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Warmherzig, witzig, sexy
Die quirlige Rebecca Marshall ist ein Wirbelwind und sorgt am Hof von Queen Victoria für erhebliche Aufregung. Der überaus charmante Rupert St. John, Geheimagent Ihrer Majestät, ist überzeugt davon, dass Rebecca ihn ausspionieren soll. Um sie besser unter Kontrolle zu haben, verführt er sie – und findet sich gegen seinen Willen vor dem Traualtar wieder. Und dies ist erst der Anfang eines leidenschaftlichen Wechselbads der Gefühle…
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Seitenzahl: 457
Das Buch
Nachdem Rebecca Marshall von ihrem Verehrer verlassen wurde, ergreift sie nur zu gern die Chance, als Gesellschafterin an den Hof von Königin Victoria zu gehen. Dort taucht die bezaubernde junge Frau in eine Welt voll Glanz und Luxus ein – doch auch voll von undurchsichtigen Feindschaften und Intrigen. Ehe die in der hohen Kunst der höfischen Diplomatie recht unbedarfte Rebecca sich’s versieht, ist sie schon verstrickt in diverse Machenschaften und erfährt einige pikante Geheimnisse, ohne dies eigentlich zu wollen.
Der umwerfend attraktive Rupert St. John, Geheimagent im Dienste der Krone, misstraut Rebecca von Anfang an. Um sie auszuspionieren, sucht er ihre Nähe – ein Unterfangen, das nicht folgenlos bleibt. Schon bald lodern die Flammen der Leidenschaft zwischen den beiden – eine Leidenschaft, die sie bis vor den Traualtar führt. Doch danach beginnen die Irrungen und Wirrungen erst ...
Ein neues »Meisterstück des historischen Liebesromans« (Entertainment Weekly).
Die Autorin
Johanna Lindsey wächst auf Hawaii auf. Sie heiratet nach der Highschool und hat bereits zwei kleine Kinder zu versorgen, als sie sich zum Schreiben gedrängt fühlt.1976 veröffentlicht sie ihren ersten Roman. Heute ist sie eine der erfolgreichsten Autorinnen historischer Liebesromane. Weltweit hat sie über 60 Millionen Exemplare ihrer Bücher verkauft, die nicht selten die ersten Plätze der Bestsellerliste der New York Times erreichen. Johanna Lindsey schreibt und lebt mit ihrer Familie in Maine.
Für Mutter
Buckingham Palace. Rebecca Marshall fiel es schwer, zu glauben, dass sie von nun an dort leben würde. Obwohl sie bereits vor über einer Woche die Kunde erhalten hatte, konnte sie es immer noch nicht recht fassen.
Als die Kutsche vor dem Palast vorfuhr, machte ihr Herz einen Satz.
Hofdame am Hofe von Königin Victoria zu sein, war die schönste Überraschung, die das Schicksal bislang für sie in petto gehabt hatte. Rebeccas Mutter Lilly, die seit Langem hoffte, ihre Tochter würde eines schönen Tages mit ebendieser prestigeträchtigen Position betraut, hatte ihrer Tochter wohlweislich vorenthalten, dass sie dafür den einen oder anderen Gefallen von einflussreichen Leuten hatte einfordern müssen. Warum sie das getan hatte? Um einer möglichen Enttäuschung ihrer Tochter vorzubeugen, gesetzt den Fall, ihr Plan ging nicht auf.
Doch Lillys Sorgen waren vollkommen unbegründet. Rebecca wäre keineswegs betrübt gewesen, hatte sie doch nicht im Traum damit gerechnet, mit ihren achtzehn Lenzen zur Hofdame zu avancieren.
Es war ein offenes Geheimnis, dass Rebeccas Mutter sich stets sehnlichst gewünscht hatte, dass ihre Tochter eines Tages für die Krone arbeitete. Wie oft hatte Lilly über ihre verpasste Chance, selbst Hofdame zu sein, gesprochen? Doch das Leben – sprich: die Liebe – hatte ihr einen gehörigen Strich durch die Rechnung gemacht. Lilly hatte geheiratet.
Genau wie ihr Gemahl war Lillys Familie tief im konservativen Lager der Tories verwurzelt. Angesichts der Tatsache, dass die eher liberalen Whigs an der Macht waren und somit auch die Zügel am Hofe in der Hand hielten, war es Lilly schließlich verwehrt geblieben, ihren Traum zu leben. Irgendwann hatte sie die Hoffnung schließlich begraben.
Als nach einer halben Ewigkeit die konservativen Tories das Zepter übernahmen und Sir Robert Peel zum neuen Premierminister erklärten, hatte Lilly keine Zeit verloren und war an wichtige Parteimitglieder herangetreten, um Rebecca zu einer Anstellung am Hofe zu verhelfen. Trotz ihres Engagements war lange nicht klar gewesen, ob Rebecca tatsächlich einen der begehrten Posten bekäme – bis in der vorangegangenen Woche das heiß ersehnte Schreiben eingetroffen war. Als Lilly den Brief las, hatte sie vor lauter Freude gejohlt, als wäre sie selbst an den Hof berufen worden.
Die letzten Tage waren wie im Flug vergangen. Mutter und Tochter hatten nämlich erst kurz vorher damit begonnen, Rebeccas Debüt für die Wintersaison zu planen, wenngleich es noch Monate bis dahin dauerte. Aus ebendiesem Grunde hatte es bisher nur erste Entwürfe für Rebeccas neue Garderobe gegeben. Es war unglaublich, wie viele Näherinnen Mutter und Tochter beauftragen mussten und wie viele Entscheidungen es in der Kürze der Zeit zu fällen gab – ganz zu schweigen von den vielen Fahrten in das nahe gelegene Norford. An manchen Tagen hatten sie die Strecke mit Hin- und Rückfahrt vier bis sechs Mal zurückgelegt. Mit jedem Tag, an dem Rebeccas Abreise näherrückte, wuchs die Aufregung bei Mutter und Tochter. Rebecca konnte schon gar nicht mehr zählen, wie oft Lilly ihr erzählt hatte, dass die Anstellung am Hofe eine einmalige Chance darstellte.
Gemessen an Rebeccas bisherigem Leben war es der größte Einschnitt seit dem Ableben ihres Vaters. Der Earl of Ryne hatte das Zeitliche gesegnet, als Rebecca gerade einmal acht Jahre alt gewesen war. Schnell war klar, dass Lilly nie wieder heiraten würde. Es hatte sie nicht beeindruckt, dass Adelstitel und die Besitztümer des Earls an einen seiner männlichen Verwandten fielen. Einzig das Anwesen unweit von Norford, Rebeccas Elternhaus, war Lilly geblieben, und sie hatte das Beste daraus gemacht und klug gewirtschaftet, sodass sie finanziell gut aufgestellt war.
Im Gegensatz zu ihren Freundinnen hatte Rebecca ihr gesamtes Leben in ihrem Elternhaus verbracht, war nicht weggegangen, um anderswo ein Internat für Mädchen zu besuchen. Lilly, die es nicht über das Herz gebracht hatte, Rebecca ziehen zu lassen, hatte als Ausgleich die besten Hauslehrer engagiert.
Rebecca hatte sich nicht weiter daran gestört, konnte sie doch unendlich viel Zeit mit ihrer Mutter verbringen. Morgens, vorausgesetzt, das Wetter erlaubte es, frönten sie ihrer Lieblingsbeschäftigung: dem Reiten. Doch das war nicht das Einzige, was Rebecca am Hofe vermissen würde.
Da Mutter und Tochter in der Umgebung um Norford einen guten Ruf genossen, bekamen sie fast täglich Besuch oder wurden eingeladen. Die Gewissheit, dass Norford nur wenige Stunden nördlich von London lag, spendete Rebecca ein wenig Trost. Nichtsdestoweniger hatte Lilly sich fest vorgenommen, Rebecca erst einmal genügend Zeit zu lassen, um sich am Hofe einzugewöhnen, ehe sie ihr einen Besuch abstattete. Sie wollte auf keinen Fall den Eindruck einer gluckenhaften Mutter entstehen lassen, wenngleich das der Wahrheit sehr nahe kam.
Bei genauer Betrachtung stellte sich heraus, dass Rebeccas Berufung an den Hof nicht ihre erste Chance darstellte, ihrem Leben eine neue Richtung zu verleihen. Die erste Gelegenheit hatte sich vor fünf Jahren ergeben, als Mutter und Tochter sich darüber einig gewesen waren, wen Rebecca einmal heiraten sollte. Wenn es Rebecca gelungen wäre, seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, wäre ihre Einführung in die Gesellschaft hinfällig gewesen. Doch wie das Schicksal es wollte, war sie noch nicht alt genug für ihn gewesen. Die Rede war von Raphael Locke, dem Erben des Herzogs von Norford. Diese Verbindung wäre äußerst bequem gewesen, zumal es sich bei Raphael um ein besonders schmuckes Mannsbild handelte. Doch dann kam alles anders. Rebeccas Schwarm hatte einfach eine andere geehelicht.
Eine gar herbe Enttäuschung für Mutter und Tochter. Rebecca hatte sich nichts sehnlicher gewünscht, als Teil der illustren Lock’schen Familie zu werden, an deren Spitze der Herzog Preston Locke stand. Preston hatte noch fünf Schwestern, die allesamt verheiratet waren. Und obwohl die fünf über das ganze Land verstreut lebten, kehrten sie regelmäßig nach Norford zurück, um ihrem Bruder einen Besuch abzustatten.
Wie oft hatte Lilly Rebecca in schillernden Farben Geschichten von früher erzählt, als die Locke-Töchter noch zu Hause gewohnt hatten und die Familie Dreh- und Angelpunkt der ortsansässigen Gesellschaft gewesen war. Als Kind war Rebecca regelmäßig in den Genuss rauschender Bälle in Norford Hall gekommen. Es hatte nicht viel gefehlt, und Rebecca hätte sich mit Prestons jüngster Tochter, Amanda Locke, angefreundet, die nur wenige Jahre älter als sie selbst war. Noch heute bedauerte Rebecca, dass Amanda, der Familientradition folgend, auf eine entfernt gelegene Privatschule geschickt worden war. Als auch das Nesthäkchen ausgezogen war, hatte es, sehr zum Leidwesen von Mutter und Tochter, kaum noch Festivitäten auf Norford Hall gegeben. Obschon die Gemahlin des Herzogs bereits Jahre zuvor verschieden war und jede alleinstehende Frau in der näheren Umgebung mindestens ein Mal versucht hatte, das Herz des Herzogs zu erobern, war er Witwer geblieben. Der Hausherr von Norford Hall zog es vor, mit seiner betagten Mutter unter einem Dach zu leben. Irgendwann hatte Ophelia Locke es übernommen, Empfänge und Feste im Hause des Herzogs auszurichten. Dieselbe Ophelia, der es gelungen war, Raphaels Herz zu erobern, ehe Rebecca die Chance hatte, zum Angriff überzugehen.
Somit waren es streng genommen schon zwei verpasste Gelegenheiten, Bande zwischen den Marshalls und dieser hochgradig ungewöhnlichen Familie zu knüpfen: als beste Freundin und als Gemahlin. Aber das war Schnee von gestern. Das Leben ging weiter – und zwar als Hofdame am Hofe von Königin Victoria. Rebecca war sich der Vorteile, die sich daraus ergaben, durchaus bewusst. Mit ein wenig Glück lernte sie die wichtigsten Persönlichkeiten Englands sowie Repräsentanten anderer Königshäuser kennen. Oder die Königin persönlich war ihr bei der Wahl ihres Gemahls behilflich.
Es grenzte an ein Wunder, dass Rebeccas Garderobe noch rechtzeitig vor der Abreise nach London fertig wurde. Besonders erfreulich war, dass die Gewänder um einiges glamouröser ausgefallen waren als für ein herkömmliches Gesellschaftsdebüt. Lilly hatte weder Kosten noch Mühen gescheut und es sich nicht nehmen lassen, Rebecca und ihre Magd Flora von Norford bis zum Palast zu begleiten.
Es war nicht das erste Mal, dass Rebecca nach London kam. Im Laufe der Jahre hatten sich mehrfach Möglickeiten dazu ergeben; sei es, um Einkäufe zu erledigen, Pferderennen beizuwohnen, an denen der Vater von Lillys Stute teilnahm, oder um die Vermählung einer alten Freundin der Familie zu feiern. Rebecca hatte schon viel von der Hauptstadt gesehen – mit Ausnahme des Buckingham Palace. Das war jedoch dem Umstand geschuldet, dass der Palast erst seit wenigen Jahren wieder bewohnt war.
Als Rebecca aus der Kutsche stieg und das beeindruckende Gebäude, in dem sie die nächsten Monate oder vielleicht Jahre verbringen würde, ausgiebig musterte, gingen ihr fast die Augen über. Der Palast war größer, als sie es sich vorgestellt hatte. Die edlen Marmorbögen, die den Haupteingang säumten und bis in den Himmel zu ragen schienen, verschlugen Rebecca die Sprache. Sie konnte kaum glauben, dass sie in wenigen Minuten durch ebendiese Bögen den Palast betreten würde.
Vorausgesetzt, sie konnte ihre Füße dazu überreden, sich in Bewegung zu setzen. Die Nervosität, die sie vom Kopf bis in die Zehenspitzen erfüllte, war überwältigend. Rebecca wusste bereits, dass Lilly sie nicht mit in den Palast begleiten würde, fühlte sich aber noch nicht bereit, sich von ihr zu verabschieden.
Lilly nahm Rebeccas Hand und drückte sie. Sie wusste, wie es in ihrer Tochter aussah. Die einfache Geste sollte Rebecca den nötigen Mut verleihen.
»Dein Vater wäre unsäglich stolz, wenn er diesen Moment miterleben könnte.«
Rebecca warf ihrer Mutter einen hastigen Blick zu. Ein wahrlich ergreifender Augenblick! Obwohl Lilly sich aufrichtig für ihre Tochter freute, war ihr anzusehen, dass sie noch immer der verpassten Gelegenheit in ihrem eigenen Leben nachtrauerte. Ihr Lächeln konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihr Tränen in den Augen standen.
»Ihr werdet jetzt doch nicht etwa weinen, oder?«, fragte Flora entnervt.
Lilly lachte, Rebecca grinste. Es war nicht das erste Mal, dass Flora es mit ihrer schonungslos offenen Art geschafft hatte, Spannungen abzubauen.
Rebecca bedauerte ein wenig, dass Flora nicht mit ihr am Hofe leben würde, weil es dort nicht genug Platz für sämtliche Bedienstete gab. Sobald Rebecca sich häuslich eingerichtet hatte, würde Flora den Palast verlassen und eine angemietete Kammer ganz in der Nähe beziehen und dann täglich in den Palast kommen, um ihre Arbeit zu verrichten. Der Mangel an geeignetem Wohnraum im Palast ging so weit, dass Rebecca sich mit einer anderen Hofdame das Gemach würde teilen müssen.
Ursprünglich hatte Lilly mit dem Gedanken gespielt, eine Stadtvilla für Rebeccas erste Saison zu erwerben. Jetzt, da Rebeccas Debüt jedoch im Palast stattfand, war Lillys Entscheidung ins Wanken geraten. Zugegeben, es gab eine Reihe von Hofdamen, die eine Stadtvilla besaßen, wo sie auch nächtigten, aber Lilly war es wichtig, dass Rebecca das höfische Leben mit all seinen Facetten kennenlernte.
Lilly schlang ihre Arme um Rebecca und herzte sie ausgiebig. »In wenigen Wochen sehen wir uns ja bereits wieder, Liebling. Du hast mein Ehrenwort darauf, dass ich versuchen werde, dich nicht vorher zu besuchen.«
»Es ist nicht nötig, dass du ...«
»Doch, das ist es«, unterbrach Lilly sie. »Dies ist deine Zeit, nicht meine. Du wirst jeden Moment davon genießen. Versprich mir, dass du mir jeden Tag schreibst! Ich möchte jedes noch so kleine Detail erfahren.«
»Versprochen.«
»Am allerwichtigsten ist jedoch, dass du dich amüsierst, Becky. Dir stehen glanzvolle Zeiten ins Haus, das spüre ich.«
Rebecca wünschte, sie teilte den Enthusiasmus ihrer Mutter. Doch jetzt, wo ihre Trennung unmittelbar bevorstand, schlug ihre Aufregung in tiefe Melancholie um. Dies war eigentlich Lillys Traum, und Rebecca wünschte, ihre Mutter könnte ihn selbst leben.
Um Lilly nicht zu enttäuschen, setzte Rebecca ein breites Lächeln auf, schloss sie ein letztes Mal in ihre Arme und lief schnellen Schrittes in Richtung Torbogen.
Ob wir wohl jemals ankommen werden?«, flüsterte Flora mit einem breiten Grinsen, während Rebecca und sie einem livrierten Dienstboten folgten, der prächtiger gekleidet war als so mancher Adlige. Es kam ihnen vor, als würde der Korridor kein Ende nehmen.
Die Magd hatte lediglich im Scherz gesprochen, doch der Bedienstete wandte seinen Kopf zur Seite und antwortete: »Lady Rebeccas Gemach befindet sich hinter der nächsten Abzweigung. Ihr könnt von Glück sprechen, dass es näher an den Haupträumen liegt als die Gemächer der meisten Hofdamen. Die Königin hat sich an eine Begegnung aus Kindertagen mit dem Earl of Ryne erinnert und daraufhin besagtes Gemach vorgeschlagen. Ein gelungener Einstieg, Mylady, wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf.«
Floras Augen glänzten. Rebecca errötete. Wie konnte es sein, dass ein Bediensteter über so etwas Bescheid wusste? Doch sie durfte nicht vergessen, dass sie am Hofe war. Vermutlich wussten die Bediensteten mehr über das Privatleben der Höflinge als jeder andere. Hatte ihre Mutter sie nicht eindringlich gebeten, ihnen stets voller Respekt zu begegnen?
»Ich behandle Untergebene stets mit Respekt«, hatte Rebecca ihr bei dieser Gelegenheit in Erinnerung gerufen.
»Das weiß ich doch, mein Liebes. Ich möchte lediglich sichergehen, dass du nicht ausgerechnet jetzt damit beginnst, dich auf ein hohes Ross zu setzen.«
Das war nur eines der vielen törichten Dinge, die Lilly vor lauter Erschöpfung wegen der kräftezehrenden Vorbereitungen für Rebeccas neues Leben von sich gegeben hatte. Selbst nach einer Mütze Schlaf hatte ihre Mutter das Thema am nächsten Tag gleich noch einmal angeschnitten.
»Wenn es dir gelingt, dir die Gunst der Bediensteten zu sichern, kann sich das unter Umständen als sehr hilfreich erweisen. Einige von ihnen handeln mit brisanten Informationen. Und wenn sie dir wohlgesinnt sind, wird es ihnen eine Freude sein, dich daran teilhaben zu lassen.«
Die Worte ihrer Mutter beherzigend, schenkte sie dem Bediensteten ein Lächeln und sagte: »Herzlichen Dank ...«
»John Keets, Mylady.«
»Danke, John. Es tut gut, zu wissen, dass mein Vater in guter Erinnerung geblieben ist.«
Der junge gertenschlanke Mann, der einen stoischen Gesichtsausdruck wahrte, wenn er nicht sprach, nickte. Verzückt warf die schwarzhaarige Flora, die schon so manchem Mann den Kopf verdreht hatte, dem Pagen bewundernde Blicke zu.
Vor nunmehr sechs Jahren war Flora in den Dienst der Marshalls getreten. Obwohl sie noch verhältnismäßig jung war, war sie eine Meisterin ihres Metiers, hatte das Rüstzeug von ihrer Mutter erlernt, die ebenfalls als Magd gearbeitet hatte. Rebecca war froh, nicht auf Floras begnadete Frisierkünste verzichten zu müssen.
Als John Floras Blicke bemerkte, schlich sich ein sinnliches Funkeln in seine Augen. Im selben Moment erreichten sie das Ende des Korridors, John bog nach rechts ab und öffnete die erste Tür auf der linken Seite.
»Eure Kleidertruhen werden in Bälde hergebracht«, ließ er sie wissen, als er die beiden in das kleine Gemach führte. »Und wieder abgeholt, sobald sie ausgepackt sind. Ihr werdet hier gemeinsam mit Lady Elizabeth Marly wohnen. Bedauerlicherweise ist die Königin sich nicht darüber im Klaren, dass Lady Elizabeth eine ziemliche Unruhestifterin ist. Es wäre ratsam, keine zu enge Bindung zu dieser Dame aufzubauen.«
Rebecca war verdutzt. Was meinte er damit, dass ihre Mitbewohnerin eine Unruhestifterin wäre?
Floras Gedanken schienen in dieselbe Richtung zu gehen. Kaum war die Tür hinter John ins Schloss gefallen, fragte sie: »Klingt höchst ominös, findet Ihr nicht auch?«
Rebecca nickte, wehrte sich aber dagegen, voreilige Schlüsse zu ziehen. »Das könnte zum Beispiel bedeuten, dass sie Dinge in Gang setzt, die aber nicht per se von schlimmer Natur sind, sondern lediglich am falschen Ort zur falschen Zeit geschehen.« Als sie Floras zweifelnden Blick auffing, setzte sie rasch hinzu: »Sobald ich diese Elizabeth näher kennengelernt habe, kann ich mir ein besseres Bild von ihr machen.«
Mit einem Schnauben wechselte Flora das Thema. »Dieses Zimmer ist viel kleiner, als ich es mir vorgestellt habe. Es ist ja kaum größer als Euer Ankleidezimmer zu Hause.«
Die Verachtung, die sich in Floras Stimme mischte, trieb Rebecca ein Schmunzeln auf die Lippen. Das Gemach war natürlich größer als ihr Ankleidezimmer, jedoch um einiges kleiner als ihr Schlafgemach.
»Ich gehe ohnehin nicht davon aus, dass wir sonderlich viel Zeit hier verbringen werden. Der Raum dient lediglich dazu, hier zu schlafen und sich umzuziehen«, antwortete Rebecca.
»Was ganz schön eng werden dürfte.«
Damit hatte die Magd nicht ganz unrecht. Sonderlich viel Bewegungsfreiheit ließ die Einrichtung nicht zu. Ein Doppelbett, das eher an eine breite Pritsche erinnerte, nahm den meisten Raum ein. Hinzu kamen zwei schmale Nachttischchen, auf denen jeweils eine Lampe stand. Einen Kamin gab es nicht, dafür eine Kohlenpfanne, die allerdings frühestens in einem Monat zum Einsatz kommen würde. In einer der Ecken, hinter einer spanischen Wand, befand sich eine kleine Badewanne sowie eine Kommode, auf der Rebecca eine Waschschüssel und einen Stapel Handtücher entdeckte. In der anderen Ecke stand ein winziger runder Tisch, auf den gerade einmal ein einziges Essenstablett passte. Außer einem Schemel bot das Zimmer keine weitere Sitzgelegenheit. Blickfang des Gemachs bildeten jedoch die zahlreichen Kleiderschränke, die sich über zweieinhalb Wände erstreckten und sogar das einzige Fenster blockierten und nur dünne Lichtstrahlen in den Raum ließen.
Flora und Rebecca starrten die Kleiderschränke mit großen Augen an. »Das darf doch nicht wahr sein! Ich dachte, Ihr bekämet ein eigenes Ankleidezimmer zugewiesen, das Ihr Euch mit anderen teilt. Dass Euer Gemach zugleich auch zum Umkleiden dient, damit hätte ich nun wahrlich nicht gerechnet! Auf der anderen Seite sollten wir uns freuen, dass es genug Stauraum für Eure prächtigen Gewänder gibt«, stellte Flora fest. Als sie wahllos einen der Schränke öffnete, war dieser bereits zum Bersten mit Kleidern voll – genau wie der nächste und der übernächste. Lady Elizabeth hatte augenscheinlich die ganze Wand für sich in Anspruch genommen. Als Flora vor die Schränke trat, die das Fenster blockierten, erwartete sie derselbe Anblick wie zuvor. Insgesamt gab es nur einen halb leeren und zwei leere Schränke.
Flora lachte höhnisch. »Habt Ihr nicht auch den Eindruck, Lady Elizabeth hätte das Gemach am liebsten für sich allein?«
»Das könnte man in der Tat meinen«, pflichtete Rebecca ihr bei.
»Die Dame scheint im Besitz zu vieler Kleider zu sein, so viel steht fest. Aber ihr wird nichts anderes übrigbleiben, als einen Teil davon zu beseitigen, wenn sie nicht möchte, dass sie zerknittern, denn ich werde höchstpersönlich dafür sorgen, Rebecca, dass Ihr die Hälfte der Schränke bekommt, wie es Euch zusteht. Am besten, wir fangen direkt damit an.«
Gesagt, getan. Mit Rebeccas Hilfe machte Flora sich daran, die Schränke zu leeren. In Ermangelung eines Schreibpultes – dafür wäre nun wahrlich kein Platz mehr gewesen – verstaute Rebecca jene Utensilien, die nicht aufgehängt werden mussten, in den geräumigen Schubladen im Sockel der Schränke.
Wie sich herausstellte, blieb es ihnen erspart, Elizabeth’ Kleider in ihre Schränke zu quetschen. In einem hingen beispielsweise lediglich zwei Ballkleider und in einem anderen nichts als Kostüme, die sie zusammenfalteten.
»Das wäre geschafft«, resümierte Flora, zufrieden mit der neuen Ordnung. »Mit ein wenig Glück brauchen wir nur diese eine Wand, sodass Lady Elizabeth die beiden zusätzlichen Schränke haben kann. Aber das muss reichen. Ihr werdet kein Leben am Hofe mit zerknautschten Kleidern führen, nur weil sie zu viel mitgebracht hat! Und außerdem«, fügte Flora hinzu, den Blick auf die leeren Schränke gerichtet, die Rebeccas Gewänder füllen würden, »gibt es keinen Grund, warum nicht mehr Licht in den Raum fallen sollte. Die Schränke sind denkbar schlecht aufgestellt. Es ist gar nicht nötig, dass sie das Fenster blockieren. Wenn wir sie ein wenig verschieben ließen, reichte der Platz, um sich durchzuquetschen und eines der Fenster zu öffnen, falls nötig. Sobald Eure Kleidertruhen kommen, werde ich einen der Männer fragen, ob er uns hilft.«
Und genau das tat Flora auch. Zwei der Diener, die die Aufgabe hatten, die vier Kleidertruhen in das Gemach zu bringen, gingen Rebecca und Flora nur zu gern zur Hand, nachdem die Magd ihnen ein verführerisches Lächeln geschenkt hatte. Der dünne Vorhang aus weißem Stoff, der dabei zum Vorschein kam, war nach monatelanger Verbannung so verstaubt, dass Flora versprach, sich darum zu kümmern, dass er gewaschen wurde.
Wenig später verabschiedete die Magd sich, damit sie sich um ihre eigene Behausung kümmern konnte. Dabei bemerkte sie glucksend: »Mein Zimmer dürfte größer sein als Euer Gemach.«
Rebecca lächelte.
Es dauerte jedoch nicht lange, bis von ihrer Vergnügtheit nichts mehr zu spüren war. Die Erkenntnis, ohne ihre Mutter und Flora am Hofe leben zu müssen, drohte sie zu erdrücken.
Dem Umstand, dass Rebecca stets Hauslehrer gehabt hatte, war es zu verdanken, dass Mutter und Tochter noch nie getrennt waren. Rebeccas Berufung an den Hof bedeutete unweigerlich, dass die Bindung zu ihrer Mutter, die nicht einmal einen Mann an ihrer Seite hatte, der ihr Halt gab, nie wieder so eng sein würde wie früher. Die Tatsache, dass Rebecca nun ein Leben bevorstand, in dem sie viele neue Menschen kennenlernte und rauschende Bälle feierte, ja vielleicht sogar ihren zukünftigen Gemahl traf, spendeten Rebecca in diesem Moment nur wenig Trost. Tief in ihrem Innern hätte sie nichts gegen ein stinknormales Gesellschaftsdebüt an der Seite ihrer Mutter einzuwenden gehabt. Rebecca hatte es aber einfach nicht übers Herz gebracht, ihrer Mutter die Freude über ihre Stellung als Hofdame zu verderben. Schließlich waren Rebecca und Lilly weitaus mehr als Mutter und Tochter. Sie waren Freundinnen. Und genau deshalb hätte sie ihr eigentlich davon erzählen müssen. Eigentlich ...
Nachdem Flora sich verabschiedet hatte, beschloss Rebecca, die freie Zeit dazu zu nutzen, sich ein wenig zu entspannen. Die Woche war anstrengend gewesen. Sie konnte von Glück sagen, dass für den heutigen Tag keine weiteren Termine anberaumt waren. Die Herzogin von Kent, Königin Victorias Mutter, der sie unterstellt war, weilte außerhalb des Palastes und wurde erst morgen zurückerwartet.
Rebecca, die es sich auf dem Bett gemütlich gemacht hatte, dachte ein wenig über die Königin nach. Obwohl sie im Dienste ihrer Mutter stand, konnte es sein, dass sie der Monarchin niemals begegnen würde. Rund die Hälfte all jener, die den Palast ihr Zuhause nannten, bekam die Königin nie zu Gesicht oder machte erst gar nicht ihre Bekanntschaft. Auf der anderen Seite könnte es aber auch sein, dass sie vielleicht sogar so etwas wie gute Freundinnen würden. Alles ist möglich, wenn man im Palast wohnt, dachte Rebecca, kurz bevor sie wegdöste.
»Was habt Ihr getan?«, ertönte eine schrille Stimme. »Wie kommt Ihr dazu, die Schränke zu verrücken? Ich schlafe gern lange und kann es auf den Tod nicht ausstehen, von der Sonne geweckt zu werden. Wenn Ihr erst einmal ein paar Tage am Hofe wart, werdet Ihr wissen, wovon ich rede.«
So barsch war Rebecca noch nie aus dem Schlaf gerissen worden! Nachdem sie einige Male geblinzelt hatte, entdeckte sie eine junge untersetzte Frau mit smaragdgrünen Augen, die wie ein Rohrspatz schimpfte, während sie ungehalten an den Ärmeln ihres orangefarbenen Kleides zupfte. Zierliche Korkenzieherlöckchen rahmten ihr engelhaft anmutendes Antlitz ein, während der Rest der dunkelblonden Locken eng an ihrem Kopf festgesteckt war. Jemand sollte ihr sagen, dass Orange nicht ihre Farbe ist, dachte Rebecca schlaftrunken bei sich. Es macht sie blass. Wenn sie nicht so wütend dreinblicken würde, wäre sie vielleicht sogar recht hübsch.
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