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»Nur von den Dichtern erwarten wir Wahrheit (nicht von den Philosophen, von denen wir Gedachtes erwarten)«, schrieb Hannah Arendt in ihrem »Denktagebuch«. Doch was bisher nur Kennern des Werkes der berühmten Theoretikerin bekannt war: Sie verfasste neben ihren politischen Schriften jahrzehntelang auch selbst Lyrik. Dieser Band versammelt nun erstmals sämtliche Gedichte Arendts, die sie zwischen 1923 und 1961 schrieb, darunter zehn bislang völlig unbekannte Werke. Arendts Poesie wirft ein neues Licht auf ihr Denken und Fühlen und muss wie ein sprachlich betörender, oftmals poetisch origineller Kommentar eines Schaffens gelesen werden, das sich ganz dem leuchtenden Widerstand gegen finstere Zeiten verschrieben hatte. Eine seltene Neuentdeckung.
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Karin Biro, Dozentin am Institut für politische Wissenschaften, Paris, hat die erstmalige Veröffentlichung sämtlicher Gedichte Hannah Arendts in einem Band angeregt und war die Erste, die die hier veröffentlichten Texte für den Piper Verlag zusammengestellt hat. Dafür möchten wir ihr an dieser Stelle sehr danken. Ohne ihre Vorarbeit hätte dieses Buch nicht entstehen können.
Eine Studie von Karin Biro zur Dichtung Hannah Arendts ist im Herbst 2015 in Frankreich erschienen.
ISBN 978-3-492-97270-3
© 2015 by Hannah Arendt Bluecher Literary Trust und
© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2015
© des Essays »Über Hannah Arendts Gedichte«:
2015 Irmela von der Lühe
Covergestaltung: Kornelia Rumberg, www.rumbergdesign.de
Covermotiv: Kate Fuerst, Ramat Hasharon, Israel
Datenkonvertierung: Tobias Wantzen, Bremen
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[1]
Kein Wort bricht ins Dunkel –
Kein Gott hebt die Hand –
Wohin ich auch blicke
Sich türmendes Land.
Keine Form, die sich löset,
Kein Schatten, der schwebt.
Und immer noch hör ich’s:
Zu spät, zu spät.
[2]
Sehn wir uns wieder,
Blüht weisser Flieder,
Ich hüll Dich in Kissen,
Du sollst nichts mehr missen.
Wir wollen uns freun,
Dass herber Wein,
Dass duftende Linden
Uns noch beisammen finden.
Wenn Blätter fallen,
Dann lass uns scheiden.
Was nützt unser Wallen?
[3]
Es kommen die Stunden,
Da alte Wunden,
Die längst vergessen,
Drohn zu zerfressen.
Es kommen die Tage,
Da keine Waage
Des Lebens, der Leiden
Sich kann entscheiden.
Die Stunden verrinnen,
Die Tage vergehen.
Es bleibt ein Gewinnen:
[4]
Schwebende Füsse in pathetischem Glanze.
Ich selbst,
Auch ich tanze,
Befreit von der Schwere
Ins Dunkle, ins Leere.
Gedrängte Räume vergangener Zeiten,
Durchschrittene Weiten,
Verlorene Einsamkeiten
Beginnen zu tanzen, zu tanzen
Ich selbst,
Auch ich tanze.
Ironisch vermessen,
Ich hab nichts vergessen,
Ich kenne die Leere,
Ich kenne die Schwere,
Ich tanze, ich tanze
[5]
Dämmernder Abend –
Leise verklagend
Tönt noch der Vogel Ruf
Die ich erschuf.
Graue Wände
Fallen hernieder,
Meine Hände
Finden sich wieder.
Was ich geliebt
Kann ich nicht fassen,
Was mich umgibt
Kann ich nicht lassen.
Alles versinkt.
Dämmern steigt auf.
Nichts mich bezwingt –
[6]
Aus Dunkel kommend,
Ins Helle sich schlängelnd,
Schnell und vermessen,
Schmal und besessen
Von menschlichen Kräften,
Aufmerksam webend
Gezeichnete Wege,
Gleichgültig schwebend
Über dem Hasten,
Schnell schmal und besessen
Von menschlichen Kräften,
Die es nicht achtet,
Ins Dunkle fliessend
Um Oberes wissend
Fliegt es sich windend
Ein gelbes Tier.
[7]
Nun lasst mich, o schwebende Tage, die Hände Euch reichen.
Ihr entfliehet mir nicht, es gibt kein Entweichen
Ins Leere und Zeitenlose.
Doch legt eines glühenden Windes fremderes Zeichen
Sein Wehen um mich; ich will nicht entweichen
In die Leere gehemmter Zeiten.
Ach, Ihr kanntet das Lächeln, mit dem ich mich schenkte.
Ihr wusstet, wie vieles ich schweigend verhängte,
Um auf Wiesen zu liegen, und Euch zu gehören.
Doch jetzt ruft das Blut, das nimmer verdrängte
Hinaus mich auf Schiffe, die niemals ich lenkte.
Der Tod ist im Leben, ich weiss, ich weiss.
So lasst mich, o schwebende Tage, die Hände Euch reichen.
Ihr verlieret mich nicht. Ich lass Euch zum Zeichen
[8]
Geh durch Tage ohne Richt.
Spreche Worte ohne Wicht.
Leb im Dunkeln ohne Sicht.
Bin im Leben ohne Steuer
Über mir nur ungeheuer
Wie ein grosser schwarzer neuer
[9]
Nimm meiner Wünsche schwere Last.
Das Leben ist weit und ohne Hast.
Es gibt viel Länder der Welt
Und viele Nächte im Zelt.
Wer weiss denn eine Waage
Des Lebens der Leiden?
Vielleicht wird in späten Tagen
Sich dies alles scheiden.
[10]
Das ist nicht Glück,
Wie die es meinen,
Die betteln, weinen,
Und zu Tempeln streben
Und von dem Vorhof aus die Andacht sehen,
Und eine Weihe, die sie nicht verstehen
Mit bösem Blick sich wenden dann zurück
Und klagen über ein verlorenes Leben.
Was ist Glück dem,
Der mit sich selbst geeint ist,
Des Fuss nur stösst,
Wo es für ihn gemeint ist,
Für den Sich-Kennen Grenze ist und Recht,
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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