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Ein falscher König im Urwald und eine Freundschaft für immer
Das unvergleichliche Abenteurertrio Kate Cold, ihr Enkel Alex und die junge Brasilianerin Nadia sind zurück! Was als Reportagereise und fröhliche Safari durch Zentralafrika beginnt, führt die drei mitten in die afrikanischen Urwälder, wo die Menschen unter der Herrschaft eines grausamen Königs, eines skrupellosen Militärs und eines teuflischen Zauberers stehen. Sie schmuggeln Elfenbein, verkaufen Kinder an Schmugglerbanden und haben die rechtmäßige Herrscherin Nana-Asante ins Exil vertrieben. Alex und Nadia zögern keine Sekunde, sie müssen den Unterdrückten helfen, aber diesmal scheint es, als hätten sich die beiden zu viel vorgenommen …
Anknüpfend an ihre Erfolgsromane Die Stadt der wilden Götter und Im Reich des Goldenen Drachen gibt Isabel Allende im letzten Band der Abenteuertrilogie um Aguila und Jaguar gibt ihren Leser:innen eine Weisheit mit: Das Herz der Menschen ist groß genug, um die unterschiedlichen Götter und Geister darin zu beherbergen.
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Seitenzahl: 322
Isabel Allende, 1942 geboren, hat ab ihrem achtzehnten Lebensjahr als Journalistin in Chile gearbeitet. Nach Pinochets Militärputsch am 11. September 1973 ging sie ins Exil, wo sie ihren Weltbestseller Das Geisterhaus schrieb. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Kalifornien. Ihr Werk erscheint auf deutsch im Suhrkamp Verlag.
Isabel Allende
Im Bann der Masken
Aus dem Spanischen vonSvenja Becker
Suhrkamp
Die Originalausgabe erschien 2004 unter dem Titel El Bosque de los Pigmeos bei Plaza & Janés, Barcelona. © Isabel Allende, 2004.
Umschlagfoto: mauritius-images
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2014
Der vorliegende Text folgt der 3. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 4082.
© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2004
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
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Umschlaggestaltung: Göllner, Michels, Zegarzewski
eISBN 978-3-518-73784-2
www.suhrkamp.de
ERSTES KAPITEL Die Seherin
ZWEITES KAPITEL Besuche von Tieren und Menschen
DRITTES KAPITEL Der Missionar
VIERTES KAPITEL Eine Begegnung
FÜNFTES KAPITEL Der verwunschene Wald
SECHSTES KAPITEL Die Pygmäen
SIEBTES KAPITEL In der Gewalt Kosongos
ACHTES KAPITEL Das heilige Amulett
NEUNTES KAPITEL Die Jäger
ZEHNTES KAPITEL Das Dorf der Ahnen
ELFTES KAPITEL Begegnung mit den Geistern
ZWÖLFTES KAPITEL Herrschaft des Schreckens
DREIZEHNTES KAPITEL David und Goliath
VIERZEHNTES KAPITEL Die letzte Nacht
FÜNFZEHNTES KAPITEL Das Monstrum mit den drei Köpfen
EPILOG Zwei Jahre später
Für Bruder Fernando de la Fuente, Missionar in Afrika, dessen Geist diese Geschichte bewegt.
Auf einen Befehl von Michael Mushaha hielt der Tross Elefanten an. Es war Mittag, die Sonne brannte, und die Wildtiere im weitläufigen Nationalpark suchten sich einen Platz zum Dösen. Für ein paar Stunden hielt das Leben inne, die afrikanische Savanne glich einem Höllenkessel voll glühender Lava, und selbst die Hyänen und Geier flüchteten in den Schatten. Alexander Cold und Nadia Santos ritten auf einem eigensinnigen Elefantenbullen namens Kobi. Er hatte Nadia ins Herz geschlossen, denn sie hatte in den vergangenen Tagen eifrig die Grundlagen der Elefantensprache gelernt und konnte sich mit ihm verständigen. Während ihrer langen Streifzüge erzählte sie ihm von Südamerika, von ihrem Zuhause am anderen Ende der Welt, wo es außer einigen geheimnisvollen Urzeitwesen, die verborgen in einem unzugänglichen Berg im Regenwald lebten, keine Geschöpfe von seiner Größe gab. Kobi schätzte Nadia sehr, und im gleichen Maße verabscheute er Alex, wobei er jede Gelegenheit nutzte, seine Gefühle zu zeigen.
Unter staubigen Bäumen am Rand eines Wasserlochs, dessen Farbe an Tee mit Milch erinnerte, kam Kobis Fünftonnengewicht zum Stehen. Alexander hatte eine eigene Technik entwickelt, um bei seinem Sprung aus drei Metern Höhe einigermaßen heil zu bleiben, denn auch nach fünf Tagen Safari ließ sich der Elefant nicht zur Mitarbeit bewegen. Wie Alex zu spät merkte, hatte Kobi sich diesmal so hingestellt, dass er beim Springen unweigerlich ins Wasserloch platschte, wo er bis zu den Knien einsank. Borobá, Nadias kleines schwarzes Äffchen, landete auf seinem Kopf. Alex wollte ihn herunterklauben, strauchelte und fiel auf den Hintern. Genervt schnaubte er, schüttelte Borobá ab und hatte Mühe, auf die Füße zu kommen, weil er durch seine schlammverspritzte Brille nichts sah. Er suchte nach einem sauberen Zipfel seines T-Shirts und wollte die Gläser abwischen, als Kobis Rüssel ihn im Rücken traf. Er kippte vornüber. Bis Alex wieder stand, hatte Kobi sich umgedreht, hatte sein massiges Hinterteil in Position gebracht und blies ihm einen volltönenden Darmwind ins Gesicht. Die übrigen Expeditionsteilnehmer prusteten vor Lachen.
Nadia hatte es mit dem Absteigen nicht eilig und wartete lieber, bis Kobi ihr behilflich war, mit Würde auf die Erde zu kommen. Sie setzte einen Fuß auf das Knie, das er ihr anbot, umschlang mit einem Arm seinen Rüssel und schwebte wie eine Balletttänzerin zu Boden. So zuvorkommend war Kobi zu niemandem sonst, selbst zu Michael Mushaha nicht, für den er Respekt, aber keine Zuneigung empfand. Er war ein Tier mit festen Grundsätzen. Es war eine Sache, Touristen auf seinem Rücken reiten zu lassen, eine Arbeit wie jede andere auch, für die er mit vorzüglichem Essen und Schlammbädern entschädigt wurde, und etwas ganz anderes, für eine Handvoll Erdnüsse Zirkuskunststücke aufzuführen. Er mochte Erdnüsse, keine Frage, aber noch lieber machte er Leuten wie Alex das Leben schwer. Warum er ihn nicht leiden konnte? Er wußte es nicht genau, der Kerl war ihm einfach ein Dorn im Auge. Ständig war er mit Nadia zusammen. Die Herde bestand aus dreizehn Tieren, aber er musste partout mit dem Mädchen reiten. Es zeugte nicht eben von Fingerspitzengefühl, dass er sich derart zwischen ihn und Nadia stellte. Merkte er denn nicht, dass sie sich in Ruhe unterhalten wollten? Ein deftiger Stoß mit dem Rüssel und eine verpestete Brise dann und wann waren das Mindeste, was der Kerl verdiente. Als Nadia festen Boden unter den Füßen hatte, trompetete Kobi gedehnt, und sie drückte ihm als Dankeschön einen Kuss auf den Rüssel. Dieses Mädchen wusste, was sich gehörte, sie würde ihn nie lächerlich machen, indem sie ihm Erdnüsse unter die Nase hielt.
»Dieser Elefant ist in Nadia verknallt«, witzelte Kate Cold.
Was sich da zwischen Nadia und Kobi anbahnte, gefiel Borobá ganz und gar nicht. Er beäugte es argwöhnisch. Nadias Interesse an der Sprache der Dickhäuter konnte gefährliche Folgen für ihn haben. Sie würde doch nicht etwa ihr Haustier wechseln wollen? Vielleicht war es an der Zeit, sich krank zu stellen, um ihre ungeteilte Aufmerksamkeit zurückzugewinnen, aber womöglich ließ sie ihn dann im Camp, und damit würde er die wunderbaren Ausflüge in den Nationalpark verpassen. Dann würde er sich die wilden Tiere nicht ansehen können, und außerdem durfte er seinen Rivalen nicht aus den Augen lassen. Er sprang auf Nadias Schulter – das war sein Platz, ganz allein seiner – und drohte dem Elefanten mit der Faust.
»Und der Affe ist eifersüchtig«, ergänzte Kate.
Mit ihren siebenundsechzig Jahren ließ Kate sich kaum mehr etwas vormachen, und Borobás wechselnde Launen kannte sie nur zu gut, denn sie lebte seit fast zwei Jahren mit ihm unter einem Dach. Von Anfang an war es gewesen, als hätte sie einen kleinen pelzigen Mann in ihrer Wohnung. Nadia hatte darauf bestanden, Borobá mitzubringen, sonst wäre sie nicht zu ihr nach New York gezogen, um dort die Schule zu besuchen. Die beiden waren unzertrennlich. Nadia hatte sogar eine Ausnahmegenehmigung bekommen, damit sie ihn mit in die Schule nehmen konnte. Borobá war der erste Affe in der Geschichte der städtischen Bildungsanstalten, der regelmäßig am Unterricht teilnahm. Kate wäre nicht überrascht gewesen, hätte sie erfahren, dass er lesen konnte. Zuweilen hatte sie Albträume, in denen der Affe mit einer Brille auf der Nase und einem Glas Brandy in der Hand auf ihrem Sofa saß und den Wirtschaftsteil der Zeitung studierte.
Kate betrachtete sich das sonderbare Trio aus Alexander, Nadia und Borobá. Der Affe, der auf jedes Geschöpf eifersüchtig war, das in Nadias Nähe kam, hatte in Alexander zu Anfang nur ein unvermeidliches Übel gesehen, ihn mit der Zeit jedoch ins Herz geschlossen. Vielleicht hatte er gespürt, dass er Nadia in diesem Fall besser nicht wie sonst vor die Alternative »er oder ich« stellen sollte. Wer weiß, für wen der beiden sie sich entschieden hätte. Kate dachte bei sich, wie sehr Alexander und Nadia sich im letzten Jahr doch verändert hatten. Nadia würde bald fünfzehn werden und ihr Enkel achtzehn, er sah schon nicht mehr wie ein Grünschnabel aus und benahm sich auch nicht mehr so.
Auch Nadia und Alex war die Veränderung nicht entgangen. Während der langen Phasen, in denen sie sich nicht sehen konnten, hatten sie sich mit ihren E-Mails die Finger wund geschrieben. Sie hatten ihre Tage vor dem Bildschirm verbracht, ein endloses Gespräch in die Tasten gehackt und sich über die ödesten Belanglosigkeiten ihres Alltags und die tiefschürfenden Fragen der Menschheit ausgetauscht. Zwar hatten sie sich öfter auch Fotos geschickt, dennoch waren sie aus allen Wolken gefallen, als sie sich wiedersahen. Alexander hatte in der Zwischenzeit einen kräftigen Schuss gemacht und war jetzt so groß wie sein Vater. Seine Gesichtszüge waren markanter geworden, und in den letzten Monaten hatte er sich täglich rasieren müssen. Nadia war nicht mehr das hagere kleine Mädchen mit Papageienfedern im Haar, das er vor einigen Jahren am Amazonas kennen gelernt hatte. Mittlerweile konnte man ahnen, wie sie bald als erwachsene Frau aussehen würde.
Kate war mit den beiden in Afrika auf der ersten Safari mit Elefanten, die es für Touristen gab. Die Idee, sich auf diese Weise den Wildtieren zu nähern, stammte von Michael Mushaha, einem afrikanischen Naturforscher, der in London studiert hatte. Zwar waren afrikanische Elefanten nicht so leicht zu zähmen wie die indischen, die man in vielen Ländern Asiens als Arbeitstiere einsetzt, aber mit Geduld und Geschick war es ihm gelungen. Der Werbeprospekt für die Safari erklärte kurz, worum es bei der Idee ging: »Die Elefanten bewegen sich in ihrem natürlichen Lebensraum und scheuchen die anderen Tiere nicht auf. Sie brauchen kein Benzin und keine Wege, verschmutzen die Umwelt nicht und erregen kein Misstrauen.«
Als Kate angetragen wurde, einen Artikel darüber zu schreiben, war sie gerade mit Alexander und Nadia zu Besuch im Reich des Goldenen Drachen. König Dil Bahadur und seine Frau Pema hatten die drei in die Hauptstadt Tunkhala eingeladen, damit sie ihren ersten Sohn kennen lernten und an den Willkommensfeierlichkeiten für die neue Drachenstatue teilnahmen. Ein mit Kate befreundeter Juwelier hatte für die ursprüngliche Statue, die durch eine Explosion zerstört worden war, einen originalgetreuen Ersatz gefertigt.
Zum ersten Mal in der Geschichte des Himalaja-Königreichs bot sich den Bewohnern die Gelegenheit, die geheimnisvolle Statue, zu der früher nur die gekrönten Häupter Zugang gehabt hatten, mit eigenen Augen zu sehen. Dil Bahadur hatte den mit Edelsteinen besetzten goldenen Drachen in einem der Säle des Königspalastes ausstellen lassen, und die Menschen strömten herbei, um ihn zu bestaunen, und brachten ihm Blumen und Weihrauch dar. Es war wunderschön anzusehen. Beschienen von hundert kleinen Öllampen, stand die Statue auf einem einfarbigen Holzsockel. Vier Soldaten in traditioneller Galauniform, mit Pelzkappen und Federbusch und schmucken Lanzen hielten Wache. Dil Bahadur hatte sich aufwändigere Sicherheitsmaßnahmen verbeten, denn er wollte sein Volk nicht beleidigen.
Die offizielle Zeremonie zur Begrüßung der Statue war eben beendet, als man Kate mitteilte, sie habe einen Anruf aus den Vereinigten Staaten. Das Telefonnetz des Landes war veraltet, und für Auslandsgespräche brauchte man gute Nerven, aber nach vielem Gebrülle und etlichen Wiederholungen hatte der Herausgeber der Zeitschrift International Geographic der Reporterin begreiflich gemacht, worum es bei ihrem nächsten Auftrag gehen sollte. Er bat sie, unverzüglich nach Kenia aufzubrechen.
»Dann müssen mein Enkel und seine Freundin Nadia mitfahren, die sind mit mir hier«, erklärte Kate.
»Die Zeitschrift kommt nicht für die Kosten auf, Kate!«, antwortete der Herausgeber wie vom anderen Ende des Universums.
»Dann fahre ich nicht!«, brüllte Kate zurück.
Er hatte nachgegeben, und so war sie einige Tage später mit Alexander und Nadia in Nairobi gelandet, wo sich ihnen die beiden Fotografen anschlossen, die immer mit ihr arbeiteten, der Engländer Timothy Bruce und der Mexikaner Joel González. Kate hatte sich zwar geschworen, ihren Enkel und Nadia nie wieder auf eine ihrer Reisen mitzunehmen, weil sie die letzten beiden Male für mehr Wirbel gesorgt hatten, als ihr lieb gewesen war, aber dies hier war ja ein touristisches Vergnügen und vollkommen harmlos.
~
Einer von Michael Mushahas Angestellten erwartete die Reisenden am Flughafen. Er begrüßte sie und brachte sie ins Hotel, damit sie sich erst einmal ausschliefen, denn der Flug war mörderisch gewesen: Sie hatten dreimal umsteigen müssen, bis sie die vielen tausend Meilen über drei Kontinente hinter sich gebracht hatten. Am nächsten Morgen standen sie zeitig auf, denn sie wollten etwas von der Stadt sehen, ein Museum und den Markt besuchen, ehe sie am nächsten Tag in einem Sportflugzeug zum Safari-Camp aufbrachen.
Der Markt lag in einem belebten Viertel zwischen üppigen tropischen Bäumen. In den ungeteerten Straßen drängten sich Menschen und Fahrzeuge: Mofas mit drei oder vier Leuten darauf, klapprige Autobusse, Handkarren. Alles, was die Erde, das Meer oder der menschliche Erfindungsreichtum hergaben, wurde hier feilgeboten, ob Hörner von Nashörnern, Goldfische aus dem Nil oder geschmuggelte Waffen. Kate, Nadia, Alex, Joel und Timothy verabredeten sich für eine Stunde später an einer bestimmten Straßenecke und trennten sich dann. In dem Gedränge und dem Wirrwarr schmaler Gassen konnte man sich kaum zurechtfinden, und zur vereinbarten Zeit wieder am Treffpunkt zu sein war leichter gesagt als getan. Alexander fürchtete, dass er Nadia in der Menge verlieren würde oder sie jemand über den Haufen fuhr, deshalb nahm er ihre Hand, und gemeinsam bahnten sie sich einen Weg durch das Gewühl.
Eine bunte Mischung von Menschen aus den verschiedenen afrikanischen Kulturen gab es hier zu bestaunen: Wüstennomaden und schlanke Reiter auf prächtig geschmückten Pferden, Muslime mit kunstfertig geschlungenen Turbanen und halb verschleierten Gesichtern, Frauen mit glühenden Augen und blauen Tätowierungen auf Stirn und Wangen, nackte Hirten, die sich mit rotem Lehm und weißer Kreide bemalt hatten. Unzählige barfüßige Kinder und Meuten von Hunden rannten herum. Am meisten waren Nadia und Alex von den Frauen beeindruckt: Die einen hatten sich knallbunte gestärkte Tücher auf den Kopf getürmt, die von weitem aussahen wie Segel, andere hatten sich die Haare abrasiert, und ihre Hälse verschwanden vom Kinn bis zu den Schultern unter Ketten aus Glasperlen; manche waren in meterlange Bahnen farbenprächtiger Stoffe gehüllt, andere fast nackt. Die Luft hallte wider von Gesprächen in den unterschiedlichsten Sprachen, von Musik und Gelächter, von Gehupe und von den Schreien der Tiere, die hier an Ort und Stelle geschlachtet wurden. Von den Tischen der Schlachter troff ihr Blut und versickerte im staubigen Boden, während schwarze Geier in geringer Höhe darüber glitten und darauf lauerten, etwas von den Eingeweiden zu ergattern.
Alex und Nadia wanderten mit großen Augen durch dieses kunterbunte Spektakel, feilschten hier um den Preis für ein Armband aus Glasperlen, kosteten dort ein Stück Maiskuchen oder knipsten ein Foto mit der Pocketkamera, die sie in letzter Minute auf dem Flughafen erstanden hatten. An einer Ecke liefen sie fast in einen Vogel Strauß hinein, der mit den Füßen an einen Pflock gebunden war und auf sein letztes Stündlein wartete. Das Tier, das viel größer, kräftiger und wilder war, als sie sich hätten träumen lassen, äugte mit grenzenloser Verachtung auf sie herab, krümmte dann plötzlich ohne Vorwarnung den langen Hals und schnellte mit dem Schnabel auf Borobá zu, der auf Alexanders Kopf hockte und sich an dessen Ohren festhielt. Der Affe konnte dem mörderischen Hieb eben noch ausweichen und kreischte wie am Spieß. Der Strauß schlug mit seinen kurzen Flügeln und stürzte vor, soweit der Strick um seine Beine es zuließ. Joel González, der gerade zufällig vorbeikam, schaffte es eben, Alexanders und Borobás entsetzte Mienen mit der Kamera festzuhalten, während Nadia den dreisten Angreifer mit rudernden Armen zurückscheuchte.
»Ein eins a Schuss für den Titel!«, verkündete Joel freudestrahlend.
~
Um sich vor dem hochnäsigen Strauß in Sicherheit zu bringen, überquerten Nadia und Alex eine Kreuzung und fanden sich jäh in dem Teil des Marktes wieder, der den Zauberern und Hexen vorbehalten war. Unter Sonnensegeln, die über vier Eckstangen gespannt waren, saßen Anhänger weißer und schwarzer Magie, Seher, Fetischanbeter, Heiler, Giftmischer, Teufelsaustreiber und Voodoo-Priester und warteten auf Kundschaft. Sie gehörten vielen verschiedenen Volksgruppen an und boten alle erdenklichen kultischen Gegenstände und Handlungen feil. Noch immer Hand in Hand schlenderten Nadia und Alex an den Ständen vorbei, besahen sich Gefäße mit Alkohol, in denen kleine Tiere eingelegt waren, getrocknete Echsen, Amulette gegen den bösen Blick oder gegen Liebeskummer, Heilkräuter, Tinkturen und Salben gegen alle erdenklichen Krankheiten des Körpers und der Seele, Pülverchen für Träume, für das Vergessen, für die Wiederauferstehung, lebende Opfertiere, Halsketten zur Abwehr von Neid und Habgier, Tinte aus Blut, mit der man an die Toten schreiben konnte, und einen unermesslichen Vorrat weiterer phantastischer Dinge gegen die Angst vor dem Leben.
Nadia hatte Voodoo-Zeremonien in Brasilien gesehen und war ungefähr darüber im Bild, was die einzelnen Symbole bedeuteten, aber Alex gingen in diesem Teil des Marktes vor Staunen die Augen über. Vor einem Stand, der ganz anders aussah als die anderen, blieben sie stehen. Von einem spitzen Strohdach hingen bodenlange Plastikvorhänge herab. Alex beugte sich vor, um zu sehen, was sich dahinter verbarg, da packten ihn zwei kräftige Hände am T-Shirt und zogen ihn hinein.
Unter dem Dach saß eine riesige Frau auf der Erde. Sie sah aus wie ein Fleischberg mit türkisfarbenem Gipfel, einem Tuch, das sie sich um den Kopf geschlungen hatte. Sie war in leuchtend gelbe und blaue Stoffe gehüllt, und ihre Brust bedeckten Ketten aus vielfarbigen Glasperlen. Auf dem Boden lag eine Decke mit Mustern in Schwarz und Weiß, zu beiden Seiten der Frau standen kleine Holzfiguren von Göttern oder Dämonen, einige davon nass glänzend vom frischen Blut geopferter Tiere, andere gespickt mit Nägeln, und davor sah man Schalen mit Früchten, Getreide, Blumen und Geld. Die Frau rauchte eine dicke Zigarre aus schwarzen Blättern, deren Qualm Nadia und Alex Tränen in die Augen trieb. Alex wollte sich dem Griff der Frau entwinden, aber sie ließ nicht locker, starrte ihn mit ihren hervortretenden Augen an und stieß plötzlich ein tiefes Brüllen aus. Alex fuhr zusammen: Es war die Stimme seines Totemtiers, er hatte sie schon manchmal in Trance gehört und selbst schon ausgestoßen, wenn er die Gestalt der Raubkatze annahm.
»Der schwarze Jaguar!« Auch Nadia hatte das Brüllen wiedererkannt.
Die Frau drückte Alex vor sich auf den Boden, zog einen speckigen Lederbeutel aus ihrem Ausschnitt und leerte seinen Inhalt auf die gemusterte Decke. Es waren weiße Muscheln, wie poliert vom vielen Gebrauch. Sie murmelte etwas Unverständliches, die Zigarre zwischen den Zähnen.
»Anglais, English?«, sagte Alex.
»Du kommst aus einem anderen Teil der Welt, weit weg«, sagte die Frau in einem sonderbar singenden Englisch. »Was willst du von Má Bangesé?«
Alexander zuckte die Achseln, lächelte unsicher und schielte zu Nadia hinüber in der Hoffnung, dass die vielleicht verstand, was hier vorging. Nadia kramte ein paar Geldscheine aus der Hosentasche und legte sie in eine der Opferschalen, in der schon andere Geldgaben lagen.
»Má Bangesé kann dein Herz lesen«, sagte die massige Frau zu Alex.
»Was ist in meinem Herzen?«
»Du suchst eine Medizin, die eine Frau heilt.«
»Meine Mutter ist gesund, der Krebs ist weg …«, flüsterte Alex erschrocken. Wie um alles in der Welt konnte eine Frau auf einem Markt in Afrika etwas über seine Mutter wissen?
»Und doch hast du Angst um sie«, sagte Má Bangesé. Sie nahm die Muscheln mit einer Hand auf, schüttelte sie in der Faust und ließ sie wie Würfel über die Decke kullern. »Du hast keine Macht über Leben oder Tod dieser Frau.«
»Aber sie bleibt doch am Leben, oder?«
»Kehrst du zurück, bleibt sie am Leben. Kehrst du nicht zurück, stirbt sie vor Kummer, nicht an einer Krankheit.«
»Natürlich komme ich zurück!«
»Das ist nicht sicher. Viele Gefahren drohen, aber du bist mutig. Gebrauche deinen Mut, sonst stirbst du, und sie stirbt mit dir.« Die Frau deutete auf Nadia.
»Was soll das heißen?«
»Man kann Schlechtes tun, und man kann Gutes tun. Für das Gute gibt es keinen Lohn, nur deine Seele wird zufrieden sein. Manchmal heißt es kämpfen. Du musst entscheiden.«
»Was soll ich tun?«
»Má Bangesé sieht nur das Herz, den Weg kann sie nicht zeigen.«
Und damit wandte sie sich an Nadia, die sich neben Alex gesetzt hatte, und legte ihr einen Finger an die Stirn zwischen die Augen.
»Du hast magische Kräfte und die Augen eines Vogels, du siehst von oben, aus der Entfernung. Du kannst ihm helfen.«
Sie schloss die Augen und schwankte vor und zurück, während ihr der Schweiß über Gesicht und Hals rann. Es war unerträglich heiß. Von draußen drangen die Gerüche des Marktes: faulige Früchte, Abfall, Blut, Benzin. Má Bangesé gab einen kehligen Laut von sich, eine gedehnte und heisere Klage, die aus ihrem Bauch aufzusteigen schien und anschwoll, bis der Boden bebte, und es war, als dringe der Ton aus den Tiefen der Erde. Nadia und Alexander schwitzten und hatten plötzlich das Gefühl, gleich werde ihnen schwarz vor Augen. Das enge Zelt war gefüllt mit Rauch, sie schnappten nach Luft. Raus, sie wollten nur raus, aber sie konnten sich nicht rühren. Sie erzitterten wie unter dem Schlag großer Trommeln, hörten Hunde jaulen, ihre Münder füllten sich mit bitterer Spucke, und unter ihren ungläubigen Blicken löste sich die massige Frau vor ihnen auf wie ein Ballon, aus dem die Luft entweicht, und dort, wo sie gesessen hatte, reckte ein Fabelwesen den Hals, ein Paradiesvogel mit leuchtend gelbem und blauem Gefieder und türkisfarbenem Kamm, der nun seine schillernden Flügel spreizte, die beiden umfing und mit sich in die Höhe trug.
Nadia und Alex wurden in den Raum geschleudert. Sie sahen sich selbst wie zwei Striche schwarzer Tinte inmitten eines Kaleidoskops leuchtender Farben und geschwungener Formen, die rasend schnell wechselten. Sie wurden zu Bengalischen Feuern, zerstoben in Funken, wussten nicht mehr, was Leben war, was Zeit oder Angst. Wie in einem magnetischen Strudel fanden die Funken erneut zueinander und schwebten als zwei winzige Punkte durch das Kaleidoskop. Sie waren zwei Astronauten, die Hand in Hand durch den Raum trudelten. Sie spürten sich nicht, nahmen nur schwach die Bewegung wahr und dass sie miteinander verbunden waren. Diese Verbindung versuchten sie verzweifelt festzuhalten, die Hand des anderen war das einzig Menschliche, das noch in ihr Bewusstsein drang. Solange sie nicht losließen, wären sie nicht ganz verloren.
Grün, ringsum nichts als grün. Sie stürzten darauf zu, gleich würden sie aufschlagen, aber da zerfaserte die Farbe, und wie zwei Daunen segelten sie hinab und hinein in ein Gewirr wattiger Gewächse, die aussahen wie Pflanzen auf einem fremden Planeten, wo es heiß war und feucht. Als durchsichtige Quallen waberten sie durch die dampfgeschwängerte Luft. Sie waren wie Gallert, hatten keine Knochen, die ihnen eine Form gaben, keine Kraft, sich zu wehren, keine Stimme, um zu schreien, als vor ihren Augen in schnellem Wechsel grausige Bilder abliefen von verwüsteten Wäldern, von blutigen Kämpfen und Tod. Spukgestalten in Ketten schleppten sich an ihnen vorbei und bahnten sich einen Weg zwischen Gerippen von Tieren. Sie sahen Körbe, aus denen abgehackte Menschenhände ragten, und Kinder und Frauen, die in Käfigen hockten.
Jäh waren sie wieder sie selbst, hatten ihre gewohnte Gestalt zurück, da wuchs vor ihren Augen ein grausiges Wesen aus dem Boden, ein Riese mit drei Köpfen und einer Haut wie ein Krokodil. Der eine Kopf hatte vier Hörner und eine struppige Löwenmähne, der zweite war kahl und augenlos und spie Feuer durch die Nüstern, der dritte war der Kopf eines Leoparden mit blutverschmierten Fangzähnen und böse blitzenden Pupillen. Alle drei rissen die Mäuler auf und zeigten ihre Echsenzungen. Schwerfällig holten die riesigen Pranken des Monstrums nach Nadia und Alex aus, der Blick des Leopardenkopfes durchbohrte sie, und die drei Mäuler spuckten giftigen Geifer. Nadia und Alex duckten sich unter den Hieben weg, wieder und wieder, aber sie schafften es nicht zu fliehen, eine lähmende Schwermut lastete auf ihnen. Unendlich lange ging das so, als sie plötzlich Speere in den Händen hielten, und verzweifelt stießen sie damit auf das Monstrum ein. Aber immer, wenn sie einen der Köpfe getroffen hatten, griffen die anderen beiden an, und wenn sie diese zurückdrängten, war der erste schon wieder zum Kampf bereit. Die Speere zerbrachen. Schon waren die aufgerissenen Mäuler über ihnen, in letzter Verzweiflung dachten Alex und Nadia an ihre Totemtiere, Alex wurde zum schwarzen Jaguar und Nadia zum Adler, aber gegen diesen Feind konnte die Raubkatze nichts ausrichten, und die Flügel des Adlers waren nutzlos. Ihre Schreie gingen im Gebrüll des Monstrums unter.
»Nadia! Alexander!«
Kates Stimme brachte sie zurück in die Wirklichkeit, und sie fanden sich wie zuvor auf dem Boden sitzend, waren in Afrika, auf einem Markt, in einem Zelt mit Strohdach, und vor ihnen saß eine massige Frau, die in gelbe und blaue Stoffe gehüllt war.
»Wieso habt ihr geschrien? Wer ist diese Frau? Was ist hier los?«
»Nichts, Kate, alles okay«, brachte Alex heraus und schüttelte sich.
Wie hätte er seiner Großmutter erklären sollen, was hier eben los gewesen war? Die tiefe Stimme von Má Bangesé drang wie aus einem Traum zu ihnen:
»Seid vorsichtig!«
»Was ist los?«, fragte Kate wieder.
»Da war ein Monster mit drei Köpfen, es war unbesiegbar …«, flüsterte Nadia, noch ganz verstört.
»Bleibt zusammen. Gemeinsam könnt ihr euch retten, wenn ihr euch trennt, sterbt ihr«, sagte Má Bangesé.
~
Am nächsten Morgen brach die Gruppe des International Geographic in einem Propellerflugzeug in den ausgedehnten Nationalpark auf, wo Michael Mushaha und die Safari mit den Elefanten sie erwarteten. Alex und Nadia standen noch immer unter dem Eindruck ihrer Erlebnisse vom Vortag. Alex war sich mittlerweile sicher, dass der Rauch der Seherin irgendeine Droge enthalten hatte, aber das erklärte nicht, warum sie beide genau dieselben Dinge gesehen hatten. Nadia lag nichts daran, eine vernünftige Erklärung für diese grausige Traumreise zu finden, sie betrachtete das Erlebte als mögliche Quelle von Informationen, aus der sie etwas lernen konnte wie aus einem Traum in der Nacht. Die Bilder standen ihr klar vor Augen, irgendwann würde sie darauf zurückgreifen müssen, davon war sie überzeugt.
Das Flugzeug, in dem sie saßen, gehörte Angie Ninderera, einer Frau, deren zupackende und unternehmungslustige Art auf alle ansteckend wirkte. Dennoch war den Expeditionsteilnehmern beim Anblick der Maschine das Herz in die Kniekehlen gerutscht. Unterwegs drehte Angie hin und wieder eine Zusatzrunde, damit ihre Fluggäste die majestätische Schönheit der Landschaft von oben bewundern konnten, aber die waren vollauf damit beschäftigt, ihre Übelkeit zu unterdrücken, und heilfroh, als das Flugzeug nach gut einer Stunde auf einer Piste einige Meilen entfernt von Mushahas Camp aufsetzte.
Die nagelneue Ausstattung des Safari-Camps enttäuschte Kate, die sich alles etwas rustikaler vorgestellt hatte. Etliche aufmerksame und zuvorkommende schwarze Angestellte in khakifarbenen Uniformen mit Walkie-Talkies am Gürtel kümmerten sich um die Bedürfnisse der Touristen und die Pflege der Elefanten. Es gab mehrere Zelte, groß wie Hotelsuiten, und einige leichte Holzbauten mit Gemeinschaftsräumen und Kochstellen. Über den Betten hingen weiße Moskitonetze, alle Möbel waren aus Bambus, und auf dem Boden lagen Zebra- und Antilopenfelle. Es gab Bäder mit Plumpsklos und einfallsreich konstruierten Duschen, aus denen lauwarmes Wasser kam. Ein Generator lieferte von sieben bis zehn am Abend Strom, die übrige Zeit behalf man sich mit Kerzen und Petroleumlampen. Die Köche sorgten für vorzügliches Essen, das selbst Alexander klaglos aß, ohne zu fragen, was es eigentlich war. Kurzum, das Camp war erheblich komfortabler als die meisten Unterkünfte, in denen Kate in ihrem langen Leben als Reisereporterin hatte nächtigen müssen. Sie entschied, dass es dafür Punktabzug gab: Sie würde das in ihrem Artikel kritisch erwähnen.
Um Viertel vor sechs wurde die Weckglocke geläutet, damit sie die kühlen Morgenstunden ausnutzen konnten, aber kurz zuvor waren alle schon vom unverwechselbaren Kreischen und Flügelschlagen der Fledermäuse geweckt worden, die mit dem ersten Morgendämmer ihren nächtlichen Streifzug beendeten und in Scharen heim in ihre Höhlen schwärmten. Schon war die Luft erfüllt vom Duft frisch gekochten Kaffees. Die Besucher öffneten ihre Zelte, traten ins Freie, streckten sich und blinzelten in die Sonne, die prall und rot über dem Horizont der afrikanischen Savanne aufstieg. Die Landschaft flirrte im ersten Morgenlicht, und es sah aus, als könnte sich die in rötlichen Dunst getauchte Erde jeden Moment auflösen wie eine Fata Morgana.
Bald herrschte im Camp ein reges Treiben, die Köche riefen zu Tisch, und Michael Mushaha gab die ersten Verhaltensregeln aus. Nach dem Frühstück versammelte er alle um sich, um ihnen eine kurze Einführung über die Tiere und Pflanzen zu geben, die sie während ihrer Tagesausflüge sehen würden. Timothy Bruce und Joel González bereiteten ihre Kameras vor, und dann wurden die Elefanten gebracht. Ein kleiner Elefant von zwei Jahren war auch dabei, der den ganzen Tag vergnügt neben seiner Mutter hertrottete und als Einziger zuweilen an den Weg erinnert werden musste, wenn er Schmetterlingen nachjagte oder ausbüxte, um ein Bad in einem Schlammloch oder einem Fluss zu nehmen.
Die Aussicht vom Rücken der Elefanten war traumhaft. Die massigen Dickhäuter bewegten sich nahezu geräuschlos, und man merkte, dass sie hier zu Hause waren. Ihr Gang war schwer und gemächlich, und doch legten sie in kurzer Zeit mühelos viele Meilen zurück. Außer dem Kleinen war keiner der Elefanten in Gefangenschaft geboren, und Michael Mushaha hatte seinen Besuchern eingeschärft, dass es wilde und somit unberechenbare Tiere waren. Er hatte sie ermahnt, sich an die Regeln zu halten, da er andernfalls nicht für ihre Sicherheit garantieren könne. Nur Nadia hatte sich gleich am ersten Morgen wie selbstverständlich über alle Verhaltensmaßregeln hinweggesetzt, denn sie hatte sofort ihren eigenen Umgang mit den Elefanten gefunden, und der Leiter der Safari war so beeindruckt, dass er bei ihr fünfe gerade sein ließ.
Die Vormittage verbrachten die Besucher mit Streifzügen durch den Nationalpark. Sie verständigten sich untereinander in Zeichensprache, um die Tiere ringsum nicht auf sich aufmerksam zu machen. Michael Mushaha führte den Tross auf dem ältesten Bullen der Herde an, dahinter kamen Kate und die Fotografen auf zwei Elefantenkühen, eine davon die Mutter des Kleinen, dann folgten Alexander, Nadia und Borobá auf Kobi. Die Nachhut bildeten einige Angestellte des Safari-Camps auf jungen Bullen, die auch den Proviant, die Sonnensegel für die Mittagspause und einen Teil der Fotoausrüstung trugen. Außerdem hatte einer der Angestellten für den Notfall ein Gewehr mit einem starken Betäubungsmittel dabei.
Zuweilen hielten die Dickhäuter auf einen Baum zu, unter dem eine Löwenfamilie lag, weil sie Blätter fressen wollten, und die Raubkatzen trollten sich gelangweilt. Dann wieder trotteten sie so nahe an Nashörnern vorbei, dass Alex und Nadia ihr Spiegelbild in den runden Augen erkennen konnten, die sie von unten misstrauisch anlinsten. Die Herden aus Büffeln und Impala-Antilopen ließen sich von der Gruppe nicht aus der Ruhe bringen. Womöglich witterten sie die Menschen, aber die Anwesenheit der Elefanten flößte ihnen Vertrauen ein. Sie konnten zwischen den scheuen Zebras hindurchreiten, aus der Nähe eine Meute Hyänen fotografieren, die sich um das Aas einer Antilope zankten, und den Hals einer Giraffe streicheln, die sie aus ihren Prinzessinnenaugen betrachtete und ihnen über die Hand leckte.
»In ein paar Jahren wird es überhaupt keine freilebenden wilden Tiere in Afrika mehr geben, dann wird man sie ausschließlich in Parks und Reservaten sehen können«, hatte Michael Mushaha gesagt.
Um die Mittagszeit rasteten sie im Schutz von Bäumen, aßen den Proviant aus den mitgebrachten Körben und ruhten sich bis gegen vier oder fünf Uhr aus. Wenn die Sonne hoch am Himmel stand, kamen die Tiere im Nationalpark zur Ruhe, und die Savanne lag wie erstarrt unter der sengenden Hitze. Michael Mushaha kannte hier jeden Baum und jeden Strauch und wusste die Zeit und die Entfernung sicher einzuschätzen. Nährte sich die riesige Sonnenscheibe dem Horizont, kam schon das Camp mit seinen Rauchfahnen in Sicht. Später am Abend brachen sie zuweilen ein zweites Mal auf, um die Tiere zu beobachten, die zum Trinken ans Flussufer kamen.
Ein halbes Dutzend Mandrills hatte das Camp gründlich auseinander genommen. Die Zelte waren niedergerissen, Mehl, Maniok, Reis, Bohnen und Konservendosen lagen verstreut, in den Bäumen hingen gerupfte Schlafsäcke, im Hof zwischen den Holzhütten türmten sich die Reste von Stühlen und Tischen. Es sah aus, als wäre ein Taifun durch das Camp gefegt. Unter der Führung eines besonders grimmigen Affen zogen die Mandrills einander die in der Küche erbeuteten Töpfe und Pfannen über den Schädel und schwangen sie wie Keulen gegen jeden, der sich ihnen zu nähern versuchte.
»Was ist denn mit denen los!«, rief Michael Mushaha von seinem Elefanten herab einem seiner Angestellten zu.
»Ich fürchte, sie sind etwas angetrunken …«, kam die betretene Antwort.
In der Hoffnung, etwas Essbares zu ergattern, trieben sich die Affen immer in der Nähe des Camps herum. Nachts durchwühlten sie die Abfälle, und wenn man die Vorräte nicht sorgsam verstaute, hatten sie am anderen Morgen Beine bekommen. Eine nette Gesellschaft war das nicht, die Affen bleckten die Zähne und knurrten einen an, hatten aber gemeinhin genug Respekt vor Menschen, um in sicherer Entfernung zu bleiben. Ein solcher Überfall war ungewöhnlich.
Da man der Affen anders nicht Herr werden konnte, gab Michael Mushaha Anweisung, mit Betäubungsmitteln auf sie zu schießen, was leichter gesagt als getan war, denn sie rasten und tobten herum wie vom Teufel besessen. Endlich war auch der letzte Mandrill getroffen, taumelte und kippte dumpf auf die Seite. Alexander und Timothy und einige der Campangestellten packten die Affen an den Knöcheln und unter den Achseln und schleppten sie ein paar hundert Meter vom Camp weg. Dort würden sie in Ruhe schlafen können, bis die Betäubung nachließ. Die bepelzten, übel riechenden Körper waren viel schwerer, als ihre Größe hätte vermuten lassen, und jeder, der sie angefasst hatte, musste sich hinterher duschen, seine Kleider waschen und sich mit Flohpulver einpudern, um das Ungeziefer loszuwerden.
Während das gröbste Tohuwabohu beseitigt wurde, brachte Michael Mushaha in Erfahrung, was sich während ihres Ausflugs im Camp abgespielt hatte. Offenbar hatte sich einer der Affen an den Angestellten vorbei in das Zelt von Kate und Nadia gestohlen, wo Kates Wodkavorrat lagerte. Selbst durch die geschlossenen Deckel rochen die Affen schon aus der Entfernung den Alkohol. Der Oberaffe klaute eine Flasche, brach den Hals ab und teilte den Inhalt mit seinen Kumpanen. Nach dem zweiten Schluck waren alle angeheitert, und mit dem dritten enterten sie das Camp wie eine Horde Piraten.
»Wenn ich keinen Wodka habe, tun mir alle Knochen weh«, beschwerte sich Kate, die ihre übrigen Flaschen nun würde hüten müssen wie Goldbarren.
»Täte es nicht auch ein Aspirin dann und wann?«, schlug Mushaha vor.
»Pillen sind Gift! Ich benutze ausschließlich Naturprodukte«, gab Kate entrüstet zurück.
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Erst als die Mandrills außer Gefecht gesetzt waren und im Camp wieder Ordnung herrschte, fiel jemandem das Blut an Timothys Hemdsärmel auf. Gleichmütig wie immer erklärte er, er sei gebissen worden:
»Einer von den Jungs war offensichtlich noch nicht ganz eingeschlafen …«
»Zeigen Sie mal«, sagte Michael Mushaha bestimmt.
Timothy hob die linke Augenbraue. Das war die einzig bekannte Regung in seinem unerschütterlichen Pferdegesicht und verdeutlichte je nachdem eine der drei Gefühlsaufwallungen, die bei ihm vorkamen: Überraschung, Bedenken oder Ärger. Diesmal war es letzteres, er konnte es nicht leiden, wenn Aufhebens um seine Person gemacht wurde, aber Mushaha ließ sich nicht abwimmeln, und so musste er schließlich seinen Ärmel hochschieben. Der Biss blutete nicht mehr, wo die Zähne sich ins Fleisch gebohrt hatten, sah man trockene Krusten, aber der Unterarm war geschwollen.
»Diese Affen übertragen Krankheiten. Ich spritze Ihnen vorsorglich ein Antibiotikum, aber das sollte sich ein Arzt ansehen«, sagte Mushaha.
Timothys linke Augenbraue hob sich bis in die Mitte der Stirn: Zweifellos wurde zu viel Aufhebens gemacht.
Über Funk nahm Michael Mushaha Kontakt zu Angie Ninderera auf und erklärte ihr, was vorgefallen war. Die Pilotin sagte, sie könne nicht über Nacht fliegen, versprach aber, früh am nächsten Morgen da zu sein, um Timothy Bruce nach Nairobi zu bringen. Der Leiter des Safari-Camps schmunzelte bei sich, denn er hegte eine heimliche Schwäche für Angie und durch den Biss des Mandrills bot sich ihm unverhofft die Gelegenheit, sie schon am nächsten Tag wiederzusehen.
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Die ganze Nacht hindurch sollte Timothy vom Fieber geschüttelt werden, und Michael Mushaha rätselte, ob nun die Bisswunde an seinem Arm oder ein plötzlicher Malaria-Anfall daran schuld war, in jedem Fall aber war er besorgt, denn er fühlte sich für das Wohlergehen der Touristen in seinem Camp verantwortlich.
Gegen Abend erreichte eine kleine Gruppe Massai das Camp. Es waren Nomaden, die mit ihren mächtig behörnten Rindern häufig den Nationalpark durchquerten. Sie waren sehr hoch gewachsen, schlank und schön und wirkten unnahbar. Kompliziert verschlungene Ketten aus Glasperlen zierten ihre Hälse und Köpfe, sie waren in weite Stoffbahnen gekleidet, die um die Taille geschnürt waren, und trugen Lanzen. Die Massai glaubten, Gott habe ihrem Volk die Rinder geschenkt, während andere Stämme dazu ausersehen seien, die Erde zu bearbeiten oder zu jagen. Daraus leiteten sie für sich das Recht ab, anderer Leute Vieh zu stehlen, womit sie sich bei den übrigen Bewohnern der Gegend wenig Freunde machten. Da Michael Mushaha kein Vieh besaß, hatte er nichts zu befürchten. Zwischen ihm und den Massai gab es klare Absprachen: Wenn der Stamm auf seinem Weg durch den Nationalpark beim Camp vorbeikam, konnte er auf Mushahas Gastfreundschaft zählen, musste die Tiere im Reservat aber in Ruhe lassen.
Wie immer bot Mushaha ihnen etwas zu essen an und lud sie zum Verweilen ein. Zwar behagte den Nomaden die Anwesenheit der Fremden nicht, aber sie nahmen die Einladung an, denn eins ihrer Kinder war krank. Sie erwarteten eine Heilerin, die bald eintreffen sollte. Die Frau war berühmt in der Gegend, im weiten Umkreis kümmerte sie sich um das Wohl ihrer Schützlinge, heilte mit Kräutern und der Kraft ihres Glaubens. Die Nomadenfamilie besaß keine modernen Kommunikationsmittel, um sich mit ihr in Verbindung zu setzen, hatte jedoch irgendwie erfahren, dass sie an diesem Abend hier sein würde, deshalb blieben die Massai in der Nähe des Camps. Und wie erwartet, hörte man bei Sonnenuntergang von ferne das Klingen der Glöckchen und Rasseln der Amulette der Heilerin.
Im staubigen Abendrot tauchte eine hagere, barfüßige Gestalt auf. Elend wirkte sie, trug nichts am Leib als einen kurzen, um die Hüfte geschlungenen Stofffetzen, und ihr Gepäck bildeten einige Kalebassen, verschiedene Beutel voller Amulette und Heilkräuter und zwei magische Stäbe mit Federbüschen an den Spitzen. Ihr Haar baumelte in langen, mit rotem Lehm verklebten Zotteln um ihren Kopf. Die Haut fiel ihr in schlaffen Falten über die Knochen, bestimmt war sie uralt, aber sie hielt sich aufrecht und hatte kräftige Beine und Arme. Die Heilung des kleinen Patienten sollte wenige Schritte vom Camp entfernt stattfinden.
»Sie sagt, das Kind sei vom Geist eines erbosten Vorfahren besessen«, erklärte Michael Mushaha. »Sie muss herausfinden, wer er ist, und ihn zurück in die andere Welt schicken, wo er hingehört.«
Joel González lachte herzhaft: Wie konnte jemand im einundzwanzigsten Jahrhundert solche Dinge glauben?
»Da gibt es nichts zu lachen«, wies Michael ihn zurecht. »In achtzig Prozent aller Fälle geht es dem Patienten nach der Behandlung besser.«
Er erzählte, er habe einmal zwei Leute gesehen, die sich mit Schaum vor dem Mund am Boden gekrümmt, gebissen, geknurrt und gebellt hätten. Ihre Angehörigen waren der Meinung, sie seien von Hyänen besessen. Die alte Frau habe die beiden geheilt.
»Hysterie heißt das«, sagte Joel.
»Nennen Sie es, wie Sie wollen, Tatsache ist, dass sie durch eine Zeremonie geheilt wurden. So erfolgreich ist die westliche Medizin mit ihren Drogen und Elektroschocks selten gewesen«, sagte Mushaha milde lächelnd.
»Also wirklich, Michael, Sie sind Wissenschaftler, Sie haben in London studiert, wollen Sie mir jetzt etwa weismachen, dass …«