (Lukas stand damals auf Platz 1 der Charts!). Nun endlich sei das Glück aber auf ihrer Seite, meinte sie (und zum fraglichen Zeitpunkt war Lukas immerhin noch im Mittelfeld der Top Ten vertreten; vor ihm, auf Platz 4, lag Tim, und an der Spitze stand unangefochten Jan, bei dem Alexandra mit an Sicherheit grenzender statistischer Wahrscheinlichkeit keine Schnitte gehabt hätte). Aber auch das nur am Rande – zurück zu meinem Sechzehnten!

Mama und ich saßen im Wohnzimmer, genauer gesagt auf der Eckbank, also in der Essecke, nebeneinander. Für gute Stimmung sorgte das Schlager-Radio, das sich auf Retrospektive eingefuchst hatte. Es liefen die 70er, und zur Feier des Tages durfte ich mein erstes Schlager-Bierchen trinken. Mama führte mich damit in die kulinarische Welt der erwachsenen Schlagerfreunde ein; sie selbst gönnte sich ein Schlager-Piccolöchen.

Nachdem wir auf meinen Jubeltag angestoßen und ich ein, zwei oder drei ordentliche Schlucke aus der Flasche genommen hatte, spürte ich urplötzlich einen Hauch unbekannter Leichtigkeit: Ich war wohl nach kaum fünf Minuten schon etwas beschwipst. Dann entfleuchte mir zuerst ein Bäuerchen und hernach die Frage, die ich ihr schon immer mal hatte stellen wollen, wozu ich aber jetzt erst, dank Schlager-Bierchen, den Mut aufbrachte: »Mama, warum hast du mich denn ausgerechnet Thomas nennen müssen?«