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Versteckspiel der Liebe
Julia Miller, gerade wieder frisch auf dem Heiratsmarkt, will auf dem Maskenball ihrer Freundin Georgina den Mann fürs Leben finden. Und tatsächlich: Sie läuft dem äußerst charmanten Jean Paul in die Arme, der mit einem leidenschaftlichen Kuss ihr Herz im Sturm erobert. Julia ist ihm sofort verfallen. Das, was sie über seine Vorgeschichte erfährt, ist allerdings mehr als schockierend ...
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Seitenzahl: 609
Nach einem tragischen Unfall, bei dem ihre Mutter ums Leben kam und ihr Vater zum Pflegefall wurde, muss die unerschrockene Julia Miller allein die Geschäfte der Familie leiten. Um ihre gesellschaftliche Stellung zu verbessern, ist sie auf der Suche nach einem repräsentablen Mann an ihrer Seite. Doch da gibt es ein kleines Problem: Von Kindesbeinen an ist Julia Richard, dem Sohn des Earl of Manfort, versprochen – einem Mann, den sie aus tiefstem Herzen hasst. Als er auch nach Jahren von seiner Schiffsreise in die Karibik nicht zurückkehrt, beschließt Julia, ihn für tot erklären zu lassen, um den Heiratsvertrag zu lösen.
Auf dem Maskenball ihrer Freundin Georgina Malory sieht Julia ihre Chance gekommen: Der charmante Jean Paul hat es ihr sofort angetan, sie fühlt sich unwiderstehlich zu ihm hingezogen. Aber der geheimnisvolle Kavalier ist nicht der, der er zu sein vorgibt. Julia steht eine erschreckende Entdeckung bevor ...
»Es gibt keine bessere Gesellschaft als Johanna Lindseys Malorys: ein himmlisches Vergnügen!« Romantic Times
Johanna Lindsey wächst auf Hawaii auf. Sie heiratet nach der Highschool und hat bereits zwei kleine Kinder zu versorgen, als sie sich zum Schreiben gedrängt fühlt. 1976 veröffentlicht sie ihren ersten Roman. Heute ist sie eine der erfolgreichsten Autorinnen historischer Liebesromane. Weltweit hat sie über 60 Millionen Exemplare ihrer Bücher verkauft, die nicht selten die ersten Plätze der Bestsellerliste der New York Times erreichen. Johanna Lindsey schreibt und lebt mit ihrer Familie in Maine.
Lieferbare Titel
978-3-453-49013-0 - Zärtlicher Räuber 978-3-453-81096-9 - Wagnis der Liebe 978-3-453-81098-3 - Gefangener des Herzens 978-3-453-40677-3 - Die ungehorsame Braut 978-3-453-77257-1 - Der geheimnisvolle Verführer 978-3-453-49109-0 - Ungezähmte Sehnsucht
Es mag vielleicht verwunderlich erscheinen, dass jemand den Hyde Park als seinen eigenen Garten betrachtete, aber Julia Miller tat es. In London aufgewachsen, ritt sie dort fast täglich aus, seit sie denken konnte. Bereits als kleines Mädchen hatte sie ihr erstes Pony bekommen und später Vollblutpferde. Die Menschen winkten ihr zu – egal, ob sie sie kannten oder nicht, einfach, weil sie an ihren Anblick gewöhnt waren. Das galt für die feinen Leute ebenso wie für die Ladenangestellten, die auf dem Weg zur Arbeit die Abkürzung durch den Park nahmen, oder die Gärtner. Sie alle bemerkten Julia und behandelten sie wie eine der Ihren.
Julia, die groß, blond und modisch gekleidet war, erwiderte jedes Lächeln und Winken. Sie war grundsätzlich freundlich, und die Leute reagierten entsprechend auf sie.
Noch seltsamer als Julias Angewohnheit, einen derart riesigen Park als ihren persönlichen Reitplatz zu betrachten, muteten ihre Lebensumstände an. Sie war im nobelsten Teil der Stadt aufgewachsen, obwohl ihre Familie keineswegs zu den oberen Zehntausend gehörte. Dass sie in einem der größeren Häuser am Berkeley Square lebte, lag daran, dass sich nicht nur der Adel solch große Stadthäuser leisten konnte. Tatsächlich war ihre Familie, deren Nachname auf einen Müller zurückging, welcher sich im Mittelalter nach seiner Zunft benannt hatte, unter den ersten gewesen, die damals um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts Grund erstanden und bauten, sodass die Millers nun schon seit vielen Generationen dort lebten.
Die Leute im Viertel kannten und mochten Julia. Ihre engste Freundin, Carol Roberts, war eine höhere Tochter aus adligem Hause, und auch die anderen jungen Frauen der feinen Gesellschaft, die sie durch Carol oder aus dem privaten Mädchenpensionat kannte, welches Julia zusammen mit ihnen besucht hatte, mochten sie und luden sie zu ihren Festen ein. Dass sie sich durch Julias hübsches Aussehen und ihren Reichtum nicht im Geringsten bedroht fühlten, lag daran, dass sie bereits verlobt war. Genau genommen war sie das schon fast seit ihrer Geburt.
»Was für eine Überraschung, dass ich dich hier treffe!«, vernahm sie eine weibliche Stimme hinter ihr. Carol Roberts schloss auf, und ihr Pferd fiel neben Julias in einen leichten Trab.
Julia lachte ihre zierliche schwarzhaarige Freundin an. »Diese Bemerkung hätte eigentlich mir zugestanden. Du reitest ja kaum noch!«
Carol seufzte. »Ich weiß. Harry sieht es nicht gern, insbesondere, seit wir versuchen, ein Kind zu bekommen. Er möchte nicht, dass ich riskiere, es zu verlieren, bevor wir überhaupt wissen, dass es gezeugt worden ist.«
Julia war bekannt, dass Reiten tatsächlich eine Fehlgeburt auslösen konnte. »Warum gehst du dieses Risiko dann ein?«
»Weil ich nicht schwanger bin«, erwiderte Carol und verzog dabei enttäuscht den Mund.
Julia nickte mitfühlend.
»Außerdem«, fügte Carol hinzu, »habe ich unsere gemeinsamen Ausritte derart vermisst, dass ich bereit bin, Harry für ein paar Tage zu trotzen – zumindest, solange ich meine Regel habe und wir ohnehin nicht versuchen werden, ein Kind zu zeugen.«
»Er war nicht zu Hause, als du losgeritten bist, habe ich recht?«, mutmaßte Julia.
Carol lachte. Ihre blauen Augen funkelten schelmisch. »In der Tat, und ich werde auch wieder zurück sein, bevor er eintrifft. «
Julia machte sich keine Sorgen, dass ihre Freundin Probleme mit ihrem Mann bekommen könnte. Harold Roberts vergötterte seine Frau. Die beiden hatten sich bereits gekannt und gemocht, als Carol drei Jahre zuvor in die Gesellschaft eingeführt worden war, sodass es niemanden verwundert hatte, als sie sich schon wenige Wochen nach Carols Debüt verlobten und ein paar Monate später heirateten.
Carol und Julia waren ihr Leben lang Nachbarinnen gewesen. Die Häuser am Berkeley Square, in denen ihre beiden Familien wohnten, standen direkt nebeneinander, nur durch eine schmale Gasse voneinander getrennt. Sogar die Schlafzimmerfenster der Mädchen hatten einander direkt gegen-übergelegen – dafür hatten die beiden schon gesorgt! –, sodass sie selbst dann, wenn die eine einmal nicht bei der anderen zu Besuch war, durch das Fenster miteinander reden konnten, ohne ihre Stimmen erheben zu müssen. Kein Wunder, dass sie beste Freundinnen geworden waren!
Julia vermisste Carol sehr. Obwohl sie einander nach wie vor häufig besuchten, wenn Carol sich in London aufhielt, wohnten sie nicht mehr Tür an Tür. Carol war nach ihrer Heirat zu ihrem Mann gezogen, dessen Haus ein ganzes Stück entfernt lag, und alle paar Monate verließen sie und Harold die Stadt, um etliche Wochen auf dem Landsitz von Harolds Familie zu verbringen. Er hoffte, sie würden eines Tages für immer dort bleiben, auch wenn Carol sich vorerst noch nicht mit diesem Gedanken anfreunden konnte. Zum Glück war Harold nicht der Typ dominanter Ehemann, der sämtliche Entscheidungen traf, ohne die Wünsche seiner Gattin in Betracht zu ziehen.
Ein paar Minuten lang ritten die beiden jungen Frauen nebeneinander her, doch nachdem Julia schon seit einer Stunde im Park war, machte sie ihrer Freundin einen Vorschlag: »Hättest du Lust, auf dem Heimweg eine Pause am Teehaus einzulegen? Auf ein Eis?«
»Es ist zu früh und noch nicht warm genug für ein Eis. Wobei ich tatsächlich sehr hungrig bin. Das Morgengebäck von Mrs. Cables fehlt mir richtig. Lässt du dir morgens immer noch ein Frühstücksbuffet herrichten?«
»Selbstverständlich. Warum sollte sich das ändern, bloß weil du geheiratet hast?«
»Harold weigert sich hartnäckig, euch eure Köchin abspenstig zu machen. Ich liege ihm ständig in den Ohren, es zumindest zu versuchen.«
Julia brach in lautes Gelächter aus. »Ihm ist eben klar, dass er sie sich nicht leisten kann. Jedes Mal, wenn jemand sie abzuwerben versucht, kommt sie zu mir, und ich erhöhe ihren Lohn. Sie weiß genau, wo man es gut mit ihr meint.«
Julia traf solche Entscheidungen, weil ihr Vater dazu nicht mehr in der Lage war. Ihre Mutter hatte derartige Dinge auch zu Lebzeiten nie entschieden. Helene Miller hatte in keinem Bereich ihres Lebens die Kontrolle übernommen, nicht einmal in ihrem Haushalt. Sie war eine ängstliche Frau gewesen, die sich davor fürchtete, jemanden zu kränken, und wären es die Dienstboten. Fünf Jahre zuvor war sie bei dem Kutschenunglück ums Leben gekommen, das Gerald Miller zum Invaliden gemacht hatte.
»Wie geht es deinem Vater?«, fragte Carol.
»Unverändert.«
Carol erkundigte sich jedes Mal nach ihm, und Julias Antwort fiel selten anders aus. Er hätte Glück, noch am Leben zu sein, hatten die Ärzte ihr erklärt, nachdem sie sie mit der Prognose schockiert hatten, er würde nie wieder er selbst sein. Sein Kopf hätte bei dem Unfall zu schwere Verletzungen davongetragen. Auch wenn die sieben Knochen, die er sich an jenem Tag gebrochen hatte, wieder verheilt wären, würde sein Gehirn sich niemals erholen. Die Ärzte hatten Julia gnadenlos die Wahrheit gesagt, ohne ihr irgendwelche Hoffnungen zu machen: Ihr Vater würde zwar wie ein normaler Mensch abends einschlafen und morgens wieder aufwachen, er könnte sogar essen, wenn ihn jemand fütterte, aber er würde nie wieder etwas anderes als sinnloses Gebrabbel von sich geben. Glück, noch am Leben zu sein. Julia hatte sich oft in den Schlaf geweint und dabei an jene Formulierung denken müssen.
Trotzdem hatte Gerald die Vorhersagen seiner Ärzte Lügen gestraft. Im ersten Jahr nach dem Unfall war es nur ein einziges Mal passiert, danach alle paar Monate: Schlagartig wusste er, wenn auch meist nur für ganz kurze Zeit, wer er war, wo er sich aufhielt und was ihm zugestoßen war. Die ersten paar Male war er dabei von einer solchen Wut und Angst erfüllt gewesen, dass man seine Momente der Klarheit im Grunde keinen Segen nennen konnte. Und er erinnerte sich daran! Jedes Mal, wenn er wieder bei klarem Verstand war, konnte er sich an seine früheren Phasen mentaler Klarheit erinnern. Für ein paar Minuten oder sogar Stunden war er wieder er selbst – aber das dauerte nie lange, und aus den toten Zeiten dazwischen blieb ihm nicht das Geringste im Gedächtnis.
Seine Ärzte hatten dafür keine Erklärung. Sie hatten nie damit gerechnet, dass er jemals wieder in der Lage sein würde, zusammenhängend zu denken. Noch immer machten sie Julia keine Hoffnung, dass er sich eines Tages ganz erholen könnte. Sie nannten seine klaren Momente eine Laune der Natur. Etwas Derartiges hatte es noch nie gegeben, über Präzedenzfälle war nichts bekannt. Sie gaben Julia den Rat, auf keinen Fall damit zu rechnen, dass es erneut passieren würde. Doch es passierte.
Es brach ihr das Herz, als ihr Vater sie während der dritten klaren Phase fragte: »Wo ist deine Mutter?«
Sie hatte Anweisungen bekommen, ihn ja nicht aufzuregen, falls er jemals wieder »erwachen« sollte, was bedeutete, dass sie ihm nicht erzählen durfte, dass seine Frau bei dem Unfall ums Leben gekommen war. »Sie ist einkaufen gegangen. Du weißt ja, wie gern sie einkauft.«
Er hatte gelacht. Das war eines der wenigen Dinge gewesen, die ihre Mutter sich nicht hatte nehmen lassen: alles Mögliche zu kaufen, was sie im Grunde gar nicht brauchte. Julia aber hatte zu jenem Zeitpunkt selbst noch getrauert, sodass ihr selten etwas so schwergefallen war, wie an jenem Tag zu lächeln und die Tränen zu unterdrücken, bis ihr Vater in seine Grauzone des Nichts zurückglitt.
Natürlich hatte sie verschiedene Ärzte konsultiert. Jedes Mal, wenn einer von ihnen sagte, ihr Vater würde nie wieder ganz gesund werden, entließ sie ihn und suchte sich einen neuen. Nach einer Weile hörte sie damit auf. Den letzten Kandidaten, Dr. Andrew, behielt sie, weil er immerhin so ehrlich war, zuzugeben, dass der Fall ihres Vaters sich mit keinem anderen vergleichen ließ.
Im Frühstückszimmer der Millers trug Carol gerade ihren vollen Teller und den großen Korb mit Gebäck zum Tisch hinüber, als sie plötzlich den Neuzugang im Raum bemerkte und wie angewurzelt stehen blieb.
»Lieber Himmel, wann hast du denn das gemacht?«, rief sie und wandte sich mit weit aufgerissenen Augen nach Julia um.
Diese betrachtete die kunstvoll verzierte auf der Vitrine thronende Kiste, die Carols Aufmerksamkeit erregt hatte. Sie war mit blauem Satin ausgeschlagen und am Rand von Edelsteinen gesäumt, und hinter ihrem Glasdeckel saß eine schöne Puppe. Julia nahm am Tisch Platz und brachte es dabei fertig, nicht zu erröten. »Ich bin kürzlich auf einen Burschen gestoßen, der gerade seinen Laden eröffnet hatte, ganz in der Nähe eines der unseren. Er fertigt solch schöne Aufbewahrungskisten für Gegenstände, welche die Leute in gutem Zustand erhalten wollen, und da ich auf keinen Fall möchte, dass diese Puppe irgendwann aus Altersschwäche in ihre Einzelteile zerfällt, habe ich die Kiste für sie in Auftrag gegeben. Ich weiß nur noch nicht, wohin damit, weil mein Zimmer schon so überfüllt ist. Allerdings gewöhne ich mich langsam daran, dass sie hier steht.«
»Ich wusste nicht einmal, dass du die alte Puppe, die ich dir damals schenkte, überhaupt noch hast.«
»Selbstverständlich habe ich sie noch! Sie ist mir nach wie vor lieb und teuer.«
Das stimmte – nicht, weil Julia der Puppe solch großen Wert beimaß, sondern, weil ihr die Freundschaft, für die sie stand, so viel bedeutete. Zwar hatte Carol sich damals bei ihrer ersten Begegnung nicht sofort von der Puppe trennen können, aber als sie eine neue bekam, hatte sie die alte nicht einfach auf den Dachboden getragen, wo sie nie wieder jemand angesehen hätte, sondern sich stattdessen daran erinnert, wie gut sie Julia gefallen hatte, und sie ihr schüchtern angeboten.
Der Gedanke an jenen Tag ließ Carol erröten, doch schließlich musste sie lachen. »Du warst damals ein richtiges kleines Monstrum.«
»So schlimm war ich auch wieder nicht!«, entgegnete Julia schnaubend.
»Oh doch! Du hattest einen hysterischen Anfall nach dem anderen, hast mich gepiesackt, wo du nur konntest, und wolltest ständig irgendetwas von mir haben. Außerdem warst du wegen jeder Kleinigkeit beleidigt! Bei unserem ersten Treffen hättest du mir beinahe eins auf die Nase gegeben, wenn ich dich nicht vorher umgeschubst hätte, sodass du auf deinem Hinterteil gelandet bist.«
»Das hat mich gewaltig beeindruckt«, meinte Julia grinsend. »Du warst die erste Person, die mir Paroli bot.«
»Zumindest wollte ich dir meine Lieblingspuppe nicht überlassen, jedenfalls nicht bei unserem ersten Treffen. Du hättest sie gar nicht von mir verlangen dürfen. Aber ansonsten? « Carol wirkte überrascht. »Hat dir wirklich nie jemand Paroli geboten?«
»Nein, wirklich nicht. Meine Mutter war zu schwach und zu zögerlich, nun ja, du weißt ja, wie sie war. Sie hat mir immer meinen Willen gelassen. Und mein Vater war zu gutherzig. Er konnte niemandem einen Wunsch abschlagen, am allerwenigsten mir. Ich hatte sogar schon ein Pony, bevor ich alt genug war, um es zu reiten – nur weil ich mir eines gewünscht hatte.«
»Aha! Wahrscheinlich warst du deswegen so ein kleines Monstrum, als wir uns kennenlernten – weil sie dich hoffnungslos verzogen hatten.«
»Das war nicht der Grund – na ja, vielleicht war ich tatsächlich ein klein wenig verzogen, weil meine Eltern es nicht übers Herz brachten, mich in meine Schranken zu verweisen, und meine Gouvernante oder die Dienstboten es bestimmt nicht als ihre Aufgabe betrachteten, mich zu züchtigen. Aber zu einem kreischenden und heulenden Monstrum wurde ich erst an dem Tag, an dem ich meinen Verlobten kennenlernte. Es war beidseitiger Hass auf den ersten Blick. Ich wollte ihn nie wiedersehen. Zum ersten Mal ließen meine Eltern mir nicht meinen Willen, weshalb man sagen könnte, dass ich einen hysterischen Anfall bekam, der jahrelang andauerte! Bis ich dich traf, hatte ich keine Freunde, die mich darauf hinwiesen, wie albern ich mich benahm. Du hast mir geholfen, ihn zu vergessen – zumindest vorübergehend, bis unsere Eltern uns das nächste Treffen aufzwangen.«
»Nachdem wir beide uns kennengelernt hatten, bist du ziemlich schnell anders geworden. Wie alt waren wir da eigentlich? «
»Sechs, aber so schnell habe ich mich gar nicht verändert, ich habe nur dafür gesorgt, dass du keinen meiner hysterischen Anfälle mehr miterleben musstest – nun ja, es sei denn, mein Verlobter kam zu Besuch. Selbst in deiner Anwesenheit konnte ich meine Feindseligkeit ihm gegenüber nicht besonders gut verbergen, fürchte ich.«
Carol traute sich nur deswegen, zu lachen, weil Julia über ihre eigenen Worte grinsen musste. Julia wusste, dass ihrer Freundin klar war, wie wenig lustig sie das alles damals gefunden hatte. Ein paar von den Auseinandersetzungen mit ihrem Verlobten waren ziemlich gewalttätig verlaufen. Einmal hatte sie ihm fast das Ohr abgebissen. Woran er allerdings selbst schuld gewesen war. Bereits bei ihrer ersten Begegnung – Julia war damals erst fünf Jahre alt und ganz sicher, dass sie und er beste Freunde werden würden – zerschlug er ihre Hoffnungen mit seiner Grobheit und seinem Groll darüber, dass sie sozusagen für ihn handverlesen worden war. Jedes Mal, wenn sie einander besuchten, brachte er sie derart in Rage, dass sie sich am liebsten auf ihn gestürzt und ihm die Augen ausgekratzt hätte. Sie zweifelte nicht daran, dass er all diese Auseinandersetzungen absichtlich herbeigeführt hatte. Der dumme Junge dachte wohl irgendwie, sie könnte die Verlobung, die beide nicht wollten, lösen. Bestimmt hatte er England erst verlassen, nachdem ihm klar geworden war, dass sie hinsichtlich der Aufhebung ihres Bundes ebenso wenig zu sagen hatte wie er – und ihnen beiden dadurch eine in der Hölle geschlossene Ehe erspart. Wie seltsam, dass sie ihm für etwas dankbar sein musste! Nun aber, da er endgültig fort war, konnte sie eine gewisse Komik darin erkennen, welch schreckliches Monstrum sie gewesen war – zumindest in seiner Gegenwart.
Julia nickte zu ihrem Essen hinunter, das langsam kalt wurde, doch Carol brachte das Gespräch auf ein neues Thema: »Ich gebe kommenden Samstag eine kleine Abendgesellschaft, Julie. Du kommst doch, oder?«
Der Spitzname war ihr aus Kinderzeiten geblieben, und selbst Julias Vater hatte ihn übernommen. Sie fand es im Grunde albern, einen Spitznamen zu haben, der genauso lang war wie ihr richtiger Name, aber da er immerhin eine Silbe kürzer war, hatte sie nie Einspruch erhoben.
Sie blickte über das Scone, in das sie gerade beißen wollte, zu ihrer Freundin hinüber. »Hast du vergessen, dass an dem Tag der Eden-Ball stattfindet?«
»Nein, ich dachte nur, du würdest vielleicht zur Besinnung kommen und auf meine Bitte hören, dieser Einladung nicht zu folgen.«
»Und ich hatte gehofft, du hättest es dir anders überlegt und die Einladung ebenfalls angenommen.«
»Kommt überhaupt nicht infrage!«
»Ach komm, Carol!«, jammerte Julia. »Ich hasse es, meinen nichtsnutzigen Cousin zu solchen Anlässen schleppen zu müssen, und er hasst es auch. Kaum haben wir das Haus betreten, hält er schon Ausschau nach der Hintertür. Nie bleibt er da. Aber du …«
»Es ist doch gar nicht nötig, dass er bleibt«, fiel Carol ihr ins Wort. »Gewiss kennst du dort alle. Du bist auf solchen Festen nie länger als eine Minute allein. Außerdem bedeutet der Heiratsvertrag, den der Graf von Manford unter Verschluss hält, dass du nicht einmal eine Anstandsdame brauchst. Ein solcher Vertrag bedeutet, dass du so gut wie verheiratet bist. Lieber Himmel, ich wollte nicht schon wieder dieses Thema anschneiden! Es tut mir leid.«
Julia brachte ein Lächeln zustande. »Kein Grund, sich zu entschuldigen. Du weißt, dass du dieses widerwärtige Thema in meiner Gegenwart nicht meiden musst. Gerade eben haben wir noch darüber gelacht. Nachdem dieser Narr und ich uns hassen wie die Pest, hätte er mir keinen größeren Gefallen tun können, als sich auf diese Art aus dem Staub zu machen.«
»So hast du das gesehen, bevor du ins heiratsfähige Alter gekommen bist, aber das war vor drei Jahren. Du willst doch wohl nicht behaupten, dass es dich nicht wütend macht, eine alter Jungfer genannt zu werden.«
Julia brach in lautes Gelächter aus. »Meinst du das ernst? Du vergisst, dass ich im Gegensatz zu dir keine Aristokratin bin, Carol. Was die Leute über mich sagen, ist mir nicht wichtig. Wohingegen es mir sehr viel bedeutet, dass ich niemandem außer mir selbst Rechenschaft ablegen muss. Du glaubst gar nicht, wie wundervoll das ist! Und offiziell ist es auch. Das Familienvermögen und sämtliche Beteiligungen sind nun mein – es sei denn, der Schuft kehrt zurück.«
Als Julia den entsetzten Gesichtsausdruck sah, mit dem Carol auf ihre gedankenlose Bemerkung reagierte, schnappte sie selbst erschrocken nach Luft. »So habe ich das nicht gemeint! Ich habe dir doch gesagt, dass der Zustand meines Vaters unverändert ist.«
»Wie können dann all seine Besitztümer und Geschäfte dir gehören, ohne dass er … verblichen ist?«, fragte Carol mit viel Zartgefühl.
»Weil er an einem seiner seltenen klaren Tage vor ein paar Monaten seine Anwälte und Bankiers ins Haus zitiert und mir die Leitung von alledem übertragen hat. Wobei ich seit dem Unfall ohnehin alles regle, doch nun werden mir die Anwälte nicht mehr ständig über die Schulter sehen. Sie dürfen mir immer noch mit Rat und Tat zur Seite stehen, aber ich muss nicht mehr auf sie hören. Vater hat mir an jenem Tag mein gesamtes Erbe überschrieben – früher, als ich es wollte.«
Den Heiratsvertrag konnten die Anwälte allerdings nicht lösen – was Julia jedoch schon bekannt gewesen war. Ihr Vater hatte bereits vor Jahren erfolglos versucht, ihn annullieren zu lassen, nachdem offenkundig geworden war, dass ihr Verlobter sich abgesetzt hatte. Der Vertrag konnte nur in gegenseitigem Einvernehmen der beiden Elternteile gelöst werden, die ihn ursprünglich unterzeichnet hatten, und der Graf von Manford – jener schreckliche Mann – wollte davon nichts wissen. Er hoffte immer noch, sich das Vermögen der Millers unter den Nagel reißen zu können – durch sie, Julia. Das war von Anfang an sein Plan gewesen, und nur deswegen war er schon bald nach ihrer Geburt an ihre Eltern herangetreten und hatte ihnen seine Heiratspläne für ihre Kinder unterbreitet. Helene war begeistert davon gewesen, einen Lord in der Familie zu haben, und wollte unbedingt die Gelegenheit ergreifen, ihre Tochter mit einem Angehörigen des Adels zu verheiraten. Gerald, der ihre übertriebene Bewunderung für die Aristokratie nicht teilte, hatte dem Bund nur deswegen zugestimmt, weil er seiner Frau eine Freude machen wollte. Dennoch hätte das Ganze für alle Beteiligten einen glücklichen Ausgang nehmen können – hätte das verlobte Paar sich nicht zutiefst gehasst.
»Ich verstehe ja, dass du diese Art von Freiheit genießt, aber bedeutet das denn auch, dass du dich damit abgefunden hast, niemals zu heiraten und Kinder zu bekommen?«, hakte Carol vorsichtig nach.
Es überraschte Julia überhaupt nicht, dass ihre Freundin das Thema Kinder anschnitt. Schließlich versuchte Carol selbst gerade krampfhaft, schwanger zu werden. »Nein, ganz und gar nicht. Ich wünsche mir durchaus Kinder«, gab sie ihr zur Antwort. »Das ist mir klar geworden, als du zum ersten Mal erwähnt hast, dass du und Harry bald eines haben wollt. Und irgendwann werde ich heiraten.«
»Wie denn?«, fragte Carol überrascht. »Ich dachte, du wärst auf ewig an diesen Vertrag gebunden.«
»Das bin ich in der Tat, solange der Sohn des Grafen am Leben ist. Nun sind aber schon neun Jahre ins Land gegangen, seit er sich abgesetzt hat, und niemand hat je wieder etwas von ihm gehört. Womöglich liegt er längst mausetot in einem Graben, weil er einem Raubüberfall oder irgendeinem anderen Verbrechen zum Opfer gefallen ist.«
»Lieber Himmel!«, rief Carol mit weit aufgerissenen Augen. »Das ist es, nicht wahr? Du kannst beantragen, dass er für tot erklärt wird, nachdem inzwischen so viel Zeit vergangen ist! Ich weiß gar nicht, warum ich nicht schon längst auf diese Idee gekommen bin!«
»Ich auch nicht, aber vor drei Monaten, als ich zur Erbin eingesetzt wurde, gab mir einer meiner Anwälte diesen Rat«, erklärte Julia mit einem Kopfnicken. »Der Graf wird sich mit Händen und Füßen wehren, aber die Situation spricht für sich und somit auch für mich. Wobei ich zugeben muss, dass mir die Freiheit fehlen wird, welche diese Verlobung mir verschafft«, fügte Julia hinzu. »Denk mal darüber nach. Du hast es ja selbst gesagt, ich benötige nicht einmal eine Anstandsdame, weil ich verlobt bin. Alle betrachten mich als eine Frau, die so gut wie verheiratet ist. Was glaubst du, auf wie viele Feste ich noch eingeladen werde, wenn die Leute erst einmal wissen, dass ich eine reiche Erbin auf der Suche nach einem Ehemann bin?«
»Sei nicht albern!«, gab Carol zurück. »Du bist sehr beliebt, und das weißt du auch.«
»Und du bist eine zu treue Freundin, um die Hintergründe zu erkennen. Im Moment stelle ich für niemanden eine Bedrohung dar, und deswegen bin ich für die Mitglieder der vornehmen Gesellschaft ein akzeptabler Zusatz auf ihren Gästelisten. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, dass ich ihre Söhne die gesellschaftliche Leiter hinunterlocken oder ihren Töchtern die beste Partie vor der Nase wegschnappen könnte.«
»Das ist doch alles Unsinn!«, wiedersprach Carol mit Nachdruck. »Du, mein liebes Mädchen, stellst gern dein Licht unter den Scheffel. Die Leute mögen dich um deiner selbst willen und nicht, weil du reich oder ›bereits vergeben‹ bist, wie du es ausdrückst.«
Die getreue Carol sprach immer noch aus tiefster Überzeugung heraus, aber Julia war klar, dass die Aristokratie auf Kaufleute oft herabblickte und sie für unter ihrer Würde hielt. Ironischerweise hatte dieses Stigma sie bisher nie berührt – vielleicht, weil sie schon ihr ganzes Leben lang mit einem Aristokraten verlobt war und alle darüber Bescheid wussten oder weil ihre Familie so verdammt reich war, dass sie es manchmal fast als peinlich empfand. Im Lauf der Jahre waren so viele Adlige wegen eines Darlehens an ihren Vater herangetreten, dass man ihn für einen Bankier hätte halten können. Allerdings hatte auch Carols Vater auf Bitten seiner Tochter hin ein paar Fäden gezogen, um Julia Zutritt zu dem exklusiven Mädchenpensionat zu verschaffen, das Carol besuchte, und Julia hatte dort weitere Freundinnen aus Adelskreisen gefunden.
All das hatte ihr Türen geöffnet, doch dieselben Türen würden sich ziemlich schnell wieder schließen, sobald bekannt würde, dass sie nach einem Ehemann Ausschau hielt.
»Kaum zu glauben, dass uns diese Lösung des Problems nicht früher eingefallen ist«, bemerkte Carol. »Hast du denn schon angefangen, nach einem richtigen Ehemann Ausschau zu halten, nachdem du den Mühlstein um deinen Hals nun bald loswirst?«
Julia grinste. »Ein bisschen umgesehen habe ich mich tatsächlich, aber noch keinen gefunden, den ich heiraten möchte. «
»Ach, sei doch nicht immer so schrecklich heikel!«, meinte Carol, der vermutlich nicht bewusst war, dass sie sich schon anhörte wie ihr Gatte Harry. »Mir fällt auf Anhieb eine ganze Reihe von geeigneten …« Als Julia lachte, brach Carol ab und fragte: »Was ist daran so lustig?«
»Du denkst dabei an deine gesellschaftlichen Kreise, doch ich bin nicht darauf festgelegt, einen weiteren Lord als zukünftigen Ehemann zu finden, nur weil ich derzeit mit einem verlobt bin. Ganz im Gegenteil, ich habe jede Menge andere Möglichkeiten. Was nicht heißen soll, dass ich einen Aristokraten von vornherein ausschließe. Ich freue mich sogar auf den Ball, der dieses Wochenende die neue gesellschaftliche Saison einläuten wird.«
Carol runzelte die Stirn. »Demnach hat in den vergangenen Monaten also keiner dein Interesse erregt?«
Julia errötete. »Also gut, dann bin ich eben ein klein wenig heikel, aber machen wir uns nichts vor: Du hattest ganz großes Glück, deinen Harry zu finden. Die Frage ist nur: Wie viele Harrys gibt es dort draußen wohl? Nichtsdestoweniger wünsche ich mir einen Mann, wie du ihn hast – einen, der sich mit mir in meine Ecke stellt und mich nicht in seiner Ecke hinter sich platziert. Außerdem muss ich mein Erbe davor schützen, von einem Mann vergeudet zu werden. Ich muss sicherstellen, dass es auch noch für die Kinder zur Verfügung steht, die ich eines Tages zu bekommen hoffe.«
Carol riss plötzlich sorgenvoll die Augen auf. »Denk nur daran, wie viel Zeit du bereits verschwendet hast! Mittlerweile bist du einundzwanzig und noch immer nicht verheiratet!«
»Carol!«, rief Julia lachend aus. »Ich bin doch schon seit Monaten einundzwanzig. An meinem Alter hat sich nichts geändert. «
»Aber bisher warst du eine verlobte Einundzwanzigjährige. Es ist etwas ganz anderes, einundzwanzig zu sein und keinen Verlobten zu haben. Außerdem wird es in der Zeitung stehen, wenn du den Sohn des Grafen für tot erklären lässt. Alle werden darüber Bescheid wissen – oh, hör auf, mich so böse anzufunkeln, ich nenne dich nicht ›alte Jungfer‹ …«
»Das hast du bereits getan, hier an diesem Tisch. Es ist noch keine fünfzehn Minuten her.«
»Das habe ich doch nicht so gemeint. Ich wollte dir damit nur etwas klarmachen, aber nun … Teufel noch mal, nun ist die Situation eine völlig andere! Plötzlich hast du keinen Verlobten mehr!«
Julia schüttelte den Kopf. »Du betrachtest die Dinge schon wieder aus deiner Perspektive statt aus meiner. Du und die anderen Mädchen, mit denen wir zur Schule gingen, ihr wart alle der Meinung, dass man gleich in der ersten Saison heiraten müsse, weil sonst die ganze Welt zusammenbräche. Ich habe euch schon damals gesagt, wie albern das ist. Ob nun dieses Jahr oder erst in fünf oder gar zehn Jahren – für mich macht das keinen Unterschied, solange ich nicht meinen derzeitigen Verlobten heiraten muss und solange ich noch jung genug bin, um Kinder zu bekommen.«
»Es ist ein Luxus, so zu denken wie du!«, schnaubte Carol.
»Es hat eben auch Vorteile, nicht zur Aristokratie zu gehören. «
Der pikierte Ton, in dem Julia dies sagte, ließ Carol laut losprusten. »Touché! Aber du weißt, was das bedeutet, nicht wahr? Nun werde ich eine ganze Menge Feste für dich veranstalten müssen.«
»Nein, wirst du nicht.«
»Oh doch! Also schlag dir den Malory-Ball dieses Wochenende aus dem Kopf, denn dort wirst du nicht allzu viele junge Männer vorfinden. Dafür erweitere ich meine Gästeliste nun um …«
»Carol, sei nicht albern! Du weißt genau, dass dieser Ball der Ball der Saison sein wird. Die Einladungen sind im Moment sehr viel wert, man hat mir für die meine bereits dreihundert Pfund geboten.«
Carol riss die Augen auf. »Du machst Witze!«
»Stimmt, es waren nur zweihundert.«
Julia heimste damit nicht das Gelächter ein, auf das sie gehofft hatte. Stattdessen bedachte Carol sie mit einem strengen Blick und sagte: »Ich weiß genau, für wen dieser Ball veranstaltet wird, auch wenn das eigentlich ein Geheimnis bleiben soll. Du hast dich mit Georgina Malory angefreundet und warst sogar schon ein paar Mal bei ihr zu Hause …«
»Du meine Güte, sie sind nun mal unsere Nachbarn, und das bereits seit sieben Jahren – oder sind es inzwischen schon acht? Sie wohnen nur ein paar Häuser weiter!«
»… dennoch wirst du nie erleben, dass ich einen Fuß über diese Schwelle setze«, fuhr Carol fort, als wäre sie nicht unterbrochen worden.
»Der Ball findet gar nicht bei Georgina statt. Gastgeberin ist ihre Nichte Lady Eden.«
»Das spielt keine Rolle. Ihr Ehemann wird auch dort sein, und es ist mir in all den Jahren stets gelungen, ein Zusammentreffen mit James Malory zu vermeiden. Ich habe all diese Geschichten über ihn gehört, und deshalb werde ich ihn auch weiterhin meiden, das kannst du mir glauben!«
Julia verdrehte die Augen. »Er ist nicht der Unhold, den du aus ihm machst, Carol, das habe ich dir schon oft gesagt. Er hat überhaupt nichts Unheilvolles oder Gefährliches an sich.«
»Natürlich versteckt er diese Seite vor seiner Frau und ihren Freunden!«
»Das kannst du erst sagen, wenn du ihn kennengelernt hast, Carol. Außerdem hegt er eine derartige Abneigung gegen gesellschaftliche Ereignisse, dass er womöglich gar nicht anwesend sein wird.«
»Meinst du wirklich?«
Julia verkniff sich eine Antwort. Selbstverständlich würde er anwesend sein, schließlich wurde der Ball zu Ehren seiner Frau gegeben. Trotzdem ließ sie Carol in dem Glauben, dass er womöglich gar nicht da sein würde – auch wenn das höchst unwahrscheinlich war –, und bekam prompt die Antwort, auf die sie gehofft hatte.
»Na schön, ich begleite dich.« Doch ganz so leichtgläubig war Carol nun auch wieder nicht, denn sie fügte hinzu: »Und falls er doch da sein sollte, dann behalte es für dich, ich will es lieber gar nicht wissen.«
Gabrielle Anderson stand am Ruder und steuerte die Triton. Das Meer war an diesem Tag sehr ruhig, so dass es sie kaum Kraft kostete, das Steuerrad in Position zu halten. Ihr Ehemann Drew hatte keinerlei Bedenken, dass sie sein geliebtes Schiff versenken könnte. Er wusste, dass sie während der drei Jahre, in denen sie mit ihrem Vater Nathan Brooks und seiner Schatzsuchermannschaft durch die Karibik gesegelt war, alles gelernt hatte, was es über ein Schiff zu lernen gab. Sie stand wirklich gern am Steuer. Das einzige Problem war, dass sie es nur für eine begrenzte Zeit schaffte, weil dann ihre Arme von der Anstrengung zu erlahmen begannen.
Drew löste sie ab. Er sagte dabei kein Wort, sondern drückte ihr lediglich einen Kuss auf die Wange, ohne ihr jedoch Gelegenheit zu geben, beiseitezutreten, so dass sie nun zwischen seinen Armen gefangen war. Was ihr allerdings nicht das Geringste ausmachte. Mit einem zufriedenen Seufzer lehnte sie sich an seine breite Brust. Ihre Mutter hatte sie oft davor gewarnt, sich in einen Mann zu verlieben, der die See liebte. Da ihr Vater während ihrer Kindheit so viel auf dem Meer unterwegs gewesen war, hatte Gabrielle diese Warnung durchaus ernst genommen, bis ihr irgendwann klar wurde, wie sehr sie ihrerseits das Meer liebte. Deshalb würde sie nicht allein zurückbleiben, während ihr Mann um die Welt segelte, sondern stets an seiner Seite sein.
Dies stellte ihre erste lange Reise dar, seit sie letztes Jahr geheiratet hatten. Sie hatten viele kürzere Strecken zwischen den Inseln zurückgelegt und waren auch ein paarmal nach Bridgeport, Connecticut gesegelt, um in Drews Heimatstadt Möbel einzukaufen. Diese Reise aber sollte sie endlich nach England zurückführen, wo sie einander zum ersten Mal begegnet waren und wo inzwischen Drews halbe Familie lebte.
Anfang des Jahres hatte ein Brief seines Bruders Boyd sie erreicht, in dem dieser ihnen die erstaunliche Neuigkeit mitteilte, dass er sich – nicht lange, nachdem Drew den Bund der Ehe eingegangen war – ebenfalls vermählt hätte. Boyds Heirat kam zwar unerwartet, aber dennoch nicht völlig überraschend, da er kein ganz so eingefleischter Junggeselle wie Drew gewesen war. Kurioserweise hatten mit Boyd nun bereits drei Anderson-Geschwister in die riesige in England lebende Familie Malory eingeheiratet. Wirklich überraschend aber war, dass Boyd sich in eine Malory verliebt hatte, von der niemand etwas gewusst hatte, einschließlich seiner Frau und deren Vater!
Der verflixte Boyd teilte ihnen nur sehr bruchstückhaft mit, wie sich das alles zugetragen hatte, so dass Drew es kaum erwarten konnte, die ganze Geschichte zu hören, und am liebsten sofort nach Erhalt des Briefes nach England gesegelt wäre, hätten er und Gabrielle auf der schönen kleinen Insel, die Gabrielle zur Hochzeit geschenkt bekommen hatte, nicht gerade mitten im Hausbau gesteckt.
Nun aber war ihr Haus endlich fertig, und sie befanden sich auf dem Weg nach England. Boyd hatte in seinem Brief ohnehin vorgeschlagen, die ganze Familie sollte doch dieses Jahr in England zusammenkommen, um den Geburtstag ihrer Schwester Georgina zu feiern – der perfekte Anlass für ein Familientreffen. Gabrielle und Drew würden rechtzeitig dort sein, um beides miteinander zu verbinden: die Befriedigung ihrer Neugier und Georginas Geburtstagsfest.
Als Einzelkind war Gabrielle hocherfreut darüber, in eine Großfamilie eingeheiratet zu haben. Es gab fünf Anderson-Brüder und eine Schwester. Bisher kannte Gabrielle nur die drei jüngeren Geschwister, blickte ihrer ersten Begegnung mit den drei älteren Brüdern aber völlig gelassen entgegen. Sie freute sich richtig darauf, sie endlich kennenzulernen.
Vorhin hatte sie gefroren, bis Drew sie mit seinem Körper umschloss. Obwohl fast schon Sommer war und ihr Schiff, falls ihnen der Wind weiter wohlgesinnt blieb, am nächsten Tag England erreichen würde, ließ der kalte Atlantik sich einfach nicht mit den warmen karibischen Gewässern vergleichen, an die sie sich inzwischen gewöhnt hatte.
»Vielleicht solltet ihr beide euch lieber in eure Kabine zurückziehen«, meinte Richard Allen mit einem verschmitzten Grinsen, als er neben sie trat. »Wollt ihr, dass ich das Steuer übernehme?«
»Unsinn, wir sind doch nicht mehr frisch vermählt!«, begann Drew, doch Gabby hatte sich bereits umgedreht und ihn in eine enge Umarmung gezogen, sodass er atemlos stöhnte: »Aber wenn ich es mir recht überlege …«
Lachend brachte seine Frau ihn auf andere Gedanken, indem sie ihn zu kitzeln begann. Sie verstand sich durchaus auch aufs Necken, hielt solche Neckereien aber meist nicht lange durch, weil in der Regel ihre Gefühle mit ihr durchgingen, wenn sie ihrem Mann derart nahe war.
»Ihr könnt ja nach mir rufen, falls ihr es euch anders überlegt«, bot Richard an und fügte dann lachend hinzu: »Ich an eurer Stelle würde es tun!«
Gabrielle starrte ihm hinterher. Ihr lieber Freund lebte schon sein halbes Leben in der Karibik – zumindest die Hälfte, von der sie wusste – und spürte offenbar dieselbe Kälte in der Luft wie sie. Er trug sogar einen Überzieher! Wo zum Teufel hatte er ein derart englisch aussehendes Kleidungsstück aufgetrieben?
Richard war ein hochgewachsener, äußerst gut aussehender, wagemutiger junger Mann – vielleicht eine Spur zu wagemutig – , dabei aber von so charmantem Wesen … dass es an ein Wunder grenzte, dass Gabrielle sich nie körperlich zu ihm hingezogen gefühlt hatte und sie beide stattdessen enge Freunde geworden waren. Er trug sein schwarzes Haar so lang, dass er es im Nacken zurückbinden musste. Ein schmaler Schnurrbart verlieh ihm ein verwegenes Aussehen, und in seinen grünen Augen funkelte meist der Schalk.
Richard war um einiges schlanker gewesen, als sie ihn vier Jahre zuvor kennengelernt hatte. Inzwischen, mit seinen nunmehr sechsundzwanzig Jahren, hatte er ein wenig zugelegt und war muskulöser geworden. Er achtete penibel auf seine Körperpflege. Allein schon durch sein Haar, aber auch durch die Art, wie er sich kleidete – bis hinunter zu seinen blitzblank polierten hohen Stiefeln –, war er unter den anderen Piraten stets aufgefallen.
Bald nach seinem Eintreffen in der Karibik hatte er sich der Piratenmannschaft ihres Vaters angeschlossen. Wo er ursprünglich hergekommen war, wusste niemand. Die meisten Piraten gaben niemals preis, woher sie stammten, und benutzten in der Regel auch falsche Namen, die sie oft wechselten. Richard nannte sich damals meist Jean Paul. Lange Zeit hatte er an einem dazu passenden französischen Akzent gefeilt und sich dabei immer so lustig angehört! Es hatte ewig gedauert, bis er den Akzent perfekt beherrschte, doch als es schließlich so weit war, hatte er ihn umgehend abgelegt – und damit auch den französischen Namen. Er hatte nur nicht klein beigeben wollen, ehe er es richtig konnte, das Ganze dann aber zufrieden als gemeisterte Herausforderung ad acta gelegt.
Gabrielles Vater war allerdings kein typischer Pirat gewesen. Er hatte sich mehr oder weniger zu einem Mittelsmann entwickelt, der von anderen Piraten Geiseln übernahm und gegen Lösegeld zurück an ihre Familien verkaufte. Diejenigen Geiseln, deren Familien sich das Lösegeld nicht leisten konnten, ließ er einfach laufen. Zwischendrin war er immer wieder auf Schatzsuche gegangen.
Nachdem er im Vorjahr jedoch mehrere Monate im Verlies eines richtigen Piraten verbracht hatte, wollte Nathan mit seinen alten Kameraden nichts mehr zu tun haben. Die Tatsache, dass Gabrielle mittlerweile in eine ehrenwerte Reeder-Familie eingeheiratet hatte, welche Piraten als ihre Feinde betrachtete, mochte ebenfalls zu dieser Entscheidung beigetragen haben. Auf Schatzsuche ging er aber nach wie vor, und gelegentlich segelte er auch als Frachterkapitän für Skylark, die Schifffahrtslinie, die Drews Familie gehörte – wenn das Ziel der Fracht ihn zufällig in die Richtung führte, in die er ohnehin gerade wollte, um irgendeinem Hinweis auf einen Schatz hinterherzujagen.
Tief in Gedanken versunken, hatte Gabrielle gar nicht bemerkt, wie Richard an die Reling des unteren Decks getreten war. Nun aber sah sie ihn dort stehen und in Richtung England starren. Nachdem er damals seinen albernen französischen Akzent abgelegt hatte, war klar gewesen, dass er aus England stammte. Wobei sie schon lange diesen Verdacht gehegt hatte, weil ihm so oft Ausdrücke entwischten, die einfach typisch englisch waren.
Doch obwohl er sich inzwischen wie ein richtiger Engländer anhörte, hatte er niemals zugegeben, einer zu sein, und sie hatte ihn nie direkt danach gefragt – aus gutem Grund. Männer, die Piraten wurden, versteckten sich in der Regel vor irgendetwas aus ihrer Vergangenheit, manchmal auch vor dem Gesetz, und Richard hatte sie im Vorjahr nur höchst ungern nach England begleitet. Zwar hatte er gute Miene zum bösen Spiel gemacht und sich wie üblich unbekümmert und schelmisch gegeben, aber wenn er sich von ihr unbeobachtet fühlte, spürte sie oft seine … was? Unruhe? Furcht? Hatte er Angst, wegen vergangener Taten in das nächste Gefängnis geworfen zu werden? Sie hatte keine Ahnung. Dann war er Georgina Malory begegnet, und ab diesem Zeitpunkt war es an Gabrielle gewesen, sich Sorgen zu machen.
Während sie ihn nun betrachtete, konnte sie nicht umhin, seinen Stimmungsumschwung zu bemerken, die tiefe Melancholie, die ihn plötzlich umgab. Sie vermutete, dass er wieder an Georgina dachte. All die Zweifel, die Gabrielle anfangs gehegt hatte, nachdem sie in See gestochen waren, kehrten mit zehnfacher Stärke zurück.
»Wie konnten wir uns nur dazu überreden lassen, ihn mit nach England zu nehmen?«
Sie sagte das mehr zu sich selbst, doch Drew folgte ihrem Blick und schnaubte. »Weil er dein bester Freund ist.«
Sie wandte sich nach ihm um. »Du bist jetzt mein bester Freund«, versicherte sie ihm.
»Ich bin dein Mann, und er ist immer noch dein bester Freund. Außerdem hast du dich von deinem anderen besten Freund namens Ohr davon überzeugen lassen, dass Richard nicht wirklich in meine Schwester verliebt ist. Weißt du, Gabby«, fügte Drew abrupt hinzu und kniff dabei seine dunklen Augen zusammen, »für meinen Geschmack hast du zu viele männliche Freunde.«
Der plötzliche Eifersuchtsanfall ihres Mannes brachte sie zum Lachen und lenkte sie für einen Moment von Richard und den mit ihm verbundenen Problemen ab. Während Drew stirnrunzelnd auf sie hinabblickte, erlag sie der Versuchung, ihn zu küssen – ungeachtet der Frage, ob seine grimmige Miene nur aufgesetzt war oder nicht. Sie liebte ihn so sehr, dass sie nie lange die Finger von ihm lassen konnte, und ihm erging es mit ihr ebenso.
»Hör auf«, warnte er sie mit heiserer Stimme, »oder ich muss doch noch auf Richards Angebot zurückgreifen, das Steuer zu übernehmen.«
Sie grinste. Das war gar keine so schlechte Idee. Ein Schäferstündchen mit Drew war bei Weitem besser, als sich den Kopf darüber zu zerbrechen, ob Richard in England in eine tödliche Falle tappen würde.
Doch der Gedanke an diese tödliche Falle ging ihr nicht aus dem Kopf, denn Drew fügte hinzu: »Außerdem sollte die Frage eher lauten, wie du es geschafft hast, mich dazu zu überreden, die beiden mit auf diese Reise zu nehmen.«
Sie wandte sich wieder von ihm ab, damit er nicht mitbekam, wie sie wegen seiner Worte das Gesicht verzog. Obwohl sie Ohr und Richard wie Brüder liebte, bedauerte sie bereits, sie mitgenommen zu haben.
Zu Drew aber sagte sie: »Darf ich dich daran erinnern, dass das eine ganz spontane Entscheidung war? Als wir vor Monaten anfingen, über diese Reise zu reden und Richard mir erklärte, er wolle mit, war meine Antwort ein klares Nein. Kurz bevor wir lossegelten, brach mein Vater sich dann jedoch das rechte Bein, sodass er und seine Mannschaft nun für ein, zwei Monate zu Hause bleiben müssen. Du weißt genau, welche Probleme auftreten können, wenn eine Mannschaft zu lange untätig an Land festsitzt.«
»Ja, aber diese beiden hätten schon eine Beschäftigung gefunden – nun gib es schon zu: Dein Vater hat sie wieder als deine Wachhunde mitgeschickt! Er traut mir noch immer nicht zu, dass ich in der Lage bin, auf dich aufzupassen.«
»Das meinst du nicht ernst, oder? Er ist doch so begeistert darüber, dich zum Schwiegersohn zu haben. Außerdem hat er mich nicht gebeten, sie mitzunehmen, obwohl er es vermutlich getan hätte, wenn es ihm in den Sinn gekommen wäre. Sie liegen ihm ebenfalls am Herzen, musst du wissen. Die beiden betrachten ihn als eine Art Ersatzvater, und er empfindet genauso, sie gehören für ihn zur Familie.«
»Ja, ich weiß – ihr seid alle eine große glückliche Familie«, lachte Drew, »in die ich eingeheiratet habe, stimmt’s?«
»Du bist derjenige mit der großen Familie, die in eine noch größere eingeheiratet hat. Dein Schwager mag Richard bei ihrer letzten Begegnung ignoriert haben, aber James hatte damals andere Dinge im Kopf: Schließlich musste er meinen Vater aus diesem schrecklichen Verlies befreien. Was jedoch nicht bedeutet, dass James den Schwur vergessen hat, den er an jenem Tag leistete, als er sah, wie seine Frau Richard im Garten ohrfeigte, nachdem er ihr unschickliche Avancen gemacht hatte. James erklärte mir damals ganz unverblümt, dass er sich gezwungen sähe, Richard etwas anzutun, falls er sich jemals wieder in die Nähe seiner Frau wagte. Du kennst ihn besser als ich und hast mir bestätigt, dass er das höchstwahrscheinlich todernst gemeint hat.«
»Natürlich hat er das ernst gemeint. Ich würde genauso reagieren, wenn ich mitbekäme, wie ein anderer Mann sich an meine Frau heranmacht. Trotzdem glaube ich, dass du dir unnötig den Kopf zerbrichst, mein Schatz«, fügte Drew hinzu, während sie sich wieder an seine Brust sinken ließ. »Richard ist schließlich nicht dumm. Ein Mann muss schon ausgesprochen dumm oder nicht ganz bei Verstand sein, um sich mit diesem ganz bestimmten Malory anzulegen.«
»Ähm, hast du zusammen mit deinen Brüdern nicht genau das getan, als du ihn gezwungen hast, deine Schwester zu heiraten? Nachdem ihr ihn bewusstlos geschlagen hattet?«
»Liebste, es waren alle fünf von uns nötig, um ihm diese Tracht Prügel zu verpassen. Als wir versuchten, ihn uns einzeln vorzunehmen, haben wir kläglich versagt! Außerdem habe ich dir doch erzählt, dass James uns damals absichtlich dazu brachte, handgreiflich zu werden. Das war seine bizarre Art, Georgie zur Frau zu bekommen, ohne bei ihr oder uns um ihre Hand anhalten zu müssen, weil er doch diesen albernen Schwur geleistet hatte, niemals zu heiraten.
»Ich fand das ziemlich romantisch.«
Drew lachte. »Das war zu erwarten. Aber nur ein starrsinniger Engländer kann einen solchen Aufwand betreiben, um sein Wort zu halten – wegen einer Ehe! Wäre es dabei um seine Ehre oder sein Land gegangen oder um … nun ja, du weißt schon, was ich meine – auf jeden Fall wäre es dann verständlich gewesen. Aber wegen einer Ehe? Vergiss nicht, dass es sich hierbei um geheime Informationen handelt, die ich mit dir teile, weil du meine Ehefrau bist. Verrate James nie, dass meine Brüder und ich ihm auf die Schliche gekommen sind. Er bildet sich nämlich immer noch ein, uns hinters Licht geführt zu haben. Und glaub mir, er ist viel erträglicher, wenn er insgeheim über uns triumphiert, als wenn er sich ärgert und auf Blutvergießen aus ist!«
»Ich habe Geheimhaltung geschworen«, beruhigte sie Drew mit einem Grinsen. »Und was Richard betrifft, hast du völlig recht. Er ist nicht dumm. Aber du kennst ihn. Er ist ein charmanter, humorvoller, schelmischer Mann, der stets ein Lächeln auf den Lippen hat …«
»Hör auf, ein Loblied auf ihn zu singen!«
»Du hast mich nicht ausreden lassen. Bis ihm Georgina wieder in den Sinn kommt, wollte ich sagen. Dann wird er so melancholisch, dass es einem das Herz brechen könnte.«
»Meines nicht.«
»Ach, nun komm schon, du magst ihn doch, und das weißt du auch. Wie könntest du ihn nicht mögen?«
»Vielleicht, weil er in meine Schwester verliebt ist? Er hat Glück, dass ich nicht mit seinem Gesicht das Deck scheuere.«
Sie schenkte dem knurrigen Ton ihres Mannes keine Beachtung. »Ohr sagt, dass Richard Georgina gar nicht wirklich liebt. Ich bin ebenfalls dieser Meinung, sonst hätte ich ihn nicht mitkommen lassen.«
Anfangs war sie wegen Ohrs Behauptung eher skeptisch gewesen, bis sie dann aber herausfand, dass Richard im vergangenen Jahr mindestens drei Affären gehabt hatte. Das war im Grunde der entscheidende Faktor gewesen, warum sie am Ende doch zugestimmt hatte, ihre Freunde mit auf diese Reise zu nehmen.
»Dem mag ja so sein«, entgegnete Drew, »aber was macht es für einen Unterschied, ob Richard sich nur einbildet, meine Schwester zu lieben?«
»Ohr meint, Richard sehnt sich so sehr nach der großen Liebe, dass er leicht Lust mit Liebe verwechselt. Dabei ist ihm selbst nicht einmal bewusst, wonach er eigentlich sucht. Aber vielleicht kann er den Unterschied zwischen Lust und Liebe deswegen nicht erkennen, weil er noch nie wahre Liebe erlebt hat.«
Drew hatte dieses Problem am eigenen Leibe erfahren und räumte das indirekt auch ein, indem er Gabrielle recht gab: »Genau. Aber nun zweifelst du plötzlich daran?«
»Nein, mir geht nur nicht aus dem Sinn, was Richard über Georgina gesagt hat. Als ich ihn daran erinnerte, dass sie verheiratet ist und er sie sich besser aus dem Kopf schlagen sollte, gab er mir zur Antwort, das habe er versucht, aber er könne seine ›einzig wahre Liebe‹ einfach nicht vergessen. Wie oft nennt ein Mann eine Frau so?!«
»Ich kann an zwei, drei, nein, einem Dutzend Händen abzählen, wie oft ich das gesagt oder gedacht habe – über dich.«
Sie hörte seine Antwort kaum, obwohl sie erneut herumschwang und ihn umarmte. In Gedanken aber war sie bei einem Gespräch, das sie mit Richard geführt hatte, als ihr damals bewusst geworden war, dass sie Drew liebte – und sie so sicher war, dass er ihre Liebe nicht erwiderte. Richard hatte ihr einen Arm um die Schulter gelegt und zu ihr gesagt: »Das wird schon, chérie. Er vergöttert dich.«
»Er vergöttert alle Frauen«, hatte sie darauf erwidert.
Was Richard mit einem Lachen quittierte. »Genau wie ich, aber ich gäbe sie trotzdem alle auf für …«
»Schhh!«, hatte sie mit ernster Miene gezischt. »Bitte hör auf, dich nach der Frau eines anderen Mannes zu verzehren, Richard! Malory wird es sich nicht gefallen lassen, wenn du dich noch einmal an sie heranmachst. Komm endlich zur Vernunft, sonst muss ich um dein Leben bangen!«
»Wer hat behauptet, dass Liebe etwas mit Vernunft zu tun hat?«, hatte damals seine Antwort gelautet, die ihr im Gedächtnis haften geblieben war. Sie wiederholte sie nun für ihren Mann.
»Du weißt am besten, wie viel Wahres darin liegt«, fügte sie hinzu. »Denk nur an deinen eigenen Fall! Immerhin warst du selbst mal ein eingefleischter Junggeselle mit einem Liebchen in jedem Hafen.«
Da sie keine Antwort bekam, sah sie hoch und bemerkte den »Warteblick«, mit dem er sie fixierte und der, wie ihr nun klar wurde, nichts mit ihrer letzten Bemerkung zu tun hatte. Grinsend schlang sie ihre Arme um seinen Hals.
»Doch, ich habe durchaus gehört, was du gesagt hast«, erklärte sie. »Kannst du tatsächlich an nur zwölf Händen abzählen, wie viele Male du mich deine ›einzig wahre Liebe‹ genannt hast?«
Durch ihre Worte versöhnt, erwiderte er ihre Umarmung, während er entgegnete: »Nein, da habe ich stark untertrieben. Aber was deine letzte Bemerkung betrifft: Es gab einen guten Grund, warum ich ein eingefleischter Junggeselle war. Ich war fest entschlossen, keine Frau den Qualen auszusetzen, die meine Mutter durchleiden musste. Ständig starrte sie wehmütig aufs Meer hinaus und wartete auf ein Schiff, das nur selten den Weg nach Hause fand. In all den Jahren ist mir kein einziges Mal in den Sinn gekommen, dass ich eine Frau finden könnte, die gern an meiner Seite segeln würde. Ich weiß zwar, dass die Frau meines Bruders Warren mit ihm segelt, habe aber nie damit gerechnet, ebenfalls einen solchen Glückstreffer zu landen. Trotzdem hast du recht, wenn du sagst, dass Liebe sehr unvernünftig sein kann. Mich hat sie all meine ach so unerschütterlichen Prinzipien vergessen lassen. Sie kann derart unvernünftig sein, dass ich zweifellos sogar die See für dich aufgegeben hätte. Mein Gott, ich fasse selbst nicht, dass ich das gerade gesagt habe, aber dir ist hoffentlich klar, dass es stimmt!«
Plötzlich übermannten ihn so heftige Gefühle, dass er Gabrielle zwischen seinen Armen fast erdrückte, woraufhin sie ihm rasch versicherte: »Das wirst du nie müssen. Ich liebe die See ebenso sehr wie du.«
»Ich weiß, und mir ist auch durchaus bewusst, was für ein Glückspilz ich bin. Und was deinen Freund betrifft … Findest du nicht, dass du dir für heute genug Sorgen um ihn gemacht hast?«
Sie seufzte. »Ich wünschte, ich könnte damit aufhören. Ich habe nur solche Angst, dass er, wenn er deine Schwester wiedersieht, alle Vorsicht in den Wind schlägt und …«
»In diesem Fall wäre James nicht sein einziger Gegner«, unterbrach er sie in warnendem Ton, »das ist dir doch bewusst, oder?«
»Ja.« Wieder seufzte sie.
»Ich könnte ihn und Ohr immer noch über Bord werfen – mit einem Dingi, versteht sich. Bis sie damit nach England gerudert sind, ist es für uns schon wieder an der Zeit, die Rückreise anzutreten. Problem gelöst.«
Obwohl sie wusste, dass er das nicht ernst meinte, sondern nur versuchte, ihre sorgenvollen Gedanken zu vertreiben, konnte sie die unheilvollen Vorahnungen einfach nicht abschütteln. Es mochte mit irgendwelchen Taten aus Richards Vergangenheit zusammenhängen, oder mit den Drohungen, die er wegen einer Frau provoziert hatte, die er zu lieben glaubte. Jedenfalls befürchtete Gabrielle, dass etwas Schlimmes passieren könnte und es dann ihre Schuld wäre, weil sie Richard nach England zurückgebracht hatte.
Richard zog seinen Hut tief ins Gesicht. Dabei hatte er eigentlich gar keine Angst, erkannt zu werden. Im Londoner Hafen? Wohl kaum. Dennoch wäre es unklug, frech sein Gesicht zur Schau zu stellen, nur um das Schicksal herauszufordern. Warum das Risiko eingehen, dass dies der eine von tausend Tagen sein könnte, an dem ein alter Bekannter von einer Auslandsreise zurückkehrte und dabei ausgerechnet in diesem Teil des Hafens anlegte?
Er hatte sich seines Überziehers entledigt, weil es mittlerweile zu warm dafür war, und trug seine übliche Schiffskleidung – bequeme Sachen, in denen man gut arbeiten konnte. Sein langärmeliges weißes Hemd hatte einen tiefen V-Ausschnitt und war so weit, dass es ihm viel Bewegungsfreiheit ließ. Von einem Gürtel zusammengehalten, fiel es locker über seine schwarze Hose. Die Hosenbeine hatte er in die Stiefel geschoben. In dieser Aufmachung fiel er unter den einfachen Hafenarbeitern kaum auf, von seinen blitzblank polierten Stiefeln einmal abgesehen.
Es war höchst unwahrscheinlich, dass ihn nach all den Jahren jemand erkennen würde. Als er England damals verließ, war er ein spindeldürrer Siebzehnjähriger gewesen, der noch nicht einmal seine volle Größe erreicht hatte. Ziemlich spät für sein Alter war er noch ein ganzes Stück gewachsen, und dadurch länger dünn geblieben, als ihm lieb gewesen war, aber irgendwann hatte er dann doch ein wenig zugelegt, so dass man ihn nicht mehr als mager bezeichnen konnte. Außerdem trug auch sein langes schwarzes Haar zu seiner Tarnung bei, da er es so unmodisch trug, wie es nur ging – zumindest nach englischen Maßstäben.
In der Karibik war langes Haar auch bei Männern sehr beliebt, weshalb er es sich hatte wachsen lassen, um nicht aufzufallen. Zwar trug er es nicht zu einem Zopf geflochten wie Ohr, musste es mittlerweile aber im Nacken zusammenbinden, weil es derart lang geworden war, dass es ihn sonst bei seiner Arbeit an Bord behindert hätte.
Für die Dauer seines Aufenthalts in England sollte er es sich eigentlich abschneiden lassen. Derselbe Gedanken war ihm auch schon im Vorjahr gekommen. Aber warum? Er würde nur wenige Wochen bleiben, und er trug sein Haar nun einmal gern lang. Außerdem war es ein Zeichen der Rebellion, mit der er bereits begonnen hatte, bevor er sein Zuhause damals endgültig verließ. Unter dem eisernen Regiment seines Vaters hätte er sein Haar niemals auf diese Art tragen dürfen.
»Lord Allen?«
Richard hatte den Mann nicht kommen sehen, aber als er nun einen schnellen prüfenden Blick in sein Gesicht warf, kam er ihm tatsächlich bekannt vor. Lieber Himmel, womöglich einer von den Taugenichtsen, mit denen er befreundet gewesen war, bevor er England verließ? War tatsächlich der unvorhersehbare Fall eingetreten, dass er mit einer Wahrscheinlichkeit von eins zu tausend erkannt wurde? Was für ein Schlamassel!
»Sie irren sich, Monsieur. Ich bin Jean Paul aus Le Havre.« Er verbeugte sich respektvoll, ließ dabei aber absichtlich sein langes Haar nach vorn über die Schultern fallen, um seine Worte noch plausibler wirken zu lassen. »Mein Schiff ist soeben aus Frankreich eingetroffen.«
Jeder Muskel in seinem Körper war bereit zur Flucht, falls sein Bluff und sein starker französischer Akzent ihre Wirkung verfehlen sollten, aber der Kerl verzog angewidert das Gesicht. Offenbar ärgerte er sich über sich selbst, weil ihm dieser vermeintliche Fehler unterlaufen war. »Wie schade! Das wäre ein saftiger Brocken für die Klatschmühlen gewesen.«
In der Tat – und Richards Vater hätte erfahren, dass sein Sohn noch am Leben war. Doch der Mann marschierte davon, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen. Es dauerte ein paar Augenblicke, bis Richard wieder richtig durchatmen konnte. Das war knapp gewesen. Und nicht eingeplant. Wenigstens handelte es sich bei dem Kerl nicht um einen wirklich guten alten Bekannten Richards, sodass ihn der andere seinerseits auch nicht eindeutig als Lord Allen identifizieren konnte. Außerdem, so versuchte Richard sich selbst zu beruhigen, hatte er sich seit damals derart verändert, dass ihn außer seinen Familienangehörigen ohnehin niemand mit Sicherheit erkennen würde.
»Ich habe dir doch gesagt, dass ich mich besser als du darauf verstehe, uns einen fahrbaren Untersatz zu besorgen«, prahlte Margery, als sie zu der Stelle zurückkehrte, wo ihr Gepäck sich stapelte, und den Kutscher anwies, genau dort zu warten. »Wo ist denn Gabby? Immer noch auf dem Schiff?«
Gabrielles Dienstmädchen blickte auf die Themse hinaus, wo die Triton vorerst ankerte. Es würde noch eine ganze Weile dauern, bis das Schiff einen Platz im Hafen zugewiesen bekam. Da der Sommer bevorstand, herrschte an den Hafenanlagen mehr Betrieb als sonst, weshalb durchaus auch die Möglichkeit bestand, dass sie bis zu ihrer Rückreise überhaupt keinen solchen Liegeplatz ergattern würden!
Richard atmete tief durch, schüttelte jeden Rest von Anspannung ab und schenkte dem Dienstmädchen ein keckes Lächeln. »Sie wartet auf Drew. Du weiß ja, wie Schiffskapitäne sind, immer haben sie in letzter Minute noch ein Dutzend Kleinigkeiten zu erledigen, ehe sie von Bord gehen können. «
Ohr ruderte mit einem Dingi, in dem sich ihr restliches Gepäck türmte, auf die Hafenanlagen zu. Sie hatten so viel mitgebracht, dass man hätte meinen können, sie kämen für einen Monat auf Besuch, und nicht nur – wie geplant – für zwei Wochen.
»Kannst du es riechen?«, fragte Margery ganz euphorisch. »Riecht das nicht wunderbar?«
Richard musterte das alte Mädchen, als wäre sie verrückt geworden. »Was zum Teufel riechst du denn da? Alles, was ich riechen kann, ist …«
»England!«
Er verdrehte seine grünen Augen. »Es stinkt hier ganz erbärmlich, das weißt du genauso gut wie ich. Unsere Häfen zu Hause, wo immer eine kräftige Brise weht, duften im Vergleich dazu wie ein Blumengarten.«
Sie schnaubte erbost. »Demnach liegt Gabby mit ihrer Vermutung, du wärst hier geboren und aufgewachsen, völlig falsch. Denn wenn dem so wäre, hättest du mehr Achtung vor deinem Heimatland. Gib es zu, dein englischer Akzent ist genauso falsch, wie es dein französischer war! Mit dem einzigen Unterschied, dass du den englischen besser beherrschst. «
Um sie ein wenig zu ärgern, rümpfte Richard die Nase, antwortete jedoch nur: »Eines Tages wird diese Stadt ihren Bürgern per Gesetz verbieten, ihren Müll einfach in den Fluss zu werfen.«
Doch Margery hatte gar nicht damit gerechnet, dass er ihr etwas über sich erzählen würde, nur weil sie über seine Vergangenheit spekuliert hatte, und bezog sich ihrerseits ebenfalls nur auf seine letzte Bemerkung: »Vielleicht gibt es ein solches Gesetz ja längst. Das hier ist nicht gerade die gesetzestreuste Gegend von London – ist es nie gewesen. Wobei ich mich ja nicht beschwere. Es ist wundervoll, wieder zu Hause zu sein, und sei es nur auf Besuch.«
Margery hatte sich dafür entschieden, Gabrielle in die Neue Welt zu begleiten. Obwohl sie sich recht gut an die völlig andere Lebensweise angepasst hatte, litt sie immer noch unter heftigem Heimweh. Richard hatte zwar kein Heimweh, vermisste jedoch seinen Bruder, Charles. Nachdem er ihm nun erneut so nahe war, konnte er nicht umhin, ernsthaft darüber nachzudenken, ob er sich dieses Mal die Mühe machen sollte, ein heimliches Treffen mit Charles zu vereinbaren – ohne dass ihr Vater davon erfuhr.