Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft - Hannah Arendt - E-Book
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Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft E-Book

Hannah Arendt

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Beschreibung

Das Buch, das Hannah Arendt weltberühmt machte
Unter dem Eindruck des Holocaust, der nationalsozialistischen Vernichtung des europäischen Judentums, hat Hannah Arendt mit »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« – zuerst 1951 in New York erschienen, in deutscher Übersetzung 1955 – zugleich eine Geschichte und eine Theorie des Totalitarismus geschrieben. Hier hat sie »die allgemein gültige Vorstellung vom monolithischen Charakter des Dritten Reiches erschüttert und auf die eigentümliche Strukturlosigkeit totaler Regierungen hingewiesen. Hannah Arendt analysiert den Nationalsozialismus und den Stalinismus als verwandte Herrschaftstypen und als Folgeerscheinungen von Antisemitismus und Imperialismus.« (Deutschlandfunk)

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www.piper.de

© Piper Verlag GmbH, München 1986, 2023

© Hannah Arendt 1951, 1958, 1966, 1968, 1973

© renewed 1979 Mary McCarthy West

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel The Origins of Totalitarianism

bei Harcourt, Brace, Jovanovich in New York, 1951.

Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Covermotiv: picture alliance/Fred Stein | Fred Stein

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence, München mit abavo vlow, Buchloe

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Anlässlich der Studienausgabe von Hannah Arendts Schriften

Zu diesem Band

I.

II.

III.

Vorwort

Vorwort zur zweiten Auflage

Vorwort zur gekürzten Ausgabe

Band I

Antisemitismus

Geleitwort

Vorwort

1 Antisemitismus und der gesunde Menschenverstand

2 Die Juden und der Nationalstaat

Die Zweideutigkeit der Emanzipation und der jüdische Staatsbankier

Von dem preußischen Antisemitismus bis zu den ersten deutschen Antisemitenparteien

Der Antisemitismus der Linken

Das goldene Zeitalter der Sicherheit

3 Die Juden und die Gesellschaft

Die Ausnahmejuden

Die Karriere Benjamin Disraelis

Faubourg Saint-Germain

4 Die Dreyfus-Affäre

Die Juden und die Dritte Republik

Armee und Klerus gegen die Republik

Das Volk und der Mob

Die große Versöhnung

Band II

Imperialismus

Vorwort

5 Die politische Emanzipation der Bourgeoisie

Expansion und der Nationalstaat

Die politische Weltanschauung der Bourgeoisie

Das Bündnis zwischen Kapital und Mob

6 Die vorimperialistische Entwicklung des Rassebegriffs

Die Adels-Rasse gegen die Bürger-Nation

Völkische Verbundenheit als Ersatz für nationale Emanzipation

Gobineau

Der Streit zwischen den »Rechten eines Engländers« und den Menschenrechten

7 Rasse und Bürokratie

Die Gespensterwelt des Schwarzen Erdteils

Gold und Blut

Die imperialistische Legende und der imperialistische Charakter

8 Der kontinentale Imperialismus und die Panbewegungen

Der völkische Nationalismus

Bürokratie: Die Erbschaft des Despotismus

Partei und Bewegung

9 Der Niedergang des Nationalstaates und das Ende der Menschenrechte

Die Nation der Minderheiten und das Volk der Staatenlosen

Die Aporien der Menschenrechte

Band III

Totale Herrschaft

Vorwort

I

II

III

10 Der Untergang der Klassengesellschaft

Die Massen

Das zeitweilige Bündnis zwischen Mob und Elite

11 Die totalitäre Bewegung

Totalitäre Propaganda

Totale Organisation

12 Die totale Herrschaft

Der Staatsapparat

Die Rolle der Geheimpolizei

Die Konzentrationslager

13 Ideologie und Terror: eine neue Staatsform

Bibliographie

Denken am Abgrund. Hannah Arendts monumentale Geschichte totalitärer Gegenwart – Nachwort

Ein Debüt als Klassiker

Intentionen, Ideenkonstellationen, Intuitionen

Antisemitismus

Rassismus

Krisenzeichen der Moderne

Menschenrechte

Totale Herrschaft

Kontexte und Rezeptionslinien

Pfade in die Gegenwart

Stichwortverzeichnis

Anmerkungen

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Literaturverzeichnis

Register

Anlässlich der Studienausgabe von Hannah Arendts Schriften

Was Hannah Arendt dazu bewegte, der politischen Wirklichkeit so genau ins Gesicht zu sehen, waren die Kraft der Vernunft und die Verachtung der Illusion. Anderen schlüssig und verständlich zu machen, was sie sah, war ein großer geistiger Triumph – für sie persönlich, aber auch für die Tradition des offenen politischen Diskurses.

Judith Shklar (1975)

Die Studienausgabe in Einzelbänden von Hannah Arendts Schriften möchte dazu einladen, eine der bedeutenden Denkerinnen des 20. Jahrhunderts kennenzulernen oder erneut zu lesen. Ausgewiesene Experten untersuchen in ihren exklusiv für die Edition verfassten Nachworten die jeweiligen Werke. Die Autoren werden darin je eigene Schwerpunkte setzen, die Interessierten Hannah Arendts Gedankenwelt erschließen helfen, während sich die Spezialisten mit markanten Positionen auseinandersetzen können. Bewusst wurde darauf verzichtet, eine wie auch immer geartete Einheitlichkeit vorzugeben. Die Offenheit und die Vielfalt von Arendts Überlegungen werden sich folglich in den verschiedenen Positionen der Beiträger spiegeln, die innerhalb der Studienausgabe zu Wort kommen.

Die Ausgabe kann und will keine Konkurrenz zur kritischen, im Göttinger Wallstein Verlag erscheinenden Edition von Arendts Schriften sein. Die in Arendts Münchner Stammverlag Piper vorgelegten Bände bieten Texte, die auf der jeweils letzten, von ihr selbst noch überprüften Fassung beruhen. Druckfehler und andere offensichtliche Versehen sind korrigiert, die Zitate wurden überprüft, die bibliografischen Angaben und Register durchgesehen. Für all das trägt der Herausgeber die Verantwortung. Ziel war es, zitierfähige Ausgaben zu schaffen, die sowohl eine breite Leserschaft ansprechen als auch für Wissenschaftler eine verlässliche Textgrundlage bieten.

Die erste Lieferung der Edition wird jene Werke umfassen, die Arendts Ruf in Deutschland zu ihren Lebzeiten begründeten. In chronologischer Reihenfolge sind dies folgende Schriften: Die 1929 veröffentlichte Dissertation Der Liebesbegriff bei Augustin. Versuch einer philosophischen Interpretation, die erstmals 1955 vorgelegte Studie Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus und der zwei Jahre später veröffentlichte Band Fragwürdige Traditionsbestände im politischen Denken der Gegenwart. Vier Essays. Ebenso enthalten sind die 1959 publizierte Biografie Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik und die im Jahr darauf erschienene Monografie Vita activa oder Vom tätigen Leben. Es folgen die Reportage Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen von 1964 und schließlich die ein Jahr später zugänglich gemachte Abhandlung Über die Revolution. Damit liegen im Piper Verlag erstmals die Augustin-Studie und die in dieser Form und unter dem Titel nie wieder aufgelegte, dem engen Freund Walter Benjamin gewidmete Aufsatzsammlung Fragwürdige Traditionsbestände vor.

Zu einem späteren Zeitpunkt werden unter anderem die zu Lebzeiten in deutscher Sprache veröffentlichten Zeitungsartikel, Aufsätze und Essays Arendts in chronologischer Reihenfolge neu herausgegeben werden. Das unvollendete Nachlass-Werk Life of the Mind, in der deutschen Übersetzung unter dem Titel Vom Leben des Geistes erstmals 1979 in zwei Bänden erschienen, wird die Ausgabe ergänzen, sobald eine verlässliche Textgrundlage verfügbar ist.

Hannah Arendts Werke sprechen für sich und die beigefügten Nachworte benötigen keinerlei Rechtfertigungen. Bleibt also der aufrichtige Dank an die Kolleginnen und Kollegen, die sich der Aufgabe unterzogen haben, mit ihren Beiträgen die Schriften Hannah Arendts für hoffentlich viele Leserinnen und Leser zu öffnen. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vom Piper Verlag gilt der Dank für die Zusammenarbeit und die Courage, das Werk Hannah Arendts in der vorliegenden Form der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Berlin, im August 2023

Thomas Meyer

Zu diesem Band

Die folgenden Bemerkungen stellen einige wichtige Momente in der komplizierten und langen Entstehungsgeschichte von Hannah Arendts Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft vor, die zum besseren Verständnis ihres Hauptwerkes beitragen sollen.

Da es sich bei dem Mitte November 1955 in Frankfurt/Main erschienenen Buch um eine von der Verfasserin übertragene und neu bearbeitete Ausgabe handelt, muss zunächst ein Blick auf die Ende März 1951 in New York veröffentlichte Studie The Origins of Totalitarianism geworfen werden, die die Grundlage für die »neue deutsche Fassung« (Arendt) bildet.[1]

Für diese Einleitung wurden Materialien herangezogen, die der Herausgeber erstmals in seiner im Piper Verlag erschienenen Biografie Hannah Arendts zugänglich gemacht hat.[2] Auf sie seien all die Interessierten verwiesen, die sich genauer über das Werden der amerikanischen und der deutschen Ausgabe informieren möchten. Weiterhin lohnt hier die Lektüre von Elisabeth Young-Bruehls Pionierwerk über Arendt.[3] Auf weitere wichtige Literatur wird im Text verwiesen.

Der Politikwissenschaftler Jens Hacke nimmt in seinem Nachwort »Hannah Arendts Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft – Denken am Abgrund« eine Neudeutung des Buches vor.

I.

Die Geschichte von Hannah Arendts erstem in den USA publizierten Buch The Origins of Totalitarianism reicht zurück bis in die Zeit in Paris, wohin sie im Oktober 1933 über Prag und Genf geflohen war. Ein knappes Jahr später berichtete Arendt in einem Brief, dass sie eine »historisch-soziologische Untersuchung über die Motive und Ursprünge der jüdischen Assimilation in Deutschland in den ersten Generationen« nahezu abgeschlossen habe und zudem eine »kleinere Studie über den Motivwandel des modernen Antisemitismus« vorbereite. Während sie für das erste Vorhaben »die Form einer Biographie der Rahel Varnhagen (der charakteristischen Vertreterin dieser Generation) gewählt hat«, war die Studie als Beitrag in der Reihe Cahiers du Comité des Délégations Juives geplant.[4] Aus der nicht veröffentlichten Broschüre wurde, wohl ergänzt durch Unterlagen aus zwei Vortragsreihen über den modernen Antisemitismus, die sie 1936/37 in Paris zunächst auf Deutsch, dann auf Französisch gehalten hatte, ein Buchmanuskript, an dem Arendt bis Mitte 1937 arbeitete, das sie aber nicht abschloss.[5]

In New York, das Arendt Ende Mai 1941 mit ihrem Mann Heinrich Blücher aus Lissabon kommend per Schiff erreichte, nahm sie dank alter und neuer Kontakte rasch eine umfangreiche Publikationstätigkeit auf. In der von deutschen Exilanten gegründeten Zeitung Der Aufbau etwa kommentierte sie ab Oktober 1941 die jüdische Politik angesichts des nationalsozialistischen Vernichtungskrieges, die Historikerin und Soziologin analysierte im Jahr darauf den modernen Antisemitismus in Frankreich zur Zeit der Dreyfusaffäre, und 1943/44 untersuchte sie erstmals die Entrechtung von Flüchtlingen und Minderheiten, die häufig Staatenlose waren.[6] Ebenfalls 1944 nahm Arendt sich des Rasse-Denkens an, bevor der Rassismus Staatsdoktrin wurde. Diese und weitere Texte, mal auf Deutsch geschrieben, mal auf Englisch, dann intensiv redigiert, von ihr übersetzt oder von anderen, waren eingebunden in vielfältige andere Überlegungen, die sich aus Arendts beruflichen und politischen Aktivitäten ergaben. Die Palästina-Politik der Kolonialmächte Großbritannien und USA, die Pläne zionistischer Funktionäre und die Interessen der arabischen Staaten wurden von Arendt in verschiedenen Zirkeln und Organisationen diskutiert. Sie erschloss sich ihr bestens bekannte Literatur neu, etwa Heinrich Heine und Franz Kafka, um eine Verbindung zu ihrem Verständnis vom Judentum zu finden. Dass sie später die Tagebücher des Letzteren als Lektorin im New Yorker Schocken Verlag herausgab, gehört zu den von Arendt bewusst hergestellten Zusammenhängen: Alle Arbeit war Arbeit an den Problemen der Zeit, die keine bloßen »intellektuellen«, sondern existenzielle waren.

In diesen Jahren lösten sich für Arendt die an den Universitäten oftmals streng bewachten Disziplinengrenzen auf. Nicht zuletzt auch deshalb, weil sie in ihrem New Yorker Umfeld mit Daniel Bell, Alfred Kazin oder Mary McCarthy und ihren Kontakten bei Zeitschriften wie Commentary, Menorah und Partisan Review Menschen kannte, die nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts keine Lust mehr verspürten, sich an Denkschablonen zu halten. Arendts Erkenntnisinteresse griff nach allem, was ihr half, die Zeit zu verstehen. Es ihre war nach 1945 stetig anwachsende und sich immer stärker in Texten artikulierende Überzeugung, dass die etablierten Formen der Geschichtsschreibung, die Autorität von Traditionen und deren stetes In-Erinnerung-Rufen, fundamentaler Revisionen bedurften.

Was genau sie darunter verstand, konnte man ab 1946 in der Zeitschrift Die Wandlung nachlesen, die von ihrem philosophischen Lehrer und Doktorvater Karl Jaspers zusammen mit dem Redakteur, früheren Heidelberger Kommilitonen und Freund Dolf Sternberger spätestens mit dem ersten, am 30. November 1945 erschienenen Heft maßgeblich geprägt wurde. Mit dem Jaspers gewidmeten Text »Organisierte Schuld«, der Studie »Über den Imperialismus« und schließlich »Franz Kafka, von neuem gewürdigt« war Arendt gleich dreimal im ersten Jahrgang 1945/46 der Zeitschrift vertreten. Nunmehr war Arendt mit dem Englischen und Deutschen auf neue Weise konfrontiert – alte und neue Sprache begannen gleichermaßen ihre Bedeutung zu verlieren, auch wenn Arendt lebenslang im Deutschen mehr riskierte, als sie sich im amerikanischen Englisch zutraute. Doch das war ein weitgehend technisches Phänomen. Weitaus wichtiger war, dass sich bei aller Ambivalenz gegenüber der Tatsache, wieder auf Deutsch in Deutschland zu veröffentlichen, so ein neuer Resonanzraum öffnete und eine andere Sicherheit im Schreiben. Daher verwundert es nicht, dass die Buchpläne immer konkreter wurden, Arendt sich nach Publikationsmöglichkeiten erkundigte und mit Exposés an Kollegen und Verlage wandte.

Gegenüber dem immer vertrauter werdenden Freund Karl Jaspers legte sie in einem umfangreichen Brief vom 4. September 1947 den Stand der Dinge folgendermaßen dar:

Und das bringt mich auf Ihre Frage, was ich schreibe: Ich habe keinen Titel, kann also nur andeuten: Der erste Teil, der fertig ist, schildert die politische und gesellschaftliche Geschichte der Juden seit der Mitte des 18. Jahrhunderts unter dem ausschließlichen Gesichtspunkt ihrer Eignung als Kristallisator für entscheidende politische Ideologien des 20. Jahrhunderts. Der zweite Teil, den ich gerade schreibe, analysiert den Zusammenhang zwischen Imperialismus (d. h. in meiner Terminologie die reine Expansionspolitik, die in den 80er-Jahren beginnt) und dem Verfall des Nationalstaates. Damit werde ich bis Ende des Jahres, wenn alles gut geht, fertig. Der dritte abschließende Teil soll den totalitären Staatsstrukturen gelten. Den muß ich ganz neu schreiben, weil mir dazu wesentliche Dinge, vor allem auch im Zusammenhang mit Rußland, erst jetzt aufgegangen sind.[7]

 

Damit war der Aufbau des Buches benannt: Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus. An der schon länger feststehenden Dreiteilung wird Arendt festhalten. Die Analyse des modernen Antisemitismus, die Gewaltgeschichte des Imperialismus, die eine solche der ständigen und sich steigernden Ausweitung ist, und schließlich die »neue Staatsform«, die die beiden Totalitarismen Nationalsozialismus und Kommunismus/Bolschewismus bildeten, sie zusammengenommen ergaben ein Ganzes. Deren Elemente und Ursprünge voneinander zu trennen und zugleich die Verbindungen kenntlich zu machen, das war die Aufgabe, der sich Arendt stellte.

Als es Ende März 1951 so weit war, umfasste das ihrem zweiten Ehemann Heinrich Blücher gewidmete Buch nach einem Motto von Karl Jaspers, einem Vorwort und Dankesworten, dreizehn umfangreiche Kapitel, eine ausführliche Bibliografie und ein Namens- und Sachregister.[8] Ohne Einleitung begann das Buch gleich mit dem »Antisemitism« –, gefolgt von dem »Imperialism« – und dem »Totalitarism«-Teil, der mit »Concluding Remarks« endete. Auf insgesamt 492 Seiten vermaß Arendt die Moderne, dabei Jaspers’ auf Deutsch gedrucktem Motto folgend »Weder dem Vergangenen anheimfallen noch dem Zukünftigen. Es kommt darauf an, ganz gegenwärtig zu sein.« Das Zitat stammte aus der monumentalen, 1947 erstmals vorgelegten Studie Von der Wahrheit, war aber tatsächlich eine spätestens seit den frühen Dreißigerjahren in Variationen geäußerte Grundüberzeugung des Philosophen.

Ihr »Preface« gab die Tönung des Buches vor:

Zwei Weltkriege, welche sich, voneinander durch eine ununterbrochene Kette lokaler Kriege und Revolutionen getrennt, in einer Generation abspielten und ohne Friedensvertrag für den Unterlegenen, ohne Ruhepause für den Sieger geblieben sind, sind mit der Ahnung von einem dritten Weltkrieg zwischen den beiden noch vorhandenen Weltmächten zu Ende gegangen. Dieser Augenblick der Antizipation ist wie die Stille, die sich niedersetzt, nachdem alle Hoffnungen begraben sind.[9]

 

Das Buch ist in diese »Stille« hinein geschrieben. Dem die eigene Zeit deutenden und einen Überblick gebenden »Vorwort« standen am Ende »Concluding Remarks« gegenüber, die Arendt nie mehr nachdrucken oder übersetzen lassen wird. Alle weiteren Auflagen, auch die deutschen Ausgaben, zeigten damit die Offenheit der geschichtlichen Entwicklung an. 1951 jedoch glaubte sie »abschließende Bemerkungen« formulieren zu müssen. Mit einem Bibelzitat, Apostelgeschichte 16, 28, beendete Arendt ihre Überlegungen:

Denn jene, die aus der Menschheit und der Menschengeschichte ausgegrenzt und dadurch der Grundbedingungen menschlicher Existenz beraubt waren, brauchen die Solidarität aller Menschen, um sie ihres rechtmäßigen Platzes in der »fortdauernden Menschenchronik« zu versichern. Zumindest können wir jedem von ihnen, der mit Recht verzweifelt ist, zurufen: »Tu dir nichts Übles, Denn wir sind alle hie.«[10]

 

Die Origins of Totalitarianism waren ein Erfolg, wenn auch nicht von den Verkaufszahlen her. Das Werk wurde in allen wichtigen Zeitungen und Zeitschriften ausführlich besprochen. Kritik und Lob hielten sich die Waage, doch niemand zweifelte daran, dass der Autorin ein Wurf gelungen war. Sehr schnell wurde das Buch von der wissenschaftlichen Gemeinschaft aufgenommen, Arendt erhielt Anerkennung in Form von Einladungen zu Vorträgen und Konferenzen. Sie war nun endgültig eine sichtbare Autorin, dazu mit einem Werk: Wenn der Name Arendt fiel, und er fiel sehr häufig seit dem Erscheinen der Studie, dann fiel auch Origins. Das sogenannte große Buch war da, ihre älteren Aufsätze erfuhren noch mehr Aufmerksamkeit. Die weiterhin »sozial freischwebende Intellektuelle« (Karl Mannheim) bekam festen Boden unter den Füßen. Arendt konnte mehr als zufrieden sein.

II.

In Deutschland war Hannah Arendt seit 1948 mit der Textsammlung »Sechs Essays« als Buchautorin vertreten. Doch die Aufsätze, teils zuvor in der Wandlung erschienen, teils zuvor in Deutschland unbekannt, gaben Arendts Denkentwicklung, vor allem aber den mit den Origins of Totalitarianism erreichten Stand ihrer Überlegungen nicht länger wieder. In der Folge scheiterten die Bemühungen, den in Zürich ansässigen Eugen Rentsch Verlag oder die katholischen Kollegen beim Münchner Kösel Verlag zu überzeugen. An Letzteren hatte Arendt am 29. April 1953 unter anderem Folgendes geschrieben:

Ich mag nicht direkt aus dem Englischen übersetzen und würde Sie bitten müssen, eine Art Rohübersetzung anfertigen zu lassen, die ich dann überarbeiten werde. Das erleichtert mir die Arbeit sehr; gerade weil ich ja zumeist englisch schreibe (schreiben muss), fällt es mir so schwer, deutsch zu schreiben, wenn ich eine englische Vorlage habe. Ein großer Teil des Buches existiert auf Deutsch.[11]

 

Das war die Situation, und sie sollte sich erst ein Jahr später ändern, als sich die in Frankfurt ansässige Europäische Verlagsanstalt (EVA) bei Arendt meldete. Deren Angebot, das gesamte Buch bringen zu wollen, setzte bei ihr Kräfte frei. Zudem musste das aus ihrer Sicht überholte »Vorwort« durch ein neues ersetzt werden, die »Abschließenden Bemerkungen« waren nicht länger zeitgemäß. An deren Stelle sollte der Text »Ideologie und Terror« treten, den sie für die Jaspers-Festschrift »Offene Horizonte« verfasst hatte. Damit begann und endete der Text mit Jaspers. Und dann der Titel! Mit den bisherigen war Arendt nie zufrieden gewesen, es musste ein anderer her, das war klar. »Ursprung und Wesen totaler Herrschaft« oder »Die totalitäre Katastrophe« – zwei von zahlreichen diskutierten Möglichkeiten. Es war ein längerer Weg bis hin zu Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Sie wollte übersetzen, auch weil sie noch Nazi-Literatur an der Stanford University erstmals eingesehen hatte, die unbedingt noch berücksichtigt werden musste.

Man hätte nach den Umarbeitungen, Erweiterungen und schließlich der selbst vorgenommenen Übersetzung der amerikanischen Originalausgabe ihres Buches denken können, dass Arendt ermüdet war, nach einer monatelangen Arbeit, die sie gegenüber ihrem Lehrer und Freund Karl Jaspers bereits am 6. Februar 1955 »abscheulich« genannt hatte. Und dies nicht zuletzt deshalb, weil sie gar nicht anders konnte, als an mehreren Texten gleichzeitig zu arbeiten. So galt es etwa eine zweibändige Essaysammlung ihres verstorbenen Freundes Hermann Broch herauszugeben und mit einer umfänglichen Einleitung zu versehen.

Dann hatte die EVA noch ein Anliegen: Sosehr sie an den Erfolg des Buches glaubte, so wichtig schien es dem Verlag, dass eine bereits in Deutschland eingeführte Persönlichkeit dem Buch begleitende Zeilen voranstellte, um das alles andere als leicht zu lesende Werk dem Publikum anbieten zu können. Es war der Verlag, der auf die Idee kam, Karl Jaspers um ein »Geleitwort« zu bitten, das seither in allen Ausgaben abgedruckt wurde.

Der Herbst 1955, genauer: die Frankfurter Buchmesse, darauf arbeitete man jetzt als Erscheinungstermin hin, nachdem sich das Ziel Frühjahr 1955 für das auf 867 Schreibmaschinenseiten angewachsene Manuskript als zu ehrgeizig herausgestellt hatte. Die für den Buchhandel und Leser so wichtige Übersicht »Aus der Herbstproduktion der deutschen Verlage« der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wartete am 8. August 1955 mit folgender Ankündigung auf: »Hannah Arendt, Ursprung und Wesen totalitärer Herrschaft, 832 Seiten, 19,50 DM«. Ganz so kam es nicht, zumal alles unter weiterhin enormem Zeitdruck zwischen New York und Frankfurt, dann zwischen Basel und Frankfurt – Arendt hatte Jaspers besucht – hin- und hergeschickt werden musste. Auf beiden Seiten eine logistische Meisterleistung, auch wenn Arendts allererstes Exemplar jede Menge Fehler in ihrem Lebenslauf enthielt und daher der Umschlag neu gedruckt werden musste.

Als Hannah Arendt in der dritten Novemberwoche 1955 ihr Buch Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft der deutschen Öffentlichkeit in der Frankfurter »Bücherstube« vorstellte, lautete das Thema ihres Vortrages »Was ist Autorität?«[12] Die EVA hatte in die traditionsreiche Buchhandlung geladen, um Autorin und Werk zu feiern. Doch statt über ihre knapp 800 Seiten lange Analyse zu sprechen, gab Arendt ein neues Thema vor.

Mit diesem Abend änderte sich die Wahrnehmung Hannah Arendts in Deutschland. Kurze Zeit später schon sprach man von den Elementen – und jeder historisch, politisch, soziologisch Interessierte wusste, was gemeint ist. Daran hat sich bis heute nichts geändert.

III.

Der Umfang der Erstauflage 1955 bei der EVA betrug 797 Seiten (XV + 782), während die Lizenzausgabe bei der Büchergilde Gutenberg von Anfang 1956 wegen des größeren Formats 731 Seiten ausmachte.[13] Bei dieser Seitenzahl blieb die Büchergilde sowohl beim Nachdruck im Jahr darauf als auch bei der veränderten zweiten Auflage 1958 und erneut bei deren Nachdruck 1962. Mit der veränderten Ausgabe von 1958 passte die EVA die Seitenzahl an die der Büchergilde Gutenberg an, sodass ihre Ausgaben künftighin ebenfalls 731 Seiten umfassten.[14] Auch bei der EVA folgte 1962 die letzte Auflage, eine Tatsache, die Arendt nicht gefiel. Die Zusammenarbeit mit dem Verlagshaus endete in dem Jahr.

Erst 1975 kam es im Berliner Ullstein Verlag zu einer weiteren Auflage, die die Dreiteilung des Buches aufnahm – Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus – und damit der amerikanischen Auflage von 1968 folgte. Auch die neuen Vorworte zu jedem einzelnen Band in einer von Arendt autorisierten Übersetzung durch Michael Schröter nahm die Edition auf, nicht jedoch, entgegen der vertraglichen Zusicherung, die früheren Vorworte Arendts. Das Format war weder in den USA noch in Deutschland ein Erfolg, sodass bereits 1973 Arendts New Yorker Verlag Harcourt Brace Jovanovich auf die einbändige Ausgabe umstellte. Als 1986 die Elemente erstmals im Piper Verlag erschienen, geschah das in einem Band. Das Format wurde, bei mehrfach geändertem Satzspiegel, beibehalten.

Die vorliegende Edition bringt den Text und die Bibliografie der Ullstein Ausgabe und enthält zusätzlich sämtliche Vorworte der früheren deutschsprachigen Ausgaben. Zudem wird das »Vorwort zur gekürzten Ausgabe« abgedruckt, das Arendt für das aus den Kapiteln neun bis dreizehn der Elemente bestehende Buch Elemente totaler Herrschaft für die Reihe »res publica« der EVA und für den Sonderdruck des Bundesministeriums für gesamtdeutsche Fragen geschrieben hatte. Schließlich wird die Widmung des Antisemitismus-Teils anlässlich Kurt Blumenfelds 70. Geburtstag in den beiden ersten Auflagen wiedergegeben.[15]

Damit sind erstmals alle Texte Hannah Arendts in einem Band vereinigt, die sie für ihr Werk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft schrieb.

Vorwort

Dies ist die neue* deutsche Fassung des Buches The Origins of Totalitarianism, das im Frühjahr 1951 in Amerika erschien. Es ist keine in jedem Wort getreue Übersetzung des englischen Textes. Einige Kapitel hatte ich selber noch deutsch geschrieben und später ins Englische übersetzt; in diesen Fällen ist hier der Originaltext eingesetzt. Aber auch sonst haben sich bei der Umarbeitung ins Deutsche hie und da Änderungen ergeben, Streichungen und Zusätze, die hier im einzelnen aufzuzählen sich nicht verlohnt. Wesentlich ist nur, daß ich das letzte Kapitel des englischen Textes, die »abschließenden Bemerkungen«, hier durch Überlegungen »Ideologie und Terror« ersetzt habe, die später entstanden sind und in der Festschrift zu Karl Jaspers’ siebzigstem Geburtstag veröffentlicht wurden. Auch ist das Vorwort der englischen Ausgabe hier fortgefallen.

Das Manuskript der englischen Ausgabe lag im Herbst 1949 bis auf technische Einzelheiten fertig vor. Literatur, die nach diesem Zeitpunkt erschienen ist, blieb im allgemeinen auch für die deutsche Fassung unberücksichtigt. Eine Ausnahme von dieser Regel habe ich für den dritten Teil des Buches insofern gemacht, als ich mich bemüht habe, die sogenannten Nürnberger Dokumente und andere Urkunden aus der Zeit des Dritten Reiches, die mir damals nicht im Original zugänglich waren, soweit es anging, einzusehen und zu verwenden. Das gleiche gilt für eine Anzahl von Büchern, Broschüren und Zeitschriften, die in Deutschland während des Kriegs erschienen sind und in amerikanischen Bibliotheken damals noch nicht vorhanden waren. Neuveröffentlichtes Quellmaterial und Bücher, die direkt nach den Quellen gearbeitet sind, habe ich soweit wie möglich benutzt. Dagegen habe ich die recht umfangreiche Memoiren-Literatur der Nachkriegszeit, die zumeist eine Quelle sehr fragwürdiger Art darstellt, ganz und gar beiseite gelassen. Für Einsicht in neues Dokumenten- und Broschürenmaterial aus der Zeit des Hitler-Regimes danke ich der Hoover Library in Stanford, Californien, dem Centre de Documentation Juive in Paris und dem Yiddish Scientific Institute in New York. Alle Dokumente, die in den Nürnberger Prozessen verwendet wurden, sind in ihrer Nürnberger Numerierung zitiert; bei allen anderen Dokumenten ist die Herkunft und die Archivnummer vermerkt.

Das Buch handelt von den Ursprüngen und Elementen der totalen Herrschaft, wie wir sie als eine, wie ich glaube, neue »Staatsform« im Dritten Reich und in dem bolschewistischen Regime kennengelernt haben. Die Ursprünge liegen dem Niedergang und Zerfall des Nationalstaates und dem anarchistischen[1] Aufstieg der modernen Massengesellschaft; die Elemente, die in diesem Zerfallsprozeß frei werden, sind ihrerseits in den ersten beiden Teilen in ihre historischen Ursprünge zurückverfolgt und in dem dritten Teil in ihrer totalitären Kristallisationsform analysiert. Die historisch gehaltenen Darstellungen der beiden ersten Teile beabsichtigen natürlich nicht, die (noch nicht geschriebene) Geschichte des Antisemitismus oder eine neue Geschichte des Imperialismus zu liefern. Sie heben nur das an der Entwicklung hervor, was sich an ihrem Ende als entscheidend erwiesen hat und für die Analyse des letzten Teils unumgänglich ist.

Einzelne Abschnitte der deutschen Fassung sind im Laufe der letzten Jahre in Zeitschriften erschienen, vor allem in der Wandlung, im Monat und im Hochland. Auch diese Abschnitte sind nochmals durchgesehen und überarbeitet.

New York, Juni 1955, Hannah Arendt

[1]Die Begriffe wurden 1958 nachträglich von Arendt eingefügt bzw. korrigiert.

Vorwort zur zweiten Auflage

Bis auf geringfügige bibliographische Zusätze ist der Text des Buches unverändert. So habe ich auch die Rede Chruschtschows auf dem zwanzigsten Parteitag der Kommunistischen Partei Rußlands nur als zusätzliche Quelle für das Stalinregime erwähnt, aber darauf verzichtet, ihre innerrussische Bedeutung zu analysieren oder die Ereignisse zu interpretieren, welche dieser Rede folgten. Da ich der Meinung bin, daß die ungarische Revolution vielleicht eine so entscheidende Wende bedeutet wie die russische Oktoberrevolution und jedenfalls dem Aufwand der Pariser Kommune an geschichtlichem Gewicht gleichkommen dürfte, ist es mir nicht ganz leicht gefallen, auf eine Stellungnahme zu verzichten. Es hätte sich aber in einer solchen Stellungnahme notwendigerweise um die Besprechung von Aktuellem gehandelt, das noch in keiner Weise entschieden ist; und dies würde dem Charakter des Buches widersprechen.

Druckfehler und sprachliche Ungenauigkeiten wurden nach Möglichkeit beseitigt. Dies besorgte Frau Hella Jänsch, der ich herzlich danke.

New York, März 1957

Hannah Arendt

Vorwort zur gekürzten Ausgabe

Diese Ausgabe ist um die ersten acht Kapitel gekürzt, in denen die Elemente der totalen Herrschaft in ihre geschichtlichen Ursprünge zurückverfolgt werden. Fortgefallen ist die Entwicklung des modernen Antisemitismus und mit ihr die Darstellung der Rolle der Juden in dem europäischen Nationalstaatensystem des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts. Diese Entwicklung zeigt, warum die Judenfrage, der an sich keine große Bedeutung zukam, der Kristallisationspunkt einer totalitären Bewegung im zwanzigsten Jahrhundert werden konnte. Fortgefallen ist ferner die Darstellung des überseeischen Imperialismus und der kontinental-imperialistischen, der sogenannten Pan-Bewegung, durch welche der Nationalstaat und die national organisierten Völker versuchten, die ihnen durch die neuen Notwendigkeiten einer Weltwirtschaft und Weltpolitik gestellten Probleme zu lösen, bzw. sich ihnen zu entziehen. An den auf diese geschichtlichen Kapitel folgenden Strukturanalysen der totalen Herrschaft selbst ist nichts gekürzt oder geändert.

Diese Ablösung des geschichtlich-darstellenden von dem politisch-analytischen Teil des Werkes ist möglich und zu rechtfertigen, weil die Verknüpfung des Geschichtlichen mit dem Politischen von vornherein nicht im Sinne einer Kausalbeziehung gedacht war. Die Darstellung auch der Ursprünge der totalen Herrschaft geht durchaus von dem Ereignis der Machtergreifung durch die totalitären Bewegungen und den nach der Machtergreifung sich entfaltenden Institutionen und Apparaten aus, und was immer an Geschichtlichem in dem ersten Teil des Buches beigetragen ist, ergibt sich aus einer Rückverfolgung der Elemente, die in der politischen Strukturanalyse freigelegt sind. Von diesen her fallen dann allerdings sehr bezeichnende und erhellende Lichter auf die Vergangenheit, und zwar gerade auch auf Prozesse und Tendenzen, die gleichsam unterirdisch verlaufen – wie eben die Geschichte der europäischen Juden und des modernen Antisemitismus – und daher von der herkömmlichen Geschichtsschreibung vernachlässigt worden sind. Aber das Phänomen der totalen Herrschaft an sich ist nur aus ihr selbst, aus der ihr zugehörigen Regierungsform, aus ihren Institutionen und Taten, zu »verstehen«; geschichtlich ableitbar im Sinne eines notwendig verlaufenden Entwicklungsprozesses, der auf eine oder mehrere zusammenwirkende Ursachen zurückgeführt werden könnte, ist es nicht.

Für die totale Herrschaft und die totalitären Bewegungen sind die Ursprünge nur das Medium, in dem sich diese Ereignisse wie alle politischen Ereignisse vollziehen. So wenig wie die Geschichte der europäischen Revolution oder der Arbeiterbewegung oder des Marxismus kann die Geschichte des Antisemitismus oder des Imperialismus für das Eintreten der totalen Herrschaft verantwortlich gemacht werden. Alles was wir für die Gegenwart aus ihnen lernen können, sind die Probleme, welche das zwanzigste Jahrhundert vorfand, und die Aporien, die sich ergeben, will man diese Probleme im Rahmen des nationalstaatlichen Prinzips lösen.

Der einzige geschichtliche Hintergrund, der mir für das Verständnis der totalitären Herrschaftsform unentbehrlich schien, ist das Kapitel, das von den Folgen des ersten Weltkrieges, von der verzweifelten Unfähigkeit der nationalen Staatsmänner, gerade mit den neuesten und modernsten Problemen in Europa fertig zu werden, handelt. Denn dieses Versagen ist mehr als geschichtlicher Hintergrund. Es begleitet als ein hervorragender, wenn auch negativer Faktor die Machtergreifung und Machtentfaltung in den totalitär regierten Ländern, die Widerstandslosigkeit und Ahnungslosigkeit der gesamten zivilisierten Welt waren wesentliche Faktoren, mit denen Hitler wie Stalin zu rechnen wußten. Auch dies Kapitel ist in meiner Darstellung nicht von der vorhergehenden direkt abhängig, so daß es mir möglich schien, mit ihm diese Ausgabe beginnen zu lassen.

Hannah Arendt

Band I

Antisemitismus

Für Heinrich Blücher

Geleitwort

Der Verlag wünscht ein Geleitwort. Ich versage mich nicht, obgleich ich mich ein wenig schäme. Denn dieses Buch vertritt sich selber geistig so großartig, daß es keiner Empfehlung bedarf. Nur die Tatsache, daß die Verfasserin in Deutschland noch wenig bekannt ist, mag mich entschuldigen.

Es handelt sich um die Frage, die heute alle Denkenden als die für unser Dasein brennendste kennen: die nach der geschichtlichen Wende, welche im Totalitarismus ihre schrecklichste und drohendste politisch-überpolitische Wirklichkeit zeigt. Hannah Arendt hat das schlechthin Neue erkannt, das, was im Nationalsozialismus und Bolschewismus mehr ist als Despotie und Tyrannei. Sie erforscht die Voraussetzungen, die Bedingungen und Gleislegungen, die das Phänomen ermöglicht haben.

In den ersten beiden Teilen werden Antisemitismus und Imperialismus nach ihrer für den Totalitarismus wesentlichen Bedeutung erörtert. Sie führen in weite Bereiche heute wenig bekannter Tatsachen, die als sinnzugehörig erkannt werden. Um diese ausführlichen Darstellungen zu begreifen, muß man die Geduld haben, das Buch ganz zu lesen. Das ist nicht schwer, weil fast jedes Kapitel schon unmittelbar fesselt. Aber ohne das Ganze im Auge zu haben, kann man dem Mißverständnis verfallen, in diesen historischen Analysen, sie übersteigernd, schon die Sache selbst zu haben, zumal die Eindringlichkeit der Darstellung dazu verführt. Vielleicht ist es gut, den dritten Teil zuerst zu lesen. Denn die Genese wird besser verstanden, wenn man ihr Ergebnis schon kennt.

Der erste umfangreiche Hauptteil handelt ausschließlich vom Antisemitismus, nicht etwa von dem großen Gehalt der jüdischen Geschichte, auch nicht von der Größe des deutschen Judentums, sondern allein von jenem Antisemitismus, von dem gezeigt wird, wie er als politisch gemeinte weltanschauliche Bewegung, im Unterschied vom Judenhaß, erst ein Produkt des letzten Drittels des neunzehnten Jahrhunderts ist. Würde man sagen, die Judenfrage werde hier zu wichtig genommen, so möchte ich widersprechen, vor allem für uns Deutsche, die wir Anlaß haben, gründlicher und verantwortlicher als alle andern in diese Zusammenhänge Einsicht zu gewinnen.

Das Buch will historische Erkenntnis. Es ist auf Grund eigener Erfahrung, einer kaum absehbaren dokumentarischen Literatur und damit auf Grund eines bewunderungswürdigen Reichtums an konkretem Wissen mit den Mitteln historischer Forschung und soziologischer Analyse erarbeitet. Aber dies Buch will mehr. Es will durch die Erkenntnis mitarbeiten an der sittlich-politischen Denkungsart, die die Selbstbehauptung des Menschen ermöglicht in einem entwurzelnden Chaos und in der Ermüdung an allen Meinungen unserer Zeit, welche zum Kollektiv des Nichts im Apparat des Terrors geführt haben. Das Mitdenken dieses Buches reinigt nicht nur wie eine philosophische Besinnung, sondern gibt die Einsicht, durch welche eine philosophische Denkungsart in der politischen Wirklichkeit erst urteilskräftig wird. Mit der Vergegenwärtigung des totalitären sittlich-politisch entleerten Zustandes, der mit Fiktionen und einem durch Sinnkonsequenz überwältigend wirksamen Apparat der Täuschungen sogar das Wissen um die Lüge noch zu einem beschwingenden Moment werden läßt, spricht dieses Buch beschwörend zu dem Menschen als Menschen. Für die Verfasserin gilt nicht der alte Satz: So mußte es kommen. Die Konstruktionen der Sinnzusammenhänge, die zu Kausalitäten in der Geschichte werden oder werden können, sind nicht als schlechthin zwingend gemeint. Denn erkannt, sind sie revidierbar. Es liegt am Menschen und nicht an einem dunklen Verhängnis, was aus ihm wird. Wenn uns bei den Darstellungen Hannah Arendts das Gefühl überkommt, es sei unentrinnbar gewesen, so ist das grade nicht ihr Glaube. Weil es anders kommen kann, weil die Einsicht unsere politische Denkungsart klärt und dadurch erneuert, ist das Buch geschrieben. Es macht keine Vorschläge und gibt keine Programme. Denn es will als solches nur historische Erkenntnis. Aber es will wirken in jene Innerlichkeit, wo über die Politik der Geschicklichkeit und der Vordergründe hinaus der sittlich-politische Zustand des Menschen sich wandeln kann, aus dem jene Geschicklichkeit selbst erst mit Sinn erfüllt wird.

Daher halte ich dieses Buch für Geschichtsschreibung großen Stils. Der Geist der Wahrhaftigkeit ist in ihm am Werke, um reale Erkenntnis zu gewinnen, wohl wissend, daß die ganze und vollständige Erkenntnis nicht erreichbar ist, bereit, auf Gründe zu hören, die mit Tatsachen operieren. Aber dieser Geist dient weder einer bodenlosen Objektivität endloser Gleichgültigkeiten, erst recht nicht in der Enge irgendwelcher Interessen, sondern der Menschenwürde. In diesem Buche wirkt die hohe Vernunft eines leidenschaftlich erfahrenden Menschen, der sich dem Äußersten nicht entzogen hat, der die Augen nicht verschließt, wo Nichtsehen bequemer ist, der rücksichtslos mit sich selber kämpft. Dieser Geist ließ sich nicht binden durch Ressentiments oder Byzantinismen irgendeiner Macht gegenüber, sondern von der Liebe zum Menschen und der Welt, die in allem Wissen des Schrecklichen triumphierend die Aktion, und sei es im Kleinsten, vollzieht, vernünftig zum Besseren zu wirken ohne Geborgenheit in einem Wissen.

Das Buch ist das Ergebnis jahrzehntelangen Denkens. Jahre vor 1933 sah Hannah Arendt kommen, was ich damals in Deutschland für unmöglich hielt. Als es 1933 begann, war sie sich bewußt, daß es eine unerhört tiefgreifende Wende bedeutete. Sogleich wollte sie sehen und erkennen. So sammelte sie unter anderem Zeitungsausschnitte, was bei einer Haussuchung in Berlin zu ihrer Verhaftung und nach der Befreiung zur Flucht aus Deutschland führte. Auch in den bösesten Situationen hörte ihr Denken, die Kraft ihrer hellsichtigen Geistesgegenwart nicht auf. Von dem Lebensweg dieses liebenden Vernunftwesens ist keine Spur in dem Werk zu finden, außer in der Denkungsart im ganzen. Es ist alles nüchtern und sachlich dargelegt, reingewordene Einsicht.

Hannah Arendt hat ihr zunächst englisch geschriebenes Werk vor Jahren in New York und London erscheinen lassen. Als sie es jetzt ins Deutsche, ihre Muttersprache, übersetzte, hat sie bei ihrem ständig regen Sinn das im ganzen unveränderte Buch gelegentlich ergänzt, verbessert, gekürzt. Daß sie mit fast gleicher Ursprünglichkeit englisch wie deutsch schreibt, macht den Vergleich der Ausgaben interessant. Natürlich ziehe ich die deutsche Ausgabe vor. Das Englische macht einfacher und kürzer. Die Denkungsart dieses Buches aber ist deutscher und universaler Herkunft, geschult an Kant, Hegel, Marx und an deutscher Geisteswissenschaft, dann wesentlich an Montesquieu und Tocqueville. Diese Denkungsart ist von jener herrlichen Offenheit, wie sie zuweilen deutschem Geiste entsprungen ist. Daher hat sie ihren angemessensten Ausdruck auch in der deutschen Sprache. Ihr Werk kann, wie ich hoffe, in diesem Raum einen noch tieferen Widerhall finden, als es ihn in den angelsächsischen Ländern schon gefunden hat.

Basel, September 1955

Karl Jaspers

Vorwort[16]

Der Antisemitismus, eine profane Ideologie des 19. Jahrhunderts, die dem Namen, wenn auch nicht den Argumenten nach vor 1870 unbekannt war, kann offensichtlich nicht mit dem religiösen Judenhaß gleichgesetzt werden, der sich aus der wechselseitigen Feindschaft zwischen zwei einander bekämpfenden Glaubensrichtungen herleitet, und schon inwieweit er seine Argumente und seine Anziehungskraft aus diesem bezieht, ist fraglich. Wer meint, eine kontinuierliche Reihe von Verfolgungen, Vertreibungen und Blutbädern führe bruchlos vom Ausgang des römischen Reiches über das Mittelalter und die Neuzeit bis in unsere Tage, und vielleicht noch hinzusetzt, der moderne Antisemitismus sei nichts weiter als die Profanversion eines verbreiteten mittelalterlichen Aberglaubens,[17] ist, wenn auch arglos, nicht weniger im Irrtum als die Antisemiten, die ganz entsprechend meinten, seit dem Altertum regiere eine jüdische Geheimgesellschaft die Welt oder strebe danach. Geschichtlich gesehen ist die Kluft zwischen Spätmittelalter und Neuzeit, was die Lage der Juden angeht, sogar noch ausgeprägter als der Sprung von der römischen Antike zum Mittelalter oder der Einschnitt, der die Katastrophen der ersten Kreuzzüge vom Frühmittelalter trennte und der so häufig als der wichtigste Wendepunkt in der Geschichte der Juden in der Diaspora angesehen wird. Denn jene Kluft erstreckte sich über fast zwei Jahrhunderte, vom 15. bis zum Ausgang des 16. Jahrhunderts, und in dieser Zeitspanne erreichten die Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden einen beispiellosen Tiefstand, während die »jüdische Gleichgültigkeit für die Bedingungen und Ereignisse in der Außenwelt« eine beispiellose Hochblüte erlebte und der jüdische Glaube sich »stärker als je zuvor zu einem geschlossenen Denksystem« entwickelte. Es war die Zeit, in der die Juden ganz von sich aus zu der Überzeugung kamen, »daß sich das jüdische Volk von den Nationen vor allem seinem inneren Wesen und nicht bloß seinem Glauben und Bekenntnis nach unterschied« und daß der alte Zwiespalt zwischen Juden und Nichtjuden »nicht so sehr in abweichenden Lehrmeinungen, sondern vor allem in der Verschiedenheit der Rassen begründet war«.[18] Es liegt auf der Hand, daß ohne diesen Wandel in der Einschätzung der Andersartigkeit des jüdischen Volkes – ein Wandel, der erst viel später, im Zeitalter der Aufklärung, auf Nichtjuden übergriff – der Antisemitismus schlechterdings nicht hätte entstehen können, und es ist nicht unwichtig festzuhalten, daß er sich zuerst in der jüdischen Selbstinterpretation vollzog, und zwar ungefähr zur gleichen Zeit, als sich die europäische Christenheit in jene Volksgruppen spaltete, die dann im modernen Nationalstaatensystem die ihnen gemäße politische Form fanden.

Die Geschichte des Antisemitismus läßt sich so wenig wie die Geschichte des Judenhasses herauslösen aus der langen und verwickelten Geschichte der Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden unter den Bedingungen der jüdischen Zerstreuung. Vor der Mitte des 19. Jahrhunderts war das Interesse an dieser Geschichte praktisch gleich Null; es entwickelte sich zusammen mit dem Aufkommen des Antisemitismus und dessen wütender Reaktion auf die Emanzipation und Assimilation des Judentums, also unter Umständen, die der Begründung einer zuverlässigen Geschichtsschreibung so ungünstig waren, wie man es sich nur denken kann.[19] Seit dieser Zeit treffen sich die jüdische und die nichtjüdische Geschichtsschreibung, wenn auch zumeist mit entgegengesetzten Absichten, in dem gemeinsamen Irrtum, daß sie die Elemente von Feindseligkeit in den christlichen und jüdischen Quellen isolieren und die Reihe von Katastrophen, Vertreibungen und Blutbädern hervorheben, die im Verlauf der jüdischen Geschichte mit der gleichen Regelmäßigkeit auftreten wie bewaffnete und unbewaffnete Auseinandersetzungen, Kriege, Hungersnöte und Epidemien im Verlauf der Geschichte Europas. Es erübrigt sich hinzuzufügen, daß die jüdische Geschichtsschreibung, die immer einen Hang zu Polemik und Selbstrechtfertigung hatte, sich darauf konzentrierte, die Spur des Judenhasses in der christlichen Geschichte zu verfolgen, während es den Antisemiten überlassen blieb, eine Tradition ähnlichen Geistes aufzuspüren, die sich auf alte jüdische Autoritäten berufen konnte. Als diese jüdische Tradition einer oft heftigen Feindschaft gegen Christen und Nichtjuden aufgedeckt wurde, »war die jüdische Öffentlichkeit durchweg nicht nur empört, sondern echt überrascht«[20] – so vollständig war es ihren Wortführern gelungen, sich selbst und jedermann es als eine Tatsache einzureden, daß die Isolation der Juden ausschließlich der Feindseligkeit der Nichtjuden und einem Mangel an Aufklärung geschuldet sei. Das Judentum, behaupteten damals vor allem jüdische Historiker, habe sich vor anderen Religionen immer dadurch ausgezeichnet, daß es für Toleranz und die Gleichheit aller Menschen eintrat. Daß diese selbstbetrügerische Theorie, einhergehend mit dem Glauben, das jüdische Volk sei immer das passive, leidende Objekt christlicher Verfolgungen gewesen, in Wirklichkeit darauf hinauslief, an dem alten Mythos vom auserwählten Volk, in modernisierter Form, festzuhalten, und zwangsläufig zu einer neuen und oft sehr komplizierten Praxis der Absonderung führte, die unvermeidlich den althergebrachten Zwiespalt aufrechterhielt, ist vielleicht eine jener ironischen Konsequenzen, denen anscheinend nicht entgehen kann, wer politische Fakten und geschichtliche Dokumente zu verschönern und zu manipulieren versucht. Denn wenn überhaupt die Juden etwas mit ihren nichtjüdischen Nachbarn gemein hatten, was ihre frisch verkündete Gleichheit begründen konnte, dann war es eine unter dem Vorzeichen der Religion stehende, durch wechselseitige Feindschaft gekennzeichnete Vergangenheit, die in ihren besten Exponenten ebenso zahlreiche Kulturleistungen hervorgebracht hatte wie Äußerungen von Fanatismus und krassem Aberglauben bei den ungebildeten Massen.

Freilich basieren auch die ärgerlichen Klischees dieser jüdischen Geschichtsschreibung noch auf solideren historischen Fakten als nur den überholten sozialen und politischen Bedürfnissen des europäischen Judentums im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Zwar war die jüdische Kulturgeschichte unendlich vielfältiger, als man damals annahm, und die Ursachen der Katastrophen wechselten mit den historischen und geographischen Gegebenheiten, doch bleibt immer noch so viel richtig, daß diese Veränderungen mehr in der nichtjüdischen Umgebung als innerhalb der jüdischen Gemeinden stattfanden. Zwei sehr reale Faktoren waren verantwortlich für die verhängnisvollen Mißverständnisse, die noch immer in populären Darstellungen der jüdischen Geschichte umlaufen. Niemals und nirgendwo besaßen die Juden nach der Zerstörung des Tempels ein eigenes Territorium und einen eigenen Staat; immer hing ihr nacktes Überleben von dem Schutz durch nichtjüdische Mächte ab, auch wenn »den Juden in Frankreich und Deutschland bis weit ins 13. Jahrhundert hinein« gewisse Voraussetzungen eines wirksamen Selbstschutzes, so das Recht, Waffen zu tragen, zuerkannt wurden.[21] Zwar heißt das nicht, daß die Juden zu allen Zeiten machtlos waren, aber es bleibt doch richtig, daß sie bei jeder gewaltsamen Auseinandersetzung, ganz gleich welchen Ursprungs, nicht nur bequeme, sondern hilflose Opfer waren; daher war es nur natürlich, daß sie, zumal in den Jahrhunderten völliger Entfremdung, die ihrem Aufstieg zur politischen Gleichberechtigung vorangingen, die immer wieder ausbrechenden Gewalttätigkeiten jeweils als bloße Wiederholungen erlebten. Dazu kam, daß die Juden traditionell Katastrophen als Martyrium auffaßten, was einerseits auf die ersten Jahrhunderte unserer Zeitrechnung zurückgeht, als Juden wie Christen der Macht des römischen Reiches trotzten, andererseits auf die Existenzbedingungen im Mittelalter, als den Juden auch dann, wenn die Gewalttätigkeiten nicht religiös, sondern politisch oder wirtschaftlich begründet waren, immer noch die Alternative offenstand, sich taufen zu lassen und damit den Verfolgungen zu entgehen. Diese beiden Tatsachen also kamen zusammen und erzeugten eine optische Täuschung, der seitdem jüdische wie nichtjüdische Historiker erliegen. Die Geschichtsschreibung »hat sich bis heute mehr mit der Absonderung der Christen von den Juden befaßt als mit dem umgekehrten Prozeß«,[22] und sie hat damit eine Tatsache verwischt, auf die sonst größeres Gewicht gelegt worden wäre, daß nämlich die Absonderung der Juden von der nichtjüdischen Welt, genauer ihrer christlichen Umgebung, für die jüdische Geschichte von größerer Bedeutung war als der umgekehrte Prozeß, was sich einfach schon daraus ergab, daß das Volk, wenn es auch nur als eine identifizierbare Einheit überleben wollte, auf eine solche freiwillige Isolierung angewiesen war und nicht, wie man gewöhnlich annimmt, auf die Feindschaft der Christen und Nichtjuden. Erst im 19. und 20. Jahrhundert, als die Emanzipation vollzogen war und die Assimilation sich ausbreitete, begann der Antisemitismus eine Rolle für die Konservierung des Volkes zu spielen, da erst jetzt die Juden überhaupt den Ehrgeiz entwickelten, zur nichtjüdischen Gesellschaft zugelassen zu werden.

Während antijüdische Ressentiments das ganze 19. Jahrhundert hindurch in den gebildeten Klassen weit verbreitet waren, blieb der Antisemitismus als Ideologie, von vereinzelten Ausnahmen abgesehen, auf verrückte Einzelgänger, und zwar besonders in den extremistischen Randgruppen, beschränkt. Noch die zweifelhaften Erzeugnisse jüdischer Apologetik, die keinen überzeugten, der nicht schon überzeugt war, imponieren als Musterbeispiele von Gelehrsamkeit und Kenntnisreichtum, vergleicht man sie mit dem, was die Judengegner als Geschichtsforschung anzubieten hatten.[23] Als ich nach Kriegsende das Material für das vorliegende Buch zu sichten begann, das ich über zehn Jahre lang aus Dokumenten und manchmal vorzüglichen Monographien ausgezogen hatte, existierte nicht eine einzige Gesamtdarstellung des Themenbereichs, die auch nur den elementarsten Ansprüchen der Geschichtswissenschaft genügt hätte. Und seither hat sich die Lage kaum gebessert. Das ist umso mehr zu bedauern, als in jüngster Zeit das Bedürfnis nach einer unparteiischen, wahrheitsgemäßen Bearbeitung der jüdischen Geschichte dringlicher geworden ist als je zuvor. Die politischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts haben das jüdische Volk ins Sturmzentrum der Ereignisse getrieben; Judenfrage und Antisemitismus, bis dahin, weltpolitisch gesehen, ziemliche Randerscheinungen, wurden plötzlich zum Katalysator in einem Prozeß, der zunächst den Aufstieg der Nazibewegung und die Etablierung der Organisationsstruktur des Dritten Reiches sah, wo jedermann beweisen mußte, daß er kein Jude war, dann einen Weltkrieg von unvergleichlicher Grausamkeit und schließlich im Zentrum der westlichen Kultur das Verbrechen eines Völkermords, der in der Geschichte ohne Beispiel ist. Es war für mich keine Frage, daß man sich hier nicht mit Klagen und Anklagen bescheiden durfte, sondern vor allem begreifen mußte. Dieses Buch stellt den Versuch dar zu verstehen, was auf den ersten und selbst den zweiten Blick nur ungeheuerlich erschien.

Begreifen bedeutet freilich nicht, das Ungeheuerliche zu leugnen, das Beispiellose mit Beispielen zu vergleichen oder Erscheinungen mit Hilfe von Analogien und Verallgemeinerungen zu erklären, die das Erschütternde der Wirklichkeit und das Schockhafte der Erfahrung nicht mehr spüren lassen. Es bedeutet vielmehr, die Last, die uns durch die Ereignisse auferlegt wurde, zu untersuchen und bewußt zu tragen und dabei weder ihre Existenz zu leugnen, noch demütig sich ihrem Gewicht zu beugen, als habe alles, was einmal geschehen ist, nur so und nicht anders geschehen können. Kurz: Begreifen bedeutet, sich aufmerksam und unvoreingenommen der Wirklichkeit, was immer sie ist oder war, zu stellen und entgegenzustellen.

Für ein solches Begreifen ist eine gewisse Kenntnis der Geschichte des europäischen Judentums im 19. Jahrhundert und der sie begleitenden Entwicklung des Antisemitismus unerläßlich, wenn auch natürlich nicht hinreichend. Die folgenden Kapitel behandeln ausschließlich die Elemente in der Geschichte des 19. Jahrhunderts, die wirklich zu den »Ursprüngen totaler Herrschaft« gehören. Das vorliegende Buch ist weder eine umfassende Geschichte des Antisemitismus, noch will es sie sein; eine solche Geschichte steht auch weiterhin aus. Solange freilich diese Lücke nicht geschlossen ist, ist es selbst unter rein wissenschaftlichen Gesichtspunkten gerechtfertigt, die folgenden Kapitel als eine eigenständige Vorarbeit für eine umfassendere Darstellung zu veröffentlichen, auch wenn sie ursprünglich nichts weiter enthalten sollten als ein wesentliches Stück dessen, was man die Vorgeschichte totaler Herrschaft nennen kann. Wenn es im übrigen die Geschichte des Antisemitismus kennzeichnet, daß das Thema nichtjüdischen Spinnern und jüdischen Apologeten überlassen blieb und von Historikern, die auf ihren guten Ruf hielten, sorgsam gemieden wurde, so gilt das mutatis mutandis für fast alle Elemente, die später in dem neuartigen Phänomen totaler Herrschaft zusammenschossen: sie waren in Wissenschaft und Öffentlichkeit so gut wie unbeachtet geblieben, weil sie zu einer Strömung unterhalb der Oberfläche der europäischen Geschichte gehörten, wo sie, dem Licht der Öffentlichkeit und der Aufmerksamkeit der Aufgeklärten entzogen, eine völlig unerwartete Gefährlichkeit entwickeln konnten.

Da diese unterirdischen Strömungen erst zu Tage traten und von der Öffentlichkeit bemerkt wurden, als sich die schließliche Katastrophe bereits zusammenzog, entstand die Neigung, die totale Herrschaft einfach mit ihren Elementen und Ursprüngen in eins zu setzen – als wäre jede Äußerung von Antisemitismus, Rassismus oder Imperialismus gleichbedeutend mit »totaler Herrschaft«. Dieser Trugschluß verstellt ebenso den Zugang zur geschichtlichen Wahrheit, wie er die politische Urteilskraft schwächt. Totalitäre Politik ist keineswegs einfach antisemitisch oder rassistisch oder imperialistisch oder kommunistisch, sie gebraucht und mißbraucht vielmehr ihre eigenen ideologischen und politischen Elemente so lange, bis die reale Tatsachenbasis, aus der die Ideologien anfänglich ihre Stärke und ihren Propagandawert bezogen, – die Realität des Klassenkampfes z. B. oder die Interessengegensätze zwischen den Juden und ihren Nachbarn – so gut wie verschwunden ist. Es wäre sicher ein gefährlicher Irrtum, wollte man die Rolle, die blanker Rassismus im Machtgefüge der amerikanischen Südstaaten spielt und immer gespielt hat, unterschätzen, doch wäre es ein noch gefährlicherer Trugschluß, wollte man rückblickend daraus die Konsequenz ziehen, daß weite Gebiete der USA seit mehr als einem Jahrhundert einem totalitären Regime unterworfen seien. Die antisemitischen Bewegungen des 19. Jahrhunderts hatten nur eine direkte, unmittelbare Folgeerscheinung, und das war nicht der Nazismus, sondern im Gegenteil der Zionismus, der zumindest in seiner westlichen, ideologischen Gestalt eine Art Gegenideologie war, eine »Antwort« auf den Antisemitismus. Das soll im übrigen nicht heißen, daß das jüdische Selbstbewußtsein jemals nichts weiter als ein bloßes Produkt des Antisemitismus gewesen sei; seit dem babylonischen Exil ist das Zentralthema der jüdischen Geschichte immer das Überleben des Volkes in der Zerstreuung gewesen, die Selbstbehauptung gegen den überwältigenden Druck von außen, und schon ein flüchtiger Blick auf die Geschichte sollte genügen, um jenen neuesten Mythos auf diesem Gebiet zu entkräften, einen Mythos, der unter Intellektuellen einigermaßen in Mode kam, seit Sartre den Juden »existentialistisch« als jemanden bestimmte, der von anderen als Jude angesehen und definiert wird.

Was den vortotalitären und den totalitären Antisemitismus sowohl trennt als auch verbindet, illustriert wohl am besten die lächerliche Geschichte der »Protokolle der Weisen von Zion«. Daß die Nazis diese Fälschung als Lehrbuch für die Welteroberung benutzten, gehört gewiß nicht mehr zur Geschichte des Antisemitismus, aber nur diese Geschichte kann erklären, warum das unwahrscheinliche Machwerk Überzeugungskraft genug besaß, um zunächst einmal der antijüdischen Propaganda zu dienen. Nicht erklären kann sie dagegen, warum der totalitäre Anspruch auf Weltherrschaft und ihre Ausübung durch die Mitglieder und mit den Mitteln einer Geheimgesellschaft überhaupt je ein erstrebenswertes politisches Ziel werden konnte. Diese letztere Funktion der »Protokolle«, die zwar nicht propagandistisch, aber doch politisch viel wichtiger war, hat ihren Ursprung im Imperialismus, und speziell in seiner hochexplosiven Kontinentalversion, den sogenannten Panbewegungen.

Das vorliegende Buch ist also zeitlich und räumlich ebenso eingegrenzt wie thematisch. Es analysiert die jüdische Geschichte in Mittel- und Westeuropa von der Zeit der Hofjuden bis zur Dreyfus-Affäre, soweit sie die Geburt des Antisemitismus beeinflußte oder von ihr beeinflußt wurde. Es behandelt antisemitische Bewegungen, die noch eine ziemlich solide Basis in der Realität besaßen: in den faktischen Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden, d. h. in der Rolle, die Juden in der Entwicklung des Nationalstaats einerseits und in der nichtjüdischen Gesellschaft andererseits spielten. Das Aufkommen der ersten antisemitischen Parteien in den siebziger und achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts bezeichnet den Punkt, an dem die beschränkte Realbasis des Interessengegensatzes und der nachvollziehbaren Erfahrung verlassen und der Weg beschritten wurde, der schließlich zur »Endlösung« führte. Von nun an, d. h. im Zeitalter des Imperialismus und in der darauf folgenden Epoche totalitärer Bewegungen und Staaten, sind die Judenfrage oder die antisemitische Ideologie unlöslich verquickt mit Problemen, die so gut wie keinen Bezug mehr zu den Realitäten der modernen jüdischen Geschichte haben. Und das nicht allein und nicht in erster Linie, weil diese Fragen weltpolitisch eine so überragende Rolle spielten, sondern weil der Antisemitismus selbst von nun an im Dienst anderweitiger Zwecke stand, deren Durchsetzung zwar am Ende hauptsächlich Juden das Leben kostete, die aber alle Spezialprobleme jüdischen oder antijüdischen Interesses weit hinter sich ließen.

Die imperialistische und die totalitäre Spielart des Antisemitismus im 20. Jahrhundert findet der Leser im zweiten bzw. dritten Band dieser Arbeit.

 

Juli 1967

Hannah Arendt

1 Antisemitismus und der gesunde Menschenverstand

Immer noch meint man vielfach, es sei ein Zufall gewesen, daß gerade der Antisemitismus den Kern und Kristallisationspunkt der nationalsozialistischen Ideologie bildete. Die unbeirrbare Konsequenz der Politik des Dritten Reiches, die in dieser Frage nie einen Kompromiß gekannt hat und schließlich mit der Ausrottung aller Juden endete, die in der Machtsphäre Hitlers aufgefunden werden konnten, glaubt man mit psychologischen Erklärungen eines halb geistesgestörten Fanatismus erklären zu können. Nur das Grauen, das die schließliche Katastrophe auslöste, und die unmittelbaren Probleme, die sich aus der Heimat- und Staatenlosigkeit der Überlebenden ergaben, haben in der Nachkriegszeit dazu geführt, die jüdische Frage als eine politische zu stellen und ernst zu nehmen. Aber dies hat nicht gehindert, in der Beurteilung des Nationalsozialismus nach wie vor das, was die Nazis selbst als ihre Hauptentdeckung in Anspruch nahmen: die Rolle des jüdischen Volkes in der internationalen Politik, und was sie als ihr Hauptziel proklamierten: Verfolgung und schließlich Ausrottung der Juden in der ganzen Welt, lediglich für einen Vorwand und einen billigen Propagandatrick zu halten.

Dies Widerstreben, den Quellen zu glauben und die Nazis in ihren ideologischen Proklamationen ernst zu nehmen, ist begreiflich genug. Es gibt kaum einen Ausschnitt der gegenwärtigen Geschichte, der für den gesunden Menschenverstand so aufreizend ist wie die Tatsache, daß von all den großen ungelösten politischen Problemen unseres Jahrhunderts gerade die Judenfrage die zweifelhafte Ehre gehabt haben soll, die ganze teuflische Maschinerie eines totalitären Herrschaftsapparates in Gang zu setzen. Die hier so offenkundige Diskrepanz zwischen Ursache und Wirkung beleidigt nicht nur den gesunden Menschenverstand, sie irritiert auch den Historiker, der sich in einer solchermaßen aus den Fugen geratenen Welt nicht mehr auskennt. Alle Versuche, den Antisemitismus zu »erklären«, erscheinen an den Ereignissen selbst gemessen wie unzulängliche, überstürzt hingeworfene Arbeitshypothesen, die uns eher dazu verhelfen könnten, die ganze Sache wieder zu vergessen und mit ihr die Tatsache, daß unser gesunder Menschenverstand sich hier nicht ausgekannt hat, als das vorliegende Phänomen zu verstehen.

Zu diesen Arbeitshypothesen gehört die Identifizierung des Antisemitismus mit Chauvinismus und Xenophobie, die von der Tatsache widerlegt wird, daß der Antisemitismus in genau dem Maße zunahm, in dem das traditionelle Nationalgefühl und das rein nationalistische Denken an Intensität abnahmen, um seinen Höhepunkt in dem Augenblick zu erreichen, als das europäische Nationalstaatensystem zusammenbrach. Der Nationalsozialismus der Nazis wird gewöhnlich selbst von denen überschätzt, die begriffen haben, daß die Nationalsozialisten niemals einfach Nationalisten waren und sich nationalistischer Schlagworte nur bedienten, um für eine Übergangszeit auch aus den traditionell gebundenen Kreisen der Bevölkerung Mitläufer zu gewinnen; den eigentlichen Parteimitgliedern wurde nie gestattet, die supranationalen Ziele der Partei aus den Augen zu verlieren. Diese Propaganda hat die Nazis genauso wenig »nationaler« gemacht, wie die während des Krieges entfesselte nationalistische Propaganda in der Sowjetunion die Führer der bolschewistischen Parteien von ihren internationalen Zielen und Überzeugungen abgebracht hat. Die Nazis haben ihre ursprüngliche Verachtung des Nationalismus, ihre Geringschätzung des Nationalstaates, der ihnen eng und provinziell erschien, niemals widerrufen; dafür sind sie nicht müde geworden, zu betonen, daß ihre »Bewegung«, gleich der kommunistischen, internationale Ausmaße und Bedeutung habe und als solche wichtiger sei als jeder, auch der eigene, Staat, der seinem Wesen nach an ein bestimmtes begrenztes Territorium gebunden ist. Aber nicht nur die Politik der Nazis, die Geschichte einer mindestens 75 Jahre alten antisemitischen Bewegung spricht deutlich gegen jede Identifizierung von Nationalismus und Antisemitismus. Wir kennen antisemitische Parteien seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts, und wir wissen, daß sie die ersten Parteien sind, die sich auf eine Weltanschauung berufen (die frühen sozialistischen Parteien blieben immer an die Interessen der Arbeiterklasse gebunden), intereuropäische Kongresse einberufen und versuchen, sich international zu organisieren und Politik im internationalen Maßstab zu machen.

Die Tatsache, daß der Niedergang des Nationalstaats und das Anwachsen der antisemitischen Bewegung zeitlich zusammenfallen, kann schwerlich auf eine Ursache allein zurückgeführt werden. Solche Phänomene der Koinzidenz sind immer komplex, und der Historiker befindet sich ihnen gegenüber stets in einer Situation, die es ihm freizustellen scheint, welches Element er als »Ursache« zu isolieren und in welchem Zuge der Zeit er den »Zeitgeist« zu erblicken wünscht. Die historische Urteilskraft kann sich nicht an Regeln halten, aber sie darf sich Erfahrungen zunutze machen. Eine solche Erfahrung, die uns hier behilflich sein kann, ist die große Entdeckung, welche Tocqueville machte, als er nach den Gründen und Motiven des plötzlich ausbrechenden allgemeinen Hasses auf den Adel zu Beginn der Französischen Revolution forschte (L’Ancien Régime et la Révolution, 2. Buch, 1. Kapitel). Die Sache war fragwürdig, weil der französische Adel zu dieser Zeit keineswegs auf dem Höhepunkt seiner Macht stand und direkte Ursachen wie Unterdrückung und Ausbeutung gar nicht mehr vorhanden waren. Augenscheinlich hatte gerade der offenkundige Machtverlust den Haß des Volkes provoziert. Tocquevilles Erklärung ist, daß der Machtverlust des französischen Adels nicht von einer Verringerung der Vermögen begleitet war, so daß das Volk sich plötzlich einem außerordentlichen Reichtum ohne Macht und einer entscheidenden gesellschaftlichen Distinktion ohne Herrschaftsfunktionen gegenübersah. Was die Volkswut erregte, war ein Überfluß, der im wahrsten Sinne des Wortes überflüssig war. Überflüssig aber kann Macht nie sein, da sie strenggenommen sich nie im Besitz einer Person befindet, sondern so, wie es sich auf andere Menschen bezieht, auch nur zwischen Menschen existiert. Reichtum ist wirklich nur eine Angelegenheit von einzelnen, auch wenn eine ganze Klasse reich ist; Macht ist stets gemeinschaftsbildend, auch wenn sie verderblich ist. Noch in der Unterdrückung empfinden die Beherrschten, daß Macht eine Funktion in der Gemeinschaft hat. So kam es, daß die Aristokratie, solange sie die Macht der Rechtsprechung innehatte, auch dann geduldet und sogar geachtet wurde, wenn sie willkürlich handelte und ihre Macht mißbrauchte. Erst als der Adel seine Privilegien unter der absoluten Monarchie verlor und mit ihnen auch das Privileg, auszubeuten und zu unterdrücken, wurde er vom Volk als parasitär empfunden. Er war zu nichts mehr gut, nicht einmal zur Herrschaft. Mit anderen Worten, was als unerträglich empfunden wird, sind selten Unterdrückung und Ausbeutung als solche; viel aufreizender ist Reichtum ohne jegliche sichtbare Funktion, weil niemand verstehen kann, warum er eigentlich geduldet werden soll.

Für diese Regel gibt es kaum ein besseres Beispiel als die Geschichte des Antisemitismus, der seinen Höhepunkt erreichte, als die Juden ihre Funktion im öffentlichen Leben und ihren Einfluß eingebüßt hatten und nichts mehr besaßen als ihren Reichtum. Als Hitler zur Macht kam, waren die deutschen Banken, in denen die Juden seit mehr als hundert Jahren eine Schlüsselstellung innegehabt hatten, bereits nahezu »judenrein«, und das deutsche Judentum nahm mit einer solchen Rapidität an Zahl und Einfluß ab, daß Statistiker sein Verschwinden in wenigen Jahrzehnten voraussagten. Zwar soll man sich hüten, statistisch erfaßte Vorgänge mit echten historischen Entwicklungen zu verwechseln und statistischen Voraussagen allzuviel Glauben zu schenken; aber es ist doch der Mühe wert, sich einmal vor Augen zu halten, daß von einem statistischen Standpunkt aus die Verfolgung und Ausrottung der deutschen Juden wie die sinnlose Beschleunigung eines Prozesses aussieht, der ohnehin unvermeidlich war.

Ähnliches gilt für nahezu alle westeuropäischen Länder. Die Dreyfus-Affäre ereignete sich nicht unter dem zweiten Kaiserreich, als das französische Judentum auf der Höhe seines Einflusses und seiner Macht stand, sondern in der Dritten Republik, als Juden, wiewohl sie noch auf der politischen Bühne sichtbar waren, aus allen entscheidenden Posten bereits ausgeschieden waren. Nicht in der Ära Metternichs oder unter Franz Joseph, als Juden eine wirkliche Rolle in Österreich spielten, sondern in der Nachkriegsrepublik hat sich der österreichische Antisemitismus voll entfaltet, und dies, wiewohl sicher kaum eine Gruppe in jeder Hinsicht so geschädigt war durch das Verschwinden der Habsburger Monarchie wie die Juden.

Die Verfolgung von machtlosen Gruppen oder von solchen, die offenbar ihre Macht ohnehin einbüßen, mag kein sehr erfreuliches Schauspiel darbieten, aber es ist auch nicht nur ein Zeichen menschlicher Niedertracht. Was Menschen dazu bringt, wirklicher Macht zu gehorchen oder sie zu ertragen, aber machtlosen Reichtum zu hassen, ist der politische Instinkt, der ihnen sagt, daß Macht, da sie eine Funktion hat, auch niemals ganz ohne Nutzen ist. Selbst Ausbeutung und Unterdrückung bringen die Gesellschaft noch dazu, zu funktionieren, und stellen eine Art Ordnung her. Nur Reichtum ohne Macht und Hochmut ohne politischen Willen werden als parasitär, überflüssig und herausfordernd empfunden; sie fordern das Ressentiment heraus, weil sie Bedingungen herstellen, unter welchen es eigentlich Beziehungen zwischen Menschen nicht mehr geben kann. Reichtum, der nicht ausbeutet, kennt noch nicht einmal die Verbundenheit von Mensch zu Mensch, die den Ausbeuter mit dem Ausgebeuteten verbindet, und Hochmut ohne Machtwillen zeigt deutlichst, daß man für den anderen noch nicht einmal das Interesse hat, das der Unterdrücker dem Unterdrückten notwendigerweise bezeugen muß.

Der allgemeine Niedergang des west- und zentraleuropäischen Judentums ist jedoch nur die Atmosphäre, in welcher sich die Ereignisse der letzten Jahrzehnte abgespielt haben. Der bloße Niedergang erklärt an sich so wenig, was nun wirklich passierte, wie der Machtverlust der Aristokratie unter der absoluten Monarchie den Ausbruch der Französischen Revolution zu erklären vermag. Dennoch tut man gut daran, sich solch allgemeine Erfahrungen der Geschichte, von denen es gar nicht so sehr viele gibt, gelegentlich ins Gedächtnis zu rufen, um den Versuchungen des gesunden Menschenverstandes zu widerstehen, der uns einreden möchte, daß Ausbrüche des Volkshasses oder plötzliche Rebellionen notwendigerweise von übergroßer Macht und offenbaren Mißbräuchen verursacht werden und daß daher dem großen Haß auf die Juden unbedingt eine außerordentliche jüdische Machtposition entsprechen müsse.