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*Statt wieder auf die richtige Straße zurückzukehren, waren wir am Ende falsch abgebogen. Jetzt standen wir in einer Sackgasse.* Nachdem Lauren von Alexanders bevorstehender Verlobung erfahren hat, bricht sie nach Whitcaster auf. Dort muss sie das Geheimnis um die Rückkehr ihres Vaters wahren, um niemanden aus ihrer Familie in Gefahr zu bringen. Der Prinz kämpft um Laurens Gunst, wofür er sich sogar mit seinem Vater anlegen würde, doch sie entscheidet sich gegen ihn. Dennoch begegnen sie sich ständig bei der Arbeit und versuchen, sich gegenseitig die Sehnsucht nacheinander nicht anmerken zu lassen. Das Klima im Schloss wird noch eisiger, als zwei längst verschwunden geglaubte Gesichter plötzlich wieder am Hofe auftauchen und alles auf den Kopf stellen …
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Maddie Sage
IMPERIAL – Stay With Me
Band 2
Dieser Artikel ist auch als Taschenbuch erschienen.
IMPERIAL – Stay With Me
Copyright
© 2021 VAJONA Verlag
Alle Rechte vorbehalten.
Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Lektorat und Korrektorat: Anne Schünemann
Umschlaggestaltung: Julia Gröchel unter Verwendung von Motiven von Rawpixel
Satz: VAJONA Verlag, Oelsnitz
ISBN: 978-3-948985-23-3
VAJONA Verlag Carl-Wilhelm-Koch-Str. 3
08606 Oelsnitz
www.vajona.de
Für meine vier kleinen Prinzessinnen
Josephine, Johanna, Charlotte und Mathea
Playlist
Always Remember Us This Way – Lady Gaga
Let You Down – NF
Elastic Heart – Sia
… Ready For It? – Taylor Swift
Promises – Calvin Harris, Sam Smith, Jessie Reyez
no tears left to cry – Ariana Grande
Let Her Go – Passenger
Bad Blood – Taylor Swift
Beautiful People – Ed Sheeran, Khalid
Silence – Marshmello, Khalid
Hang With Me – Robyn
Takeaway – The Chainsomkers, ILLEMUM, Lennon Stella
Hate Me - Ellie Goulding, Juice WRLD
Impossible - James Arthur
In The End – Tommee Profitt, Fleurie, Mellen Gi
Payphone - Maroon 5
Demons – Imagine Dragons
Stay With Me – Sam Smith
Der Kaffee war längst kalt.
Seine Zettel waren wirr durcheinandergeraten, seit er vor etlichen Stunden angefangen hatte, zu recherchieren. Er begutachtete die Notizen an der Pinnwand vor sich.
Noch immer fehlten ihm Puzzlestücke.
Auch wenn er dankbar dafür war, sich seit geraumer Zeit wieder an seine Vergangenheit erinnern zu können, hatten die letzten Jahre deutliche Spuren in seiner Seele hinterlassen.
Bei dem Gedanken an seine Familie wurde ihm angenehm warm ums Herz.
Er vermisste seine beiden Mädchen schrecklich und hätte liebend gerne Kontakt zu ihnen aufgebaut. Und dennoch besaß er nicht den Mut, sie anzusprechen. Versteckte sich hinter einem Namen, den sie nicht kannten, sodass sie ihn nicht fanden. Er stieß ihnen damit vor den Kopf, das wusste er, doch der Rotschopf meinte, es sei noch nicht an der Zeit, sich ihnen zu offenbaren.
Vom vielen Sitzen schmerzte ihm der Rücken, aber es half nichts – die Recherche war notwendig. Neben dem Internet durchsuchte er stapelweise Zeitungsartikel und staubige Bücher.
Er konnte nicht sagen, wann er das letzte Mal sechzig Minuten am Stück geschlafen hatte. Alle halbe Stunde wachte er auf und wusste nicht, wo er sich befand.
Die Torturen der letzten Monate saßen ihm bis heute tief in den Knochen. Der Verlust seiner Würde und seiner guten Freundin hatte ihn zu sehr bekümmert, um wieder zu einer normalen Tagesordnung überzugehen.
Er vermisste die Gespräche, die sie geführt hatten.
Tür an Tür. Zelle an Zelle.
Die rothaarige Frau war jahrelang seine einzige Bezugsperson gewesen. Und doch hatte man sie ihm ebenfalls genommen. Vor seinen Augen wurde Kate der goldene Schuss gesetzt. Vier Männer drückten jeweils auf einen Knopf, einer von ihnen pumpte so die tödliche Dosis Nervengift in ihre Adern.
Er war einer dieser Männer gewesen.
Vermutlich hatte sich in seiner Spritze das Gift befunden.
Tagtäglich dachte er darüber nach, ob er ihren Tod hätte verhindern können. Wenn er nicht auf diesen Knopf gedrückt und sie überlebt hätte, hätte kein Zweifel daran bestanden, dass er ein Verräter war. Dann wäre er der Nächste gewesen.
Kate und er hatten sich gegenseitig das Versprechen abgenommen, dass sie einander nicht verschonen würden. Einer von ihnen sollte einen Weg zurück zu den Kindern finden und sie beschützen. Dass er derjenige sein würde, an dem diese Aufgabe hängen blieb, hätte er nicht erwartet.
Er saß nur in diesem Drecksloch, weil er die Gunst mancher Leute verspielt hatte. Leute, die Macht besaßen und die ihn zerstören wollten, weil er Dinge wusste, die ihre Positionen gefährden konnten. Er war lediglich zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Es war kein perfider, ausgeklügelter Plan, um an Informationen zu kommen, sondern ein unglücklicher Zufall.
So geheim, so zerstörerisch, dass er niemandem davon erzählen durfte.
In der Sekunde, in der er erfahren hatte, welches Geheimnis diese Leute verbargen, wusste er, dass er verloren hatte. In diesem Spiel mit gezinkten Karten, bei dem er abermals den Schwarzen Peter zugesteckt bekommen hatte. Jedes neue Blatt, das er zog, zeigte das Bild des rußverschmierten Jungen, der ihn auszulachen schien.
Es war nie ein faires Spiel gewesen.
Bis er die Frau in der Zelle neben sich kennengelernt hatte, war die Welt für ihn schwarz gewesen. Er hatte die Hoffnung verloren, doch Kates Anwesenheit hatte sie wieder in ihm geweckt. Sie hatte ihm ein gutes Gefühl geben. War der letzte Strohhalm gewesen, an den er sich geklammert hatte. Der letzte Ausweg, um seine Familie doch eines Tages wieder in die Arme schließen zu können.
Jetzt war sie tot.
Würde ihre eigene Familie niemals wiedersehen.
Und er war schuld daran.
Groll stieg in ihm hoch.
Er wollte schreien, doch der Schmerz saß zu tief.
Weil sie Monster waren. Weil sie gerne Menschen quälten, um sich an ihrem Leid zu ergötzen.
Er nahm einen Schluck seines kalten Kaffees, den irgendjemand ihm vor Stunden gebracht hatte. Eine starke Röstung, die im Abgang bitter seine Kehle hinunterrann.
Die Pinnwand war mittlerweile über und über gespickt mit Bildern, Notizzetteln und etlichen Reißzwecken. Im Hintergrund lief der Fernseher. Er hoffte, in den Nachrichten neue, wertvolle Details zu erfahren. Die Rede des wittlesischen Königs anlässlich des Friedensgedenktages. Ein Bericht über einen Unfall in Neuseeland. Waldbrände in Kalifornien. Das übliche Leid des täglichen Lebens.
Während sein Blick über die Schlagzeilen auf der Mattscheibe wanderte, fiel ihm eine Ungereimtheit auf. Eine Tatsache, die er nicht berücksichtigt hatte.
Plötzlich wies seine Strategie Lücken auf.
Zufälle, die nicht hätten sein dürfen, verschlechterten seine Chancen, zu gewinnen. Er musste schnell handeln, um den größten Schaden abzuwenden.
Wenn noch weitere Unannehmlichkeiten ans Tageslicht drangen, hätte ihr Vorhaben keine Aussicht auf Erfolg. Dann wäre Kates Tod völlig umsonst gewesen.
Der Plan sei bombensicher, hatte sie gemeint. Dafür habe sie gesorgt.
Dennoch fiel ihm auf, dass sie nicht alle Eventualitäten bedacht hatte. Ein Mensch konnte nicht jedes einzelne Szenario vorhersehen.
Trotzdem hatte seine Perspektive dafür gesorgt, dass sie nicht blindlings drauflos stürmten. So wie sie es ursprünglich vorhatten.
Es bedurfte einer neuen Planung.
Er stürzte den Rest seines Kaffees herunter. Keine Sekunde später ertönten etliche Wecker. Frühstückszeit.
Der Moment, in dem er den anderen von seiner Erkenntnis berichten würde. Sie vertrauten ihm und darauf, dass er die Lage einzuschätzen wusste.
Und er hoffte, angemessene Entscheidungen zu treffen und auf die richtigen Menschen zu zählen.
Er durfte seine Familie nicht verlieren.
Er durfte ihre Erwartungen nicht enttäuschen.
Er durfte auf keinen Fall scheitern.
»Ich habe nicht lange Zeit, um mit dir zu plaudern, meine Kleine.« Dad verzog das Gesicht zu einer gequälten Miene und senkte den Blick. »Wir dürfen nicht zusammen gesehen werden. Wie du siehst, werde ich bereits abgeholt. Man erwartet mich. Wenn wir zu viel Zeit verschwenden, kommt gleich der Gefangenentransport von Interpol und alles wäre verloren.«
»Was geht hier vor sich? Wieso Interpol? Und wer sind dann die beiden Polizisten da?« Ich starrte die beiden uniformierten Männer an, die den Blick Richtung Horizont gewandt hatten und nicht unbedingt so wirkten, als würden sie meinen Vater mit Handschellen und Fußfesseln an sich ketten wollen. Einer von ihnen lehnte am Lieferwagen und beobachtete unser Gespräch.
»Sie sind hier, damit ich nicht in die Fänge des internationalen Geheimdienstes gerate. Sie helfen mir und lassen es so aussehen, als würde ich abtransportiert werden«, wisperte Dad und sah dabei immer wieder hektisch vom Krankenhauseingang zur Einfahrt.
Tränen brannten hinter meinen Lidern. Der Mann, der mir gegenüberstand, war nicht mehr der Vater, den ich aus meinen Erinnerungen kannte, ein Mann mit aufrechter Haltung und festem Blick. Mein Dad war nur noch der Schatten seiner selbst. Die vergangenen vier Jahre hatten Spuren in seinen Zügen und an seinem Körper hinterlassen.
»Was ist bloß passiert?« Ich brachte die Worte nur als ein Flüstern über die Lippen. »Hast du ein Verbrechen begangen? Warum wirst du gesucht?«
Der Kloß in meinem Hals wuchs. Das Kribbeln in den Beinen wurde stärker. Mein Fluchtinstinkt meldete sich.
Es war zu viel. Ihn zu sehen. Zu wissen, dass er lebte und mich verleugnet hatte, als ich ihn nach der Prügelei auf dem Jahrmarkt im Krankenhaus besuchen wollte. Ich hatte bereits nach der Zeremonie in der Kirche zum Königstag von Anfang an mit meinen Vermutungen recht gehabt. Damals war er vor mir davongelaufen, doch nun stand er hier vor mir. Mein Vater war nicht tot. Er war untergetaucht.
Hatte er uns freiwillig mit dem Scherbenhaufen seines Lebens zurückgelassen?
Nach dem Telefonat mit Mum damals, nach dem Kirchenbesuch, war ich schon hellhörig geworden. Als sie meinte, er wolle möglicherweise gar nicht von mir gefunden werden. Wusste sie vielleicht die ganze Zeit über schon, dass Dad noch lebte? Sollte ich noch einmal mit ihr darüber reden? Oder lieber mit May?
»Uns rennt die Zeit weg, Lauren.« Dad rieb sich mit der Handfläche über die Stirn und schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid. Alles … Es tut mir so schrecklich leid.«
Ich ballte die Hände zu Fäusten, während der Schmerz in meinem Herzen unerträglich wurde. Trauer und Enttäuschung verwandelten sich in ungezähmte Wut. Der Zorn sprudelte über. Ich rammte meine Fingernägel in die Handballen, doch es half nichts. An Beruhigung war nicht mehr zu denken.
»Was tut dir leid?«, zischte ich. »Dass du uns von heute auf morgen verlassen hast und plötzlich auf dieser Insel auftauchst? Oder dass du dich mir aus Versehen gezeigt hast und deine Identität damit aufgeflogen ist? Was hast du zu verbergen? Einen Mord?«
Seine Miene veränderte sich. Der qualvolle Ausdruck wich einem resignierten und er stöhnte auf. Sofort plagte mich das schlechte Gewissen. »Ich habe nicht gegen das Gesetz verstoßen, Lauren. Das könnte ich niemals und das weißt du.«
Zugegeben, ich tat ihm mit meinen vorschnellen Vermutungen Unrecht. Doch all die Jahre hatten auch bei mir Spuren hinterlassen. Ich war nicht mehr das sechzehnjährige Mädchen von damals.
»Ich … Das kam so heraus. Entschuldige. Ich wollte dir keine Vorwürfe machen«, murmelte ich, ohne ihn dabei anzusehen.
Er wirkte zerbrechlicher als die Porzellanpuppe, die Mum von unserer Großmutter geerbt hatte und die in der Vitrine im Wohnzimmer stand. »Ist schon in Ordnung. Du hast allen Grund dazu, mich infrage zu stellen. Es sind so viele Jahre vergangen, in denen einiges geschehen ist. Ich weiß, es gibt eine Menge, worüber wir reden müssen. Aber mir bleibt auch jetzt nicht viel Zeit. Wir haben uns eigentlich schon zu lange unterhalten.«
Hinter meinen Schläfen pochte es und ich biss mir auf die Unterlippe. »Was ist denn nur los, Dad? Bitte, rede mit mir.«
Ich las in seinem Gesicht, wie er mit sich rang.
»Das kann ich nicht. Allein mit diesem Gespräch habe ich dich schon viel zu sehr in Gefahr gebracht. Bitte, suche nicht nach mir. Ich melde mich bei deiner Mum, May und dir, wenn es so weit ist und die Lage sich etwas beruhigt hat.«
Ich sah, dass er schwer schluckte, als die beiden Uniformierten ihn bei den Armen packten. Dad verzog das Gesicht, als einer von ihnen die Stelle traf, an der er vermutlich die Verletzungen der Schlägerei noch deutlich spürte.
»Dad …« Der zitternde Unterton in meiner Stimme verriet die Panik, die mich bei der Gewissheit erfasste, ihn wieder zu verlieren. Zwar wusste ich dieses Mal, dass er noch lebte und zu uns zurückkehren wollte. Dennoch fühlte es sich an wie ein zweiter Verlust. Mit jedem weiteren Schritt, den er in Richtung des weißen Transporters tat, wurde mein Herz schwerer.
»Pass auf dich auf, Kleine. Wir sehen uns hoffentlich bald wieder. Dann kann ich dir alles in Ruhe erklären.« Er lächelte mir noch einmal zu, bevor er sich umdrehte. Mit hängenden Schultern folgte er den uniformierten Männern, die ihn zum Wagen führten.
Mein Puls beschleunigte sich und ich schluckte schwer. Was hatte all das nur zu bedeuten? Wann würde ich Dad wiedersehen?
Vivienne zog mich in eine Umarmung. Eine Träne löste sich aus meinem Augenwinkel und lief mir über die Wange. Ich strich sie mit dem Handrücken fort. In meinem Inneren wurde es frostig und still, bis ich irgendwann nichts mehr spürte. Bis da nur noch Leere in mir war.
Sekunden später war der Transporter nicht mehr zu sehen. Schweigend standen wir nebeneinander und betrachteten die Stelle am Horizont, an der er verschwunden war. »He, Entschuldigung!«, hörte ich einen Mann aufgebracht rufen. Überrascht wandte ich den Kopf zum Eingang des Krankenhauses. Ein Pfleger kam forschen Schrittes auf uns zumarschiert. Seine blonden Haare waren zerzaust und während er zu uns herüberlief, sah er sich unruhig in alle Richtungen um.
Als er uns erreichte, fragte er hastig: »Haben Sie einen Mann gesehen, der aus dem Gebäude kam? Etwa so groß wie ich? Dunkle Haare?«
Ich wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, doch Vivi kam mir zuvor. »Nein, tut uns leid. Hier ist niemand vorbeigekommen.«
Verwirrt sah ich meine Freundin an, die mir mit einem strengen Blick zu verstehen gab, besser den Mund zu halten.
»Trotzdem danke.« Der Mann seufzte, kramte ein Handy aus seiner Hosentasche und hielt es uns entgegen. Auf dem Display erschien ein Foto meines Vaters, das ihn in Krankenhauskleidung zeigte. »Das ist er. Sollten Sie ihn hier entdecken, melden Sie sich bitte umgehend bei uns oder der Polizei. Er ist gefährlich.«
»Gefährlich? Was meinen Sie damit?« Ich starrte ihn mit großen Augen an. Vielleicht wusste er mehr, als wir bisher erfahren hatten.
»Der Mann gehört in Polizeigewahrsam. Anscheinend ist ihm die Flucht gelungen.«
Überrascht warf ich Vivienne einen Blick zu.
Dad hatte vorhin erwähnt, dass dies nicht der Wagen vom Geheimdienst oder von der Polizei gewesen war, und ich fragte mich, in welchen Transporter er dann ohne zu zögern eingestiegen war. Wer genau waren diese Männer und warum musste mein Vater vor der Verfolgung durch Interpol fliehen?
Am nächsten Morgen fuhr ich mit der Kutsche zum Hafen. Letzte Nacht hatte ich kein Auge zugetan. Der Koffer in meiner Hand kam mir nur halb so schwer vor wie die Last, die auf meinem Herzen lag. Seit Tagen sehnte ich das verlängerte Wochenende mit meiner Familie herbei. Wir würden jede Sekunde miteinander verbringen und Mays Geburtstag feiern. Ich würde endlich ein wenig Abstand zum Hof und vor allem Alexander bekommen, der mir mit seinem Verhalten ohne Vorwarnung und mit einer solchen Wucht das Herz gebrochen hatte, dass ich mir sicher war, ich würde es nie wieder zusammensetzen können. Es war in jedes seiner Einzelteile zersprungen und nur eine Person könnte es wieder flicken.
Doch derjenige hätte mir nicht deutlicher machen können, dass ich für ihn nichts weiter als eine lockere Affäre gewesen war, bevor er sich lebenslang an die belvarische Prinzessin band. Ein letzter Hauch von Freiheit, den er auskosten wollte, bevor er Maisie Thornton einen Ring an den Finger steckte.
Seit gestern Abend versuchte ich, die Gedanken an ihn zu unterdrücken. Ihn aus meinem Kopf zu verbannen. Mir einzureden, dass er nichts weiter als ein heißes Abenteuer gewesen war. Dass unsere gemeinsame Nacht und der Morgen danach nichts bedeutet hatten.
Ich musste außerdem Gelegenheit finden, um mit Jane noch einmal in Ruhe über die Sache mit Chris und ihr zu reden. Wir hatten zwar nach dem Telefonat mit ihm, das eskaliert und bei dem er uns beide beleidigt hatte, bereits miteinander gesprochen. Dennoch wollte ich sie fragen, ob sie sich ihrer Gefühle Chris und Jonathan gegenüber in den letzten Tagen klar geworden war.
Zu Hause würde ich auch noch mit Chris reden und ihm erklären müssen, was zwischen dem Prinzen und mir vorgefallen war, und dass ich nicht dieselben Gefühle für meinen besten Freund hegte wie er für mich. Er verdiente die ganze Wahrheit.
Ich sehnte mich danach, mit Jane über meine Gefühle zu sprechen. Vor allem aber auch mit Vivienne, die ich gestern Abend noch vollgeheult hatte. Sie wusste immer, was zu tun war, wenn es mir schlecht ging. Doch sie war nicht da. Auf diesem Schiff scherte sich niemand um mich. Ich war umgeben von fremden Leuten, die sicher nicht darauf gewartet hatten, ein tränenüberströmtes Mädchen zu trösten, das gerade allein auf dem Weg nach Whitcaster war.
Frustriert setzte ich meinen Weg durch die Massen fort und entdeckte den kleinen Tisch, an dem Jane und ich bei der Überfahrt vor über drei Monaten Alex, Jonathan und Benji kennengelernt hatten. Damals wussten wir noch nicht, dass es sich um den Prinzen handelte, der in Begleitung zweier Lords mit der Fähre nach Wittles Cay Island reiste. Mit eisigem Griff packte mich die Erinnerung und zog mich in einen Sumpf aus Selbstmitleid und unstillbarem Zorn.
Eilig stampfte ich aus dem Aufenthaltsraum und schloss mich schwer atmend in meiner kleinen Kajüte ein. Ich rollte den Koffer in die Ecke. Seufzend lehnte ich mich mit dem Rücken gegen die Tür und sank erschöpft an ihr herab. Masochistisch wie ich war, zückte ich mein Handy und rief die Schlagzeilen von gestern auf. Schlagzeilen, die in jeder Zeitung waren und mich anstarrten, als würden sie mich verhöhnen. Mein Magen brannte, während ich die Bilder betrachtete, die meine Welt aus den Fugen gerissen hatten. Ich hörte Prinzessin Alice‘ Worte in meinen Ohren, wo sie ein dumpfes Rauschen hinterließen.
Sie müssen wissen, dass mein Bruder Maisie versprochen ist.
Alexander würde sich mit der belvarischen Prinzessin verloben. Je öfter mir diese Tatsache durch den Kopf schwirrte, desto realer wurde sie. All die Hoffnungen, die sich in meinem naiven Herzen ausgebreitet hatten, lösten sich in Luft auf. Ich wünschte mir nichts mehr, als meine Gefühle für ihn auslöschen zu können, bevor sie mich zerstörten. Zu gern würde ich ihm meinen Frust entgegenschreien.
Ich wollte alles gleichzeitig. Ihn hassen. Maisie hassen.
Dabei hasste ich mich am meisten selbst dafür, dass ich diese Gefühle zugelassen hatte.
Ich war dumm und verletzlich gewesen.
Hatte nur an die Begegnungen mit meinem Vater gedacht, von dem ich nicht einmal wusste, ob er noch der Mann war, den ich zu kennen geglaubt hatte. Ich war mir beinahe sicher, dass ich mich in einer Halluzination verlor. Dieser Hoffnungsschimmer hatte mir jeglichen Verstand geraubt und mich verwundbar gemacht. Und damit angreifbar für den Charme des Prinzen.
Ich erinnerte mich an den letzten Abend in Whitcaster, bevor Jane und ich nach Wittles Cay Island aufgebrochen waren. Chris, sie und ich hatten jede Menge Spaß gehabt, tranken Shots, als wären sie Wasser, und tanzten zu 90er-Jahre-Musik. Damals war alles noch so unbeschwert. Ich hatte mir gewünscht, ich könnte die Zeit anhalten und diesen Moment mit meinen Freunden für immer erleben. Bis Jane auf die Toilette gerannt war und ich den Deckel gerade noch rechtzeitig aufreißen konnte, bevor sie sich im hohen Bogen übergab.
Als ich mein Handy entsperrte und mein Blick an dem Bild hängen blieb, das meine beiden besten Freunde und mich am Tag unseres Schulabschlusses zeigte, konnte ich die Tränen nicht mehr zurückhalten. Ich wischte über das Display und starrte wieder auf die Schlagzeilen der Boulevardpresse. Genau genommen auf ein Foto der intimen Kussszene zwischen Alexander und Maisie.
Ich schmiss mein Handy hilflos aufs Bett und vergrub das Gesicht in den Armen. Schluchzer schüttelten meinen Körper durch. Ich konnte mich nicht mehr beruhigen und ließ die Tränen über meine Wangen rollen.
Irgendwann war da nichts mehr als das Salz auf meinen Lippen und das Brennen in meinen Augen.
Nichts.
Unentschlossen und mit wackeligen Beinen stand ich vor unserer Haustür. Ich hätte nur den Schlüssel herausholen und aufschließen müssen, doch meine Finger waren wie versteift. Das Leben, das ich bei meiner Abreise hier zurückgelassen hatte, würde es so nicht länger geben. Alles war einem riesigen Chaos gewichen.
Jane und Chris hatten sich nach ihrem Gefühlsausbruch vor ein paar Tagen im Club zerstritten. Meine Mutter und meine Schwester ahnten nichts von Dads mysteriösen Machenschaften. Alexander hatte mir das Herz gebrochen, wie selbst Wren es zuvor nicht vermocht hatte. Mein Ex-Freund hatte anderes in mir zerbrochen, von dem ich dachte, Alex könnte mir dabei helfen, es wieder zusammenzusetzen. Mir einen verlorenen Teil meiner Seele zurückgeben.
Beim Gedanken an den Prinzen ballte ich meine Hände zu Fäusten und schluckte schwer. Wie war es möglich, dass er es innerhalb kürzester Zeit schaffte, mich dermaßen aus dem Konzept zu bringen, dass ich beim bloßen Gedanken an sein Grinsen nach wie vor eine Gänsehaut bekam?
Energisch schüttelte ich den Kopf und löste meine angespannten Finger. Ich nahm all meinen Mut zusammen und steckte den Schlüssel ins Schloss. Vorsichtig öffnete ich die Tür und trat langsam über die Schwelle. Meine Füße trugen mich eine Etage höher, in der sich unsere zweistöckige Wohnung befand. Nachdem ich auch hier einmal tief durchgeatmet und die Tür aufgeschlossen hatte, empfing mich der Duft meines Zuhauses.
Es roch nach gebackenen Plätzchen, Kuchen und dem blumigen Waschmittel, das Mum seit Ewigkeiten verwendete. Erneut stiegen mir Tränen in die Augen und ich schaute auf die Uhr.
Kurz vor elf.
Maybelle war noch in der Schule.
Mum bereitete wahrscheinlich gerade einen Kuchen und ein leckeres Mittagessen für sie vor. Ich war mir fast sicher, dass May sich Gemüseauflauf gewünscht hatte. Eines ihrer Lieblingsessen, seit sie versuchte, vegetarisch zu leben. Falls sie das überhaupt noch tat. Ich war in den letzten Wochen und Monaten auf dem Schloss so mit mir selbst beschäftigt gewesen, dass ich nicht einmal wusste, was im Leben meiner Schwester passierte.
Während ich im Wohnungsflur stand und mich umsah, hatte ich das Gefühl, in ein anderes Leben einzutauchen, eines, das schon eine gefühlte Ewigkeit zurücklag. Es kam mir fremd vor, einfach hereinzumarschieren und mich wohlzufühlen. Ich schien nicht mehr wirklich hierhinzugehören.
Die Gefühle in meiner Brust schnürten mir die Luft ab und ich lehnte mich schwach gegen die Kommode, die unter meinem Gewicht leise ächzte.
»Hallo?«, hörte ich eine vertraute Stimme aus der Küche rufen.
Ich konnte nicht antworten. Die Gedanken an alles, was während der letzten Jahre in diesen vier Wänden geschehen war, prasselte auf mich ein. Jane, Chris und vor allem Dad fehlten mir. Und wenn ich ehrlich mit mir selbst war, fehlte mir Alexander ebenfalls.
Alexander, der sich nicht mehr dafür interessierte, wie es mir ging. Der mich vermutlich für ein billiges Flittchen hielt, mit dem er eine heiße Nacht verbracht hatte. Ein bisschen unverbindlichen Spaß. Ohne Gefühle, ohne Verpflichtungen. Ich hatte ihm nichts bedeutet. Denn wenn dem so gewesen wäre, hätte er mir schon viel früher von der Verlobung erzählt und nicht seine Schwester vorgeschickt, um mir die Wahrheit zu sagen.
Ich war nur eine von vielen, die sich Hoffnungen auf mehr mit ihm gemacht hatte. Es war eben seine Masche. Das hätte mir klar sein sollen, als die Mädchen beim Lagerfeuer davon berichteten, dass sie mit ihm geschlafen hätten und er sie anschließend vor versammeltem Personal entlassen hatte. Er hatte beteuert, unschuldig zu sein, doch wie viel waren seine Worte noch wert, wenn er nicht einmal den Anstand besaß, mir von seiner bevorstehenden Verlobung zu erzählen?
Ich war auf seinen Charme reingefallen und hatte mir selbst zuzuschreiben, dass ich dumm genug gewesen war, Gefühle für ihn zu entwickeln. Als er von dem Druck erzählt hatte, der wegen seines Amts und seines Vaters auf ihm lastete, hatte er mir leidgetan. Ich hatte ihm die Geschichte um Juliet geglaubt. Eine Frau, die seine Freundlichkeit ausgenutzt hatte und ein von ihm komponiertes Musikstück stahl, um daraus Profit zu schlagen. Es war furchtbar schwer zu hören, dass sie ihm und seinem damaligen Kammerdiener Theodor Drogen verabreicht hatte, um die Männer zu entkleiden und Bilder mit ihnen zu machen, nur damit sie in den Schlagzeilen als »die Geliebte« des Prinzen bezeichnet wurde.
Alexander hatte mir von meinem Dad erzählt und dass er gesucht wurde. Er saß mit mir auf der Lichtung beim Lavendelfeld und hatte sich meine Sorgen wegen des Streits mit Jane und Chris angehört. Er war für mich dagewesen, als ich jemandem zum Reden gebraucht hatte.
Steifen Schrittes ging ich den Flur entlang und blieb im Türrahmen zur Küche stehen. Dort beobachtete ich Mum, wie sie am Herd stand und in einem großen Kochtopf herumrührte. Seufzend lehnte ich mich gegen den Rahmen und wünschte, ich könnte mich an die Version meiner selbst klammern, die ich noch vor wenigen Monaten gewesen war. Als meine Familie, Jane, Chris und ich hier gesessen, Kaffee getrunken und über das anstehende Praktikum geplaudert hatten. Es war nur noch eine schemenhafte Erinnerung.
Ich erkannte mich in alldem, was auf dem Schloss geschehen war, selbst kaum wieder. Mich auf jemanden einzulassen, fiel mir nach Wren unendlich schwer. Nicht nur, dass er mich betrogen und Jane mit Drogen versorgt hatte. Er hatte im Club auch noch versucht, mich zu missbrauchen. Alexander wusste davon. Er hatte Reece geschlagen, nachdem dieser sich mir aufgedrängt hatte. Warum zur Hölle hatte Alex all das getan, wenn ich ihm doch offenbar nie wirklich etwas bedeutet hatte? Ich verfluchte mich dafür, dass ich einfach mit ihm geschlafen hatte, ohne an die Konsequenzen zu denken. Dass ich geglaubt hatte, seine sanften Berührungen könnten irgendetwas von dem lindern, was Wren und Reece mir versucht hatten anzutun.
Ich wollte mich von dieser Angst und diesem Gefühl der Hilflosigkeit nicht definieren lassen. Ich wollte es durch schöne Erinnerungen überdecken und hatte das Gefühl gehabt, dem Prinzen vertrauen zu können. Ich wollte mich stark fühlen und nicht von all diesen Erinnerungen übermannen lassen. Dabei hätte ich mir mehr Zeit geben und warten müssen. Es zuerst verarbeiten müssen.
Alexander hatte gefragt, ob es für mich okay wäre, mit ihm zu schlafen, direkt am Morgen nach Reece' ekelhaftem Verhalten. Ich hatte geglaubt, dass es für mich in Ordnung gewesen war, mich dieser Anziehung zu Alex dennoch hinzugeben. Nun, mit etwas Abstand zum Leben auf dem Schloss und einem klareren Kopf, hatte es sich als ein riesiger Fehler herausgestellt. Sein abweisendes Verhalten, seine Lüge über die Beziehung zu Maisie … Nach der Nacht mit ihm hatte ich für kurze Zeit auf Wolke sieben geschwebt und mich bei ihm sicher gefühlt. Nach allem, was dann zwischen dem Prinzen und mir geschehen war, bereute ich es umso mehr, ihn so nah an mich herangelassen zu haben.
»Lauren! Schätzchen! Was machst du denn schon hier?«, keuchte meine Mutter und ließ den Schneebesen erschrocken fallen.
Sie eilte auf mich zu und drückte mich, so fest sie konnte, an ihre Brust. Ich bekam kaum Luft. Gleichzeitig hatte ich das Gefühl, sie würde mein zerbrochenes Herz ein Stück weit wieder zusammenflicken, indem sie mich in den Armen hielt. Die Tränen flossen und ich vergrub mein gerötetes Gesicht an ihrer Schulter.
Liebevoll strich sie über meine Haare. Ich schluchzte unerbittlich in ihre Bluse und merkte schnell, dass sie völlig durchnässt war.
»Herrgott, Lauren. Was ist los?« Meine Mutter hielt mich ein wenig von sich weg, um mich besorgt zu mustern. »Ist es wegen dieses Typs, der dir zu nahe gekommen ist?«
»Auch …« Ich schüttelte kaum merklich den Kopf und sackte in mich zusammen. »Ich kann nicht darüber sprechen.«
Normalerweise redete ich mir gern meine Sorgen von der Seele und Mum war eine begnadete Zuhörerin. Aber ich schämte mich so sehr für meine Naivität. Ich war nicht in der Lage, mir meine eigene Dummheit einzugestehen. Über die Gefühle für Alexander zu sprechen. Vor Mum zuzugeben, dass sie mit allem recht behalten hatte. Sie hatte mich gewarnt, dass es kein gutes Ende nehmen würde, wenn ich mich auf ihn einließe. Und so war es auch gekommen. Ich hatte verloren. Mein Herz war gebrochen.
»Komm mit, ich koche Kamillentee und hole dir Wattepads. Die kannst du in den Tee tunken und auf deine Augen legen, damit die Schwellung zurückgeht. Wenn May dich so sieht, denkt sie, wir feiern Halloween und nicht ihren Geburtstag.« Sie zog mich am Arm in die Küche und ich ließ mich wie ein nasser Sack auf einen der Hocker fallen.
»Mum«, quengelte ich, »das baut mich wirklich nicht auf. Musst du nicht irgendetwas sagen wie ›Es wird alles wieder gut‹ oder ›Ich bin für dich da, wenn du reden willst‹? Oder wenigstens ›Ich hab’s dir doch gesagt‹?«
»Würde es das denn besser machen?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Vermutlich nicht.«
»Na, also.« Mum strich mir noch einmal tröstend über den Kopf.
Der Wasserkocher brodelte und sie stellte mir eine Dose mit Keksen vor die Nase, die herrlich dufteten. Trotzdem wusste ich, dass ich keinen Bissen herunterbekommen würde.
In mir war alles taub.
Als wäre mein Herz zu einem Eisklotz gefroren und hätte eine eisige Kälte in meinem Inneren verbreitet.
»Es tut mir leid, Lauren. Ich weiß nicht, was geschehen ist, und ich wünschte, du würdest mit mir darüber reden. Dann könnte ich dir helfen oder irgendetwas sagen, damit es dir besser geht.«
Sie stellte eine dampfende Tasse auf die Arbeitsfläche und legte zwei Wattepads in den aufgefüllten Tee, bevor sie das Gemisch in den Gefrierschrank stellte. Erschöpft ließ ich den Kopf auf die Tischplatte sinken und seufzte aus tiefstem Herzen. Ich wollte ihr von dem Chaos mit Alexander erzählen, aber dafür musste ich ausholen und mit dem nicht ganz so schmerzhaften Teil über meine besten Freunde beginnen.
»Du weißt doch, dass Jane und ich uns gestritten haben. Es war wegen Chris«, murmelte ich in meine Armbeuge und war mir nicht sicher, ob meine Mutter mich überhaupt verstanden hatte. »Sie ist seit Jahren in ihn verknallt und er hat mir vor der Abfahrt nach Wittles Cay Island seine Liebe gestanden. Zurück in Whitcaster hat sie mit ihm darüber gesprochen und das ist wohl eskaliert. Keine Ahnung, ob es zwischen uns dreien jemals wieder so sein wird wie früher. Jane und ich haben uns vertragen, aber ich weiß nicht, was mit Chris ist. Kommt er heute überhaupt zu Mays Geburtstag?«
Mum ging um den Tisch herum und legte mir sanft die Hand auf die Schulter. »Ich denke schon. Zumindest hat deine Schwester ihn eingeladen und er hat zugesagt. Mach dir keine Sorgen, das bekommt ihr mit Sicherheit wieder hin. Ihr seid doch schon seit dem Kindergarten befreundet. So etwas wirft man nicht leichtfertig weg.«
Ich hob schwerfällig den Kopf und schaute in ihre blauen Augen, die meinen grünen überhaupt nicht glichen. Die Farbe hatte ich von Dad geerbt und war seit jeher stolz darauf. Sie betrachtete mich mit einem sorgenvollen Ausdruck und runzelte die Stirn.
»Mum?«, fragte ich mit zitternder Stimme, weil ich endlich loswerden musste, was mir das Herz zerriss.
»Ja, Schätzchen?«
»Ich habe dir doch mal davon erzählt, dass ich glaube, Dad wiedergesehen zu haben. Weißt du das noch?« Ich schluckte die aufsteigende Übelkeit hinunter und riss mich zusammen. Vorsichtig richtete ich mich auf und krallte meine Finger in die lederne Sitzfläche des Hockers, um nicht den Halt zu verlieren.
»Natürlich.« Sie verengte die Augen und musterte jeden Zentimeter meines Gesichts.
Ich durfte ihr nicht zu viel verraten und schon gar nicht, dass ich mit ihm gesprochen hatte. Dadurch würde ich May und sie sicherlich in Gefahr bringen. Aber andererseits wurde ich das Gefühl nicht los, dass Mum etwas vor uns verbarg.
»Du meintest, er will vielleicht nicht gefunden werden, als ich dir von der Schneeflocke erzählt habe, die er für mich gefaltet hat. Er ist aus der Kirche gestürmt und war spurlos verschwunden – nur die Schneeflocke hat er für mich zurückgelassen.«
Sie nickte. »Ich erinnere mich daran.«
»Ich habe ihn noch ein zweites Mal gesehen.«
Erschrocken schnappte sie nach Luft.
»Wir waren beim Jahrmarkt und er wurde verprügelt. Ich habe ihm geholfen und wollte ihn im Krankenhaus besuchen, doch dort hat er geleugnet, eine Tochter zu haben.« Ich bohrte die Fingernägel tiefer ins Leder und presste die Lippen aufeinander. »Es tat so weh, zu wissen, dass er es ist und er mich nicht erkennen konnte oder wollte.«
Mum zog mich erneut in ihre Arme und strich mir beruhigend über den Rücken. »Und du bist dir ganz sicher, dass er es war?«
»Ja, ganz sicher«, murmelte ich an ihrer Schulter. »Wie hast du das gemeint, als du sagtest, dass er nicht gefunden werden will?«
Sie lehnte sich ein Stück zurück, um mich wieder ansehen zu können. Sanft strich sie über meine Wange. »Auch lange Zeit nach seinem Verschwinden habe ich immer noch Ausschau nach ihm gehalten und gehofft, dass er zu uns zurückkehrt. Ich habe mich nie an den Gedanken gewöhnt, dass er tot sein könnte. Wir wissen nicht, was passiert ist, und ich habe mich an die Vorstellung geklammert, dass er aus freien Stücken verschwunden war, weil ich alles andere nicht ertrage. Vielleicht hat er sich gegen ein Leben mit uns entschieden und will nicht, dass wir ihn finden.«
Ich ließ ihre Worte einen Moment lang auf mich wirken und konnte ihre Gedanken nachvollziehen. Für sie war es nie leicht gewesen, allein mit meiner Schwester und mir zurückzubleiben. Da war es vielleicht einfacher gewesen, nach naheliegenden Gründen zu suchen, weshalb Dad uns von einem Tag auf den anderen verlassen haben könnte, statt sich einzugestehen, dass er wirklich tot sein könnte.
»Ach, Mum.« Ich fiel ihr um den Hals und vergessen war das Gefühl, hier nicht mehr zu hundert Prozent hinzugehören. Ich war Teil dieser Familie und würde es immer bleiben, egal wie sehr ich mich in den letzten Monaten verändert haben mochte.
»Ist das alles, was dir auf dem Herzen liegt, mein Schatz?«, fragte sie und sah mich prüfend an.
Ich seufzte schwer. »Ein Teil davon. Aber es gibt da noch eine Sache.« Es war wohl an der Zeit, Mum auch noch vom Prinzen zu erzählen. »Erinnerst du dich an unser letztes Telefonat, bevor ich hergekommen bin?«
»Natürlich.« Sie lächelte mich aufmunternd an und strich mit dem Daumen über meine Schulter.
»Du wolltest, dass er mich nicht verletzt«, flüsterte ich atemlos.
Ich musste keinen Namen nennen. Sie wusste genau, wen ich meinte, denn ihre Finger legten sich fester um meine Schulter.
»Ich habe die Bilder von ihm und dieser Prinzessin im Internet gesehen. May hat sie mir gestern Morgen gezeigt«, knurrte Mum gefährlich leise.
»Das ist noch nicht alles.«
»Hat er dir etwas getan?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, nicht direkt.«
»Was ist es dann?«
»Das Mädchen, das er auf dem Foto geküsst hat … Er muss sich mit ihr verloben.«
»Er muss was?«, brüllte May hinter mir. Neben ihr stand Jane und verzog den Mund.
Ich hatte nicht bemerkt, dass die beiden ins Haus gekommen waren. Und ich verfluchte die heißen Tränen, die mir erneut unaufhaltsam über die Wangen liefen.
Manche Fehler beging man immer wieder.
Bis einen jemand darauf hinwies.
Mit einem Rotstift das Missgeschick unterstrich und ein vernichtendes »Falsch« daneben schrieb.
Andere Fehler machte man ein einziges Mal und wusste sofort, dass man Mist gebaut hatte. Ohne den penetranten Hinweis eines anderen.
Der Fehler war so schwerwiegend, dass ein bunt blinkender Pfeil auf den Patzer hindeutete. Direkt importiert vom Las Vegas Strip sorgte er auf hartnäckige Weise dafür, dass man den Griff ins Klo nicht vergaß. Ein knallroter Störpunkt im Augenwinkel, der sich unangenehm in die Netzhaut brannte.
Seit Jahren war die Klatschpresse mein Feind. Ständig hatte ich versucht, Geschichten über mich zu vermeiden. Und dann war an diesem Abend eine Sicherung bei mir durchgebrannt. Ich hatte es für notwendig gehalten, das Bild von Maisie und mir an die Paparazzi zu schicken, nur damit Lauren mich hasste.
Jetzt verabscheute ich mich dafür, ihr so das Herz gebrochen zu haben. Ich war ein verdammter Narr, zu glauben, dieser Kuss mit Maisie würde irgendetwas an meinen Gefühlen für Lauren ändern. Würde mein Ansehen in Vaters Augen verbessern und mir seine Gunst sichern. Das Einzige, was der Kuss bewirkt hatte, war, dass Lauren sich für immer von mir abgewandt hatte. Dass ich so gehandelt hatte, nach allem, was sie mir über ihre Vergangenheit anvertraut hatte, war abscheulich.
Manche Fehler waren eben unverzeihlich.
Doch ich hatte es schließlich so gewollt. Um sie vor etwas zu beschützen, von dem ich nicht wusste, worum es sich handelte. Womöglich würde mein Vater mich irgendwann einweihen oder es stellte sich als Test meiner Loyalität ihm gegenüber heraus. Jedenfalls hatte ich die Beziehung zu Lauren mit Vollgas gegen die Wand gefahren.
»Sie ist nicht da, Alex.«
Jonathan reichte mir das Glas mit Whisky. Es war nicht das erste, das ich an diesem Nachmittag in einem Zug hinunterstürzte. Er nahm es mir wieder ab und stellte sich mit verschränkten Armen vor mich hin. Ich wünschte, ich würde ihn nicht doppelt sehen.
Heute Morgen hatte ich mich live vor einer Fernsehkamera in aller Form für meinen Fehltritt entschuldigt. Für die schrecklichen Fotos, auf denen ich einen Angestellten schlug. In meiner Rede schenkte ich der Öffentlichkeit reinen Wein ein. Erklärte, dass Reece sich beinahe an einer Bediensteten vergangen hätte und seinen Fehler nicht einsehen wollte. Ich hatte überreagiert, doch in der Situation keinen anderen Ausweg gesehen. Vater zuliebe erwähnte ich, dass ich an einem Anti-Aggressions-Training teilnahm, um zukünftig solche Ausbrüche zu vermeiden. Unsere Familie durfte nicht riskieren, beim Volk in Missgunst zu fallen.
Am Nachmittag hatte der Hof einen festlichen Empfang ausgerichtet, um die Enthüllung einer neuen Statue meines Großvaters Thomas zu zelebrieren, die mein Vater in Auftrag gegeben hatte. Vor ein paar Tagen wäre Grandpa fünfundachtzig Jahre alt geworden. Die Feierlichkeiten waren bisher in Windeseile an mir vorbeigezogen und ich war dankbar für Benjis Beruhigungspillen, die er viel zu nachlässig in seinem Nachtschrank aufbewahrte.
»Und wo ist sie?«, knurrte ich Jonathan an, der mir nicht aus dem Weg gehen wollte, so sehr ich auch versuchte, mich an ihm vorbeizuschlängeln. Auch Benji versperrte mir den Weg, als ich mich an ihm vorbeiquetschen wollte. Es wirkte beinahe, als hätten sie mich eingekesselt, damit ich keinen weiteren Blödsinn anstellte.
Jo zückte sein Handy aus der Hosentasche und öffnete Instagram. Hastig gab er einen Namen in die Suchleiste ein und hielt mir das Display entgegen.
Vor mir leuchtete das Profil von Maybelle, Laurens Schwester, auf. In ihrer Story war zunächst eine Zeichnung von einem Lavendelfeld zu sehen, die ich nur zu gut kannte. Schmerzlich erinnerte ich mich an den Nachmittag, an dem Lauren und ich gemeinsam im Wald den Geburtstag ihres Vaters gefeiert und Sekt getrunken hatten. Ich hatte ihre Zeichnung und ihr Talent bewundert, was ihr einen hübschen Rosaton auf die Wangen gezaubert hatte. Am selben Tag hatte ich ihr geraten, sich besser von mir fernzuhalten.
Ich schüttelte den Gedanken ab und betrachtete das zweite Bild, auf dem Lauren und ihre Mutter eine riesige zweistöckige Torte mit zwei großen Kerzen, die gemeinsam eine Fünfzehn ergaben, in die Kamera hielten und dabei grinsten. Im schummrigen Licht des Wohnzimmers erkannte ich, dass das Lächeln nicht über ihr ganzes Gesicht reichte. Der Schimmer in Laurens grünen Augen war verschwunden.
Und ich allein war daran schuld. Mein Griff um das Handy versteifte sich. Selbst als das Display schwarz wurde und ich sie nicht mehr sehen konnte, spürte ich ihren traurigen Blick auf mir, der mir eine Gänsehaut bescherte. Ich knirschte mit den Zähnen. So weit hätte ich es niemals kommen lassen dürfen.
»Verflucht, Alex. Was ist los mit dir?«
Jonathan griff nach seinem Handy. Womöglich hatte er Angst, ich könnte es zerdrücken.
»Ich muss zu ihr. Mich erklären. All den Mist klarstellen, den ich verzapft habe«, entfuhr es mir und meine Stimme klang entschlossener, als ich mich fühlte. »Scheiß auf Vaters Geheimnistuerei. Lauren hat es verdient, die Wahrheit von mir zu hören.«
»Was meinst du?«
»Wir treffen uns in fünfzehn Minuten beim Privatjet. Ich muss mit ihr reden. Ich habe alles falsch gemacht. Was bin ich nur für ein verdammter Volltrottel?«
Meine beiden Kumpels sahen mich überrascht mit großen Augen an.
»Bist du völlig übergeschnappt?«, rief Jonathan mir hinterher. Doch ich hatte mich bereits auf den Weg zu Angus gemacht, um ihn über meinen Plan aufzuklären.
Die anderen sollten denken, ich wäre wegen eines Notfalls nach Whitcaster geflogen. Im Grunde handelte es sich hier auch um einen riesengroßen Notfall.
Konnte ich Laurens Herz noch retten? Und würde sie unserer Liebe noch eine zweite Chance geben?
»Was für ein Mist«, murmelte Jane. Maybelle und sie lagen links und rechts neben mir auf dem Bett und wir starrten gemeinsam an die Decke.
»Jane, das mit Chris tut mir immer noch so leid. Ich weiß gar nicht, was ich sagen oder wo ich anfangen soll.«
Sie nahm meine Hand. »Lass uns später darüber reden. Ich bin gerade zu geschockt von deiner Geschichte.«
Maybelle drehte sich auf den Bauch und stützte sich auf ihre Unterarme. Ihre Augen funkelten neugierig.
»Also, nur damit ich das richtig verstehe: Du hattest was mit Prinz Alexander?«, fragte sie ungläubig und unterdrückte dabei ein schelmisches Grinsen. »Dem Prinzen, über den du dich vor ein paar Monaten noch lustig gemacht hast? Von dem du meintest, dass er einen Stock im Allerwertesten hat? Diesem Prinzen?«
Jane setzte sich abrupt auf und starrte meine Schwester verwundert an. Röte stieg mir in die Wangen, als ich mich an seine Berührungen erinnerte. Ich konnte nicht verhindern, dass mir bei dem Gedanken daran heiß wurde, auch wenn ich meinem Körper diese Reaktion am liebsten verboten hätte.
Die Frage von May kam so unvermittelt, dass ich beinahe gelacht hätte. Janes Blick war Gold wert und ich schmunzelte. May hatte es wie immer geschafft, eine furchtbar verquere Situation mit wenigen Worten in etwas Lustiges zu verwandeln.
Dieses Gefühlschaos, das ich im Moment empfand, würde mich noch wahnsinnig machen. »Verdammt, ja«, raunte ich und schlug die Hände vors Gesicht, um mich vor Janes und Mays neugierigen Blicken zu verstecken. Ich sprach so gut wie nie über mein Liebesleben und wenn, dann war ich peinlich berührt wie eine Zwölfjährige im Sexualkundeunterricht.
»Oh. Mein. Gott!«, sprudelte es aus Jane hervor. Durch meine Finger sah ich, wie sie sich theatralisch an die Brust griff. »Ich wusste schon am ersten Abend, dass ihr was miteinander haben werdet. Alex war total scharf auf dich.«
Ich stöhnte in meine Handflächen. »Und was hab ich jetzt davon? Er küsst eine andere und wird sich mit ihr verloben. Verloben! Könnt ihr euch das vorstellen?« Entmutigt ließ ich die Hände sinken. Ich würde Jane auch noch von der Sache mit Reece erzählen müssen, wenn sie mich vollkommen verstehen sollte.
»Also an seiner Stelle hätte ich keine Lust auf die Prinzessin, wenn da so ein heißes Gerät wie du mir schöne Augen macht. Und mich im Bett um den Verstand bringt …« Jane warf mir einen verruchten Blick zu, den ich mit einer zerknautschten Grimasse erwiderte.
»Jane, bitte«, wimmerte Maybelle. »Ich will nicht über den Sex meiner Schwester reden. Es gibt Grenzen.«
»Kleine May, das war nicht irgendein Sex mit irgendeinem Typen. Das war Sex mit dem Thronfolger von Wittles Cay aka der heißeste Junggeselle unseres Landes«, verteidigte Jane sich eilig. Meine Wangen brannten. Ich wusste nicht, wie ich die beiden zum Schweigen bringen konnte. Es war mir unangenehm, über Alexander zu sprechen. Die Augenblicke mit ihm waren so intim, dass ich sie auf keinen Fall jemandem preisgeben und dadurch womöglich reduzieren wollte.
»Anscheinend ist er ja nicht mehr lange Junggeselle«, flüsterte ich, ohne dabei einem der beiden in die Augen zu schauen.
Ich schluckte meinen Ärger hinunter, denn ich wollte Mays Geburtstag nicht mit Geschichten über mein gebrochenes Herz ruinieren. Viel lieber hätte ich ihr alles von unserem Vater erzählt. Der mit seiner Rückkehr so viele Fragen aufgeworfen und mich mit einem mulmigen Gefühl zurückgelassen hatte. Auch wenn ich das nicht riskieren durfte, konnte ich ihr wenigstens von dem berichten, was ich auch Mum am Telefon und in der Küche erzählt hatte.
»May … Ich muss dir noch etwas sagen. Bis eben war ich mir nicht sicher, aber ich wollte es auch nicht am Telefon machen.« Mein Puls beschleunigte sich bei dem Gedanken an Dad und daran, wie er in diesen Transporter gestiegen war. »Auf der Insel habe ich Dad gesehen. Zweimal. Zumindest glaube ich, dass er es war.«
»Du … Was?« Meine Schwester schnappte nach Luft. Dann traten Misstrauen und Unglaube in ihren Blick. Sie schien darauf zu warten, dass ich meine Worte als einen Scherz entlarvte. »Unseren Dad?«
»Ja, ich habe ihn auch gesehen«, pflichtete Jane mir sofort bei.
Ich nickte und gab May eine kurze Zusammenfassung von unseren merkwürdigen Aufeinandertreffen. Über das letzte vor dem Krankenhaus schwieg ich allerdings.
»Denkst du, er wird wieder zu uns zurückkommen?« In ihren Augen flammte Hoffnung auf, so wie ich es befürchtet hatte. Meine kleine Schwester wünschte sich genauso sehr wie ich die heile Familie von vor vier Jahren zurück. Genau deshalb hatte ich es so lange hinausgezögert, ihr von den Begegnungen zu erzählen. Doch nun, da ich wusste, dass Dad eines Tages zu uns zurückkehren wollte, sollte May zumindest erfahren, dass er lebte.
»Ich weiß es nicht«, sagte ich, da ich ihr nichts von Dads Bitte erzählen konnte. Ich wollte seinem Wunsch nachkommen und keinen von uns in Gefahr bringen.
»Vielleicht siehst du ihn demnächst ja noch mal auf der Insel. Vielleicht erzählt er dir dann endlich, was es mit seinem Verschwinden auf sich hat.« May sah mich mit großen Augen an. »Stell dir mal vor, vielleicht kommt er noch vor Weihnachten nach Hause.«
»Wir sollten uns nicht zu große Hoffnungen machen, solange wir nicht wissen, wo er wirklich ist und ob er zu uns zurückkehren wird.« Ich biss mir auf die Unterlippe.
»Ja, da hast du wohl recht«, brummte May und verschränkte ihre Finger miteinander.
»Ich hoffe für euch, dass er bald wieder zu euch kommen wird.« Jane sah bedrückt zwischen uns hin und her, während wir eine Weile lang schwiegen.
»Kannst du uns vielleicht einen kurzen Moment allein lassen, May?« Ich wollte vor ihr nicht über die Sache mit Reece sprechen. Bisher hatte ich nur mit Vivienne darüber geredet, Jane sollte aber auch davon wissen.
Meine Schwester seufzte und verdrehte die Augen. »Ich wollte Mum sowieso beim Tischdecken helfen. Die anderen Gäste müssten ja auch gleich kommen.«
Sie sprang auf und warf die Tür hinter sich energisch zu, woraufhin Jane breit grinste. »May ist so niedlich.« »Das ist sie.« Ich rückte ein wenig zur Seite. Dorthin, wo meine Schwester eine warme Stelle hinterlassen hatte. Mit den Händen rieb ich mir übers Gesicht.
»Wie war es denn mit Alexander?«, hakte Jane schließlich nach und stupste mich in die Seite. »Darüber wolltest du doch bestimmt mit mir allein sprechen, oder?«
»Lass uns bitte erst über Chris reden. Wir können das nicht zwischen uns stehen lassen«, murmelte ich leise.
Jane schnaubte entrüstet und schüttelte den Kopf. »Nicht ablenken, Laurie. Sag mir erst, dass es mit ihm der beste Sex deines Lebens war.«
Ich atmete tief ein und spürte abermals seine sanften Finger auf meinem Körper. Seinen heißen Atem auf meinen empfindlichsten Stellen. Die zärtlichen Küsse auf meinem Hals. Ich hatte nicht bemerkt, dass ich die Augen geschlossen hatte. Als ich die Lider wieder öffnete, wackelte Jane vielsagend mit den Augenbrauen.
»O-kay«, sagte sie gedehnt. »Dein Blick ist Antwort genug … Wenn er nur halb so gut ist wie Jonathan, dann herzlichen Glückwunsch.«
»Also bitte!« Ich boxte sie in den Arm, was sie zum Kichern brachte. Bevor sie aufstehen konnte, warf ich mich auf sie und drückte sie ganz fest an mich. Erst zuckte sie überrumpelt zusammen, dann aber legte sie ihre Arme um meine Taille und zog mich in eine erdrückende Umarmung.
»Ich kann gar nicht sagen, wie leid mir das mit Chris tut. Ich hätte dir von Anfang an erzählen sollen, dass er mir seine Gefühle gestanden hat. Und ich Trottel ermutige dich noch dazu, ihm deine Gefühle zu beichten. Ich mache mir solche Vorwürfe.« Meine Stimme wurde von Wort zu Wort brüchiger und ich musste an mich halten, nicht abermals in Tränen auszubrechen. Schon seit Jahren hatte ich nicht mehr so viel geweint wie in den letzten paar Tagen. Selbst nach dem Verschwinden meines Vaters waren mir die Tränen nicht bei jeder Gelegenheit in die Augen gestiegen. Damals hatte ich meist nur abends im Bett geweint, wenn ich nicht mehr für Mum und May hatte stark sein müssen.
»Ach, Laurie … Das ist alles einfach blöd gelaufen mit Chris. Aber ich kann verstehen, dass du es mir nicht gesagt hast. Wahrscheinlich hätte ich dir vor ein paar Wochen noch den Kopf abgerissen.« Sie räusperte sich kurz. »Wenn ich ehrlich bin, hat Chris sich wie ein Arsch benommen. Vorgestern auf der Party im Wizzzard’s habe ich ihm eine gescheuert, weil er schon wieder von dir und Alex anfangen wollte. Er hat mich nur darüber ausgefragt und ist kein bisschen darauf eingegangen, dass ich mit ihm über meine Gefühle sprechen wollte. Es hat ihn nicht interessiert.« Jane sog scharf die Luft ein und ihre Miene verfinsterte sich. »Ich glaube, ich habe diese Art von Schocktherapie gebraucht. Aus dieser Perspektive habe ich Chris noch nie gesehen. Ich weiß nicht, ob ich mir die letzten Monate meine Gefühle nur eingeredet habe, damit sich nichts verändert. Damit ich keinen Typen näher an mich heranlassen muss.« Für einen Moment schwieg sie. Dann fuhr sie fort: »Als ich Jonathan kennengelernt hab, war mir sofort klar, dass er ein gutes Herz hat. Aber dann waren da dieses ständige Feiern, die Drogen und die Gedanken an Chris. Ich glaube mittlerweile, dass die Sache mit ihm immer meine Ausrede war, um mich auf keinen anderen Mann emotional einzulassen. Vielleicht hatte ich Angst, so verletzt zu werden wie Mum damals von Dad. Oder an so einen Arsch zu geraten wie Wren.«
Ihre Stimme wurde immer leiser. Ich griff nach ihrer Hand, überrascht von ihrem Geständnis. Ihre Finger waren eiskalt und jegliche Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen. Ich wusste, wie schwer es ihr fiel, über ihre Eltern zu sprechen. Als Jane sieben Jahre alt war, hatte ihr Vater in irgendeiner Identitätskrise gesteckt. Er meinte, er müsse sich ausprobieren, und verließ die Familie, um sich mit jüngeren Frauen zu vergnügen. Ihre Mutter nahm sich zunächst ein halbes Jahr Auszeit von ihrer Familie und engagierte eine Haushälterin, bis ihre Eltern sich letztlich trennten. Jane verbrachte die Nachmittage nach der Schule und die Wochenenden meist bei mir, da sie zu Hause kaum Aufmerksamkeit bekam. Sie konnte beiden Elternteilen ihre Fehler bisher nie wirklich verzeihen. Und statt mit ihnen zu reden, stürzte sie sich in Affären und verdrängte ihre Gefühle.
»Jane, das … Jonathan tut dir verdammt gut. Du wirkst in seiner Nähe so glücklich. Wann hast du das letzte Mal offen über alles gesprochen?« Ich lächelte zaghaft und legte meine Hand über ihre.
»Er ist wirklich ziemlich toll«, murmelte sie und knetete nervös ihr Ohrläppchen. »Aber zurück zu dir und Alex: Du musst mich unbedingt auf den neusten Stand bringen.«
Ich ballte die Hände zu Fäusten und presste die Zähne aufeinander. »Momentan bin ich völlig durcheinander. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr Alexander mich verletzt hat. Wir sind uns so nahegekommen. Ich hatte das Gefühl, er würde sich wirklich für mich interessieren.«
»Oh, Laurie. Wenn wir wieder im Schloss sind, trete ich ihm in seine Kronjuwelen.«
Bei der Vorstellung musste ich grinsen. »Ich bin froh, dass wir uns wieder vertragen haben. Hab dich echt vermisst.« »Na klar. Wir dürfen uns nie wieder wegen irgendeines Typs streiten. Es tut mir leid, dass ich dich am Geburtstag deines Dads allein gelassen habe.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Da war das mit dem Telefonat noch zu frisch. Außerdem hat Alexander sich um mich gekümmert.«
Und da hatte er sich wieder in meine Gedanken geschlichen.
Verdammt noch mal.
»Gekümmert. So so«, säuselte Jane und zwinkerte mir zu.
»Ich muss dir noch etwas anderes erzählen.« Meine Glieder begannen zu zittern und bei den aufsteigenden Erinnerungen drehte sich mein Magen auf links. »Reece … Du erinnerst dich an ihn, oder? Einer der anderen Angestellten.«
Als Jane nickte, berichtete ich ihr von dem, was er im Schlossgarten versucht hatte. Und davon, wie schrecklich ich mich nun bei dem Gedanken fühlte, direkt am nächsten Morgen mit Alexander geschlafen zu haben.
»Oh, Laurie, das tut mir alles so leid.« In Janes Augen schimmerten Tränen und sie schüttelte den Kopf. »Ich hätte nicht gedacht, dass Reece so ein Arschloch ist.«
»Ich auch nicht«, brummte ich, während es hinter meinen Lidern brannte.
»Ich wünschte, ich könnte etwas sagen, um dich aufzuheitern. Aber mach dir bitte keine Vorwürfe, weil du dich bei Alexander so wohlgefühlt hast. Wie hättest du denn ahnen sollen, dass er nicht die Wahrheit sagt?« Sie kaute auf ihrer Unterlippe herum, denn sie hatte den Kampf gegen die Tränen verloren. »Es tut mir leid, dass ich nicht da war, um dir zu helfen.«
»Keine Vorwürfe mehr«, schniefte ich und zog sie wieder in meine Arme.
Meine Freundin nickte, wirkte dennoch unsagbar traurig. »Wenn du wegen Reece oder Wren oder wem auch immer reden willst, bin ich für dich da. Ich möchte, dass du das weißt, weil ich in den letzten Monaten wirklich anstrengend gewesen bin. Sobald wir wieder auf der Insel sind, werde ich eine ambulante Therapie beginnen.«
»Oh, Jane.« Ich sog ihren vertrauten Duft ein. »Ich bin so dankbar, dass es dir langsam besser geht.«
Sie schluckte hörbar. »Ich auch.«
Im nächsten Augenblick klingelte es an der Tür.
»Kommt ihr runter? Chris und die anderen sind da!«, rief May herauf.
Jane zog mich noch einmal in eine feste Umarmung.
Ich atmete ihren vertrauten Duft ein, während sich mein Puls langsam wieder beruhigte.
Sie streichelte zaghaft über meinen Rücken und Hinterkopf. »Wir schaffen das schon zusammen, Laurie. Ab jetzt geht’s wieder bergauf. Für uns beide. Versprochen.«
Trotz der Ehrlichkeit und Zuversicht in ihren Worten beschlich mich die leise Vorahnung, dass dies hier erst die Spitze des Eisbergs war.
»Hast du überhaupt eine Ahnung, wohin du musst?«
Jonathan runzelte die Stirn und starrte mich erwartungsvoll an, nachdem er die Mehrfamilienhäuser entlang der Straße betrachtet hatte.
»Ich dachte, du hast Maps an«, gab ich schnippisch zurück. Der Wagen, der Jonathan, Benji und mich vom Flugplatz bis zu Laurens Straße gebracht hatte, fuhr an uns vorbei.
»Sei froh, dass wir die Adresse überhaupt herausgefunden haben. Es war nicht so leicht, in der kurzen Zeit an die Personalakten zu kommen.« Benjamin verschränkte die Arme vor der Brust und schaute mich herausfordernd an.
»Ist ja gut. Sag mir einfach, welche Hausnummer ich suchen soll«, gab ich versöhnlich zurück.
Neugierig hielt ich Ausschau nach der Neunundfünfzig und fand sie schließlich hinter der Kurve.
»Hier wird es sein«, meinte Jonathan.
Benjamin suchte die wenigen Klingelschilder nach Laurens Nachnamen ab und läutete zweimal kurz hintereinander.
Nervös hielt ich inne, während die Jungs bereits durch die große gläserne Eingangstür schritten.
Ich klammerte mich an die Klinke und mein Herz polterte unnatürlich schnell. Meine Handflächen wurden feucht. Ich war kurz davor, auf dem Absatz kehrtzumachen und zurück zur Insel zu fliegen.
»Es war eine dumme Idee, hierherzukommen. Was soll ich ihr denn überhaupt sagen?« Ich verfluchte meine voreiligen Entschlüsse. Nicht einmal die richtigen Worte hatte ich mir zurechtgelegt. Wollte ich gleich wie ein Wahnsinniger durch die Tür treten und sie in meine Arme ziehen? Würde ich vor ihr nur stammeln können, da sie mich sprachlos machte?
Augenblicklich bereute ich es, alles stehen und liegen gelassen zu haben, um nach Whitcaster zu fliegen.
Ohne Plan. Ohne Erlaubnis.
Aber dafür mit dem königlichen Privatjet.
Würde Vater herausfinden, dass ich unser Flugzeug ohne sein Wissen genutzt hatte, würde er mir die Hölle heiß machen.
»Alter, wir sind extra anderthalb Stunden hergeflogen. Du gehst da jetzt rein und sagst ihr, dass du ein Arschloch warst. Dann vögelt ihr und wir fliegen wieder zurück. So leicht ist das«, brummte Jonathan.
Ich schüttelte bei seiner flapsigen Antwort den Kopf. Als ob es so einfach wäre und mir nur um Sex ginge.
Wahrscheinlich ging es ihm vor allem darum, endlich wieder bei Jane zu sein. Seit Tagen lag er mir damit in den Ohren, dass er das Gefühl hatte, sie habe sich ihm endlich emotional geöffnet.
»Gut. Also los«, murmelte ich, nahm all meinen Mut zusammen und stiefelte mit den Jungs die Treppen hoch in den ersten Stock. An den Wänden im Flur hingen herbstliche Kränze, es roch nach altem Holz und frisch gekochtem Essen.
Benjamin blieb vor der einzigen Tür auf dieser Etage stehen. Über der Klingel hing ein rundes Schild, auf dem in einer geschwungenen Schrift Willkommen bei Familie Browning stand. Nun gab es kein Zurück mehr. Jonathan drückte auf den Klingelknopf und trat zurück. Als hinter der Tür Schritte zu hören waren, schubsten meine Freunde mich weiter nach vorne.
Mein Herzschlag beschleunigte sich, doch ich kontrollierte mich, so wie ich es von Vater gelernt hatte. Ich atmete tief durch, zählte die Sekunden und konzentrierte mich darauf, wie die Luft in meine Lungen strömte.
Hastig fuhr ich mir durch die Haare, richtete mein Jackett und setzte ein strahlendes Lächeln auf.
Als die Tür aufschwang und ich ahnte, wer mir da gegenüberstand, gefror mir das Lächeln auf den Lippen.
Ich hatte ihn nur auf Fotos bei Instagram gesehen, als ich durch Laurens Profil gescrollt war. Ohne ihn vorher jemals in der Realität gesehen zu haben, wusste ich, dass es Chris war.
Ich drehte mich übermütig vor dem Spiegel und lächelte zufrieden. Mein blondes Haar war hübsch gelockt. Sandy hatte sich Mühe gegeben. Nachdem ich ihr beim letzten Kleid den Marsch geblasen hatte, legte sie sich endlich wieder mehr ins Zeug. Sie hatte die Spitze unsauber verarbeitet.
Manchmal gewann ich den Eindruck, sie würde mehr Engagement ins Einkleiden des Personals stecken als in meine Kleider. Dabei interessierte sich niemand für die Garderobe der Bediensteten. Warum auch? Keiner von ihnen stand im Fokus der Öffentlichkeit. Von royalen Skandalen und Schnappschüssen konnte die Presse jedoch nicht genug bekommen.
Die Journalisten liebten mich. Und diese Aufmerksamkeit kostete ich in vollen Zügen aus. Sobald ich eine Kamera sah, setzte ich das Lächeln auf, das jede Zahnpasta-Werbung in den Schatten stellte. Das Blitzlichtgewitter zog mich magisch an. Auch wenn ich selbst für den ein oder anderen Skandal mit Männern oder Partys gesorgt hatte, rissen sich die Paparazzi um meine sorgsam gestreuten Gerüchte über das Palastleben. Jeder wusste es, aber niemand am belvarischen Hof traute sich zu verraten, dass ich die »vertrauliche Quelle« war.
Ich konnte es kaum erwarten, vor die Tür zu schreiten und das Jubeln zu hören. Als Tochter des Königs von Belvarien hatte ich von Geburt an die besten Chancen, um in die Thronfolge eines anderen Königreichs einzuheiraten. Wenn man die jüngste von drei Schwestern war, war die Aussicht auf die Krone im eigenen Land eher gering. Meine Mutter hatte mich früher stets darauf vorbereitet, eines Tages die Königin an der Seite eines mächtigen Mannes zu werden.
Layla und Ruth standen in der Thronfolge über mir, sodass ich zu ihren Lebzeiten sicherlich keinen Anspruch auf den belvarischen Thron erheben konnte.
Also hatte ich einen anderen Plan spinnen müssen, um Königin zu werden. Und das war mir bis jetzt außerordentlich gut gelungen. Wäre nur diese Lauren nicht aufgetaucht und hätte Alexander von seinen Pflichten abgelenkt. Ihre Augen leuchteten regelrecht, wenn sie ihm im Schloss begegnete. Und mir war nicht entgangen, dass auch er sie heimlich mit seinen Blicken verschlang. Er wollte mich für dumm verkaufen, aber dafür hatte er sich die Falsche ausgesucht. Da konnte er noch so oft tun, als würde er sie kaum kennen oder sich nichts aus ihr machen.