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Weiblich, ledig – und unsterblich in den Falschen verliebt
Der charismatische Devin Baldwin ist ein angesehener Pferdezüchter – fast noch berühmter und berüchtigter ist er allerdings als Kuppler. Wenn die Damen der besseren Londoner Gesellschaft den für sie bestimmten Traummann nicht finden wollen, betätigt sich Devin als Amors Helfer. Seine nächste Klientin: die bezaubernde Amanda Locke, für die ein pferdenärrischer Earl ausersehen wurde. Und da Amanda Reitstunden benötigt, springt Devin auch da gern ein. Was er jedoch nicht geplant hat: Amanda verliebt sich tatsächlich auf der Stelle – in ihn …
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Seitenzahl: 506
Das Buch
Für die Herzogstochter Amanda Locke bricht bereits die dritte Ballsaison an, ohne dass sie den Mann fürs Leben getroffen hätte. Einzig ihre umwerfende Schönheit bewahrt sie davor, als Jungfer zu gelten. Ihre Eltern greifen indes zu drastischen Maßnahmen und engagieren Devin Baldwin, einen renommierten Pferdezüchter, der sich nebenbei einen Namen als professioneller Kuppler gemacht hat. Als Amanda den charmanten Pferdenarr Lord Kendall Goswick kennenlernt, ist sie trotz ihres Widerstrebens auf Devins Dienste angewiesen – als Reitlehrer, denn um Pferde hat sie bislang einen großen Bogen gemacht. Doch die Reitstunden verlaufen ein wenig anders als geplant: Amanda findet nicht nur Gefallen an den Vierbeinern, sondern auch an ihrem zunächst etwas raubeinigen Lehrer. Lord Kendall ist schnell vergessen, wenn sie sich in Devins dunklen Augen verliert … Und auch Devins Gefühle für Amanda werden immer stärker – selbst wenn er damit gegen seine eiserne Regel verstößt, niemals etwas für eine Kundin zu empfinden. Schwerer jedoch wiegt ein dunkles Geheimnis, das er bislang vor den Augen der Welt verborgen hat. Eines, gegen das selbst die Liebe einer Frau bislang keine Chance hatte …
Die Autorin
Johanna Lindsey wächst auf Hawaii auf. Sie heiratet nach der Highschool und hat bereits zwei kleine Kinder zu versorgen, als sie sich zum Schreiben gedrängt fühlt.1976 veröffentlicht sie ihren ersten Roman. Heute ist sie eine der erfolgreichsten Autorinnen historischer Liebesromane. Weltweit hat sie über 60 Millionen Exemplare ihrer Bücher verkauft, die nicht selten die ersten Plätze der Bestsellerliste der New York Times erreichen. Johanna Lindsey schreibt und lebt mit ihrer Familie in New Hampshire.
Lieferbare Titel
Gefangener des Herzens
Die ungehorsame Braut
Der geheimnisvolle Verführer
Ungezähmte Sehnsucht
Im Taumel der Herzen
Gefechte der Liebe
Johanna Lindsey
Wenn die Liebe
dich findet
Roman
Aus dem Amerikanischen
von Julia Paiva Nunes
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Das Original LET LOVE FIND YOU erschien bei Gallery Books, a division of Simon & Schuster, New York
Copyright © 2012 by Johanna Lindsey
Copyright © 2013 der deutschen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der
Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München
Satz: IBV Satz- und Datentechnik GmbH, Berlin
ISBN: 978-3-641-11834-1
www.heyne.de
Prolog
Der Junge stand am Fenster seines Schlafzimmers und betrachtete den fallenden Schnee. Die Schneeflocken rieselten auf die Straße herab. Diesmal würden sie wohl auch liegen bleiben, kalt genug war es jedenfalls. Er liebte Schnee. Er ließ die Straße so strahlend und sauber erscheinen, vor allem nachts, wenn sie von den Straßenlampen erhellt wurde. Das Schlafzimmerfenster ging auf die Straße hinaus. Hier stand er oft – am Tag, um die schicken vorbeifahrenden Kutschen zu beobachten, oder auch in der Nacht, wenn er nicht gleich einschlafen konnte oder aus irgendeinem Grund wach geworden war. In einer solchen Nacht hatte er zum ersten Mal diese Kutsche gesehen, die vor dem Haus anhielt, in dem er mit seiner Mutter Elaine lebte, und nun tat sie es wieder. Sie kam nie tagsüber, sondern immer nur spätnachts.
Der große Mann stieg aus, sein langer Überzieher wirbelte herum, als er sich umdrehte, um die Tür zu schließen. Er sagte etwas zu seinem Fahrer, und die Kutsche fuhr davon. Der Mann eilte ins Haus. Er hatte einen Schlüssel. Seit der Junge sich erinnern konnte, kam dieser Mann in ihr Haus.
Bei diesem Haus, in dem er aufgewachsen war, schien es sich um einen ganz normalen Londoner Haushalt zu handeln. Sie hatten ein paar Hausangestellte. Seine Mutter war den ganzen Tag über für ihn da. Und lange Zeit war er so früh ins Bett gegangen, dass er nicht wissen konnte, dass sie nachts nicht für ihn da war.
Er war gerade sechs Jahre alt geworden, aber er konnte sich nicht erinnern, wann er seine Mutter zum ersten Mal gefragt hatte, wer dieser Mann war. Er wusste nur, dass es schon lange her war. An jenem Tag hatte sie überrascht gewirkt, dass er überhaupt von dem Mann wusste.
»Lord Wolseley ist unser Vermieter, das ist alles. Er kommt nur vorbei, um nach dem Rechten zu sehen.
»So oft?«
»Nun, wir sind mit der Zeit Freunde geworden. Gute Freunde. Er ist kein glücklicher Mann, und ich leihe ihm meine Schulter zum Ausweinen.« Sie klopfte sich mit einem Grinsen auf die Schulter. »Du kennst sie ja auch, du hast dich immer an ihr ausgeweint, oder nicht?«
Er erinnerte sich, dass er an jenem Tag verlegen gewesen war. Sie hatte von all seinem Kummer und seinen Verletzungen gesprochen, über die er gar nicht hätte weinen müssen, wenn sie ihn nicht ständig an sich ziehen würde, um ihn zu trösten. Er versuchte, sich vorzustellen, dass der große Mann an ihrer Schulter lehnte und schluchzte, aber es gelang ihm nicht.
Man hatte ihm erklärt, dass sein Vater gestorben war, als er noch ein Baby war, aber seine Mutter hatte sich stets geweigert, ausführlicher über ihn zu reden. »Diese Erinnerungen bringen mich nur zum Weinen«, behauptete sie jedes Mal. »Eines Tages werde ich dir alles über ihn erzählen, aber nicht jetzt.«
Aber sie erzählte ihm niemals mehr. Das einzige Mal, an das er sich erinnern konnte, als seine Mutter in scharfem Ton mit ihm gesprochen hatte, war, als er sie mit Fragen über seinen Vater löcherte. Und beim letzten Mal, als er sie nach ihm gefragt hatte, waren ihr Tränen in die Augen gestiegen. Danach fragte er nie wieder.
Aber der Vermieter machte weiterhin seine nächtlichen Besuche, und der Junge hörte, wie die Tür seiner Mutter leise auf- und zuging. Manchmal trat er in den Korridor hinaus und hörte ihr leises Lachen aus dem Schlafzimmer. Wenn der Mann sie so glücklich machte, warum konnten sie dann nicht einfach heiraten und ihn ebenfalls an ihrem Glück teilhaben lassen?
Irgendwann in diesem Jahr hatte seine Neugier ihn erneut überwältigt, und er wollte von seiner Mutter wissen: »Wird er mein neuer Vater?«
Sie zog ihn an sich und antwortete: »Was denkst du dir nur, mein Liebling? Lawrence hat eine eigene Familie, Frau und Kinder. Er ist nur ein Freund. Ich fühle mich oft einsam. Es ist schön, jemanden wie ihn zum Reden zu haben.«
Kurz darauf begann der Junge zu überlegen, ob wohl Lord Lawrence Wolseley sein richtiger Vater wäre. Sobald ihm dieser Gedanke gekommen war, ließ er ihn nicht mehr los. Und dennoch traute er sich nicht, seine Mutter zu fragen. Sie wollte nun einmal partout nicht über ihren Vermieter sprechen, und über seinen »toten Vater« ebenfalls nicht. Die Vorstellung, dass sie ihn anlog, verletzte ihn sehr. Er hoffte nur, dass er sich irrte, aber er musste es endgültig herausfinden.
Deshalb ging er heute auf den Flur hinaus. Die Tür zum Schlafzimmer seiner Mutter war wie immer geschlossen. Er klopfte nicht an. Er hörte Gelächter, dann Stimmen – so leise, dass er nicht verstehen konnte, was geredet wurde. Er hielt sein Ohr nicht an die Tür, sondern setzte sich einfach nur auf den Boden und wartete.
Er wartete sehr lange. Beinahe wäre er eingeschlafen. Doch endlich ging die Tür auf. Er sprang hoch, damit man nicht über ihn stolperte. Den Mann hatte er noch nie aus der Nähe gesehen. Er war größer, als er gedacht hatte, attraktiv, gut gekleidet, das Haar so dunkel wie sein eigenes. Den Überzieher hatte er sich über einen Arm geworfen, ein juwelenbesetzter Ring blitzte an seiner Hand auf.
Der Junge platzte sofort mit seiner Frage heraus, bevor er vollends die Nerven verlor: »Sind Sie mein Vater?«
Der Mann, der ihn zuerst gar nicht bemerkt hatte, blickte missmutig auf ihn hinunter. »Solltest du nicht im Bett sein? Los, verschwinde!«
Er war so erschrocken über den harschen Ton, dass er sich nicht bewegen konnte, aber der Mann eilte schnellen Schrittes den Korridor entlang und verschwand. Die Tür zum Zimmer seiner Mutter stand noch immer offen. Der Junge blickte hinein, um zu sehen, ob mit ihr alles in Ordnung war. Sie saß an ihrem Schminktisch, um den Hals eine Kette, die er noch nie zuvor an ihr gesehen hatte.
Der Junge eilte zurück in sein Zimmer, verwirrt und verängstigt. Er hoffte, dass der Mann seiner Mutter nicht von der Frage erzählen würde, die er ihm gestellt hatte – und auf die er keine Antwort erhalten hatte.
Einige Tage später in dieser Woche rief seine Mutter ihn nach unten in die Diele. In der Eingangstür stand ein Mann, den er noch nie gesehen hatte. Er hielt einen Hut in der Hand, hatte blonde Haare und blaue Augen, genau wie die Mutter des Jungen. Sie wirkte wütend. Auf ihn? Oder auf den Fremden, den sie so verärgert anstarrte?
Sie sah zu ihrem Sohn herab und sagte: »Das ist dein Onkel Donald, mein Bruder. Wir hatten einige Jahre keinen Kontakt … Donald hätte es gern, dass du für einige Zeit bei ihm auf seinem Gestüt draußen auf dem Land wohnst. Du wirst sehen, es wird dir gefallen.«
Die Augen des Jungen weiteten sich. Er hatte nicht gewusst, dass seine Mutter einen Bruder hatte! Ihn überkam die größte Angst, die er in seinem Leben je verspürt hatte. Er drehte sich um und klammerte sich fest an seine Mutter. Sie wollte ihn wegschicken? Er konnte es nicht begreifen.
»Nein, bitte nicht!«, schluchzte er. »Ich werde auch nie wieder Fragen stellen, das verspreche ich!«
Sie drückte ihn fest an sich.
»Schhht, Liebling, ganz ruhig, ich komme dich auch bald besuchen. Du wirst so viel Spaß auf dem Land haben, dass du mich gar nicht vermissen wirst.«
»Nein! Ich will hier bei dir bleiben!«
Sie schob ihn zu seinem Onkel hinüber. »Los, bevor ich anfange zu weinen!«, rief sie verzweifelt aus.
Und so wurde der schreiende Junge aus dem einzigen Heim gezerrt, das er jemals gehabt hatte. Er versuchte, sich aus der wartenden Kutsche zu befreien. Da sein Onkel ihn davon abhielt, hängte er sich aus dem Fenster und rief nach seiner Mutter, die Tränen liefen seine Wangen hinab. Er sah, wie sie auf der Veranda stand und ihm nachwinkte.
Aber seine Mutter sollte recht behalten. Auch wenn er sie anfangs schrecklich vermisste, fand er im Laufe der Monate doch Gefallen an dem Leben bei seinem Onkel und seiner Tante auf ihrem großen Landgut in Lancashire. Wegen des kleinen Welpen, den sie ihm geschenkt hatten, und der vielen anderen Hunde, die überall auf dem großen Anwesen herumtollten. Weil er zum ersten Mal im Leben einen richtigen Freund gefunden hatte – den Sohn eines der Landarbeiter – und sie unzertrennlich geworden waren. Weil es hier so viel mehr zu tun gab als in der Stadt. Aber vor allem wegen der Pferde. Es waren so viele! Man erlaubte ihm, bei der Pflege zu helfen. Schon bald beherrschte er es hervorragend, sie zu striegeln und zu füttern, und er durfte sogar bei der Ausbildung der Jungpferde behilflich sein.
Seine Mutter sah er nie wieder. Zumindest nicht lebend. An dem Tag, an dem sein Onkel und seine Tante ihm mitteilten, sie wäre an einer Lungenentzündung gestorben, kam all der Schmerz des Verlassenseins wieder in ihm hoch. In diesem Jahr stand sein achter Geburtstag bevor, und er war noch zu jung, um zu wissen, wie man die Tränen zurückhält, die ihm seine Wangen hinunterliefen.
»Sie wollte, dass du das hier bekommst.«
Er blickte hinab auf das Porzellanpferdchen, das Donald in seine Hand gelegt hatte. Seine Mutter hatte ihm ihre Liebe entzogen, hatte ihn verlassen, ihn weggeschickt und nicht ein einziges Mal in dieser ganzen Zeit besucht. Jetzt brauchte er nichts mehr von ihr, und in einem Ausbruch von wütendem Schmerz hob er den Arm, um die Porzellanfigur an der Wand zu zerschmettern, so wie sie seine Hoffnungen zerschmettert hatte, dass sie eines Tages wieder zusammen sein könnten. Stattdessen war sie gestorben und hatte somit dafür gesorgt, dass dieser Tag niemals kommen würde.
Aber Donald hielt ihn ab. »Tu das nicht, Junge! Sie wollte, dass du es behältst. Sie sagte, eines Tages würdest du alles verstehen und begreifen, wie sehr sie dich geliebt hat.«
Nichts als Lügen! Sie war fort. Er würde sie nie wiedersehen, nie wieder ihre Umarmung spüren. Die Tränen versiegten nicht an jenem Tag und auch nicht am nächsten und am übernächsten, als man die Leiche seiner Mutter nach Lancashire brachte, um sie an dem Ort zu beerdigen, an dem sie aufgewachsen war. Sein Schmerz war überwältigend, als er sah, wie der Sarg in die Erde herabgelassen wurde. Es tat so weh, dass er auf die Knie sank. Seine Tante kniete sich neben ihn und hielt seine Hand.
In jener Nacht stahl er sich aus dem Haus und rannte auf den kleinen Friedhof. Das Porzellanpferd hatte er bei sich. Er hätte es vorher am liebsten zusammen mit seiner Mutter beerdigt, aber er dachte, dass sein Onkel ihn bestimmt davon abgehalten hätte. Jetzt verbuddelte er es direkt neben ihrem Grab, aber irgendwie war der Schmerz jetzt noch schlimmer, er konnte vor lauter Tränen kaum aus den Augen schauen. Er wollte das dumme Pferd nicht behalten! Er wollte gar nichts von ihr, nichts, das ihn daran erinnerte, dass seine eigene Mutter ihn von sich fortgestoßen hatte.
In dieser Nacht schwor er sich, nie wieder zu weinen … oder jemanden zu lieben. Es tat einfach zu weh.
Kapitel 1
Lady Amanda Locke seufzte, während sie ihr Gesicht in dem ovalen Spiegel betrachtete. Sie saß an ihrem Schminktisch in dem komfortablen Zimmer, das man im Haus ihres Cousins Rupert für sie hergerichtet hatte, und bildete sich ein, sie hätte eine Falte in ihrem Augenwinkel entdeckt. War das möglich? Sie beugte sich weiter vor. Nein, es lag nur an ihrer Einbildungskraft und an der Beleuchtung, aber lange würde es nicht mehr dauern. Sie war schließlich schon zwanzig geworden! Die feine Gesellschaft würde sie bald als alte Jungfer bezeichnen – wenn sie es nicht schon längst tat.
Sie seufzte wieder. Alice, ihre Zofe, tat so, als würde sie es nicht bemerken, und befestigte die letzte ihrer blond gelockten Haarsträhnen an ihrer kunstvollen Hochsteckfrisur. Das hätte Amanda nicht abgehalten, wenn sie denn das Bedürfnis gehabt hätte, über ihre Melancholie zu sprechen, aber heute Abend war ihr nicht danach. Alice hatte das alles schon gehört, und sogar ziemlich oft. Amandas ganze Familie hatte es schon gehört, und sie hatte eine große Familie. Ja, sie selbst war es leid, über ihr Elend zu klagen, aber manchmal konnte sie einfach nicht anders.
Ihre erste Saison in der Londoner Gesellschaft war ein Fiasko gewesen, obwohl es eigentlich ein durchschlagender Erfolg hätte sein sollen. Nicht weniger hatte sie erwartet. Auch ihre Familie hatte nicht weniger erwartet. Sie war immerhin eine Schönheit, sehr attraktiv mit ihrem blonden Haar und den türkisblauen Augen, und sie besaß den aristokratischen Knochenbau ihrer Familie. Außerdem war sie die Tochter von Preston Locke, dem zehnten Herzog von Norford. Das allein hätte schon zu einer Flut von Heiratsanträgen führen müssen. Und niemand hatte daran gezweifelt, dass sie in der Saison vor zwei Jahren all die anderen Debütantinnen ausstechen würde, auch nicht sie selbst. Aber damals hatte auch niemand damit gerechnet, dass die unsägliche Ophelia Reid im selben Jahr ebenfalls ihr gesellschaftliches Debüt beging – und niemand, nicht einmal Amanda, konnte es mit ihrer betörenden Schönheit aufnehmen.
Es war fast schon komisch, dachte Amanda, wie eifersüchtig sie damals auf Ophelia gewesen war. So eifersüchtig, dass sie beinahe ihre ganze erste Saison damit zugebracht hätte, vor sich hinzuschmollen, und deshalb all die jungen Männer ignorierte, die versuchten, ihre Bekanntschaft zu machen. In diesem Punkt war das ganze Desaster ihre eigene Schuld. Aber ihre Gefühle kochten schließlich vollends über, als sie feststellen musste, dass auch ihr eigener Bruder, Raphael, von der Eiskönigin in den Bann gezogen wurde.
Und das, obwohl Ophelia damals nicht einmal im Ansatz liebenswürdig war! Amanda hatte sich gefragt, wie ihr Bruder so dämlich sein konnte, nur weil Ophelia eine solche Schönheit war. Sie war manipulativ, eine Lügnerin und gehässig bis dorthinaus. Jeder, der Augen im Kopf hatte, konnte es sehen, was bedeutete, dass die Männer in London in jenem Jahr ihre Augen nicht benutzt hatten, nicht einmal Amandas eigener Bruder!
Rafe verliebte sich in Ophelia, heiratete sie, und es gelang ihm, das Monster zu zähmen. Es gab wirklich nichts mehr, was man an Ophelia nicht hätte mögen können.
Das alles war Teil ihrer desaströsen ersten Saison in London gewesen. Letztes Jahr hatte Amanda sich den Rat ihres Bruders zu Herzen genommen und gewartet, dass die Liebe zu ihr fand. Und sie hatte Spaß dabei gehabt, vielleicht zu viel Spaß. Sie hatte ein entspanntes Leben geführt, viele Zerstreuungen genossen und festgestellt, dass sie einige ihrer Verehrer gernhatte, vielleicht sogar als Freunde bezeichnen konnte. Aber niemand von ihnen hatte ihr Herz berührt. Und so kam es, dass auch ihre zweite Londoner Saison vergangen war und sie noch immer keinen Ehemann vorweisen konnte.
Jetzt, zu Beginn ihrer dritten Saison, war sie ziemlich verzweifelt. Irgendetwas musste dieses Jahr anders werden, denn ganz offensichtlich machte sie bei der Jagd nach einem Ehemann etwas falsch. Sie war gar nicht so albern und oberflächlich, wie die Leute dachten, aber sie wusste selbst, dass sie manchmal so wirkte.
»Sie sind jetzt schon gelangweilt von dieser Saison, oder?«, fragte Alice, die hinter ihr stand.
Amanda runzelte die Stirn, als ihre Blicke sich im Spiegel begegneten. War das Problem so einfach? Weil sie sich den ganzen Tag langweilte und sich dann so freute, wenn sie am Abend etwas vorhatte, dass sie weit über das Ziel hinausschoss und sich etwas übertrieben benahm?
Sie versuchte gar nicht, es abzustreiten. »Es ist alles anders hier, nicht so wie zu Hause auf dem Land, wo es so viele Dinge gibt, mit denen ich mich beschäftigen kann.«
»Ihre Tante hat Ihnen neulich einen Vorschlag gemacht. Warum nehmen Sie das Angebot nicht an?«
Amanda verdrehte die Augen. »Bei dem Nähkurs zu helfen, den ihre Freundin anbietet? Ich liebe Handarbeit, aber nicht genug, um es kleinen Mädchen beizubringen, die lieber draußen beim Angeln wären.«
Alice konnte ein Lachen nicht zurückhalten. »Ich glaube nicht, dass die meisten Mädchen so gern angeln gehen wie Sie damals. Aber Sie sollten sich eine Beschäftigung suchen, solange Sie hier in London sind, statt die Minuten bis zur nächsten Party zu zählen. Zwischen extremer Langeweile und extremer Aufregung hin und her zu schwanken, stellt nicht gerade ein gesundes Gleichgewicht dar.«
Es gelang Amanda, nicht noch einmal zu seufzen, aber natürlich würde sie gleich das Haus verlassen und spürte schon, wie die Erregung in ihr aufstieg. Heute könnte die Nacht sein, in der sie ihren zukünftigen Bräutigam kennenlernte. Nun ja, das könnte auf jeden Fall passieren. Also nickte sie nur und beschloss, dass das Projekt, sich eine sinnvolle Beschäftigung zu suchen, bis morgen warten konnte, wenn sie sich tagsüber wieder langweilte.
Amanda musste zugeben, dass sie sehr schön herausgeputzt war, nicht nur für eine, sondern für zwei Partys heute Abend. Sie drehte sich ein letztes Mal vor dem Spiegel, um zu prüfen, ob alles an seinem Platz war. Und so war es. In dieser Hinsicht war ihre Zofe einfach hervorragend. Das blasse Rosa ihres neuen Abendkleids stand ihr prächtig und passte perfekt zu den Rubinen ihrer Mutter, die ihren Hals und die Ohren schmückten.
Sie sah nicht anders aus als damals in ihrer ersten Saison, als sie noch gedacht hatte, dass sie von all ihren Freundinnen die erste wäre, die sich verloben würde, und am Ende ohne jede Verlobung dagestanden hatte. Lass die Liebe dich finden –sie wird es, ganz bestimmt!, hatte Ophelia zu ihr gesagt. Ja, aber wann? Wie lange musste sie noch auf diesen magischen Moment warten?
Amanda ging nach unten, um nachzusehen, ob ihr Cousin Avery schon angekommen war. Avery, der mittlere von Tante Julies drei Söhnen, lebte inzwischen in seiner eigenen Wohnung in London, aber Amanda hatte ihm am Nachmittag eine Nachricht geschickt, dass sie für den heutigen Abend einen Begleiter brauchte, da Tante Julies ältester Sohn Rupert und seine neue Braut Rebecca noch nicht aus Norford zurück waren. Und der jüngste Sohn, Oscar, war mit seinen sechzehn Jahren noch zu jung, um irgendjemanden zu begleiten.
Amanda hatte die letzte Saison ebenfalls im Haushalt der St. Johns verbracht, da ihr Vater kein Stadthaus in London besaß. Sie konnte stets die Begleitung sowohl der beiden Cousins als auch die ihrer Tante in Anspruch nehmen, auch wenn alle drei nicht ideal waren. Aber jetzt gehörte auch ihre Freundin Rebecca Marshall zum Haushalt, da sie kürzlich Rupert St. John geheiratet hatte, und sie eignete sich ideal.
Amanda war entzückt über die Nachricht über die Hochzeit von Rebecca und Rupert gewesen. Rebecca gab die perfekte »Anstandsdame« ab, denn mit ihr konnte sie richtig Spaß haben. Becky hatte Amanda jedoch zunächst überrascht, indem sie rundweg ablehnte und behauptete, es wäre nicht richtig, weil sie einige Jahre jünger war als Amanda. Aber Amandas Starrköpfigkeit hatte gesiegt – sie konnte überaus hartnäckig sein, ohne es selbst zu bemerken –, und sie konnte Becky schließlich doch überzeugen. Dann jedoch war Becky ohne jedes Wort aufs Land verschwunden, und Amanda stand wieder am Ausgangspunkt, mit ihrer alten Auswahl an Begleitern.
Deshalb hoffte sie nun, dass ihre alte Freundin endlich zurückgekehrt war. Sie machte sich keine Sorgen, dass Rupert sich ihnen anschließen würde. Er war der Bälle und Partys überdrüssig. Früher hatte er jedes Mal als Amandas Begleiter Aufsehen erregt, so gut aussehend und charmant, wie er war. Seine Gegenwart hatte alle anderen Männer eifersüchtig gemacht, und eifersüchtige Männer wollen nicht tanzen. Deshalb würde sie Rupert nun nur im äußersten Notfall fragen, ob er mit ihr ausginge.
Seine Mutter Julie war mindestens genauso wenig als Begleitung geeignet! Sie hatte ihre drei Söhne nach dem Tod ihres Mannes, dem letzten Marquis von Rochwood, allein großgezogen und dabei versucht, ihnen Mutter und Vater zugleich zu sein, was sie leider in eine ziemlich ungehobelte Person verwandelt hatte. Wie Amanda zu ihrer Freundin Rebecca gesagt hatte, als sie sie dazu überreden wollte, ihre Begleitung zu übernehmen: »Wenn Tante Julie mich auf eine Party begleitet, schimpft sie den ganzen Abend vor sich hin. Und glaub mir, es gibt nur sehr wenige Männer, die sich nicht aus dem Staub machen, nachdem sie eine von ihren Rüffeln abbekommen haben!«
Rebecca hatte allerdings mit einem guten Argument entgegnet: Wenn ihre Verehrer sich von Tante Julie so leicht abschrecken ließen, dann wären sie auch nicht die Richtigen. Und Amanda musste in der Tat zugeben, dass sie hie und da erleichtert gewesen war, als ihre Tante einige unansehnliche Exemplare vergrault hatte.
Amanda war beinahe schon unten an der Treppe angekommen, als sie ihre Schritte verlangsamte. Sie fragte sich, ob Avery wohl schon angekommen war. Obwohl es ihm nie etwas ausmachte, sie zu begleiten – zumindest beklagte er sich nie –, musste er für gewöhnlich seine eigenen Pläne dafür ändern, was ihr wiederum äußerst unangenehm war. Und manchmal konnte er auch nicht kommen, weil er gar nicht in der Stadt weilte.
Amanda dachte, dass es wohl besser gewesen wäre, sich erst für den Abend anzukleiden, nachdem sie seine Zusage hatte. Jetzt wurde sie panisch. Tante Julie würde fuchsteufelswild werden, wenn sie sich in letzter Minute umziehen müsste, um mit ihr auszugehen. Aber Amanda hatte aufgrund von Beckys Abwesenheit schon zwei Einladungen ausgeschlagen. Die beiden heutigen konnte sie einfach nicht absagen, zumal die eine Party von einer engeren Freundin und die andere von ihrer Schwägerin gegeben wurde. Und so hatte sie beschlossen hinzugehen – allerdings nicht ohne Begleitung!
Es war zwar nicht Avery, der da im Flur zum Salon auftauchte, angelockt von ihrem lauten Seufzen, aber der Mann, der vor ihr stand, ließ sie allen Kummer sofort vergessen.
»Vater!« Sie stürzte sich in Preston Lockes offene Arme. »Was machst du denn hier? Du kommst doch nie nach London, außer fürs Geschäft!«
Er drückte sie kurz an sich, dann schob er sie ein Stück weit von sich und erklärte: »Ich betrachte das als Geschäft, als Familiengeschäft. Ich bin gekommen, um herauszufinden, was dein Cousin Rupert hier gemacht hat, während seine neue Braut in Norford war. Wusstest du, dass sie mich nicht einmal über ihre Hochzeit informiert haben?«
Amanda zuckte zusammen. Ihr Bruder Rafe hatte dasselbe getan, hatte Ophelia vom Fleck weg geheiratet, ohne der Familie Bescheid zu geben, und ihr Vater war darüber sehr verärgert gewesen.
»Das würde erklären, warum Rue heute so plötzlich aufgebrochen ist«, sagte sie mit wissendem Lächeln. Sie konnte sich schon vorstellen, wie das Gespräch zwischen verärgertem Onkel und gerüffeltem Neffen abgelaufen war. »Meinst du also, er bringt Becky zurück nach London?«
»Das könnte gut sein.«
»Schon bald, hoffentlich? Vielleicht sogar heute?«
»Das bezweifle ich.«
Amanda seufzte.
Preston gab ihr einen Stupser unter das Kinn. »Was ist los?«
»Ich hatte mich schon gefreut, heute mit Becky als meiner Anstandsdame auszugehen. Jetzt muss ich doch mit Avery vorliebnehmen.«
Preston runzelte die Stirn. »Ist Becky nicht etwas zu jung für …?«
»Nein, nein«, unterbrach Amanda ihn hastig, »sie ist doch verheiratet. Und du weißt, dass es deshalb durchaus akzeptabel ist.«
Prestons nachdenklicher Blick machte sie verlegen. Er war ein großer Mann, breitschultrig und kräftig. Sie und ihr Bruder Rafe hatten ihr blondes Haar und die blauen Augen von ihm geerbt. Preston war an den Schläfen allerdings schon etwas ergraut, was ihn äußerst ärgerlich machte. Aber er geriet nur selten aus der Fassung – im Gegenteil: Er konnte auf Freund und Feind einen solch beruhigenden Einfluss ausüben, dass es ziemlich schwierig war, sich in seiner Gegenwart aufzuregen. Er stritt nicht für seine Ansichten, sondern trug sie in vernünftigem Ton vor, und wenn sich einmal herausstellte, dass er sich irrte, lachte er nur und nahm es an. Es gab nur eine einzige Ausnahme, und zwar, wie er mit seinen Geschwistern umging. Wenn es um seine Schwestern ging, so genoss er geradezu, sie aufzuziehen, und war ein rechter Quälgeist. Ihr eigener Bruder hatte auch das von ihm geerbt, sehr zu ihrem Verdruss.
Noch bevor ihr Vater ihr verbieten konnte, auf Rebecca als Anstandsdame zurückzugreifen, nur weil sie ein paar Jahre jünger war, fragte Amanda: »Wusstest du, dass Rebecca eine Ehrendame der Königin war, bevor sie Rue geheiratet hat? Dort im Palast lernte ich sie auch kennen. Da sie am Königshof gedient hat, ist sie peinlichst auf Etikette bedacht, mehr als alle anderen, die ich kenne.«
»Nein, das wusste ich nicht. Aber deine Tante Julie ist immer noch die beste …«
»Sie geht nicht gern auf Partys. Sie macht es natürlich, aber du weißt doch, wie sie ist, wenn ihr etwas nicht gefällt«, murmelte Amanda.
Preston räusperte sich. »Es wäre besser gewesen, sie hätte wieder geheiratet, statt sich als ewige Nörglern zu üben.«
»Dasselbe sagt sie über dich«, entfuhr es Amanda. Dann stotterte sie: »Also, natürlich nicht den Teil mit der Nörglerin.«
War das etwa ein Anflug von Rot auf den Wangen ihres Vaters? Sicherlich nicht. Schließlich wusste die Familie durchaus, warum er sich nach dem Tod seiner Frau dafür entschieden hatte, allein zu bleiben. Er hatte sie zu sehr geliebt. Er versuchte, diese Liebe zu ehren und nicht durch etwas Neues zu ersetzen. Amanda und Rafe vermuteten, dass ihr Vater nicht von einer zweiten Gattin enttäuscht werden wollte, nachdem er mit seiner ersten so glücklich gewesen war. Und sie konnten auch kaum widersprechen, denn auch sie wollten nicht, dass ihre Mutter ersetzt würde. Aber sie wünschten sich, dass ihr Vater glücklich war. Wenn er also jemanden finden würde, der ihn glücklich machte, hätten sie nichts dagegen einzuwenden. Er hingegen suchte überhaupt nicht. Er kannte bereits alle ungebundenen Damen zu Hause auf dem Land und interessierte sich für keine von ihnen, und nach London, wo er vielleicht jemand Neues kennenlernen könnte, kam er nur selten.
Aber jetzt war er hier. Sie fragte sich …
»Übrigens, ich habe Avery nach Hause geschickt«, eröffnete Preston ihr sachlich. »Heute werde ich deine Begleitung sein, meine Liebe. Ich will mich mit eigenen Augen vom Angebot überzeugen und verstehen, was es dir so schwer macht, dich zu entscheiden.«
Auch wenn es schwer war, ein begeistertes Quietschen und ein ärgerliches Stöhnen in einem Atemzug unterzubringen, gelang es Amanda ganz gut.
Kapitel 2
Zwei Partys an einem Abend, ist das heutzutage normal?«, fragte Preston neugierig.
Raphael sah seinen Vater an und lachte. »Seid ihr deshalb so spät dran, Mandy und du? Wart ihr vorher noch auf einer anderen Party?«
Preston schnitt eine Grimasse. »Ja, deine Schwester behauptet, sie könne keine von beiden verpassen. Die andere Party war bei einer alten Schulfreundin ein paar Häuser weiter. Wobei man es kaum eine Party nennen konnte, bei so wenigen Leuten.«
Raphael leistete seinem Vater am Rand des großen Ballsaals Gesellschaft, in dem Ophelias Gäste heute zusammengekommen waren. Zum Glück war fast niemand hier, der Preston erkennen würde. Er kam nur sehr selten nach London, und schon gar nicht für gesellschaftliche Anlässe– außer, die Queen persönlich lud ihn ein. Deshalb ahnte niemand, dass der Herzog von Norford anwesend war. Ansonsten wären die Gäste Spalier gestanden, um seine Bekanntschaft zu machen.
Immerhin hatte Amandas Vater sich dank Ophelia schon an gesellschaftliche Zusammenkünfte auf dem Lande gewöhnt. Prestons fünf Schwestern hatten früher oft Gesellschaften in Norford Hall abgehalten, aber das lag sehr lange zurück, Mandy war damals noch gar nicht geboren gewesen. Nachdem auch die letzte seiner fünf Schwestern geheiratet hatte und weggezogen war, blieb es ruhig in Norford Hall. Amandas Mutter war es so lieber gewesen, und nach ihrem Tod war Preston so etwas wie ein Einsiedler geworden. Er hatte nicht einmal das gesellschaftliche Debüt seiner Tochter ausrichten wollen, sondern schickte sie einfach nur nach London, wo sie garantiert die größte Auswahl hatte– die Crème de la Crème der Junggesellen des ganzen Königreichs. Es lag wie ein Fluch auf der Familie, dass sie noch immer keinen auserwählt hatte.
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